SHADOWRUN:

IWANS WEG

David Grade

Pegasus Press

35007G

Redaktion:

Tobias Hamelmann

Umschlagillustration:

Andreas Schroth

Umschlaggestaltung und Satz:

Ralf Berszuck

Lektorat und Korrektorat:

Lars Schiele

Umsetzung eBook:

SiMa Design

© der deutschen Ausgabe 2018 bei Pegasus Spiele.

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Shadowrun ist eine eingetragene Marke von Topps, Inc.

in Deutschland und anderen Staaten.

© der deutschen Ausgabe 2021 bei Pegasus Spiele.

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Pegasus Spiele GmbH, Am Straßbach 3, 61169 Friedberg (Deutschland)

Druck via GrafikMediaProduktion.

ISBN 978-3-95789-187-7

Besuchen Sie uns im Internet: www.pegasus.de

Für die verlorenen Jungs

»Die alten Märchen dienten oft zur Warnung und nahmen ein

grausiges Ende, um Jungen wie Alten eine Lehre zu sein

Brom

»Sobald ich sie getötet habe, vergesse ich sie wieder

Peter Pan

Rhoslyn

Rhein-Ruhr-Megaplex – Januar 2078

Auf einem Kai des Dortmunder Hafens hockte ein nackter Mann. Er war klein und hässlich. Seine Haut war so weiß, dass sich der Schneeregen kaum dagegen abhob. Das einzig Farbige an dem Mann waren seine blutunterlaufenen Augen und sein Geschlecht, das in der Kälte zusammenschrumpelte.

Der Mann sah sich um. Etwa zwanzig Meter entfernt säumten Lichtmasten eine Straße. Der Mann erhob sich und lief auf sie zu. Seine nackten Füße patschten auf den nassen Beton. Er folgte der Straße, die an Speicherhäusern entlangführte, und marschierte durch die Lichtpfützen, die die Laternen auf den Boden warfen.

Unvermittelt materialisierte eine Gestalt vor ihm. Etwas größer als Glöckchen aus Peter Pan, ansonsten aber ähnlich. Sogar Feenstaub umschwebte die Manifestation.

»Rhoslyn, stopp!«, brüllte das Glöckchen-Ding.

Der nackte Mann schlug das Flattervieh beiseite und marschierte weiter.

Pseudo-Glöckchen flog neben ihm her: »Lady Brane Deigh will, dass du dich raushältst. Du sollst wieder in deine Höhle gehen und dich besaufen

Der Mann blieb stehen. Er hielt dem Wesen seinen Zeigefinger vor das puppenhafte Gesicht: »Verpiss dich

»Rhoslyn, sei vernünftig. Es ist Monate her, dass die Krähe sie hier gesehen hat. Sie ist längst weg

Mit einer Bewegung, schneller als ein Flügelschlag, packte der Mann das leuchtende Persönchen und biss ihm den Kopf ab. Den Torso schleuderte er auf die Straße.

»Fünf«, knurrte Rhoslyn mit zusammengebissenen Zähnen. Er schluckte und marschierte weiter. Hinter ihm verrauchte der kleine, kopflose Körper zu nichts.

Adem

Krähennest – Januar 2078

Um zwei Uhr saßen nur Hussein und Radek an der Bar. Fossilien, die früher im Hafen gearbeitet hatten und jetzt lieber im Krähennest die Nacht vertranken, als in ihren Wohnungen zu versauern. Weiter vorne, wo die neuen Liegen standen, auf denen sich Trodenjunkies ihren Kick holen konnten, lag noch ein Gast und schlief. Er hatte für die Nacht bezahlt und sich die Troden an den Kopf geklebt. Sofern Adem der App auf seinem Komm trauen konnte, lief da immer noch eine Dauerschleife von Peter Porn IIICaptain Hooker.

Nebelherr, die Krähe und das Maskottchen des Ladens, saß in seiner Voliere neben der Tür. Er hatte den Kopf unter seinen rechten Flügel gesteckt.

Jetzt war wenig los im Krähennest. Erst gegen fünf würden die Leute von der Nachtschicht einkehren: die Jungs und Mädels von Sekuritas, die nachts im Hafen für Ordnung sorgten, die Logistiker und Mechapiloten, die den Warenverkehr regelten, die Stricher, die Huren, die Zöllner und die Schiffer. Eigentlich waren das keine richtigen Schiffer mehr, sondern Wachleute und Diener der Schiffsmotoren. Die Lastkähne wurden seit Jahrzehnten von Autopiloten gesteuert, die Waren in einem Tunnelsystem administriert und von zwei künstlichen Intelligenzen im Rhein-Ruhr-Megaplex weiter­verteilt.

Jepp, morgens brummte der Laden, und Havva würde hinten in der Küche stehen und Baguettes und kiloweise Kartoffelsalat zubereiten. Aber der Morgen begann erst um fünf.

Drek, Adem würde jetzt auch gerne schlafen.

»Adem, nochn KurzenRadek schob sein Schnapsglas vor. Adem griff nach einer frischen Flasche Wendigo-Wodka unter der Theke, schenkte nach und ließ sie auf der Bar stehen.

Die Tür flog krachend auf. Nebelherr fiel von seiner Stange und flatterte krächzend in der Voliere umher. Ein nacktes Männchen marschierte in die Bar. Es reichte Adem kaum bis zur Brust, hatte eine Glatze, eine mächtige Stirn, buschigweiße Brauen, tief liegende, blutunterlaufene Augen und eine schief gehauene Nase. Das Männchen erreichte die Theke.

»Hast du Mae gesehen?«, schnarrte es Adem an.

»Hey, Kolega« Radek drehte den Kopf zu dem Männchen, »willst du dir nicht erst mal was anziehen? Ist verdammt kalt da draußen

Das Männchen hämmerte Radek seinen Ellbogen ins Gesicht. Drei Mal. Dann trat es ihm den Stuhl weg. Radek landete auf dem Boden. Er gab kein Geräusch von sich.

Adem erstarrte im ersten Augenblick vor Schreck. Im nächsten griff er nach seiner Enfield T-250 und legte den Lauf der Schrotflinte auf die Theke.

»Raus hier, Chummer«, sagte Adem im tiefsten Grollen, das seine orkische Kehle zuließ.

Das Männchen blickte ihn an, packte den Lauf der Waffe und riss daran, nur um sofort zuzustoßen. Der Kolben der Enfield rammte Adems Bauch. Mit dem Rücken prallte der Ork gegen das Regal hinter sich. Gläser und Flaschen stürzten auf ihn herab. Er riss die Hände hoch, um seinen Kopf zu schützen. Etwas traf ihn mit brutaler Wucht an der Schläfe. Schwärze und helle Schlieren zogen durch Adems Gesichtsfeld. Sein Kopf bewegte sich mit erschreckender Geschwindigkeit auf die Bar zu, auf die er schmerzhaft aufprallte. Eine Hand hatte sich in seine Haare verkrallt.

Adem blinzelte. Sein Sichtfeld wurde klarer. Das Männchen hatte ihn an den Haaren gepackt und drückte Adems Kopf auf die Bar. Mit der anderen Hand hielt es die Flasche Wendigo-Wodka, die es mit zurückgelegtem Kopf und gewaltigen Schlucken leer trank. Adem bewegte seine Hände. Sie waren frei. Im selben Moment kreuzte er den Blick des Männchens, das die Flasche mit einem Krachen auf der Theke zerschmetterte. Den abgebrochenen Flaschenhals hielt es Adem vors Gesicht.

»Wo ist Mae, du stinkender, hässlicher Turgmabumser

»Ich hab keine Ahnung. Wirklich, ich weiß nichtsAdem nahm Blickkontakt mit Hussein auf, der immer noch an der Theke saß und den Ankömmling mit aufgerissenen Augen anstierte.

»Verarsch mich nicht«. Das Männchen riss Adems Kopf nach oben und ließ ihn wieder auf die Theke krachen. Dass Adem dabei auf Wendigo-Wodka-Scherben landete, machte nichts besser.

»Und du, beweg dich nichtDas Männchen ließ den Flaschenhals in seiner Hand vorschnellen. Hussein zuckte zurück und fiel vom Stuhl. Er schien liegen zu bleiben, wo er war. Zumindest bekam Adem nichts mehr von ihm mit.

»Haben Sie vielleicht ein Holo von ihr?«, fragte Adem.

»Hör auf zu labern! Wo ist Mae, du Madenhirn

»Ich weiß nicht, wie Mae aussieht. Wenn Sie vielleicht ein Holo hätten

»Red so, dass ich dich verstehe. Was ist ein Holo

»Ein Holo ist ein Bild, nur halt in allen drei Dimensionen, vielleicht …«

»Willst du mich verarschenDas Männchen ließ Adem los und stieß ein Heulen aus, das einem Höllenhund Ehre gemacht hätte. Es drehte sich im Kreis und brüllte. Sein Kopf wurde dabei so rot wie seine frei baumelnden Eier: »Hast du nur Scheiße im Kopf? Du dämlicher Turgma! Wo soll ich denn ein Bild haben? Vielleicht in meinem Arsch? Glaubst du, ich habe eine verdammte Galerie in meinem Arschloch

Adem nutzte die Zeit, um seinen Kopf zu drehen, was viel mehr Schmerzen bereitete, als es sollte. Links von ihm lag die Lösung seiner Probleme auf der Bardie gute alte Enfield. Er griff danach und sah in derselben Sekunde einen Flaschenhals aus seinem Handrücken ragen. Der Schmerz kam in dem Moment, als er registrierte, dass das Männchen auf die Theke gesprungen war. Rötliche Genitalien schwebten vor Adems Augen, dann raste ein spitzes Knie auf sein Gesichtsfeld zu. Er verlor das Bewusstsein.

× × ×

Adem wurde wach, weil er durch die Nase keine Luft mehr bekam. Er öffnete den Mund. Das schmerzte, aber so konnte er zumindest atmen. Er saß auf einem Stuhl. Seine Arme waren nach hinten gebunden. Die Augen waren verklebt. Mit etwas Anstrengung bekam er das linke auf.

Das Erste, was Adem sah, war die offene Voliere. Nebelherr hockte neben Radek auf dem Boden und pickte ihm ein Auge aus.

»Nummer sechs«, sagte eine Stimme hinter ihm, »das war nicht meine Absicht

»Nummer sechs?«, fragte Adem. Das Männchen war noch da. Lieber Allah, das irre Männchen war noch da. Adem war noch nie gläubig gewesen, aber genau jetzt schien ihm ein verdammt guter Moment, um damit anzufangen.

»Ja«, sagte das Männchen, »und das alles nur, weil diese blöde Schlampe der Meinung war, sie müsste fliehen

»MaeWenn Adem sprach, fühlte es sich an, als hätte er eine Kartoffel voller Nägel im Mund.

»Ja

»Wie kommen Sie darauf, dass diese Mae hier war

Während der Unterhaltung versuchte Adem, sich weiter zu orientieren. Er war mit seiner Hose an einen Stuhl gefesselt. Seine Fußgelenke wurden von seinen verknoteten Shorts zusammengehalten. Adem vermutete, dass seine Hände mithilfe seines Hemdes fixiert waren. Aus dem Augenwinkel sah er Hussein, der mit seiner eigenen Kleidung gefesselt auf dem Boden lag. Radek war nicht gefesselt. Er schien tot zu sein.

»Du musst mich nicht siezen«, sagte das Männchen, »immerhin hast du mich schon nackt gesehen. Du darfst mich Rhoslyn nennen

Adem hörte das Männchen kichern. Das war der Moment, in dem er entschied, dass er kooperieren würde. Er würde einfach alles genauso tun, wie es das Männchen wollte. Er wollte leben. Er wollte Havva in die Arme schließen und ihren fantastischen Kartoffelsalat essen.

»Ich bin Adem

»Nebelherr hat erzählt, dass Mae hier war

Zuerst dachte Adem an den bekannten Drachen. Dann wurde ihm klar, dass Rhoslyn die Krähe meinte, die sich gerade an Radeks verbliebenem Auge zu schaffen machte. Die Krähe konnte nicht reden, aber das war nichts, was Adem mit Rhoslyn diskutieren würde.

»Wenn sie wirklich hier war, dann haben wir ein Bild von ihr«, sagte Adem bedächtig. Reden tat weh. »Wir haben hier eine Kamera hängen. Und Sekuritas hat bestimmt viel bessere Bilder von ihr. Draußen ist auf jeder Straßenlaterne eine Kamera von denen

»Wer ist Sekuritas

»Das sind die, die hier im Hafen für die Sicherheit zuständig sind

»Was ist eine Kamera

Eine Kamera? Adem war schon vorher sicher gewesen, dass das Männchen irre waraber das ging weit über irre hinaus. Die ganze verdammte Situation stimmte nicht.

Adem erklärte Rhoslyn, was eine Kamera war.

»Ihr speichert alle Bewegtbilder?«, fragte Rhoslyn.

»Ja, wir rechnen sie kleiner. Aber eigentlich bräuchten wir das nicht. Die sind ja nur 2D, unser Speicherplatz würde für Jahrhunderte reichen. Außerdem müssen wir Vorratsdatenspeicherung machen, sagt das Gesetz«.

Rhoslyn stellte mehr Fragen. Adem antwortete.

× × ×

»Und mit diesem Ding kann ich die Bewegtbilder durchsuchenRhoslyn hielt Adems Kommlink hoch. Ein rot lackiertes Metalink Fire. Havva hatte es ihm zu Weihnachten geschenkt. Es war kein Fairlight Caliban, aber vor Weihnachten war es das meistbeworbene Geschenk und Adem hatte sich gefreut.

»Dafür brauchst du eine Brille. In der Küche hängt ’ne Jacke, da steckt eine in der Innentasche

»Wenn irgendwas Schlechtes passiert, brech ich dir die Hauer raus«, kündigte Rhoslyn an und verschwand in der Küche.

Rhoslyn

Krähennest – Januar 2078

Rhoslyn setzte die Brille auf. Vor ihm schwebte ein transparentes Schlüsselloch in der Luft. Wenn er sich drehte oder umblickte, blieb es immer an derselben Stelle. Hinter dem Schlüsselloch sah er die Einrichtung des Krähennestes, die Tische, Stühle, Wände, den Boden und die Decke. Aber da war noch mehr. Über der Bar schwebten Tafeln mit Schriftzügen und Flaschen darauf, die von grinsenden Metamenschen gehalten wurden. Hinten bei den Liegen saßen leicht bekleidete Frauen und Männer. Sie sahen Rhoslyn entgegen und lockten mit dem Finger. Schriftzeichen poppten rechts von ihm auf. Rhoslyn streckte die Hand aus und fuhr mit ihr durch die Schriftreihe und das Schlüsselloch hindurch.

»Wieso kann ich das Schlüsselloch nicht anfassen

»Dafür bräuchtest du einen speziellen Handschuh, den hab ich nicht da

»Wie kann ich jetzt die Bilder finden

»Du musst zuerst das Passwort eingeben, am Kommlink. Großes ­H, kleines a, dann vier, vier …«

»Ich kann nicht schreiben«, sagte Rhoslyn.

»Soll ich es eingeben

»Nein, du machst irgendwas Dummes

»Du könntest Troden von den Liegen nehmen und dir aufsetzen. Dann gibst du mir die Brille, und du siehst, was ich mache

»Was sind Troden

»Kleine Pömpel, die du dir an den Kopf klebst, einen in die Nähe des Ohres, einen an den Schädelknochen und einen in den Nacken. Die verbinden sich dann mit dem Kommlink, und die Bilder, die du jetzt siehst, werden dir direkt ins Hirn eingegeben. Du riechst und hörst sie auch und kannst sie anfassen

»Heißt das, ich kann denen dann was aufs Maul hauenRhoslyn blickte zu den grinsenden Metamenschen mit den Flaschen hinauf.

»Dafür brauchst du Programme

Eine Erklärungseinheit folgte.

× × ×

Jetzt hörte Rhoslyn die Menschen auf den Liegen auch reden. »Du bist ja ein wilder Pirat, komm, lass dich verwöhnenUnd aus den Tafeln über der Theke kamen auch Laute: »Wendigo-Wodkawecke deine wilde Seele«. Gleichzeitig strömten Gerüche auf Rhoslyn ein. Es roch nach Apfelsinenkisten und nach frischen Brötchen. Die Temperatur war angenehmer, und er spürte einen leichten Windhauch am Körper. Jetzt konnte er das Schlüsselloch vor sich auch anfassen. Ihm wurde ein bisschen schwindelig, als sich der Text rechts von ihm unerwartet nach unten bewegte. Übelkeit wuchs in ihm, und dann drängte der Wendigo-Wodka nach oben. Rhoslyn kotzte auf den Boden.

»Was passiert mit mir, du stinkendes Stück BlutsabberRhoslyn stellte sich vor Adem und schwankte. »Ich hab’s dir gesagt. Ich reiß dir deine Zähne raus. Sag mir, wo eine Zange ist

»Das ist normal! Das ist normal. Wirklich. Ich bitte dich. Wenn du noch nie in der AR warst, ist das normal. Ich brauch die Brille, dann kann ich dir das Passwort geben und wir passen die Intensitäten an, okay

Rhoslyn sah ihn an und lachte. »Eigentlich ein geiles Gefühl. Das letzte Mal war mir so schlecht, als ich aus Versehen Milch getrunken habe

Fast schon liebevoll setzte Rhoslyn Adem die Brille auf die Nase. Adem öffnete den Mund und transparente Goldstücke flogen heraus. Sie formten sich zu einem Schlüssel, der sich im Schloss drehte. Das Schloss verschwand.

Im oberen Bereich des Sichtfeldes tauchte das Menü des Kommlinks auf. Adem leitete Rhoslyn an.

» … fahr mit deinem Finger von links nach rechts über das Menüüber den Streifen mit den Symbolen oben in deinem Sichtfeldnimm das Symbol mit den Reglerndie schwarzen Streifen, wo die farbigen Knöpfe auf verschiedenen Höhen sind …«

Die Lockrufe der Menschen an den Liegen wurden leiser und verstummten. Genau wie die Alkoholika-Reklame, die auch optisch verschwand. Alle anderen Inhalte der augmentierten Realität wurden transparenter. Der Geruch nach Apfelsinenkiste wurde schwächer. Und Rhoslyn stellte es sich kühler ein.

Sie arbeiteten sich zu einem Suchprogramm durch, zogen sich ein Seekiste-ARO mit den gespeicherten Überwachungsfilmen heran und überlegten Parameter, nach denen sie suchen konnten. Einige Parameter waren vorikonisiert: FrauMann, WiederkehrendesSinguläres, Hauptfarbspektrum der Kleidung.

»In welchem Zeitraum sollen wir suchen?«, fragte Adem.

»Nach gregorianischem Kalender

»Am besten

»24.01.2077«

»Das machts einfacher

× × ×

»Da ist Mae«, rief Rhoslyn. Er fuhr mit dem Finger auf dem Streifen unter dem Film nach links und sah sich die Bewegtbilder noch mal an. Eine Frau in einem dunkelbraunen Kapuzenmantel betrat das Krähennest. Das Gesicht war die meiste Zeit von der tief hängenden Kapuze bedeckt. Wirklich gut sah man nur ihr rotbraunes Haar. Sie legte einige Goldnuggets auf den Tisch, wechselte ein paar Worte mit Adem hinter der Theke, nahm die Nuggets und ging wieder.

»Ich erinnere mich an sie

»Was wollte sie? Warum ist sie so schnell wieder gegangen

»Sie wollte etwas essen, aber sie hatte keinen Credstick, keine Bar-Euro, nicht einmal einen Cent

»Kann man die Bilder auch löschen?«, fragte Rhoslyn.

»Ja

»Auch die Bilder, die jetzt gerade gemacht werden

»Ja

× × ×

Rhoslyn ließ es sich zeigen. Als er wusste, wie das ging, erwürgte er Adem von hinten. Als Nächstes war Hussein dran, dann der Mann, der die ganze Zeit auf einer der Liegen geschlafen hatte.

»Sieben, Acht, Neun«, sagte Rhoslyn. Sein Blick ging zu Nebelherr.

Die Krähe blickte zurück, legte den Kopf schief und hob ein Bein an.

»Du hast nichts gesehen, Nebelherr. Klar

Die Krähe stieß eine Reihe von Krächzern aus.

»Um keine Spuren zu hinterlassen. Es gibt eine Menge mieserer Mörder als mich, die Mae finden wollen. Du solltest abhauen. Ich steck den Laden in Brand. Irgendwo muss es doch Streichhölzer geben

Die Krähe flatterte hinter die Theke und kehrte mit einem Zippo im Schnabel wieder, das sie Rhoslyn in die Hand legte.

»Das ist ein Streichholz

Die Krähe krähte.

»Verdammt. Ich glaube, diese Welt hat sich ganz schön geändert. Ich hab wohl zu lange in meiner Höhle gesoffen

Rhoslyn holte alle Flaschen hinter der Theke vor. Die mit niedrigem Alkoholgehalt leerte er über sich und wusch das Blut von seiner Haut. Die mit ausreichendem Alkoholgehalt leerte er über den Leichen aus, verteilte den Inhalt großzügig in der ganzen Bar und vergaß auch seine Kehle nicht.

»Weißt du was, Nebelherr? Ich glaube, ich muss erst einmal an die Universität gehen, um ein bisschen nachzuholen. Und ich kann da Kontakte knüpfen

Nebelherr krächzte.

»Die beste, die ich finden kann. Deswegen muss ich hier alles abfackeln. Sonst bekommen die örtlichen Machthaber mit, was ich gemacht habe. Dann ist nichts mit Universität, dann hänge ich am Galgen

Rhoslyn warf sich den Mantel von Hussein um. Die Kameras draußen sollten ihn nicht erkennen. Er öffnete die Tür und drehte sich zum Raum. Das Zippo schlug Flammen, und Rhoslyn warf es in das Krähennest. Nebelherr hatte sich auf seinen Kopf gesetzt. Rhoslyns ruckartige Bewegungen glich die Krähe geschickt mit den Flügeln aus.

Flammen verbreiteten sich über den Boden, die Tische, die Leichen und die Liegen weiter hinten. Rhoslyn schaute zu, wie das Plast der Tische Blasen warf, wie die Haut der Leichen sich zusammenzog und aufplatzte.

Er hörte ein lautes Klacken, dann sprühte Schaum aus mehreren Düsen an der Decke. So lange, bis er fast einen Meter hoch stand und jedes Feuer erstickt war.

»Schmierige Flohscheiße! Was war das

Nebelherr krächzte.

»Muss reichen. Zeit, dass ich eine Universität suche

Rhoslyn zog sich den Mantel über den Kopf. Eigentlich hatte der Mantel keine Kapuze, aber Hussein war ein ganzes Stück größer gewesen als Rhoslyn. Deswegen ging es ganz gut.

Sascha

Dortmunder Hafen – Januar 2078

»Verdammte Scheiße, das ist alles noch viel übler, als ich dachteSascha biss von einem Royal Baguette mit extra viel Käse ab. Krümel fielen auf seinen gigantischen Trommelbauch und blieben an der Sekuritas-Uniformjacke hängen. Neben ihm lehnte Fatima am Auto. Ihre schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihr gepflegtes Make-up widerstand dem leichten Schneeregen.

»Sie verhören Havva immer nochFatima stupste mit ihrer Zunge die Kuppe eines ihrer kleinen, knubbeligen Hauer an.

Fatima war erst seit zwei Wochen dabei. Sascha hatte schon raus, dass sie dieses Hauer-Zungen-Ding machte, wenn sie aufgebracht war.

Bisher war sie immer pünktlich zur Arbeit erschienen, hatte nie nach Alkohol gerochen und machte, was er sagte. Sascha war so was wie der Chef von Sekuritas und suchte immer gute Leute. Na ja, eigentlich war seine Frau Amsah die Chefin, aber sie war weise genug, so zu tun, als wäre er es.

Vier Uhr morgens. Die Straße vor dem Krähennest sah aus wie eine Messe für Einsatzfahrzeuge. Die Feuerwehr war noch nicht abgerückt, da standen noch ein Leiterwagen, zwei Löschfahrzeuge und ein verdammter Einsatzleitwagen. Die Polizei war mit zwei MEFs und drei Drohnen da, die über dem Geschehen kreisten. Und dann waren da die RTWs von BuMoNA, Fahrzeuge natürlich, keine Helisals hätte sich Adem eine von den besseren Versicherungspolicen leisten können. Ach ja, da war außerdem ein weißer Wagen von der Stadtverwaltung mit einem Statiker. Und jetzt fuhr noch ein Wagen mit Saeder-Krupp-Logo vor, wahrscheinlich gehörte denen das Gebäude. Ach Drek, sicher gehörte denen das Gebäude, denen gehörte praktisch alles.

Sascha blickte zu Havva, die in einem der MEFs saß und seit zehn Minuten Fragen beantwortete. Er schob sich den letzten käseschmelzigen Bissen seines Royal Baguettes in den Mund, stieß sich vom Wagen ab und steuerte auf das MEF zu.

»Warte, Sascha, das solltest du dir angucken. Komm in die AR

Sascha lehnte sich wieder an das Sekuritas-Auto (noch nicht abbezahlt). Seine Frau hatte ihm zu Weihnachten neue Troden und ein Metalink Fire geschenkt. Mit einem Gedankenbefehl aktivierte er die AR. Informationen über den Hafen, Werbung für das Krähennest, Warnungen und Entfernungsangaben von Polizei, Feuerwehr und BuMoNA sowie kleine Icons, die dazu einluden, mehr Informationen über die Fahrzeuge abzurufen, tauchten auf.

Fatima schob ihm einen virtuellen Bildschirm ins Sichtfeld.

»Schickt die Zentrale gerade, ist live

Der Schirm zeigte drei Videos nebeneinander. Sie kamen von Kameras auf Lichtmasten. Das Mittlere zeigte das Gesicht eines vielleicht fünfzigjährigen Mannes, der die Linse anbrüllte. Seine Nase sah aus, als wäre sie schon mehrmals gebrochen und nie vernünftig gerichtet worden. Er hatte eine Glatze und buschige Augenbrauen.

Auf den Bildern links und rechts sah Sascha, wie der Mann mit der flachen Hand gegen die Kamera auf dem Lichtmast einschlug. Diese Bilder stammten von Kameras auf den nebenstehenden Masten. Sie zeigten auch, dass der Mann sich mit seinen Beinen auf etwa fünf Meter Höhe an den Lichtmast klammerte. Mittlerweile verpasste er dem Kameragehäuse abwechselnd mit beiden Händen Ohrfeigen. Dass der Mann nackt war, trug ein Übriges zu Saschas wachsendem What-the-Fuck-Gefühl bei.

»Darum kümmern wir uns«, sagte Sascha. »Du fährst

»So was hat keiner in meinem Bewerbungsgespräch erwähnt«, sagte Fatima und setzte sich hinters Steuer. »Amsah, wo ist das genau?«, fragte sie über ihr Komm.

Sascha hätte es ihr sagen können, aber er schätzte es, wenn seine Leute Probleme selbstständig lösten.

Sie fuhren los und ließen das Lichterkonzert der Einsatzfahrzeuge hinter sich. Zum Glück. Sascha erinnerte die Szenerie vor dem Krähennest zu sehr an sein altes Leben. An schiefgehende Runs und Angstknoten im MagenSpinner auf Drogen, die auf Laternen saßen, waren ihm lieber.

× × ×

»Ihr Spermafresser, ihr Madenhirne, ihr Schafsficker. Macht, dass ihr herkommt

Sascha und Fatima waren ausgestiegen. Ihre Elektroknüppel hielten sie in der Hand.

»Würden Sie bitte runterkommen«, rief Fatima.

Der Mann schaute herab.

»Seid ihr Sekuritas

»Steht auf unseren Jacken und auf unserem AutoFatima deutete mit dem Daumen auf den SEKURITAS-Schriftzug in Höhe ihres rechten Schlüsselbeins.

»Endlich. Bisschen lahmarschig, was

Der Mann rutschte den Lichtmast herunter und ging zwei Schritte auf sie zu. Er reichte Sascha gerade bis zur Brust. Seine Haut war weiß und haarlos, abgesehen von den Augenbrauen und den Schamhaaren. Er stank nach Bier, Schnaps und so ziemlich allem anderen, was eine billige Bar hergab.

»Was istDer Mann breitete die Arme aus. »Bringt ihr mich jetzt zur Universität oder was

Fatima und Sascha tauschten Blicke.

»Chummer«, sagte Sascha, »es istn bisschen früh für Universitäten. Wie wär’s, wenn du nach Hause gehst und deinen Rausch ausschläfst. Wenn du aufwachst, bist du wieder klar im Kopf, und jede Uni der Welt wird glücklich sein, wenn du sie besuchst

Der Mann legte den Kopf schief »Nein. Ihr bringt mich jetzt zur Universität. Kommt schon. Muss ich euch erst wehtun

Fatima zeigte mit ihrem Elektroknüppel auf den Mann. »Du machst besser, was der Boss hier sagt. Sei froh, dass wir keinen Bock auf Schreibkram haben

»Ich will in die Scheiß-UniversitätDer Mann sprang auf Fatima zu. Er packte den Knüppel und riss ihn Fatima aus der Hand. »Und wenn ich dir deine fetten Titten dafür abbeißen muss

Fatima löste per Gedankenbefehl den Elektroschock im Knüppel aus – den Segnungen der Wi-Fi-Welt sei Dank.

Der Mann zuckte. Seine Hand um den Knüppel krallte sich zusammen. Fatima wiederholte den Wi-Fi-Befehl. Elektrische Bögen leuchteten über der feuchten Haut des Mannes auf. Zwei von ihnen sprangen zum Lichtmast über. Die Zehen des Mannes bogen sich ein. Die Augenbrauen und die Schamhaare knisterten, warfen Funken und stellten sich auf. Seine Augen drohten, aus den Höhlen zu treten. Er schwankte und zitterte am ganzen Körper. Seine Muskeln bebten wie lebende Schlangen, die unter seiner Haut Trog-Step tanzten.

Fatima stoppte den Elektroimpuls.

Der Mann ließ den Knüppel fallen, schwankte, blieb aber stehen. »Jihaaaa!«, brüllte er und stürzte sich auf Fatima.

Schneller, als es die Natur zuließ, schlug Sascha mit dem Knüppel zu. Er mochte fett sein und sein Reflexbooster alt, aber er funktionierte. Saschas Knüppel traf den Mann genau an der Schläfe, pflückte ihn aus dem Sprung und ließ ihn auf den Boden stürzen.

Eine Strähne hatte sich aus Fatimas Pferdeschwanz gelöst. Sie band ihn neu. Dann zog sie mit dem Fuß ihren Knüppel, der neben dem reglosen Mann lag, heran und hob ihn auf. Immer umsichtig, das gefiel Sascha.

Sie holte einen Scanner aus dem Wagen und richtete ihn auf den Nackten am Boden.

»Keine Naniten. Hätte getippt, das ist ein Fraggy«, sagte Fatima.

Interessant, welche Möglichkeiten Fatima berücksichtigte. Sascha gab ihr innerlich noch ein paar Pluspunkte mehr, aber bezüglich der Naniten war er nicht so sicher.

Die Idee, die Nanitenscanfunktion in seine Bewerbung für die Sicherheitsdienst-Ausschreibung Hafen 21 aufzunehmen, hatte vor drei Jahren vermutlich dafür gesorgt, dass Sekuritas die Ausschreibung gewonnen hatte. Kein Wunder bei der damaligen Panik um das KFS-Virus.

Drek, Sascha hatte sich, seine Frau und seine Söhne hirnscannen lassen, nur zur Sicherheit. Niemand brauchte einen Technovirus, der über Naniten neue Persönlichkeiten in einem installierte. Sein alter Herr Schmidt hatte ihm den Tipp gegeben, KFS-Sicherheit in der Bewerbung zu erwähnen. Herr Schmidt hatte das Software-Update für die Scanner organisiert. Sascha hatte weder nachgefragt noch nachgeprüft, ob es wirklich funktionierte.

»Auch keine SIN dabei. Keine Datenbank spuckt was über ihn ausFatima schob Sascha die Scandaten in sein AR-Sichtfeld.

»Hätte mich auch gewundert. Wir sollten ihn ins Hafenbecken schmeißen und gut«, brummte Sascha.

»Könnte Probleme machen. Die Zentrale sieht unsFatima deutete mit dem Finger auf die Lichtmasten.

Noch mehr Punkte für die junge Orkfrau. Sie dachte mit und sie schien das Herz am richtigen Fleck zu haben. Einen nackten, besoffenen SINlosen zu verteidigen, der einen gerade angegriffen hatte, zeugte von Größe. Ganz davon abgesehen, dass Sascha einige Wachleute unter Vertrag hatte, die erst einmal nachgetreten hätten, statt einfach die Haare zu richten und den Knüppel aufzuheben. Drek, ein paar hätten ihn an Dr. Sauerbruch verkauft, die dafür bekannt war, aus Organen Geld zu machen.

»Du hast recht. Wir bringen ihn inne Zelle und lassen ihn laufen, wenn er nüchtern ist. Diese Nacht bringt schon genug Schreibkram

Bevor sie ihn hinten in den Wagen warfen, fesselte Sascha den Mann. Klar, er war ausgeknockt. Mit Pech war sogar sein Schädel angeknackst. Aber der Mann strahlte selbst jetzt etwas Gefährliches und Aggressives aus. Sascha hatte ein seltsames Bauchgefühl bei dem Kerlund sein Bauch war ein verdammt großer Teil von Sascha.