Sebastian Moll

Lesereise New York

Sebastian Moll

Lesereise New York

Uptown Blues in der
funkelnden Metropole

Picus Verlag Wien

Für Erika

Copyright © 2013 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © Frank Heuer
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
ISBN 978-3-7117-5167-6
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt

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Inhalt

Rückkehr nach New York - Ein Blick durch das falsche Ende des Teleskops

Across 110th Street - Harlem im Zeitalter Obamas

Geisterstadt der Zukunft – Der Masterplan von 1811 wollte ein wohlgeordnetes modernes New York schaffen. Stattdessen gebar er das größte Chaos der westlichen Hemisphäre

Provinzposse in der Weltmetropole - Wie das Gerangel um Ground Zero ein ganzes Viertel zehn Jahre lang lahmgelegt hat

Bye Bye Chelsea - Der erbitterte Kampf um die letzte Oase der New Yorker Boheme

Ein Mann namens Pferd - Unterwegs mit dem schnellsten Radkurier von New York

Überlebenskampf in der Kleiderkammer - Der Garment District, New Yorks letzter Handwerksbezirk, ist vom Aussterben bedroht

Das goldene Herz Manhattans - Nirgends ist die Energie New Yorks so unmittelbar zu spüren wie morgens um acht im Grand Central Terminal

Die Schlacht um Brooklyn - New Yorks coolster Stadtteil war lange eine Alternative zu Manhattan. Jetzt will er dem großen Bruder Konkurrenz machen

Uptown Blues - Jeden Sonntag wird in Marjorie Elliots Wohnzimmer in Harlem Jazz gemacht. Ohne Musik könnte Elliot nicht überleben

Der Himmel der einfachen Leute - Coney Island ist die letzte Bastion der Proll-Kultur in New York

Der Traum vom großen Wurf - Die Streetball-Spieler von New York

Der alte Mann und die Paradiesvögel - Seit vierunddreißig Jahren steht Bill Cunningham auf einer Kreuzung in Manhattan und sucht die Schönheit

Epilog

Nachsatz

Rückkehr nach New York

Ein Blick durch das falsche Ende des Teleskops

Es hat lange gedauert, bis ich es über mich gebracht habe, einen Blick in die Nummer 315 Bowery zu wagen. Sechs Jahre genau.

Im Jahr 2006 hatte Hilly Kristal hier zum letzten Mal die Rollgitter vor seinem legendären Punk-Club CBGB heruntergelassen, jenem modrigen, düsteren Gewölbe, in dem die Karrieren der Ramones, von Blondie, Television, den Talking Heads und Patti Smith begonnen hatten.

Doch 2006 war es Zeit geworden für das CBGB, es war hier auf der Bowery schon lange ein Fremdkörper. Das »Flop House« im zweiten Stock, ironischerweise »Palace Hotel« genannt, wo obdachlose Männer weiland für ein paar Dollar auf einer Matratze ihren Rausch ausschlafen konnten, war schon lange den Büros einer städtischen Behörde gewichen. Die Bowery, einst ein Symbol urbaner Verelendung, hatte sich in einen schicken Amüsier- und Shopping-Bezirk verwandelt. Statt von Pennern war die Straße von überschminkten jungen Damen bevölkert, die zu viel »Sex and the City« gesehen hatten. Sie flanierten after work die Bowery auf und ab, stets auf der Suche nach neuen Schuhen und der Begegnung mit Mr. Big.

Nun also, an einem schwülen Hochsommertag im Juli 2012, traute ich mich, nachzuschauen, was aus dem CBGB geworden war. Es war eine überaus verwirrende Erfahrung, der dunkle Raum konnte sich nicht so recht entscheiden, was er sein wollte. Im vorderen Teil wurden in einem breiten Regal Schallplatten aus gutem alten Vinyl angeboten, die blanke Ziegelwand war mit Konzertpostern aus den siebziger und achtziger Jahren übersät – Iggy Pop, The Police, Tom Petty and the Heartbreakers. In der Mitte stand rechter Hand eine kleine Konzertbühne, komplett mit spielbereiten Instrumenten. Man konnte meinen, gleich komme Joey Ramone in seiner Lederjacke aus der Kulisse und schreie noch einmal »I don’t want to go to the basement« ins Mikrofon. Sogar der alte Flipperautomat stand noch in der Ecke. Doch wenn man tiefer in das Dunkel des Raumes eindrang, wich das Musikinventar Kleiderständern mit hochpreisiger Herrenmode – Ledersakkos zu zweitausendfünfhundert Dollar, Punkstiefel mit Nietenbesatz zu dreihundertvierundachtzig, Designerjeans ab hundertfünfundachtzig.

Nach dem Tod von Hilly Kristal im Jahr 2007 hatte der Designer John Varvatos die Nummer 315 Bowery übernommen, nicht freilich, ohne seinem Vormieter Tribut zu zollen. Sogar eine Originalwand des CBGB mit einer Fünffachschicht an Aushangzetteln von Konzertankündigungen bis zu Untermietgeboten hatte Varvatos hinter einer Plexiglasscheibe erhalten. Warum sollte er schließlich nicht vom Ruhm dieser Stätte profitieren, deren wildes Image bestens zu seinem Stil passt.

Die Erfahrung stimmte mich schwermütig, schockiert war ich jedoch nicht. Denn die Varvatos Boutique an der Bowery war die perfekte Metapher für das, was in New York passiert ist, seit ich Ende der achtziger Jahre erstmals als Student hierherkam.

Damals, in den Semesterferien 1990, absolvierte ich ein Praktikum bei einem Buchverlag im brandneuen Bertelsmann-Wolkenkratzer am Times Square. Der Glasturm war seinerzeit ein Unikum an der berühmten Kreuzung von Broadway und Seventh Avenue – das erste Gebäude dessen, was heute als der neue Times Square gilt.

Den Weg von der U-Bahn ins Büro legte man damals am besten hastigen Schrittes zurück, den Blick starr nach vorne gerichtet. Die 42nd Street war selbst am frühen Morgen ein eher unangenehmes Pflaster. Junkies und Bettler saßen auf dem Bordstein, Prostituierte buhlten rund um die Uhr um Kundschaft. Pornokinos wechselten sich mit Peepshows ab, im U-Bahn-Schacht roch es nach Urin und Schlimmerem. Das geografische Zentrum der wichtigsten Metropole des 20. Jahrhunderts war ein Sumpf von Elend und Schmuddel.

Es gab damals sicher niemanden in New York, der nicht wollte, dass hier etwas passiert. Mit dem, was aus dem Times Square inzwischen geworden ist, ist allerdings auch kaum ein New Yorker glücklich. Wer nicht dort arbeiten muss oder eine Karte für eine Vorstellung im umliegenden Theaterdistrikt hat, sucht die Gegend unter allen Umständen zu meiden.

Der Times Square ist heute ein Themenpark für die rund zweiundfünfzig Millionen Touristen, die jährlich die Stadt überfluten. Er erfüllt willig ihre Erwartungen an das pulsierende Herz New Yorks. Die blinkenden, funkelnden Neonreklamen an den Fassaden der neuen glänzenden Wolkenkratzer versprechen das, was sich jeder Besucher von New York erhofft – Aufregung, Unterhaltung, Stimulation. Die Dauerverstopfung der verkehrsreichsten Kreuzung Amerikas mit ihren verzweifelten Taxifahrern, suizidalen Fahrradkurieren und Hunderttausenden flanierenden Besuchern aus aller Welt bietet auf Straßenebene die »typische« Manhattan-Erfahrung der berauschenden Dichte.

Wenn man dann aber genau hinschaut, was es am Times Square zu erleben gibt, ist die Enttäuschung groß. Die Geschäfte sind Niederlassungen globaler Ketten – man kann im Disney Store ein Micky-Mouse-Kostüm für die kids kaufen, in Toys’R’Us die neueste Barbiekollektion oder sich in Forever 21 mit der neuesten Teenie-Mode eindecken. Es gibt nichts hier, was eine Familie aus dem Mittleren Westen nicht auch in der shopping mall vor ihrer Haustür findet. Um die Gastronomie ist es nicht besser bestellt – man hat die Wahl zwischen Massenabfertigung im überteuerten Planet Hollywood oder im ebenso überteuerten Hard Rock Cafe, die jeweils identisch auch in Los Angeles, London oder Hongkong zu finden sind. Das Beste am neuen Times Square ist noch die große erdbeerrote Freitreppe mitten auf dem Father Duffy Place, wo man sich niederlassen und all das Blinken und Wuseln so lange auf sich wirken lassen kann, bis das Kopfweh einsetzt.

Das digitale Dauerflimmern des Times Square ist Kernbestandteil der »Marke« Times Square. Die Public-Private Partnership Times Square Alliance, die die Neubebauung des Platzes geplant und durchgeführt hat, hat die Montage von Neon- oder Plasma-Anzeigen an den Fassaden zur Auflage gemacht. Es ist Zweck und Wiedererkennungsmerkmal des Times Square, zu funkeln.

Die Identität des Platzes als glitzerndes Zentrum New Yorks stammt aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, als er genau das war. Kein Platz der Welt machte damals einen derart verschwenderischen Gebrauch von der noch neuartigen elektrischen Leuchtschrift. Die zahllosen Theater, Kabaretts, Jazz- und Tanzclubs versuchten sich im Kampf um das elegante New Yorker Publikum mit größeren, bunteren Neon-Schriftzügen gegenseitig auszustechen.

Anders als heute steckte damals hinter den Lichtern der Großstadt allerdings tatsächlich jene Aufregung und Dekadenz, die heute am Times Square nur noch eine vage Erinnerung sind, eine Sehnsucht, die kaum ein Besucher mehr genau verorten kann. Es ist, wie der Städtetheoretiker Rem Koolhaas, Verfasser des Manhattan-Manifests »Delirious New York« schreibt, die »Erinnerung an eine Erinnerung«. Die Vergangenheit, die hier vorgeblich erhalten wird, ist unendlich weit entfernt, schreibt Koolhaas weiter, es ist, als sähe man sie durch das falsche Ende eines Teleskops.

Was uns zurück in die John-Varvatos-Boutique im East Village bringt. Zu der Zeit, in der ich am Times Square Lektoratspraktikant war, lebte ich im East Village. Das CBGB war damals noch in vollem Betrieb, Nacht für Nacht kreischten schrille Gitarrenklänge aus dem grottigen Barraum auf die Bowery, wo die Punks und die, die es sein wollten, gemeinsam mit den Pennern der Bowery standen und sich mit billigem Fusel zudröhnten.

Das East Village war damals Zentrum einer authentisch gewachsenen Gegenkultur. Seit den fünfziger Jahren waren Künstler, Dichter, Hippies und Aussteiger aus dem immer teurer werdenden Greenwich Village in das bis dahin vernachlässigte Viertel polnischer, ukrainischer und puertorikanischer Einwanderer geströmt. Sie hatten sich in den vernachlässigten Mietshäusern eingenistet, wo man praktisch umsonst leben konnte, und eine einzigartig fruchtbare kreative Umgebung geschaffen. Charlie Parker lebte und spielte hier ebenso wie Lou Reed. Jean-Michel Basquiat und Keith Haring malten im East Village, und wenn man im ukrainischen Diner Odessa am Tompkins Square für zwei Dollar gebratene Eier frühstückte, traf man nicht selten den Beat-Dichter Allen Ginsberg an.

Im Tompkins Square Park selbst stand damals eine Zeltstadt, in der Obdachlose unbehelligt leben konnten, unterstützt und versorgt von den Anarchisten und Punks, die umliegende Häuser besetzt hatten. Es wurden Essensreste von den Restaurants im Viertel gesammelt, Altkleider, ja sogar Duschen wurden aufgestellt. Es war ein aggressiver Akt der Aneignung öffentlichen Raumes und der Weigerung, die von der Obrigkeit verordneten Nutzungsbeschränkungen zu akzeptieren – ein Akt, der die »Occupy«-Bewegung um mehr als dreißig Jahre vorwegnahm.

Anfang der neunziger Jahre wurde der Tompkins Square dann gewaltsam geräumt. Die Punks und Anarchos gaben sich nach einer mehrtägigen Straßenschlacht geschlagen. Ich kann mich noch an die Feuer erinnern, die in diesen Tagen auf der Avenue B brannten und an die Trommeln im Park, die ich in meiner Wohnung an der 11th Street hörte und die dann über Nacht plötzlich verstummten. Mit dem letzten Paukenschlag am Tompkins Square begann die Gentrifizierung des East Village und in dessen Folge ganz Manhattans – jener Prozess, der im heutigen Times Square und in der John-Varvatos-Boutique mündete.

Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sich kaum etwas geändert hatte, als ich 2002 nach beinahe zehn Jahren erstmals wieder durch die Straßen des East Village lief. Am St. Mark’s Place gab es noch immer die gleichen Tattoo-Läden, das Life Café am Tompkins Square war noch immer der beliebteste Brunch-Spot für die Punk-Bands, die in den Clubs des Viertels spielten. Das Love and Coffee an der Second Avenue verkaufte noch immer den gleichen Hippie-Kitsch wie zehn Jahre zuvor und sogar das Odessa gab es noch. Das Einzige, was sich geändert hatte, war, dass ich nun nicht mehr dreihundert Dollar für eine heruntergekommene, aber geräumige Wohnung bezahlte, sondern zwölfhundert Dollar für ein fensterloses Zimmer.

Die Gentrifizierung von New York, jene Amöbe, die sich immer weiter auch noch in die letzten Außenbezirke ausbreitet, vollzieht sich nach dem Muster John Varvatos. In der Stadt, die sich einst durch ihren Willen auszeichnete, immer wieder Tabula rasa zu machen und von vorne anzufangen, ist die Zeit scheinbar stehen geblieben. Jedes Viertel, so scheint es, sucht sich seine glanzvollste Epoche aus und versucht, diese als zuverlässige Erfahrung für die Besucher zu konservieren: Die Subkultur-Tage des East Village, die Boheme-Jahre der dreißiger und vierziger Jahre im West Village, die glanzvollen Theater- und Revue-Tage am Times Square. Jeder Stadtteil ist eine Marke mit einer leicht identifizierbaren Identität, die sich Wohnungskäufern und Touristen durch Slogans und Bildklischees rasch vermitteln lassen. Viertel mit einem schlechten Ruf, wie etwa Hell’s Kitchen, werden flugs umbenannt – das einstige irische Arbeiterviertel heißt heute vornehm Clinton Hill.

Es war eine ernüchternde Erfahrung, nach und nach zu begreifen, was aus dem New York geworden war, nach dem ich mich zehn Jahre lang in Deutschland gesehnt hatte, jenes New York der späten achtziger Jahre, das gefährlich und überwältigend war, aber auch offen und frei. Aus jener Stadt, in der niemand ein Außenseiter war, weil jeder ein Außenseiter war, jenes Sammelbecken für Leute, die zu anders waren, um anderswo zurechtzukommen. Aus jenem New York, wo es so viele Lebensstile und Lebensentwürfe gab wie Bewohner.

Natürlich bin ich mir bei aller Nostalgie nach dieser Zeit der Tatsache bewusst, dass es problematisch ist, diese Zeit zu verklären. Der Journalist Justin Davidson hatte sicherlich recht, als er 2008 im New York Magazine schrieb: »Wollen alle die, die sich so leidenschaftlich nach dieser Zeit sehnen, wirklich die verkohlte Bronx der achtziger Jahre wiederhaben? Wollen sie wieder die verwüsteten Nachbarschaften Brooklyns zurückhaben und die vernagelten Wohnhäuser in Harlem?«

Jeder Stadtsoziologe, der eine weitere historische Brennweite hat, wird einem erklären, dass diese Zeit nur eine Übergangsphase von der industriellen zur postindustriellen Stadt war, eine Phase, die nicht andauern konnte und deren Chaos ebenso destruktiv war wie produktiv. Und doch kann man sich am neuen Times Square oder im neuen East Village dem Gefühl nicht entziehen, dass mit ihrem Ende etwas Wesentliches verloren geht.

New York droht sich in ein vermarktbares Produkt, in ein Klischee zu verwandeln – in jene Dystopie der »generischen Stadt«, die Rem Koolhaas schon zu Beginn der neunziger Jahre vorhersagte. Die generische Stadt ist eine Stadt »ohne Geschichte und Identität, ein Ort gedämpfter Sinneswahrnehmungen und erstorbenen Straßenlebens«, schrieb Koolhaas damals. Oder, wie die Stadtsoziologin Sharon Zukin es ausdrückt, ein Ort, an dem unsere Selbstwahrnehmung von unserer Erfahrung eines realen urbanen Raumes losgelöst ist. Die Nachbarschaften werden gleichförmig und beliebig, man weiß im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr, wo man ist.

Das ist das Gegenteil dessen, was die Hauptstadt der Moderne einmal ausgemacht hat – jene überwältigende Sinneserfahrung eines unbarmherzig realen Ortes, von der jeder Besucher der letzten hundert Jahre geschwärmt hat. Und dieses alte New York des 20. Jahrhunderts ist auch noch nicht ganz verschwunden. Es existiert noch an den vermeintlichen Rändern der Stadt, in Harlem etwa, wo der Kampf gegen die Gentrifizierung noch nicht entschieden ist, in Coney Island, das um seine Identität als Himmel der einfachen Leute ringt, oder auch in der Gegend rund um das World Trade Center, das seit dem 11. September 2001 ein Schlachtfeld all jener Kräfte ist, die ein leidenschaftliches Interesse an der Zukunft der Stadt haben, von den Immobilienmogulen über die Politiker bis hin zu den »Occupy«-Demonstranten, die das scheinbar Unaufhaltsame stören und sabotieren, so gut sie können.

Diese Orte und diese Menschen fesseln mich, seit ich wieder in New York bin. Von ihnen handelt die Mehrzahl der Geschichten in diesem Buch. Es sind Geschichten eines Übergangs von einer Epoche in eine neue. Es sind Geschichten vom Ringen einer der großartigsten Städte der Welt um ihre Identität.

Across 110th Street

Harlem im Zeitalter Obamas

Im Schaufenster einer kleinen Wäscherei an der 146th Street in Harlem hängt ein vergilbter Zeitungsausschnitt. Seit vier Jahren klebt er jetzt da, die Farben sind längst verblasst.

Es ist die Titelseite der New York Daily News vom 21. Januar 2009. Darauf zu sehen sind Michelle und Barack Obama, wie sie während der Inaugurationsfeierlichkeiten in Washington strahlend der Menge zujubeln. Unter dem Foto steht in riesigen Lettern »A Glorious Beginning«.

Ich laufe beinahe jeden Tag auf dem Weg von der U-Bahn zu meiner Wohnung in der 151st Street an dem Geschäft vorbei, und jedes Mal muss ich daran denken, wie es war, damals, 2008, als man in jedem Geschäft in Harlem solche Ausschnitte sah und als jeder Barber Shop die blauen Wahlkampfschilder mit dem Aufdruck »Obama-Biden 08« an der Tür hängen hatte.

Man konnte damals gar nicht genug bekommen von Obama im berühmtesten Schwarzenviertel der USA. Das Gefühl, dass nun wirklich ein glorreiches neues Zeitalter anbricht, lag wie Fliederduft in der Luft. Die Wahl Obamas schien damals ein Signal zu sein, dass die Gleichstellung von Schwarz und Weiß erstmals in der amerikanischen Geschichte mehr ist als nur ein Lippenbekenntnis. Es war ein Hoffnungsschimmer, dass die Versprechen der amerikanischen Verfassung nun endlich auch für Afroamerikaner gelten, dass sie wie jeder andere am amerikanischen Traum teilhaben können.

Vier Jahre später, im Herbst 2012, waren die Plakate längst wieder aus dem Straßenbild von Harlem verschwunden. Von der Wiederwahlkampagne des Präsidenten war praktisch nichts zu sehen. Der Enthusiasmus für Obama von 2008 schien unter der schwarzen Bevölkerung endgültig verpufft zu sein.

Die Dinge in Harlem gingen ihren Gang, als wäre nichts geschehen. Weite Teile des Viertels waren das gleiche Ghetto, das sie schon immer waren, jenes traurige »Symbol der ewigen Entfremdung des schwarzen Mannes im Land seiner Geburt«, das der Harlemer Schriftsteller Ralph Ellison schon 1948 beschrieb. An den Straßenecken lungerten wie immer arbeitslose Jugendliche herum und verdienten sich mit Drogendeals ein paar Dollar. Mädchen, die viel zu jung waren, um Mütter zu werden, schoben Kinderwagen vor sich her. Die oft kümmerlichen kleinen Gemischtwarenläden zeigten mit großen Pappschildern an, dass sie Lebensmittelmarken nehmen, der Ladenbesitzer war oft durch eine dicke Plexiglasscheibe vor Pistolenkugeln geschützt.

Jede Woche war in den New York Amsterdam News, der fünfundneunzig Jahre alten Stadtteilzeitung, zu lesen, dass in den Sozialbausiedlungen wieder junge schwarze Männer gestorben sind, meistens von der Hand anderer junger schwarzer Männer. Die Schüsse, die nachts das laute Treiben und die Musik auf der Straße durchschnitten, waren so alltäglich, dass man sie kaum mehr beachtete.

Rezoning