Salla Simukka

So rot wie Blut

Aus dem Finnischen
von Elina Kritzokat

 

 

 

 

 

 

 

Die Übersetzung wurde gefördert von
FILI – Finnish Literature Exchange

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Punainen kuin Veri
bei Tammi Publishers. Copyright © Salla Simukka 2013.
German edition published by agreement with Tammi Publishers and
Elina Ahlback Literary Agency, Helsinki, Finnland.

1. Auflage 2014
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2014 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat
Nachweis der Quellen: siehe S. 281
Cover: Originaldesign von Laura Lyytinen unter Verwendung
eines Fotos von © Serg Zastavkin/shutterstock.com
ISBN 978-3-401-80394-4

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Es war einmal mitten im Winter und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Hätt ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz.

 

Sonntag, 28. Februar

 

 

 

 

 

 

 

 

1

Die Schneedecke leuchtete weiß.

Vor fünfzehn Minuten hatte sich auf den alten Schnee eine neue weiche Schicht gesenkt. Vor fünfzehn Minuten war alles noch möglich gewesen. Rein und schön hatte die Welt ausgesehen und am Horizont lockte eine Zukunft, die hell war, friedlich und frei. Eine Zukunft, die ein gewagtes Risiko wert war: alles auf eine Karte zu setzen, sich mit einem einzigen Ruck loszureißen.

Vor fünfzehn Minuten hatte sich ein leichtes Daunenfederbett aus frostigen Flocken über alles gelegt; dann hatte der Schneefall genauso plötzlich aufgehört, wie er eingesetzt hatte. Zwischen den Wolken blitzte nun sogar ein Sonnenstrahl hervor. Einen so schönen, verheißungsvollen Tag hatte es den ganzen Winter nicht gegeben.

Nun mischte sich Rot in das Weiß: Es breitete sich aus, eroberte mehr Fläche, sog sich in immer neue Schneekristalle, färbte sie dunkel ein. Auch weiter entfernt leuchteten Kleckse, die sich unentwegt ausdehnten. Das Rot war so hell, dass es – besäße es eine Stimme – gellend geschrien hätte.

Natalia Smirnova starrte aus braunen Augen auf den rot gesprenkelten Schnee – und sah nichts. Sie dachte auch nichts. Sie hoffte nichts. Sie fürchtete nichts mehr.

Zehn Minuten zuvor hatte Natalia gehofft und Angst gehabt wie nie zuvor in ihrem Leben. Mit zitternden Händen hatte sie Geldscheine in ihre Louis-Vuitton-Handtasche gestopft. Dabei hatte sie auf jedes noch so kleine Geräusch gelauscht. Sie hatte sich eingeredet, dass es keinen Grund zur Panik gab, schließlich hatte sie alles selber eingefädelt. Zugleich wusste sie, dass kein Plan dieser Welt absolute Sicherheit bot. Selbst wenn er über Monate gereift und penibel ausgearbeitet war, konnte er doch durch einen kleinen Windstoß aus der falschen Richtung in sich zusammenfallen.

In ihrer Tasche lagen gleich neben dem Geld ihr Pass und das Flugticket nach Moskau. Mehr nahm sie nicht mit. Am Flughafen würde ihr Bruder sie mit einem Mietwagen abholen und zu der Blockhütte bringen, die mehrere Hundert Kilometer entfernt in einem Wald lag und von deren Existenz kaum jemand wusste. Dort wartete ihre Mutter mit der dreijährigen Olga auf sie, ihrer süßen kleinen Tochter, die sie schon über ein Jahr nicht gesehen hatte. Ob sie sich überhaupt noch an sie erinnerte? Sie würden Zeit haben, sich neu kennenzulernen; Natalia würde mindestens einen Monat untertauchen müssen, vielleicht auch zwei oder länger. So lange, bis sie glaubte, in Sicherheit zu sein. So lange, bis man sie vergessen hatte.

Natalia hatte die hartnäckige Stimme in ihrem Kopf zum Schweigen gebracht. Die Stimme, die darauf beharrte, dass man sie nicht vergessen, sie nicht entkommen lassen würde. Sie hatte sich eingeredet, nicht wichtig genug zu sein und dass man sofort Ersatz für sie beschaffen würde. Dass es zu mühsam wäre, sie in ihrem Versteck aufzustöbern.

Immerhin passierte es regelmäßig, dass jemand verschwand. Und damit auch Geld. Das gehörte zum Geschäftsrisiko, war eine Art unvermeidlicher Schwund. Wie das Aussortieren von überreifem Obst im Supermarkt, das man nicht mehr verkaufen konnte.

Das Geld hatte Natalia nicht einmal gezählt. Sie hatte einfach so viel wie möglich mitgenommen. Die meisten Scheine waren stark zerknittert, aber das war unwichtig. Ein knitteriger Zweihunderter war genau so viel wert wie ein glatter. Damit konnte man sechs Wochen lang Essen kaufen; wenn man sparsam war, sogar acht. Damit konnte man einen unliebsamen Menschen ausreichend lange zum Schweigen bringen. Ein oder zwei Zweihunderter war für viele Anreiz, ein Geheimnis für sich zu behalten.

Natalia Smirnova, zwanzig Jahre alt, lag bäuchlings im Schnee, die Wange im kühlen Weiß. Doch das schmerzhafte Prickeln der Kälte spürte sie nicht. Ihre Haut nahm die Eiseskälte von fünfundzwanzig Grad minus nicht wahr.

Kalter Lenz im fremden Land,

Natalia, bleibst ungekannt.

Das hatte ihr der Mann mit rauer, unmusikalischer Stimme vorgesungen. Das Lied hatte ihr nicht gefallen; die Natalia in dem Lied kam aus der Ukraine, sie selbst aber stammte aus Russland. Doch dass der Mann überhaupt gesungen und ihr dabei übers Haar gestreichelt hatte, das hatte ihr gefallen. Die Wörter hatte sie zu überhören versucht und es war nicht einmal schwer gewesen. Sie konnte zwar ein wenig Finnisch, verstand sogar wesentlich mehr, als sie sprechen konnte, aber wenn sie ihren Kopf ausschaltete und sich entspannte, verschmolzen die fremden Wörter zu einem Silbenstrom ohne Bedeutung, zu bloßen Lauten, deren Hauch ihren Nacken kitzelte.

Vor fünf Minuten hatte Natalia sogar noch an den Mann selbst und seine unbeholfenen Hände gedacht. Ob er sie vermissen würde? Vielleicht. Vielleicht ein bisschen. Aber nicht genug, denn er hatte sie nie ernsthaft geliebt. Hätte er sie geliebt, hätte er die Dinge für sie geregelt, so, wie er es oft genug versprochen hatte. Jetzt hatte sie die Dinge eben selbst regeln müssen.

Vor zwei Minuten hatte Natalia die mit Scheinen gefüllte Handtasche zuklacken lassen. Sie hatte rasch die Spuren beseitigt und sich noch einen Blick im Spiegel zugeworfen: blondierte Haare, braune Augen, schmal gezupfte Augenbrauen und leuchtend rote Lippen. Blasse Haut. Augenringe von durchwachten Nächten. Sie war bereit zum Aufbruch. In ihrem Mund lag der Geschmack von Freiheit. Und von Angst. Das Gemisch schmeckte nach Eisen.

Vor zwei Minuten hatte sie ihr Spiegelbild angesehen und ihr Kinn emporgereckt. Sie würde ihre Chance nutzen.

Doch dann hatte sie den Schlüssel im Schloss gehört. Sie war vor dem Spiegel erstarrt. Sie zählte Schritte, von einem, von zwei, von drei Männern. Das Trio. Das Trio kam näher. Sie konnte nur noch fliehen.

Vor einer Minute war Natalia durch die Küche zur Terrassentür gerannt, hatte am Schloss gefingert, das sie vor lauter Zittern nicht aufbekam; wie durch ein Wunder war die Tür doch aufgegangen, panisch war sie über die schneebedeckte Terrasse gehetzt, hinein in den Garten. Ihre Lederstiefel versanken in Schneewehen, aber sie rannte weiter, ohne etwas zu sehen, ohne etwas zu hören. Sie konnte nur hoffen, dass sie vielleicht doch davonkam, dass ihr die Flucht gelingen und sie am Ende gewinnen würde.

Vor dreißig Sekunden ertönte das leise Klacken einer schallgedämpften Pistole und eine Kugel durchschlug erst Natalia Smirnovas Mantel, dann ihre Haut; ging knapp an der Wirbelsäule vorbei, durchlöcherte ihre Organe und riss am Ende den Griff der Louis-Vuitton-Tasche ab, die Natalia vor den Bauch gepresst hielt. Sie fiel vornüber in den reinen, unberührten Schnee.

Der rote Fleck unter ihr breitete sich weiter aus, verschlang immer mehr weiße Schneekristalle. Noch war das Rot warm und gierig, doch mit jeder Minute würde es weiter auskühlen.

Jetzt näherten sich schwere Schritte.

Natalia Smirnova hörte sie nicht mehr.

 

Montag, 29. Februar, frühmorgens

 

 

 

 

 

 

 

 

2

An der Tür prallte das Trio fast aufeinander. Jeder wollte als Erstes rein.

»Hey, Platz da, sonst krieg ich den Schlüssel nicht ins Loch.«

»Du kriegst eh nie was ins Loch.«

Wieherndes Lachen, ein nervöses Pssst, noch lauteres Lachen.

»Jetzt lasst mich doch mal. So, Schlüssel ist drin. Passt. Und langsam umdrehen. Ganz langsam. Wow. Hammer. Ist doch unglaublich, dass man mit einer winzigen Drehung ein Schloss aufkriegt! Und dass sich das irgendwer mal ausgedacht hat! Also wenn ihr mich fragt, ist das das achte Weltwunder.«

»Jetzt halt endlich die Klappe, los, wir müssen da rein!«

Das Trio öffnete die schwere Tür und rannte los. Einer stolperte fast. Eine stieß hohe schrille Schreie aus und kicherte über den lauten Hall. Einer durchsuchte fiebrig sein Gedächtnis nach dem Code für die Alarmanlage und gab schließlich ganz langsam eine Ziffer nach der anderen ein.

»Eins … sieben … drei … zwei. Mein Gott, das war richtig! Das ist das neunte Weltwunder! Einfach genial, wie so eine Alarmanlage funktioniert! Jetzt weiß ich endlich, was ich später mal werde: Ich produzier Schlösser und Alarmanlagen. Super Job, oder? Oder noch besser, hihi – ich geh in den Sicherheitsdienst. Security ist alles.«

Die anderen hörten nicht hin und rannten laut lachend durch die leeren dunklen Gänge. Der dritte rannte ihnen hinterher; das Lachen hallte von den Wänden wider und stieg bis ganz oben ins Treppenhaus.

»Wir sind die Besten!«

Besten. Esten. Sten. Ten. En. N.

»Und die Reichsten!«

Sie rannten sich absichtlich über den Haufen und purzelten übereinander. Sie rollten über den Boden und glucksten. Machten Hampelmannbewegungen im Liegen. Dann fiel es einem ein:

»Wir sind reich, aber das Geld ist nicht sauber.«

»Stimmt. Dirty, dirty money.«

»Egal, ab mit uns in die Dunkelkammer. Da wollen wir schließlich hin, oder?«

Hätten sie sich doch nur genauer erinnert an das, was vorher passiert war. Aber die Ereignisse lagen wie in einem Nebel, in dem nur hier und da ein Bild aufleuchtete. Irgendwer hatte gekotzt. Im Swimmingpool wurde nackt gebadet. Eine verschlossene Tür, die normalerweise nicht verschlossen war. Eine runtergefallene Kristallvase, in deren Scherben sich jemand den Fuß verletzte. Blut. Musik, die zu laut wummerte. Oops, I did it again. Der fast vergessene Hit, der auf repeat lief. I played with your heart, got lost in a game. Irgendwer schluchzte unaufhörlich, wollte aber keinen Trost. Der Boden war spiegelglatt vom vergossenen Rum. Es roch stechend und süß zugleich.

Die Erinnerungsfetzen ordneten sich nicht zu einem logischen Ganzen. Wer hatte die Plastiktüte dabeigehabt? Wann genau war die Tüte aufgetaucht? Wer hatte sie aufgeknotet, die Hand reingesteckt und seine Finger abgeleckt? Und wann hatten sie alles kapiert?

Egal. Jetzt wäre was zum Einwerfen gut, und zwar sofort.

»Hat einer von euch was dabei? Das wär es jetzt, oder?«

»Guck mal hier.«

Drei Stück. Für jeden eine. Sie steckten sie gleichzeitig in den Mund und ließen sie auf der Zunge zergehen.

»Das kickt. Oh yeah.«

Dann in die Dunkelkammer. Dunkelheit. Doch einer machte das Licht an.

»Es werde Licht – und es ward Licht!«

Zack, die Plastiktüte auf den Tisch.

»Boah, das stinkt ja.«

»Quatsch, Geld stinkt nicht. Geld riecht gut!«

»Unglaublich, wie viel das ist.«

»Und das teilen wir jetzt gerecht auf.«

»Ich fass es nicht, das ist der Wahnsinn. Das gibt’s doch gar nicht. Oh Gott, ich liebe euch. Ich liebe die ganze Welt!«

»Hör auf, mich abzuknutschen, sonst werd ich geil und kann mich nicht mehr konzentrieren.«

»Kein Problem, wir schieben sofort ’ne Nummer!«

»Kriegt euch mal ein, hier wird jetzt nicht rumgemacht! Wir müssen sofort das Geld sauber kriegen.«

Wasser in die Wässerungsbecken. Und rein mit den Scheinen. Irgendwann hingen die Scheine alle an der Trockenleine, alle einzeln.

»Unglaublich. Das nenn ich Geldwäsche.«

 

Montag, 29. Februar

 

 

 

 

 

 

 

 

3

»Aufstehen! Sofort! Und komm ja nicht auf den Gedanken, die Schlummertaste zu drücken!«

Die laute Stimme weckte Lumikki Andersson sofort. Sie kannte sie leider nur zu gut – es war ihre eigene. Sie hatte sie irgendwann aufgenommen und als Weckton auf ihrem Handy gespeichert, da sie gehofft hatte, so am besten aus den Federn zu kommen. Es funktionierte tatsächlich. Sie kam wirklich nicht auf den Gedanken, die Schlummertaste zu drücken.

Benommen saß sie da und spähte zum Muminkalender an der Wand. Montag, der 29. Februar. Schalttag. Der dümmste Tag überhaupt. Wieso war das eigentlich kein Feiertag? Der Tag war doch sowieso überflüssig. Wozu sollte sich heute irgendwer anstrengen und produktiv sein?

Lumikki schlüpfte in ihre blauen Igelpuschen, schlurfte in die Kochnische und gab Wasser und Kaffee in die Espressokanne. Ohne starken Kaffee ging gar nichts. Es war sowieso noch viel zu dunkel, um richtig wach zu sein.

Sie hasste diese Phase des Winters. Minusgrade und Schnee, und von beidem zu viel. Der Frühling war noch lange nicht in Sicht und der Winter zog sich endlos hin, erbarmungslos ließ er alles erstarren. Man fror zu Hause, man fror draußen, man fror in der Schule. Nur beim kurzen Eislochbaden fror man seltsamerweise nicht, aber ewig konnte man das ja auch nicht machen. Lumikki zog einen riesigen grauen Wollpulli an und goss sich Kaffee ein. Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl in der Einzimmerwohnung, die fürstliche zwanzig Quadratmeter groß war. Sie schmiegte sich an die abgenutzte Stofflehne, trank Kaffee und wartete darauf, dass ihr wärmer wurde. Obwohl sie im Herbst die Ritzen abgedichtet hatte, zog es durch die Fenster.

Der Kaffee schmeckte nach Kaffee und mehr wollte sie auch nicht. Sie konnte diese ganzen komischen Schoko-Kardamom-Nuss-Vanille-Sorten nicht ausstehen. Kaffee musste schwarz und stark sein, fertig, Kaffee war Kaffee. Das galt auch für alles andere. Eine Wohnung musste nur eine Wohnung sein und gut.

Beim letzten Besuch hatte ihre Mutter wieder gejammert: »Willst du es dir hier gar nicht gemütlich machen? Als Zuhause einrichten?« Nein, wollte sie nicht. Lumikki hatte bereits eineinhalb Jahre in dieser Wohnung gewohnt, ihr genügten die Matratze auf dem Fußboden, der Schreibtisch, der Stuhl und ihr Laptop. Die ersten Monate hatte ihre Mutter ständig versucht, ihr ein Bett und ein Bücherregal aufzuschwatzen, aber Lumikki hatte sich erfolgreich dagegen gewehrt. Ihre Bücher lagen in Stapeln auf dem Fußboden und das einzige wohnliche Element war der Kalender mit den schwarz-weißen Muminfiguren. Wozu hätte sie sich ein Nest bauen sollen? Es womöglich noch extravagant einrichten sollen? Das hier war einfach das Zimmer, in dem sie wohnte, bis die Oberstufe zu Ende war. Sie hatte nicht vor, hier länger Wurzeln zu schlagen. Wenn sie erst ihr Abi hatte, würde sie sowieso woandershin gehen; sie war bereit zum Aufbruch und wollte sich nicht an ein gemütliches Zuhause klammern. Und schon gar nicht an irgendwelche Leute.

Auch bei ihren Eltern in Riihimäki fühlte sie sich nicht mehr zu Hause, sondern nur noch wie ein Gast. Möbel und Zimmerdeko erinnerten sie an Zeiten, die sie lieber vergessen hätte. Aber das war nicht möglich, die Vergangenheit verfolgte sie ja sogar bis in die Träume.

Auf ihren Wunsch auszuziehen, hatten ihre Eltern widersprüchlich reagiert. Manchmal schien es ihr, als wären sie erleichtert. Klar, die Stimmung bei ihnen zu Hause war oft angespannt gewesen, aber das war sie schon immer. Solange Lumikki denken konnte. Sie war nie dahintergekommen, warum eigentlich. Soweit sie wusste, stritten ihre Eltern sich nie und sie selbst hatte ihnen keine Probleme bereitet. Als ihr Umzug näher rückte, fingen ihre Eltern dann mit diesen langen Umarmungen an, die sie sonderbar und ein wenig unangenehm fand, schließlich war das bei ihnen sonst nicht üblich gewesen. Ihre Mutter hatte nach solch einer Umarmung ihr Gesicht in die Hände genommen und sie eindringlich angeschaut.

»Wir haben doch nur dich, Lumikki. Nur dich.«

Dabei hatte sie ausgesehen, als könne sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Lumikki fühlte sich immer unwohler. Als sie endlich mit ihren Sachen in der neuen Wohnung in Tampere angekommen war und – nachdem ihre Eltern das Haus verlassen hatten – die Tür hinter sich zumachte, fiel ihr eine schwere Last von den Schultern, von deren Existenz sie bis dahin gar nicht gewusst hatte.

»Kommst du auch wirklich klar hier?«, fragte ihre Mutter immer wieder.

Ihr Vater war pragmatischer.

»Das Mädchen wird doch bald volljährig. Lumikki wird schon zurechtkommen.« Er war schwedischsprachiger Finne, Lumikki war mit zwei Sprachen aufgewachsen.

Und in der Tat kam sie gut klar. Mit jedem Tag besser.

Aus dem Spiegel im winzigen Bad sah ihr heute ein müdes Mädchen entgegen. Das Koffein wirkte zu langsam. Lumikki spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und band ihre braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihre Eltern hatten sie mit einem Namen gestraft, der nicht mit ihrem Aussehen übereinstimmte. Lumikki. Mal ehrlich, wer nannte seine Tochter schon Schneewittchen? Weder hatte sie schwarze Haare noch weiß schimmernde Haut noch aufsehenerregend rote Lippen. Mit Haarfarbe und Make-up hätte sie ihr Spiegelbild ihrem Namen annähern können, aber wozu? Ihr genügte, was sie im Spiegel sah, und die Meinung anderer interessierte sie nicht besonders.

Drei Sekunden lang überlegte sie, was sie anziehen sollte, dann beschloss sie, den grauen Pulli anzulassen, und schlüpfte in eine Jeans. Dazu Doc Martens, ihre schwarze Winterjacke, den grünen Schal, Handschuhe und die graue Mütze. Und der Fjällräven-Rucksack.

Ihr Magen knurrte, aber der Kühlschrank war leer und das Licht darin ging auch nicht mehr an. Sie würde sich in der Schule ein Brötchen kaufen müssen oder zwei. Und unbedingt noch mehr Kaffee.

An der Schultür schlug ihr der übliche Lärm entgegen. Alle hatten es total eilig und mussten das lautstark verkünden – all diese brillanten, kreativen und talentierten Schüler der Kunstoberstufe. Lumikki wusste, dass Ironie nicht angebracht war, aber an manchen Tagen fiel es ihr schwerer als sonst, die grellen Klamotten und dramatischen Gesten ihrer Mitschüler zu ertragen. Diese wohlüberlegte, nach unausgesprochenen Regeln funktionierende Selbstdarstellung. Aber irgendwo hinter Lumikkis Genervtheit verbarg sich auch Dankbarkeit – immerhin war sie an der Schule angenommen worden und musste nicht weiter in Riihimäki wohnen. Sie hatte sich an der Schule in Tampere vor allem deshalb beworben, um endlich von zu Hause ausziehen zu können. Ohne einen triftigen Grund wie die angesehene Kunstoberstufe Tampere hätten ihre Eltern das nie akzeptiert. In den ersten Monaten an der neuen Schule hatte Lumikki das Gefühl, mitten im Paradies gelandet zu sein. Doch das Gefühl hatte sich mit der Zeit abgenutzt, das Leben hier war zum Alltag geworden und sie las aus den lächelnden Gesichtern ihrer Mitschüler jede Menge Maskerade, Neid, Wichtigtuerei und Unsicherheit.

Das Schulgebäude empfing sie zum Glück nicht nur mit Hektik und Lärm, sondern auch mit einer wärmeren Temperatur als draußen. So langsam wachten Lumikkis eingefrorene Glieder wieder auf. Gleich würde die unangeneh me Kribbelphase anfangen, wenn das Blut in den Zehen- und Fingerspitzen wieder in Bewegung kam. Dumm, dass sie zu Hause keine dicken Wollsocken angezogen hatte. Lumikki hängte Jacke, Mütze und Schal an der Garderobe auf und rannte die Treppen runter in die Mensa, neben der die kleine Cafeteria lag.

»Und, das Brötchen heute mit oder ohne Körner?«, fragte die Küchenhilfe.

»Heute mal von jedem eins«, sagte sie, »und noch einen großen Kaffee dazu.«

Die Frau hinter der Theke lachte. »Und bloß keinen Platz für Milch lassen!«

Lumikki setzte sich an einen Tisch und spürte ihre Arme und Beine wärmer werden. Dann kam das Kribbeln, aua, wirklich unangenehm. Aber danach war alles wieder gut. Sie legte ihre Finger einen Moment um den Kaffeebecher, biss dann in das große Brötchen, das lecker mit reifer Tomate und knackiger Paprika belegt war. Lumikki bezeichnete sich als »Vegetarierin auf eigene Kosten« und dahinter steckte das Konzept, dass sie nie selbst Fleisch kaufte. Wenn andere das taten und sie irgendwo ein Gericht mit Fleisch vorgesetzt bekam, dann aß sie mit. Vielleicht nicht ganz konsequent, aber eine praktische Regel für den Alltag.

An den Nachbartisch setzten sich drei Mädchen. Die Blonde warf ihre langen Haare über die Schulter, die Dunkelhaarige wuschelte sich durch ihre Kurzhaarfrisur, die Rothaarige spielte mit einer lockigen Strähne. Sofort roch es nach Baby Doll von Yves Saint Laurent, Fantasy von Britney Spears und Chérie von Miss Dior.

»Ich dreh durch, wenn der sich nachher immer noch benimmt, als wäre ich Luft. Auf der Party macht der Typ alles Mögliche mit mir und in der Schule grüßt er nicht mal richtig. Ich fass es nicht und der will achtzehn sein?«

»Ich dreh auch so schon durch. So fertig war ich lange nicht mehr, wir hätten die letzten Drinks nicht mehr runterkippen sollen. Keine Ahnung, was da drin war!«

»Also Leute, Moment mal, wir haben immerhin nur ordentlich gebechert.«

Große Augen, pseudoschockierte Mienen.

»Du meinst doch nicht etwa …?«

»Man hätte schon blind sein müssen, um Elisas Riesenpupillen zu übersehen. Und was die für eine Scheiße geredet hat.«

»Die redet doch immer Scheiße.«

»Aber das war Scheiße hoch hundert.«

Dann blickten sie sich misstrauisch um und steckten die Köpfe näher zusammen.

Lumikki trank ihren Kaffee aus und sah zur Uhr. Noch zehn Minuten, bis der Unterricht anfing. Sie packte das zweite Brötchen in ihren Rucksack und stand auf; das Getratsche des Parfümklubs fing an, sie zu nerven, und der aufdringliche Geruch war erst recht nicht auszuhalten.

Aufs Äußere fixierte Mädchen, die Wirtschaft oder Jura studieren würden und die an dieser Oberstufe gelandet waren, weil sie einen guten Notendurchschnitt hatten und »halt irgendwie kreativ« waren.

Und sonst?

Angehende Künstler und Intellektuelle, die in der Schule schon mal ordentlich Aufmerksamkeit tankten.

Kreativ angehauchte Mathegenies, die immer etwas verloren wirkten.

Und natürlich die Normalen, Durchschnittlichen, die die Flure bevölkerten, in der Mensaschlange standen und gleich aussahen, sich gleich anhörten, gleich rochen. In ein paar Jahren würde sich niemand mehr an ihre Namen erinnern. Die kannte man nicht mal heute.

Sympathische kluge Köpfe gab es selbstverständlich auch. Und Lumikki hatte nicht die Absicht, auf andere herabzublicken. Sie wusste schließlich, dass viele sich an eine Rolle klammerten, dass sie sich morgens eine Maske überstreiften, um in der Masse von mehreren Hundert Schülern ihren Platz zu finden. Sie machte das niemandem zum Vorwurf.

Für sich selbst hatte sie allerdings schon am ersten Schultag beschlossen, sich in keine Schublade stecken zu lassen und sich keiner Gruppe anzupassen – nur damit andere sie besser einordnen und irgendwelche Schlüsse über sie ziehen konnten.

Lumikki hatte den großen Einteilungsprozess in all die kleinen Grüppchen und Zirkel halbwegs interessiert und amüsiert beobachtet und sich selbst am Rand gehalten. Trotzdem war sie kein einzelgängerischer Freak, der sich in schwarzen Klamotten die Gänge entlangschlich. Man kannte ihren Namen.

Lumikki Andersson. Die aus Riihimäki, mit dem schwedischsprachigen Papa.

Die zu allem eine fundierte Meinung hatte.

Die in Philosophie, aber genauso auch in Physik Bestnoten schrieb.

Die in der Theaterklasse die Ophelia so spielte, dass einige Lehrer ausflippten und andere fast weinten.

Die bei gemeinsamen Veranstaltungen und Aktionen außerhalb des Unterrichts nicht mitmachte.

Die immer alleine aß, aber nie einsam aussah.

Sie war ein fremdes, unbekanntes Puzzleteil, für das es keinen vorherbestimmten Platz gab, das überraschenderweise aber so gut wie überall reinpasste.

Sie war nicht wie die anderen.

Und irgendwie war sie genau wie die anderen.

Lumikki stand an der Tür zur Dunkelkammer und blickte sich um. Niemand zu sehen. Sie betrat die Lichtschleuse, den kleinen Zwischenflur, und machte die Tür hinter sich zu. Dunkelheit umgab sie. Routiniert griff sie nach der Türklinke vor ihr und öffnete die Tür zur Kammer; sie kannte sich aus. Vollkommene Dunkelheit. Stille. Ein Moment ganz für sie allein, ehe der Unterricht losging. Die Reset-Taste drücken. Den Akku neu laden. Ihr tägliches Ritual, von dem niemand wusste. Eine Erinnerung an vergangene Zeiten und zugleich ein Stück Gegenwart. Jahrelang hatte Lumikki sich verstecken müssen, aus Angst. Geheime Winkel und verborgene Ecken zu kennen, war lebensnotwendig gewesen. Heute ging es nicht mehr um irgendeine Angst, sondern um das Bedürfnis nach einem privaten Ort inmitten von gemeinsam benutzten Räumen. Die Dunkelkammer war ihr Rückzugsort, an dem sie sich noch einmal entspannen konnte, ehe sie sich in das Gemenge aus Stimmen, Sätzen, Meinungen und Gefühlen begab.

Lumikki lehnte sich an die Wand und starrte mit offenen Augen ins Dunkel. Versuchte wie immer, einen Gedanken nach dem anderen loszulassen, bis ihr Kopf leer war. Die alltäglichen, eher banalen Gedanken zu Dingen wie Mathe, dem Einkauf nach der Schule und ob sie abends noch zum Bodycombat ging, konnte sie normalerweise am besten ziehen lassen; dann machte sie mit den schwierigeren Gedanken weiter. Heute allerdings konnte sie nicht mal diesen oberflächlichen Kram abschütteln – irgendwas verhinderte, dass sie sich entspannte. Irgendwas störte.

Der Geruch.

In der Dunkelkammer roch es anders als sonst. Sie kam nicht drauf, was es war. Sie machte einen Schritt in den Raum hinein. Fühlte etwas an ihrer Wange und zuckte zurück. Schaltete das Rotlicht ein.

Ein Zweihundert-Euro-Schein.

Dutzende Zweihundert-Euro-Scheine, zum Trocknen auf der Leine. Waren die echt? Lumikki befühlte den direkt vor ihrer Nase. Das Papier fühlte sich echt an. Sie vergewisserte sich, dass in den Wasserbecken keine Fotos lagen, und schaltete die normale Beleuchtung ein.

Hielt einen Schein ins Licht. Das Wasserzeichen war da, ebenso das Durchsichtsregister – die versteckte Zweihundert, die man erst im Gegenlicht sah. Auch das Hologramm und der Sicherheitsstreifen waren an ihrem Platz. Wenn diese Scheine Fälschungen waren, hatte jemand sehr gute Arbeit geleistet.

Das Wasser in den Becken war leicht rötlich. Lumikki steckte den Finger rein – Wasser.

Sie sah auf den Boden und entdeckte rotbraune, angetrocknete Flecken. Fand auf der Ecke des Scheins in ihrer Hand ebenfalls eine rotbraune Spur. In dem Moment fiel ihr auf, was in der Dunkelkammer nicht stimmte:

Es war der Geruch von altem Blut.

4

Lumikki starrte aus dem Klassenzimmer nach draußen, auf die raureifglitzernden Bäume und die alten Grabsteine. Nicht, dass die weiße Postkartenlandschaft sie interessierte. Sie war nur entspannender für die Augen als die komplizierten Integrationsaufgaben vorne an der Tafel. Sie musste jetzt über etwas anderes nachdenken als Mathe.

Sie hatte die Scheine in der Dunkelkammer hängen lassen. War gegangen, hatte die Tür hinter sich geschlossen und sich ins Klassenzimmer gesetzt. Hatte gegenüber niemandem ein Wort über ihre Entdeckung verloren. Sie hatte nun eine Schulstunde lang Zeit, um nachzudenken.

Im Leben kam man am besten zurecht, wenn man sich so wenig wie möglich in Sachen einmischte.

Das war schon jahrelang Lumikkis Motto. Keine Einmischung – keine Verwirrung. Wenn man stillhielt und nur dann etwas sagte, wenn es wirklich wichtig und gut durchdacht war, hatte man seine Ruhe.

Am liebsten hätte sie die Sache sofort vergessen. Die blutigen, nachlässig gewaschenen Scheine einfach vergessen. Aber sie wusste, dass das nicht möglich war. Der Anblick in der Dunkelkammer hatte sich so beharrlich in ihr Gedächtnis eingegraben wie der Blutgeruch in die Geldscheine. Lumikki hätte erst dann Ruhe, wenn sie irgendetwas tat, was das gruselige Rätsel aufklären half.

Am besten, sie erzählte es dem Direktor. Damit wäre der Ball bei jemand anderem und sie bekäme die Sache aus dem Kopf. Vielleicht gehörten die Scheine ja zu einem Kunstprojekt – dann waren sie auf keinen Fall echt. Aber warum machte sich jemand die Mühe und stellte so viel Spielgeld her? Das dazu noch so täuschend echt aussah, dass die Polizei es garantiert für eine Fälschung und damit für strafbar halten würde? Geld zu fälschen, war ein ernstes Verbrechen.

Oder das Geld war tatsächlich echt.

Lumikki fiel kein einziger vernünftiger Grund ein, wieso jemand so eine riesige Summe Geld in der Dunkelkammer der Schule von Blut reinigte. Und das Geld dort obendrein noch zum Trocknen aufhängte – hinter zwei Türen, die sich nicht abschließen ließen. Das war doch Wahnsinn. Fieberhaft suchte sie nach einer vernünftigen Erklärung, aber ihr fiel keine ein. Sobald sie die Augen schloss, sah sie das Geld auf der Leine hängen. Aber in diesem Bild fehlte etwas, ein Hinweis, der die Antwort auf ihre Fragen verriet. Sie war schließlich nicht Sherlock Holmes, konnte nicht einfach eine Erklärung aus dem Ärmel schütteln, eine lückenlose Kette von Schlussfolgerungen, die ganz logisch zu den trocknenden Scheinen in der Dunkelkammer führte.

Sie musste zum Direktor. Sie musste das Geld holen und es ihm übergeben. Oder sollte sie das Geld lieber nicht anfassen?

Das klare Sonnenlicht fiel auf die schneebedeckten Zweige der Bäume, die mit einem drohenden Funkeln antworteten, das in den Augen schmerzte. Der eisige Frost zog auf diese Weise bis in den Klassenraum hinein. Lumikki schauderte. Die abgestandene Luft im Zimmer lähmte sie, ihre Gedanken kamen nur mühsam voran.

Dann traf sie eine Entscheidung.

In der Pause ging sie wieder zur Dunkelkammer. Sie wollte überprüfen, ob sie wirklich richtig gesehen hatte. Die ganze Geschichte war so absurd, dass sie sich alles womöglich nur eingebildet hatte. Oder falsch eingeschätzt. Vielleicht war nur ein einziger Schein echt und die anderen waren Spielgeld.

Zieh nie übereilte Schlüsse. Das war Lumikkis zweites Motto.

Na ja, von Motto zu reden, war vielleicht etwas hoch gegriffen. Es ging eher um kleine Tricks und Verhaltensregeln, die sich als nützlich und praktisch erwiesen und ihr manches Mal entscheidend geholfen hatten.

Lumikki zuckte zusammen. Um die Ecke bog Tuukka. Ein achtzehnjähriger Möchtegern-Schauspieler, der sich für gottgleich hielt, der Sohn des Direktors. Es amüsierte sie immer zu beobachten, wie die Lehrer sein überhebliches Gepose und das ewige Zuspätkommen hinnahmen.

Tuukka schien in Eile. Und er hätte Lumikki garantiert mit dem Ellenbogen oder seinem Rucksack angerempelt, wenn sie ihm nicht geschickt ausgewichen wäre.

Sie hatte gelernt, wie man jemandem auszuweichen hatte. Die Bewegung musste gut getimt und äußerst unauffällig sein. Sie musste natürlich aussehen und man durfte ihr nicht anmerken, dass sie durch eine andere Aktion ausgelöst worden war. Lumikki hatte von Grund auf gelernt, sich nicht demütig zu verhalten.

Tuukka ging immer schneller, rannte fast schon. Er hatte Lumikki kaum registriert. Dennoch wartete sie lieber, bis er ganz verschwunden war, bevor sie die Dunkelkammer ansteuerte.

Sie öffnete die Tür zur Lichtschleuse, schloss sie hinter sich, öffnete die Tür zur Kammer und schaltete das Rotlicht ein.

Sie musste zweimal blinzeln.

Die Scheine waren weg.

Lumikki fluchte leise. Das hatte man davon, wenn man erst gründlich überlegte und nicht sofort handelte. Was sollte sie jetzt tun? Erzählen, dass sie haufenweise Geld gesehen hatte, das inzwischen aber wieder verschwunden war? Sie konnte nichts beweisen. Vielleicht wartete sie besser ab, ob jemand sie ansprach – dann konnte sie immer noch berichten. Sie könnte ebenso gut versuchen, den ganzen Vormittag als seltsame Halluzination aufgrund ihrer Müdigkeit abzutun.

Sie lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Da war schon wieder etwas, das sie störte. Irgendwas war sonderbar, anders als sonst. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um den Störfaktor herauszufiltern. Als Lumikki ihn gefunden hatte, schlug sie die Augen wieder auf.

Der Rucksack.

Tuukka benutzte sonst nie einen Rucksack. Er hatte immer nur seine schwarze Ledertasche von Marimekko dabei, in die er mit Mühe und Not die Schulbücher quetschte. Was nicht reinpasste, ließ er zu Hause liegen. Dasselbe Schultertaschenmodell gab es auch aus Stoff und in leuchtenden Farben, etliche Schüler liefen damit herum. Das Ledermodell benutzte, soweit Lumikki es mitbekommen hatte, jedoch nur Tuukka. Damit lag er voll im allgemeinen Trend und hatte doch eine individuelle Note mit reingebracht. Hipper Mainstream mit dem gewissen Kick. Gerade eben aber hatte Tuukka einen grauen Rucksack bei sich, der an den Rändern schon ausgefranst und an den Ecken schmutzig war. Das passte gar nicht in das Bild des angesagten Typen, der mal eben kurz aus höheren Sphären herabgestiegen kam.

Außerdem hatte der Rucksack prall gefüllt gewirkt und doch war Tuukka damit gerannt, als würde er so gut wie nichts wiegen. Lumikki hatte ihre Schlüsse schon gezogen.