Buch
Im Oktober 1912 nähert sich die SS City of Birmingham Indien. An Bord ist auch der 33-jährige Edward Morgan Forster, Autor von vier Romanen, die ihm in seiner Heimat bereits einigen Ruhm eingetragen haben. Nun ist er, beflügelt vom Erfolg seines jüngsten Werks »Wiedersehen in Howards End«, zu einer Reise ins Unbekannte aufgebrochen. Fern der Enge der englischen Kleinstadt Weybridge in Surrey zeichnet sich das Versprechen auf eine außergewöhnliche Zukunft am Horizont ab. Und tatsächlich findet Forster – von der Sinnlichkeit Indiens gleichermaßen angelockt wie verstört – hier den Keim für einen großen Roman: ein diffuses erotisches Begehren und das Gefühl dräuenden Unheils unter einem gleißenden, leeren Himmel. Zwölf Jahre und zahllose innere Kämpfe werden diesem hoffnungsvollen Aufbruch folgen, bis daraus schließlich Forsters Meisterwerk »Auf der Suche nach Indien« entsteht.
Autor
Damon Galgut wurde 1963 in Pretoria geboren. Bereits mit siebzehn Jahren verfasste er seinen ersten Roman, »A Sinless Season«. Mittlerweile zählt er zu den renommiertesten Autoren Südafrikas. Für seinen Roman »Der gute Doktor« wurde er für den Man Booker Prize nominiert, einen der bedeutendsten internationalen Literaturpreise. Der Roman wurde als »bestes Buch des Jahres« mit dem Commonwealth Writers Prize ausgezeichnet. Auch der nachfolgende Roman »Der Betrüger« wurde für zahlreiche Literaturpreise nominiert, und mit »In fremden Räumen« stand der Autor erneut auf der Shortlist des Man Booker Prize.
Damon Galgut lebt in Kapstadt, wenn er nicht gerade auf Reisen ist.
Damon Galgut
Arktischer
Sommer
Roman
Aus dem Englischen
von Thomas Mohr
MANHATTAN
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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Arctic Summer«
bei Atlantic Books, an imprint of Atlantic Books Ltd. London
Manhattan Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2014
Copyright © der Originalausgabe
by Damon Galgut, 2014
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher
Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München
Umschlaggestaltung: buxdesign | München
Umschlagfoto: © Jenny Matthews/Alamy
Redaktion: Regina Carstensen
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-14338-1
V002
www.manhattan-verlag.de
Gewidmet
Riyaz Ahmad Mir
und den vierzehn Jahren
unserer Freundschaft
Orgien sind ungeheuer wichtig,
und doch weiß niemand etwas über sie.
E. M. Forster an P. N. Furbank 1953
Erstes Kapitel
SEARIGHT
Im Oktober 1912 überquerte die SS City of Birmingham das Rote Meer, auf halber Strecke ihrer Fahrt nach Indien, als zwei Männer sich gemeinsam auf dem Vordeck wiederfanden. Sie waren jeder für sich dorthin gekommen, um einem Konzert zu entgehen, das einige der anderen Passagiere ausgerichtet hatten, doch da sie sich inzwischen flüchtig kannten, waren sie nicht unglücklich über die Gesellschaft. Es war später Nachmittag. Sie saßen an einem Platz, der nicht nur Sonne und Schatten, sondern auch Schutz vor dem Wind bot. Beide hatten sich Lektüre mitgebracht, die sie höflich beiseitelegten, als sie miteinander ins Gespräch kamen.
Der eine, Morgan Forster, war dreiunddreißig Jahre alt und verstand sich unterdessen als Berufsschriftsteller. Sein jüngst erschienener vierter Roman war so erfolgreich, dass er sich die sechsmonatige Reise finanziell ermöglichen zu können glaubte. Es war sein erster Aufenthalt außerhalb Europas und erst die zweite längere Trennung von seiner Mutter. Der andere war ein Heeresoffizier auf der Rückreise zu seinem Stützpunkt an der indischen North-West Frontier. Er war ein paar Jahre jünger als Morgan, ein gut aussehender Bursche mit zurückgekämmtem blondglänzendem Haar und blendend weißen Zähnen. Sein Name war Kenneth Searight.
Die beiden Männer hatten sich schon einige Male unterhalten, und Morgan fand Searight wider Erwarten recht sympathisch. Auf dem Schiff wimmelte es von Militärs und ihren grässlichen Fregatten, aber dieser Mann war anders. Zum einen reiste er allein. Zum anderen war Morgan aufgefallen, dass er dem einzigen indischen Passagier an Bord mit Anstand und Feingefühl begegnete, beides Eigenschaften, die man in diesen Kreisen oft vergeblich suchte, und das hatte ihn gerührt. Kleine Anzeichen wie diese ließen vermuten, dass ihnen mehr gemein war, als er anfangs angenommen hatte.
Obwohl er erst vor einer Woche an Bord gekommen war, hatte Morgan das Gefühl, dass er sich schon viel zu lange auf dem Schiff befand. Er reiste mit drei Freunden, doch selbst deren Gesellschaft ging ihm allmählich auf die Nerven. In Gedanken zog es ihn immerfort hinaus, auf das Meer, das sie umschloss. Manchmal lief er an Deck stundenlang unermüdlich auf und ab, oder er saß an der Reling und verlor sich in ziellosen Tagträumen beim Anblick der fliegenden Fische, die sich vor dem Bug tummelten, oder der anderen Tiere – Quallen, Haie und Delfine –, die man bisweilen zu Gesicht bekam. In solchen Augenblicken vergaß er sich beinahe selbst. Einmal hatte er scharlachrote Schnüre in der Dünung treiben sehen. Es handele sich um Fischlaich, hatte man ihm gesagt, kurz vor dem Schlupf. Leben, das kein menschliches Leben war, das reifte, erblühte und verging, in einer nicht menschlichen Umgebung.
Er aber konnte den Menschen nicht entkommen. Jeden Tag erwarteten ihn dieselben Gesichter. Das Schiff war wie ein winziges Stück England – Tunbridge Wells, um genau zu sein –, das sich losgerissen hatte und auf die offene See hinausgetrieben war. Aus irgendeinem Grund waren die Frauen am schwersten zu ertragen, vielleicht weil sie so viel redeten. Sie schienen davon überzeugt zu sein, dass er ihre Ansichten teilte, auch wenn dies gewöhnlich nicht der Fall war. Eine von ihnen, eine junge Dame auf der Suche nach einem Ehemann, hatte ein paar schüchterne Annäherungsversuche unternommen, bis seine steinerne Miene sie in die Flucht geschlagen hatte.
Doch nichts erzürnte ihn so sehr wie die beiläufigen Gehässigkeiten, die bei Tisch in Gestalt scherzhafter Bonmots die Runde machten. Er hatte einige von ihnen in seinem Tagebuch notiert und lange darüber gegrübelt. Einmal hatte eine matronenhafte Frau, die in den Pardas von Bhopal als Krankenschwester gearbeitet hatte, ihm zwischen zwei Gängen einen Vortrag darüber gehalten, in welch erbärmlichen Verhältnissen der Mohammedaner gemeinhin vegetiere. Und wenn englische Kinder in Indien Station machten, so lernten sie zu sprechen wie die Mischlinge, ein schreckliches Stigma. »Und dieser junge Inder an Bord«, hatte sie halblaut hinzugesetzt. »Na, der ist doch Mohammedaner, oder? Gut, er hat eine englische Privatschule besucht, aber macht ihn das zu einem zivilisierteren Menschen? Er glaubt tatsächlich, er sei einer von uns. Was für ein absurder Gedanke.«
Der Mann, dessen Name er sich partout nicht merken konnte, und Morgan hatten gemeinsame Bekannte, aber der Inder war ein strapaziöser Bursche, dessen Gesellschaft er ermüdend fand. Auch Morgan ging ihm mittlerweile aus dem Weg, doch er wusste, dass die Abneigung seiner Tischgenossin andere Gründe hatte, und dafür verabscheute er sie. Wenngleich sie damit keineswegs allein stand: Die meisten Passagiere begegneten dem armen Mann mit höflicher Verachtung. Tags zuvor hatte eine der Soldatenfrauen, eine gewisse Mrs Turton, bemerkt: »Wie ich höre, ist der junge Inder einsam. Nun, das geschieht ihm recht. Sie verweigern uns die Bekanntschaft ihrer Frauen, warum also sollten wir ihre Bekanntschaft suchen? Je freundlicher wir sie behandeln, desto geringer schätzen sie uns.« Morgan hatte etwas erwidern wollen, dann aber doch geschwiegen und sich anschließend Vorwürfe gemacht.
Und so barg diese zufällige Begegnung mit dem glänzenden jungen Offizier einen Funken von Verheißung. Irgendetwas an Kenneth Searight – auch wenn er nicht recht zu sagen wusste, was – gehörte nicht in eine Uniform, passte nicht zu seinen untadeligen Manieren.
Zunächst plauderten sie leichthin über die Reise. Vor Kurzem hatten sie den Suezkanal passiert, ein Erlebnis, das Morgan kurioserweise an eine Bildergalerie erinnert hatte. Und von Port Said war er enttäuscht gewesen: Alle hatten ihm erzählt, die Stadt sei das Tor zum Orient, die erste Impression des Morgenlandes, doch ihr fehlten die Gerüche, die pulsierende Lebendigkeit, die Farbenpracht, die er erwartet hatte. Es gab keine Minarette und nur eine Kuppel, und obwohl die Statue von de Lesseps gebieterisch auf den Kanal wies, sah es aus, als hielte sie einen Strang Würste in der anderen Hand. Dennoch war er natürlich an Land gegangen, und einige der Araber waren wunderschön, hatten ihm die Freude jedoch rasch verdorben, indem sie versucht hatten, ihm obszöne Postkarten zu verkaufen. (»Wollen sehen pikante Bilder? Nein? Na ja, vielleicht nach dem Essen.«) Alles in allem keine sonderlich erhebende Erfahrung.
»Mit Ausnahme des Kohlenschiffs«, sagte Searight.
»Ja«, erwiderte Morgan. »Mit Ausnahme des Kohlenschiffs.« Die Erinnerung an die Schaluppe stand ihm noch immer lebhaft vor Augen. Genauer gesagt, waren es die Gestalten darauf, die ihm auch jetzt noch keine Ruhe ließen: Schwarz von Kohlenstaub, waren sie aus totengleicher Starre zu hektischer Betriebsamkeit erwacht und hatten ihre Körbe singend und spottend an Bord geschleppt. Eine dieser Gestalten, von unbestimmtem Alter und Geschlecht, hatte nach Einbruch der Dunkelheit mit einer Laterne in der Hand an der Gangway gestanden, und das Bild, der gelbliche Schein der Lampe, der sich harsch gegen die schwarzen Schatten abhob, hatte ihm zugleich Angst und Hoffnung eingeflößt.
Auch Searight war dort gewesen, wie Morgan jetzt wieder einfiel; sie hatten dicht nebeneinander an der Reling gestanden und das Schauspiel fasziniert verfolgt. Obgleich sie sich damals noch nicht gekannt, geschweige denn ein Wort gewechselt hatten, schien sie rückblickend so etwas wie Komplizenschaft zu einen.
Sie sprachen über ihre Pläne nach der Landung in Bombay und beschlossen, gemeinsam bis nach Agra zu reisen; danach wollte Searight in Richtung Lahore und Morgan nach Aligarh weiterfahren.
»Wohnen Sie dort bei einem Freund?«
»Ja«, sagte Morgan und setzte kühn hinzu: »Er ist ein Einheimischer.«
»Ah«, sagte Searight. »Dachte ich’s mir doch. Das freut mich, das freut mich sogar sehr. Das wahre Indien kann nur kennenlernen, wer sich unter die Inder mischt, auch wenn andere das anders sehen mögen. Inzwischen habe ich hier viele Freunde. Ah ja. Sehr enge Freunde sogar.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Kameraden das gutheißen.«
»In der Armee herrscht weitaus mehr Verständnis, als Sie glauben, trotzdem muss man natürlich Vorsicht walten lassen. Alles eine Frage von Ort und Zeit.« Er stieß ein kurzes Lachen hervor. »Ist Ihr Freund Hindu?«
»Nein, Mohammedaner.«
»Ah ja. Die Mohammedaner. Die Hindus gelten im Allgemeinen als sinnlich, ihrer dekadenten religiösen Symbolik wegen. Die Mohammedaner hingegen sind ein Volk des Buches, genau wie wir. Ich sage Ihnen, die Pathanen sind ein Haufen junger Wilder, und ich werde dort bestimmt zahlreiche Freunde finden. Das ist einer der Vorzüge meiner Versetzung nach Peshawar. Vorher war ich in Bengalen stationiert, in Darjeeling, und habe mich dort prächtig amüsiert. Aber ich freue mich auf die Zukunft.«
Morgan hatte das ungute Gefühl, dass ihm das Thema entglitten war und sie über verschiedene Dinge sprachen. Trotzdem sagte er: »Ich auch.«
»Freuen Sie sich auf das Wiedersehen mit Ihrem Freund?«
»Sehr sogar.«
»Hat er Ihnen gefehlt? Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut. Und wenn es mich befällt, dann drängt es mich, anderswo Trost zu suchen. Zum Glück ist derlei hier in Indien recht leicht zu finden. In England ist das schon schwieriger, wie Sie sicher wissen.«
»Was?«
»Trost.« Er warf Morgan einen vielsagenden Blick zu. »Vor ein paar Wochen erst habe ich im Hyde Park einen berittenen Gardisten kennengelernt.«
Erschrocken über die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, begnügte Morgan sich mit einem unverbindlichen Räuspern und starrte aufs Wasser. Searight wandte sich zu ihm. Nach einer verschwörerischen Pause begann er über die Hitze zu sprechen. Ein scheinbar neues Thema, das sich fast unbemerkt aus dem vorherigen ergab. In den vergangenen Tagen war die Temperatur drastisch gestiegen: Viele Passagiere schliefen an Deck. Ob Morgan aufgefallen sei, dass manche Männer kurze Hosen trügen? Den älteren solle man das strikt verbieten, meinte Searight, ihre Beine böten keinen schönen Anblick. Nur sehr wenige Engländer hätten schöne Beine, was an ihren ungestalten Knien liege. In Indien hingegen gebe es sehr viele schöne Beine. Beine noch und noch, Morgan werde schon sehen. In Indien zeige man generell mehr Haut als in England; das sei dort üblich.
Morgan enthielt sich wohlweislich jedes Kommentars und beschloss, den Fortgang der Ereignisse abzuwarten.
Schließlich seufzte Searight. »Muss wohl an der Hitze liegen«, brummte er.
»Ja«, sagte Morgan zögernd.
»Eins führt zum anderen. Sie nimmt den Leuten ihre Scheu. Ich habe das schon tausendmal erlebt. Kaum sind sie dort eingetroffen, in Indien, meine ich, legen sie auch schon ein Benehmen an den Tag, wie sie es in England niemals wagen würden. Muss wohl an der Hitze liegen.«
»Ich habe einen Tropenhelm.«
»Der wird Ihnen wenig nützen.«
»Ich versichere Ihnen, er ist von bester Qualität …«
»Das glaube ich gern. Und er wird Sie vielleicht vor der Hitze schützen, nicht aber vor Ihnen selbst.« Mit Searight war eine kaum merkliche Veränderung vor sich gegangen; seine Miene wirkte sinnlich und schroff in einem.
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»O doch, ich denke, schon.«
Eine Klangwolke wehte aus dem Innern des Schiffes herauf – ein gedämpftes Durcheinander von Musik und Stimmen, das im Rauschen des Bugwassers unterging – und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Morgan blickte sich verstohlen um, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren. »Wir sollten uns vielleicht lieber zum Essen umziehen«, sagte er.
Bevor er sich rühren konnte, beugte Searight sich zu ihm und reichte ihm das Buch, das in seinem Schoß gelegen hatte. Morgan hatte lediglich einen flüchtigen Blick darauf geworfen in der sicheren Annahme, dass es sich um einen Gedichtband handelte, wie auch er einen las. Doch das dicke, in grünes Leinen gebundene Notizbuch war sehr viel privaterer Natur. Es trug das rätselhafte Wort Paidikion auf dem Umschlag, und seine vielen Seiten waren nicht etwa bedruckt, sondern von Hand beschriftet.
Wenngleich auf der Seite, die Searight mit dem Zeigefinger aufgeschlagen hielt, tatsächlich ein Gedicht zu stehen schien.
… ich fuhr
Vom sinnlichen Bengalen ins wilde Peshawar,
Das Sündenbabel Asiens, wo jeder Knabe,
Den einst als zarten Spross ein Weib gebar,
So heißt es, von Natur die Neigung habe,
Den Andern zu berauben (oder selbst geraubt zu
werden) …
»Meine Güte«, sagte Morgan. »Was ist denn das?«
»Die Geschichte meines Lebens, in Versen.«
»Das haben Sie geschrieben?«
… man raunt
Gar, ein Pathanenjüngling sei erstaunt,
Wenn jemand ungerührt vorbeispaziert,
Ohne dass seinem Arsch gehuldigt wird.
Er biete voller Anmut seine Reize feil,
Wilden Begierden, hemmungslos und geil,
Deftiger Sodomie und wüstesten Gelüsten …
»Muss wohl an der Hitze liegen«, sagte Searight und lachte laut.
* * *
Atemlos schilderte er das Gespräch noch am selben Abend Goldsworthy Lowes Dickinson, während sie sich in ihrer beengten Kabine zum Dinner umzogen. Schon bei der Erinnerung durchfuhr ihn ein Beben, und seine nervösen Finger bekamen die Knöpfe kaum zu fassen. Es war fantastisch, sagte er zu Goldie, es war bemerkenswert. Dass er sich einem fast Fremden auf diese Weise anvertraute, dass er sich so freimütig offenbarte! Es war kein Geständnis gewesen – von Scham keine Spur. Das war das eigentlich Erstaunliche daran: Searight schien beinahe stolz zu sein auf sich und seine Neigung.
Die beiden Männer blickten einander wortlos an. Dann erkundigte Goldie sich verhalten: »Und hat er dich zur Verschwiegenheit verpflichtet?«
»Nein. Ich glaube, die setzte er voraus.«
»Woher nimmt er die Gewissheit, dass du ihn nicht …?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Und hast du mit ihm genauso unverblümt über dich selbst gesprochen?«
»Überhaupt nicht. Er schien an mir nicht allzu interessiert zu sein. Als ich ihm ein wenig aus meinem Privatleben erzählte, wechselte er flugs das Thema.«
»Ah«, machte Goldie. Sein Tonfall war mitfühlend, doch seine Erleichterung war offenkundig.
So oder ähnlich verliefen ihre Unterhaltungen gewöhnlich, ein kleiner Sturmwind einträchtigen Überschwangs, der eine Flut verdruckster Andeutungen nach sich zog. Vieles verstand sich von selbst, ohne eigens ausgesprochen werden zu müssen. Sie hatten sich vor einigen Jahren am King’s College kennengelernt, wo Morgan studiert und Goldie ein Lektorat bekleidet hatte, doch ihre Freundschaft war nur langsam gewachsen und erst zu voller Blüte gediehen, nachdem Morgan Cambridge den Rücken gekehrt hatte. Beide waren leicht verschrobene, frühzeitig vergreiste Eigenbrötler, denen etwas Altjüngferliches anhaftete. Beide hatten sie geliebt, wenn auch nur von fern und unerwidert.
Da sie einander blind verstanden, wusste Morgan, obgleich Goldie kein Wort darüber verloren hatte, dass der Ältere Searight misstraute. Wer sich derart indiskret verhielt, war in seinen Augen gefährlich. Goldie entstammte einer Generation, der Diskretion über alles ging; wenn man sich auch nur die geringste Blöße gab, konnte das zur Katastrophe führen. Gerade einmal siebzehn Jahre war es her, dass man Oscar Wilde ins Zuchthaus geworfen hatte.
Der um fast zwei Jahrzehnte jüngere Morgan war etwas weniger vorsichtig, wenn auch nur in der Theorie. In praxi fürchtete er den Staat nicht halb so sehr wie seine Mutter. Er konnte seine Veranlagung, nicht einmal vor sich selbst, deutlich benennen und erging sich stattdessen in blumigen Umschreibungen. Er gehöre zu einer Minderheit. Er sei ein Solitär. In Cambridge, im Kreise seiner Freunde, war das Thema zwar durchaus erörtert worden, allerdings rein hypothetisch und gänzlich abstrakt. Auf diese Weise konnte man sich einreden, es gehe um Worte, nicht um Taten. Und solange es bei Worten blieb, hatte kein Verbrechen stattgefunden. Doch selbst Worte konnten gefährlich sein.
* * *
In den nächsten Tagen behielt Morgan den jungen Searight aufmerksam im Auge und stellte mit Erstaunen fest, dass er zwei Gesichter hatte. In der Öffentlichkeit war er der schneidige Soldat, dem Anschein nach markig und männlich. Er diente im Queen’s Own Royal West Kent Regiment, ein braver, aufrechter Verteidiger des Reiches; er konnte mit seinen Kameraden auf derbe, brüderliche Art und Weise lachen und trinken; er war beliebt und angesehen, auch wenn er die Gesellschaft der Frauen an Bord tunlichst mied. Das war die eine Seite seiner Persönlichkeit – aber natürlich gab es auch noch eine andere, geheime Seite, wie er Morgan bereitwillig hatte sehen lassen.
Diesen Aspekt seines Charakters – den man als seine wahre Natur hätte bezeichnen können – offenbarte er nur Menschen, denen er vertraute. Doch wenn die Maske fiel, dann fiel sie ganz und gar. Ihr erstes Gespräch hatte Morgan fasziniert, und das nächste ließ nicht lange auf sich warten. Gleich tags darauf begab er sich mit Goldie auf das Vordeck, um ihn mit seinem neuen Freund bekannt zu machen, und im Nu unterhielten sie sich über Dinge, die Morgan noch nie in Worte gefasst hatte, allenfalls in seinem Tagebuch, und auch dort nur in chiffrierter Form.
Zum Beispiel über Searights gesammelte Von-Gloeden-Fotografien, die trotz pfleglicher Behandlung von ausgiebigem Gebrauch zu zeugen schienen. Morgan hatte diese Bilder schon einmal gesehen, allerdings in einem Zusammenhang, der eine nüchterne, rein künstlerische Würdigung erfordert hatte. Diesmal war das anders. In Searights Händen erlangten die mürrisch dreinblickenden sizilianischen Knaben, die sich inmitten von Ruinen und Statuen rekelten, eine unverkrampfte Körperlichkeit. Vor lauter Ehrfurcht angesichts ihrer jugendlichen Schönheit versagte ihm fast die Stimme. Nackte Haut, hauchzarter Oberlippenflaum und dazu ihr trotziger und doch sensibler Blick. »Und sehen Sie sich seinen ungemein sinnlichen Schwanz an, wie er nach links baumelt, in einem Winkel von knapp fünfundvierzig Grad. Ein echtes Prachtstück. Von den Hoden ganz zu schweigen. Ein Traum, besonders der rechte.« In seinen Erzählungen bekam selbst die anrüchigste Begegnung etwas Strahlendes, Erhabenes. Er trug Morgan und Goldie eine – von eigener Hand verfasste – Kurzgeschichte vor, die selbst ihm den Atem schneller gehen ließ. Er gab ihnen sein episches autobiografisches Gedicht zu lesen, das er Die Glut betitelt hatte. Und er zeigte ihnen die letzten Seiten seines grünen Notizbuches, die mit kryptischen Ziffernfolgen bedeckt waren, bei denen es sich, wie er ihnen mit gedämpfter Stimme anvertraute, um ein Register seiner bisherigen sexuellen Eroberungen handelte, einschließlich statistischer Angaben zu Datum, Ort, Anzahl der Tête-à-têtes und Häufigkeit der Höhepunkte. Seine Gespielen waren hauptsächlich Knaben und junge Männer im Alter zwischen dreizehn und achtundzwanzig Jahren, viele von ihnen Inder. Summa summarum an die vierzig.
An die vierzig! Morgan hatte noch nie einen Liebhaber gehabt, nicht einen einzigen. Die Welt des Eros war für ihn weiter nichts als ein flirrendes Spektakel des Geistes, stets präsent und dennoch unerreichbar fern. Vor drei Jahren erst hatte Morgan vollständig begriffen, wie die Vereinigung von Mann und Frau vonstattenging, und die bloße Vorstellung erfüllte ihn mit Grausen. Dass seine Eltern diesen kreatürlichen Akt vollzogen hatten, um ihn zu zeugen, erschien ihm geradezu grotesk. (Trotzdem musste es geschehen sein, mindestens zwei Mal.) Sein Vater hatte das Zeitliche gesegnet, als Morgan noch keine zwei gewesen war, und wenn er, in welcher Form auch immer, an Sex dachte, erschien das Bild seiner Mutter Lily – verwitwet, alternd, unglücklich – vor seinem inneren Auge und riss ihn aus seinen sündigen Gedanken. So auch jetzt.
Dabei hatte er seine Mutter in Italien zurückgelassen, wo sie ihrer Freundin Mrs Mawe Gesellschaft leistete. Er war sie, wenigstens fürs Erste, los und fest entschlossen, diese Freiheit auszunutzen. Doch wenn er sich Searight so ansah, war seine Hoffnung auch schon im Schwinden. Die beiden Männer trennten Welten. Obwohl er ahnte, dass die sexuellen Praktiken des anderen Vorlieben und Handlungen einschlossen, die ihn zutiefst schockiert hätten, wäre er mit den Details vertraut gewesen, beneidete er ihn um die Fähigkeit, sein Verlangen in Taten umzusetzen. So viel Sex, so viele kopulierende Leiber! Die Bilder, die ihm in den Sinn kamen, erregten und beunruhigten ihn gleichermaßen. Wie hatte Searight das angestellt? Wie hatte er die jungen Männer verführt, woher wusste er um die richtigen Worte, die richtigen Gesten?
Vielleicht brauchte es dazu ein besonderes Talent, eine Gabe, die Morgan schlicht und einfach nicht besaß. Und doch dämmerte ihm, dass man sein Leben auch anders gestalten, es in vollen Zügen genießen konnte. Als er dessen gewahr wurde, sah er die Welt mit einem Mal in neuem Licht. Womöglich führten all seine Bekannten ein geheimes Doppelleben, womöglich hatte jedes Wort eine versteckte Bedeutung.
Als er Searight an einem der folgenden Abende mit dem kleinen Inder ins Gespräch vertieft in einer Ecke stehen sah, betrachtete er die beiden mit anderen Augen. Was ihm zuvor wie bloße Freundlichkeit erschienen war, erregte nun seinen Verdacht. Sie standen dicht beieinander, sanft drückte Searight mit einer Hand die Schulter seines Gegenübers, und unterhielten sich im Flüsterton. Vielleicht sprachen sie über das Wetter oder das Fortkommen des Schiffes – vielleicht aber auch über etwas ganz anderes.
* * *
Rückblickend fragte sich Morgan, ob es nicht seine Reisegefährten gewesen waren, die Searight den entscheidenden Wink gegeben hatten. Nur er und Goldie waren Solitäre, doch ungewöhnlich waren sie alle vier, und sie hatten sich einen Spaß daraus gemacht, den übrigen Passagieren an Bord ihre Andersartigkeit zu demonstrieren. Und womöglich hatte Searight ihr seltsames Benehmen als Signal verstanden.
Sie waren eine fröhliche Runde, und nur einem glücklichen Zufall hatten sie es zu verdanken, dass sie gemeinsam reisten. Goldie hatte ein Reisestipendium ergattert, mit dessen Hilfe er Indien und China erkunden wollte. Er verstand sich als Sozialforscher und hatte die Absicht, ein Verzeichnis sämtlicher Gefängnisse, Tempel und Krankenhäuser zu erstellen, um so den moralischen Fortschritt im Ausland zu ermitteln. Zugleich hatte Bob Trevelyan (den die meisten nur Bob Trevy nannten) beschlossen, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und, ungehindert von Frau und Kindern, den Orient zu befahren. Gordon Luce, ein entfernterer Bekannter aus Studienzeiten, reiste via Bombay nach Birma, wo er einen Posten angenommen hatte. Und Morgan – nun, Morgan wollte seinen indischen Freund wiedersehen.
In den Augen der anderen Passagiere waren sie ein kurioser Haufen. Natürlich waren sie sich ihrer Exzentrizität vollauf bewusst und machten daraus keinen Hehl. Bei Tisch gefielen sie sich darin, lautstark bedeutende klassische Themen zu erörtern wie etwa die relativen Vorzüge Tolstois gegenüber Dostojewski oder die Frage, ob Nero bei der Inszenierung seiner circensischen Spiele theatralisches Talent bewiesen habe. Die Offiziere, Beamten und europäischen Zivilisten, aus denen sich der größere Teil der Passagiere rekrutierte, begegneten den Possen dieser kichernden Intellektuellen mit Argwohn. Einmal, als sie sich beim Tee zu viert auf einer Messbank drängten, war ein Soldat, der ihnen gegenübersaß, vor Lachen fast vom Stuhl gefallen. Sie schienen dazuzugehören, doch der Schein trog. Sie reisten ohne weibliche Begleitung und machten sich nichts aus Kostümbällen oder Gesellschaftsspielen. Ihre Ironie wurde ihnen als mangelnde Ernsthaftigkeit ausgelegt. Man nannte sie die Professoren oder bisweilen auch den Salon, mit einer Mischung aus Herzlichkeit und Häme.
In den folgenden Tagen avancierte Searight zum Ehrenmitglied des Salons, saß bei den Mahlzeiten an ihrem Tisch und flanierte mit ihnen über Deck. Nach anfänglicher Zurückhaltung zeigten sich die vier von ihm sehr angetan. Unter der rauen militärischen Schale kam eine ebenso empfindsame wie romantische Dichterseele zum Vorschein. Er war klug, charmant und geistreich, von angenehmem Umgang und großzügigem Gebaren, und er hatte ein hochinteressantes Leben hinter sich, das er ihnen in Form einer Reihe amüsanter Anekdoten schilderte, die nicht selten auf seine eigenen Kosten gingen, in einem satten Bariton, der ebenso launig wie vertraulich klang. Bald bestand er darauf, dass sie ihn an der Frontier besuchten, und sie waren sich einig, dass dies eine hervorragende Idee sei. Er werde sie zu einem Picknick auf den Chaiber-Pass entführen und ihnen den äußeren Saum des Empire zeigen.
Zunächst jedoch galt es die letzte Etappe der Überfahrt zu absolvieren, die See ringsum weit und hell. Vorfreude und Erregung lagen in der Luft, und viele Passagiere standen wie festgewurzelt an der Reling und suchten den Horizont ab in der Hoffnung, dort einen schmalen Küstenstreifen zu erspähen. Die ersten Vorboten waren zwei gelbe Schmetterlinge, die an Deck umherflatterten. Morgan war entzückt, doch die Schmetterlinge verschwanden, und kein Festland trat an ihre Stelle.
Am nächsten Morgen weckte ihn Bob Trevy mit der Nachricht, dass Indien nun endlich in Sicht sei. Kaum hatten sich die vier an Deck versammelt, sahen sie, wie der graue Streifen vor ihnen sich als das entpuppte, was er war: ein Zug missmutiger Wolken in der Ferne. Doch am späteren Vormittag verfestigte der Horizont sich langsam, aber sicher zu einer Kette wunderlicher, scheinbar unbelebter roter Hügel. Aus irgendeinem Grunde musste Morgan an Italien denken. Er hatte vor einiger Zeit schon festgestellt, wie sehr der Umriss Asiens dem Europas glich – drei Halbinseln, die mittlere gekrönt von einem mächtigen Gebirgsstock, und Sizilien als Pendant zu Ceylon –, doch dieses Italien blieb ihm auf rätselhafte Weise fremd, als habe er es im Traum gesehen, ein Hort dunkler Bedrohung.
Dann folgte die Ankunft, mit dem üblichen Wechsel zwischen Hast und Langeweile, das letzte schauderhafte Mahl im Kreis derselben schauderhaften Menschen, bevor sie schließlich an Land gerudert wurden. Wie sie so dem Ufer entgegenstrebten, sah Morgan, der mit Goldie im Heck des Bootes Platz genommen hatte, Searight am Bug sitzen, neben dem indischen Passagier, und plötzlich kam ihm eine furchtbare Erinnerung.
»Ich frage mich, warum Searight ihn wohl umbringen wollte«, sagte er.
»Was?«, entgegnete Goldie. »Um Himmels willen, wovon redest du?«
Er rief Goldie den Zwischenfall, der sich vor fast zwei Wochen in Port Said ereignet hatte, ins Gedächtnis. Eine seltsame Geschichte hatte sich wie ein Lauffeuer auf dem Schiff verbreitet: Der Inder hatte dem Steward gemeldet, sein Kabinengenosse habe versucht, ihn über Bord zu werfen, doch dann hatten die beiden sich versöhnt und waren seitdem ein Herz und eine Seele. Damals hatte Morgan kaum einen Gedanken daran verschwendet, doch jetzt war die Erinnerung mit Macht zurückgekehrt in Gestalt dieser beunruhigenden Frage.
Goldie blinzelte verwirrt. »Ich fürchte, du befindest dich im Irrtum«, sagte er. »Das war nicht Searight.«
»Nein?«
»Nein, ausgeschlossen. Searight hat mir die Geschichte selbst erzählt.«
»Natürlich«, sagte Morgan, mit einem Mal peinlich berührt. »Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«
Die Annahme, dass Searight und der Inder sich eine Kabine teilten, entbehrte jeder Logik; solch ein Arrangement war äußerst unwahrscheinlich. Morgan hatte keine Ahnung, wie er darauf gekommen war. Doch auch als er längst wusste, dass seine Einbildung ihm einen Streich gespielt hatte, hielt seine Faszination unvermindert an. Wollust hinter verschlossenen Türen, unter einem heißen, leeren Himmel, die Fantasien von Mord und Totschlag zeitigte: Er witterte den Beginn einer Geschichte.