Peter Henning
Tod eines Eisvogels
Roman
Mit einem Nachwort von Paul Nizon
ISBN 978-3-8412-0328-1
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, März 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Bei Aufbau Taschenbuch erstmals 2011 erschienen;
Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
© Peter Henning, 1996
© Für das Nachwort: Paul Nizon, 2011
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Umschlaggestaltung morgen, Kai Dieterich,
unter Verwendung eines Motivs von © Sharon Kaasa/ iStockphoto
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EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
FALTER UND FINSTERNIS
Leseprobe aus Peter Henning: LEICHTES LEBEN
Für Tanja
Das Aufklatschen des Körpers drang in der Dunkelheit mit leichter Verzögerung zu mir herauf. Dann wurde es wieder still, und das gleichmäßige Rauschen des Wassers hatte alle Geräusche verschluckt.
Wir mußten inzwischen mehr als eine Stunde gefahren sein. Im Wageninnern hatte es sich beängstigend angehört, wie die Reifen auf dem hellen Kies durchdrehten, und ich dachte, wir kämen nie von dort weg. Doch dann griffen die Vorderräder, und mein alter Datsun schoß hinaus auf die freie Straße.
Im Rückspiegel sah ich, wie das Blut des Hamsters an der frisch gekalkten Hauswand leuchtete. Dumpf war das Tier dagegengeknallt, während ich den ersten Gang einlegte und das Gaspedal durchtrat. Kaum einen Meter von der Kühlerhaube entfernt hatte Raab ausgeholt und den kleinen Körper in unsere Richtung über das Autodach hinweg geschleudert.
Der Wagen brach beim Anfahren seitlich aus, dann ging alles sehr schnell, und bei einem letzten Blick in den Rückspiegel sah ich, wie aus der angrenzenden Cafeteria, das kleine Treppchen hinunter, Patienten in den Hof liefen. Lautlos war Leni neben mir weggetaucht. Erst als wir aus dem Tal herausfuhren und die ockerfarbenen Gebäude der Anstalt hinter den Bäumen verschwanden, nahm sie, noch immer leicht zitternd, die Hände vom Gesicht.
Fiel das späte Licht des Nachmittags auf ihren Mund und die ängstlich verengten Augen, legte es einen rötlichen Schimmer über ihre Züge.
Daß ich sie diesmal mitnehmen würde, hatten wir bei unserem letzten Telefonat abgesprochen; daß es aber so schwierig sein würde, sie dort herauszuholen, hatte keiner von uns beiden geglaubt.
Mit siebzehn Jahren war sie am Ende einer mehrwöchigen Fahrradtour mit Freunden scheinbar grundlos von ihrem Rad gestürzt und in eine fast zehntägige, komaähnliche Bewußtlosigkeit gefallen. Als sie dann das erste Mal in einer Nervenklinik erwachte, war dies der Beginn einer Odyssee durch trostlose Anstalten. Seit jenem Sturz waren fast fünfundzwanzig Jahre vergangen, und aus dem Mädchen mit dem hellen Lachen war eine blasse, störrische Anstaltsinsassin geworden, die ihre Zeit in Arbeitstherapien verdöste, Kugelschreiber zusammenschraubte und beige Pappkartons faltete.
Tagelang hatten wir abwechselnd an ihrem Bett gesessen und auf ihr Erwachen gewartet. Müde ließ sie ihre fragenden Blicke über unsere Gesichter wandern, als schien sie sich Antworten von uns zu erhoffen auf das, was mit ihr geschehen war. Wie selbstverständlich nahmen wir die Diagnose ihrer Schizophrenie hin. Leni lag wie hinter einer dicken Glasscheibe, auch wenn sie manchmal einem ganz normalen jungen Mädchen glich. Und wenn wir unsere Verzweiflung hinter hilflosen Worten zu verbergen suchten, war es, als hätten auch unsere Blicke und Gesten aufgehört, die uns geläufigen zu sein. Mutter holte sie bald darauf für einige Wochen nach Hause; doch wirklich zurückgekehrt ist sie seit diesen Tagen nicht mehr.
Scheinbar ziellos lenkte ich den Datsun über Landstraßen an Maisfeldern vorbei in die Dämmerung. Sprangen in den Häusern der Dörfer und Kleinstädte die Lichter an, oder wies eine Neonreklame am Straßenrand auf ein Restaurant hin, dann zuckte sie hin und wieder auf, als wolle sie etwas sagen.
Unser beinahe stummes Fahren durch die Nacht wurde nur unterbrochen, wenn Leni mir mit einem beiläufigen Handzeichen signalisierte, daß sie wieder rausmußte. Ihr Schweigen habe ich anfangs als Abwehr oder Scheu gedeutet, bis ich begriff, daß ihr das Reden im Laufe der Zeit unwichtig geworden war.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so fuhren. Irgendwann haben wir die holländische Grenze passiert. Mehrere Male glaubte ich, schon das Meer riechen zu können, wenn ich die Fensterscheibe einen Spalt weit herunterkurbelte und die kühle Nachtluft leicht salzig zu schmecken schien. Leni wollte ans Meer, soviel hatte ich bei unserem letzten Telefonat verstanden. Doch als es nur noch eine knappe Autostunde entfernt war, zeigte sie kein sonderliches Interesse mehr.
Am nächsten Morgen hing ein dichter, weißer Schleier über dem Meer. Die ganze Nacht hatte es geregnet, und noch immer wühlte der Wind in den Pfützen. Möwen flogen im Nieselregen über dem Wasser. Wir hatten in der Nacht das erstbeste Hotel genommen.
Als ich die Augen aufschlug, stand Leni immer noch dort am Fenster, wo ich sie Stunden zuvor aus dem Blick verloren hatte, als ich eingeschlafen war. Sie rauchte. Das spitze, wiederkehrende Zischen, mit dem sie den Rauch ausstieß, hatte mich geweckt, so, als blase sie den Rauch durch eine enge Zahnlücke hindurch.
Wenig später marschierten wir unter dem grauen Himmel nebeneinanderher. Es hatte aufgehört zu regnen. Ein Hund lief weit vor seinem Herrn über den aufgeweichten Sandstrand. Meine stochernden Fragen ließ Leni beharrlich ins Leere laufen. Ein paarmal brüllte sie unwillig irgendwelche Satzfetzen in den Wind. Mit beschwörenden Seitenblicken trieb sie mich zum Weitergehen an. Das unermüdliche Anrollen der Wellen, die nach unseren Füßen schnappten, oder die auf den kleinen Schaumkronen schaukelnden Möwen schien sie kaum zu bemerken. Mit starrem, auf den nassen Sand gerichteten Blick stürmte sie vorwärts. So liefen wir bald zwei Stunden. Nur wenn ein Kutter aus dem dunstigen Grau für einige Minuten am Horizont auftauchte, suchte sie meinen Blick, um sich in ihm des Geschauten zu vergewissern.
Dann erhellte ein flüchtiges Leuchten ihr Gesicht, wie ich es zuletzt gesehen hatte, als ich sie bei einem meiner Besuche in die weitläufige Anstaltscafeteria begleitet und sie auf das dicke Stück Schwarzwälder Kirschtorte in der Kuchenvitrine gedeutet hatte, das sie haben wollte.
Immer wieder mußte ich an den alten Raab denken und wie er plötzlich ausgeholt und Max an die Wand geschleudert hatte. Bei unseren früheren Begegnungen hielt er ihn mir immer hin, um ihn gleich wieder wegzuziehen, sobald ich ihn streicheln wollte.
Alle seine Goldhamster hatten Max geheißen, und alle waren sie eines gewaltsamen Todes gestorben. Irgend jemand mußte ihm diesen letzten Hamster gegen das Verbot der Heimleitung besorgt haben. Seit man wußte, daß Raab den kleinen Kerlen das Genick brach, wenn er in Wut geriet, oder sie einfach gegen die Wand oder auf den Boden warf, hatte man ihm das Halten von Tieren untersagt.
Raab, der ständig auf seinem schlecht sitzenden Gebiß herumkaute und in dessen kantigem, leicht asymmetrischem Gesicht die tränenden Augen jeden anblitzten, der ihm eine Zigarette verhieß, würde mir wohl nie verzeihen, daß ich ihm Leni weggenommen hatte. Schon die paar Tage, die sie noch kurz zuvor wegen ihrer Bronchitis auf der Intensivstation verbracht hatte, mußten ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen sein.
Seit Jahren verband die beiden eine nur schwer begreifliche Komplizenschaft, die sich vor allem darin äußerte, daß sie einander offenbar wortlos verstanden. Schon morgens, wenn er die erste Selbstgedrehte reinhustete, saß Leni in seiner Nähe. Raab handelte mit Coladosen, die er im Supermarkt erstand und mit Gewinn an andere Heiminsassen weiterverkaufte, und mit löslichem Kaffee, den er in kleine, weiße Papiertütchen portionierte und für fünfzig Pfennig das Stück anbot. An manchen Tagen trank er selbst zehn und mehr Tassen, und immer wieder konnte man ihn dabei beobachten, wie er die kleinen Tütchen aus seiner Jackentasche zog, um sie irgend jemandem anzubieten.
Er wußte die Dinge an ihrem Platz, wenn er die Spielkarten auf den Tisch drosch und seine Blicke regelmäßig zu Leni wandern ließ, die stumm an der Seite saß und rauchte. In solchen Momenten offenbarte sich zwischen dem Alten und meiner Schwester eine Verbindung, die man nur begriff, wenn man sie einmal gemeinsam dort unten in dem stickigen, verräucherten Aufenthaltsraum erlebt hatte. Ein stummes Aufeinanderbezogensein, das sie wie Schauspieler in einem festgelegten, immerwährenden Stück wirken ließ, wobei das Mechanische ihrer Bewegungsabläufe bald etwas Absurdes bekam.
Raab mußte geahnt haben, daß ich Leni diesmal nicht wie üblich in ein nahes Café führen oder für einen Spaziergang abholen würde. Denn als wir über den Vorplatz zu meinem Datsun liefen, stand er, wie aus dem Nichts kommend, vor uns.
Am Ende wurde es eine Flucht, die Räder des Wagens drehten durch, und Raab schleuderte uns seine Enttäuschung entgegen.
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was zu Hause los war, darüber nachdenken aber wollte ich nicht.
Hier waren wir vorerst sicher, und das war gut so. Und Leni konnte es nur recht sein, endlich aus dem Heim heraus zu sein.
Wir haben uns früh daran gewöhnen müssen, wie es ist, Sonntag für Sonntag erst mit der Bahn, dann das letzte Stück weiter mit dem Bus zu fahren, um ein Mitglied der Familie in der Anstalt zu besuchen. Meinen Vater hatten sie Ende der sechziger Jahre abgeholt, als er anfing, sich verfolgt zu fühlen. Unsere Zeugnisse wollte er nicht mehr unterschreiben, und bei jedem Klingeln an der Tür zischte er: »Jetzt kommen sie und holen uns!«
Über Nacht war seine Existenz als Bankangestellter zusammengebrochen und damit auch unsere Vorstellung von uns als einer ganz normalen Familie. Als ihm Leni bald darauf ins Anstaltsleben folgte, fuhren wir, meine Mutter und ich, fortan obendrein samstags mit einem anderen Zug in eine andere Stadt, um meine Schwester zu sehen.
Da wirkten die bunten Postkarten, die uns meine ältere Schwester Toni zu Feiertagen und natürlich zu den Geburtstagen aus dem fernen Norwegen sandte, wie tröstliche Botschaften aus einer anderen Welt. Toni war bald nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester nach Oslo gezogen, wo sie nach einer Zeit der Klausur und der Selbstprüfung ihr Nonnengelübde ablegte und von da an nur noch alle fünf Jahre nach Hause durfte. Als Anästhesistin am größten Osloer Krankenhaus tat sie ihren Dienst am Menschen auf einsamem Posten. Daß sich Antonia Jahre später mit einer Narkosespritze umbrachte, fügte der Kette trauriger Verluste nur einen weiteren, allerdings unerwarteten hinzu. Anschließend hieß es im Familienkreis, sie sei mit der Selbstinjektion nur ihrem Krebstod zuvorgekommen; für mich aber ist es bis heute ein Selbstmord geblieben, und auch ihr von meiner Mutter gerne mit großen Worten wie »Auswanderung« und »Berufung« verklärter Weggang damals war nichts anderes als eine Flucht.
Wirklich kennengelernt habe ich meine ältere Schwester nicht. Bis zuletzt ist sie mir fremd geblieben. Zweimal bin ich ihr vor ihrem Tod noch begegnet; einer weltfremden, verbohrten Katholikin, die, angeblich geläutert, am Ende im Suizid ihren Glauben über den Haufen warf.
Lenis Krankheit hat sie anfangs mit Bibelsprüchen und gutgemeinten Floskeln aus der Ferne kommentiert; auch war immer wieder vom einzelnen und seinem Schicksal, das er annehmen müsse, die Rede. Irgendwann war sie selbst zu einem Gerücht verblaßt, das wieder auflebte, wenn der Familienrest bei gelegentlichen Zusammenkünften die alten Geschichten aufwärmte und auch Antonias Name fiel.
Lange Zeit glaubte ich, all das abgeschüttelt zu haben. Und wenn ich in meinem Laden über einem abgebrochenen Absatz saß, die Leute mir ihre Schuhe brachten und ich nicht ohne Genugtuung feststellen konnte, daß mir meine Arbeit ein Auskommen sicherte, dann hielt ich mein Leben für geglückt.
Es erfüllt mich immer mit Zufriedenheit, wenn mir die Menschen ihre Stiefel oder Halbschuhe mit aufgeplatzten Nähten, ihre schiefen Absätze und abgerissenen Laschen vorbeibringen. Hier habe ich mich in Sicherheit gebracht. Doch wenn ich an Leni und Toni und Vater denke, ist mir die Welt meines Ladens wieder unwirklich und fern.
Anfangs hat mich Leni ein paarmal im Geschäft besucht. Kam sie übers Wochenende zu Mutter – freitags mit dem Frühzug aus Darmstadt, in Frankfurt stieg sie um –, stand sie nicht mal eine Stunde später vor mir. Den Laden hatte ich von einem Schuhmachermeister übernommen, einem alten Freund der Familie. Als junger Mann hatte Vater Herrn Bense im Ruderclub kennengelernt.
Wann immer mich Mutter zu ihm schickte, um etwas abzuholen, Schuhe von ihr, Vaters Aktentasche oder meine Lederhose, an der wieder mal die Nähte geflickt werden mußten, sah ich Bense schon durch das kleine Schaufenster gebückt auf seinem Schemel über der Arbeit hocken.
Ich weiß noch, wie er mir das erste Mal erklärte, was ein Standfuß oder ein Dreifuß, was ein Leisten, eine Überstemme oder eine Brandsohle ist, und mir mit seiner fleischigen Hand übers Haar strich. Der Leim- und Ledergeruch, der einem in die Nase stieg, wenn man die Tür zu seinem Laden aufstieß und ein Glöckchen bimmelte, hat mich von klein auf eingenommen.
Saß die Familie bei irgendeinem Fest zusammen und hoben alle lautlos ihre Gabeln, dann war nur Lenis Geschnaufe zu vernehmen, wenn sie sich ungezügelt die Brocken in den Mund schaufelte, wobei die andern sich ansahen und peinlich berührt mit den Augen rollten. Dann beugte sie sich über ihr Essen, den linken Arm schützend um den Tellerrand gelegt, und stocherte ungestüm mit der Gabel nach den Bissen, ohne dabei die Kartoffelschüssel, das Gemüse oder die Platte mit den dampfenden Bratenstücken aus den Augen zu lassen.
Anfangs war es mir peinlich, wie sie Wildfremde minutenlang anglotzte, wobei deren wachsende Nervosität allmählich zu meiner eigenen zu werden begann. Übelgenommen hat sie es mir nie, wenn ich sie am Arm wegzog, obwohl sie sich mir sanft widersetzte. Bald aber machte es mir nichts mehr aus, und ich ließ sie gewähren.