Heute ist mein Glückstag. Gar keine Frage.
Mein Zimmer ist komplett leer geräumt, nur der Jahreskalender hängt noch zwischen den Fenstern an der Wand. Alle Tage sind dick und fett durchgestrichen. Bis auf den neunten August. Heute!
Ich spüre ein nervöses Kribbeln im Bauch. So eine Mischung aus ultragut aussehenden Typen anquatschen und ihn nach dem Weg fragen (Vorwand – natürlich), ohne Schnappatmung zu kriegen, und auf meinen Inlinern wieder mal die Kurve zu scharf zu nehmen (mit Absicht – natürlich).
In beiden Fällen läuft man Gefahr, übel auf die Nase zu fallen. Trotzdem mache ich es immer wieder.
Aber dieses Kribbeln ist ganz ohne Risiko.
Ich hole meinen roten Edding aus dem Rucksack und platziere die Spitze in Zeitlupe auf der Neun, koste den Moment so richtig aus. Jaaa! Mit einem besonders fetten Strich eliminiere ich den neunten August. Good-bye, München. Welcome, Berlin!
»Alice, komm runter. Billie will sich von dir verabschieden!«
Ich beuge mich aus dem Fenster und gucke auf die Straße. Meine Mutter schiebt gerade die Tür des Transporters zu. Neben ihr steht ihre Freundin Billie. Meine Mutter hat mit ihr zusammen ihre Ausbildung gemacht. Beide sind Maskenbildnerinnen beim Film, aber Billie hat gerade so einen Typen mit Kohle geheiratet, wohnt jetzt in einer total schicken Villa am Starnberger See und schminkt nur noch die Reichen und Schönen für Megaevents.
Ich mag Billie, sie ist einfach entspannt. Obwohl ich sterben würde, wenn ich hier in München sesshaft werden müsste.
Billie winkt mir. Ich spurte los.
»Süße«, sagt sie und umarmt mich fest. »Lass es dir gut gehen in Berlin, und wenn dich dort was nervt, komm zu uns. Hier, für dich. Fahr aber vorsichtig damit.« Sie drückt mir eine Tüte in die Hand.
Wow. Neue Inliner, Swells. In der gleichen Farbe wie die Haare von Poppy Delevingne, die Billie frisiert, wenn sie in München ist. Swells sind richtig teuer.
»COOL. DANKE. DANKE. DANKE.« Ich strahle ungefähr genauso wie damals, als meine Mutter mir mitteilte, dass wir umziehen. Ich bewege mich nämlich am liebsten den ganzen Tag auf Inlinern, auch auf dem Weg in die Schule.
»Rosa«, sagt meine Mutter und guckt entsetzt. »Gab es die nicht in Schwarz?«
Billie lacht. »Diese da sind gerade total angesagt, findest du auf jedem Modeblog. Fred musste sie mir aus New York mitbringen, sie sind in München ausverkauft.«
Fred ist Billies Mann. Wenn ich jemals etwas Schlechtes über ihn gesagt haben sollte, sorry.
»Und sonst?«, fragt meine Mutter. »Was ist daran anders als an den normalen Rollschuhen, außer dem Preis?«
Oh Mann. Meine Mutter weigert sich zu akzeptieren, dass es meilenweite Unterschiede zwischen ihren armygrünen Rollschuhen aus den Achtzigern und Inlinern gibt.
»Drei Rollen, Alu-Rahmen aus der Flugzeugtechnik, bessere Langzeitleistung … Außerdem sehen die Dinger einfach gut aus, oder?«, leiere ich herunter.
»Und«, fügt Billie hinzu, »Fersenbremsen, die man anmontieren kann.«
Die Bremsen überzeugen meine Mutter. Das weiß ich. Sie hat immer Angst, dass mir auf den Dingern was passiert. Dabei hat sie sich beim Fahrradfahren schon zweimal den Arm gebrochen und musste Jobs absagen.
»Okay. Ich frag nur«, sagt meine Mutter. »Dann können wir ja langsam starten, oder? Hast du alles, Alice?«
Ich nicke. Rucksack ist schon im Van. Und meine paar Klamotten sowieso.
Meine Mutter gibt Billie unseren Hausschlüssel. »Kümmerst du dich, wie besprochen, um den Rest?«
Billie nickt. »Klar. Und grüß Andreas von mir. Sobald ich Zeit habe, besuche ich euch.«
Sie umarmen sich und drücken ihre Wangen mit geschlossenen Augen minutenlang gegeneinander. Finde ich irgendwie süß. Ich hatte noch nie eine beste Freundin oder einen besten Freund. Kein Wunder. Seit ich geboren bin, sind wir ja auch schon gefühlte fünfhundert Mal umgezogen. Wie kann man da Freundschaften knüpfen? Aber so mit meiner Mutter durch die Welt zu ziehen, ist auch nicht schlecht. Nur München war ein echter Reinfall. Blöde Wohnung, blöde Schule, blöde Lehrer, Pflastersteine ohne Ende, Mamas Unfälle, ständig pleite. Als Krönung bin ich auch noch sitzen geblieben. Tolle Ausbeute dieses Jahr.
Zum Glück sind endlich Ferien, und meine Mutter hat eine Serie angeboten bekommen, in der Hauptstadt. Und deshalb ziehen wir um. Jubilee. Billie hat einen alten Freund in Berlin. Er heißt Andreas und ist gerade geschieden. Deshalb kommen wir in seiner Wohnung unter, bis wir von der Filmproduktion eine eigene vermittelt bekommen. Und genau nach Berlin geht es jetzt, in diesem Moment.
Meine Mutter fährt den Umzugswagen selber. Sie kann einfach alles, wenn sie gut drauf ist. Das finde ich wirklich toll an ihr. Das reibe ich ihr natürlich nicht unter die Nase, sonst mischt sie sich noch mehr in mein Leben ein. Und darauf habe ich keine Lust.
»Gib mal die Adresse ins Navi ein«, sagt meine Mutter, als wir im Van sitzen, und gibt mir eine Visitenkarte.
Haarscharf, Styling and more, Andy Berger, 10823 Berlin, Belziger Straße 20.
Dieser Andreas ist nämlich Friseur, und unsere Wohnung ist direkt über dem Laden. Ab geht’s!
Als wir losfahren, erwischt meine Mutter beim Ausparken das Fahrrad von unserem Vermieter Herrn Wurz, und es kippt auf die Straße. Aber meine Mutter fährt einfach weiter.
»Mama, ich wette, der Wurz zeigt dich an, wegen Fahrerflucht«, sage ich. Unser Vermieter konnte uns die ganze Zeit nicht leiden.
»Mir doch egal«, sagt meine Mutter, sie schaltet das Radio ein, auf volle Lautstärke, und macht das Fenster bis zum Anschlag auf.
Ich schicke Billie eine Nachricht.
Hey, Billie, Ma hat das Wurz-Rad umgenietet. Kannst du es bitte von der Straße retten?
Wir schlängeln uns mit dem Van durch die kleinen Schwabinger Straßen, meine Mutter singt den Deutschpop aus dem Radio laut mit, und die Leute in den Biergärten, die bereits vor ihren ersten Bieren sitzen, gucken uns finster hinterher. Dann kommt endlich die Autobahnauffahrt. Auf einmal bin ich total müde. »Kommst du alleine zurecht, Mama?«
Ich mache es mir auf dem Beifahrersitz gemütlich. Tschüss, München. Uns bist du los. Hoffentlich für immer.
»Alice, aufwachen. Ich brauche einen Pott Kaffee. Willst du auch was trinken?«
Nur mühsam wache ich auf, meine Knochen tun mir weh, und ich bin immer noch genauso müde wie vor dem Einschlafen. Ich habe das Gefühl, dass ich dieses ganze Jahr München erst einmal wegschlafen muss. »Geh nur«, sage ich und gähne. »Ich muss erst mal munter werden.«
Ich schaue auf mein Handy. Eine Nachricht von Billie:
Wurz beruhigt. Schlüssel abgeliefert.
Billie ist total zuverlässig. Ich hole die Inliner aus dem Karton und betrachte sie von allen Seiten. Die Dinger sind einfach klasse. Ich ziehe sie an – und sie passen wie angegossen.
Ich sehe meine Mutter mit Kaffee über den Parkplatz schlendern. Sie raucht! Ich reiße die Tür auf.
»MUTTER!«, brülle ich ihr entgegen. »Das ist gegen den Deal.« Meine Mutter und ich haben eine Abmachung getroffen: Ich wiederhole die neunte Klasse ohne Zicken, und sie hört auf zu rauchen.
»Sind doch noch Ferien«, entschuldigt sie die Zigarette. »Ist eine München-Abschiedsfluppe. Hab ich geschnorrt. Von dem netten Porsche-Typen da. Der wohnt auch in Berlin.«
Sie zeigt auf so eine rote fliegende Untertasse, die gerade wieder startet. Der Porsche schleicht an uns vorbei und hupt. Meine Mutter winkt lässig. Ich gucke dem Fahrer misstrauisch hinterher. Die Zufallsbekanntschaften meiner Mutter machen meistens Ärger.
»Ich hab seine Nummer«, sagt sie. »Er wohnt im Grunewald, eigenes Haus.«
Ich seufze. War ja klar.
»Er heißt Harry.« Sie kriegt diesen träumerischen Vorverliebtheits-Blick.
»Ich geh mal aufs Klo«, sage ich schnell und klettere mit den Inlinern an den Füßen aus dem Transporter. Super. Auf den Dingern läuft es sich wie geschmiert.
Ahhh. Fast wäre ich mit einer Mülltonne kollidiert.
»ALICE, PASS AUF!«, ruft mir meine Mutter hinterher.
Auf dem Klo texte ich Billie:
Danke, Billie-Schatz. Die Swells cruisen einfach genial.
Nachdem ich beinahe noch einen Rehpinscher, Zwillinge mit riesigen Softeistüten und einen alten Mann mit Gehwagen umgenietet hätte, bin ich wieder zurück an unserem Umzugswagen. Meine Mutter kämpft mit ihrem Handy und meckert vor sich hin. So richtig hat sie ihr Smartphone nicht im Griff.
»Na, hat Harry sich schon gemeldet?«, spekuliere ich.
»Quatsch!« Meine Mutter schüttelt unwirsch den Kopf. »Andreas. Er deponiert den Schlüssel, weil er sich mit seiner Ex trifft, und schickt mir von dem Aufbewahrungsort gerade ein Bild, ich krieg es aber nicht auf.«
»Gib her.« Ich nehme meiner Mutter das Telefon aus der Hand und öffne die Bilddatei. »Häh? Was ist das?«, frage ich entgeistert.
»Ein Schrumpfkopf«, antwortet sie. »Natürlich nicht echt. Hängt über seiner Ladentür. Wenn man die Schädeldecke aufklappt, findet man den Schlüssel darin. Ich glaube, er mag so Gruselkrempel. Im Laden stehen seine ausgestopften Haustiere herum, hat Billie erzählt. Und ein ganz echtes Skelett.«
Ich schüttle mich. »Ist ja makaber. Tolle Werbung für einen Friseur.«
Meine Mutter lacht. »Wieso? Ist eben Berlin. Da musst du dir was einfallen lassen.« Sie startet den Transporter.
»Ist er denn deshalb geschieden? Ich wäre auch nicht gerne mit jemandem zusammen, der so ’n Kram sammelt. Hoffentlich steht von dem Zeug nichts mehr in der Wohnung rum.« Ich bekomme allein bei der Vorstellung eine Gänsehaut.
»Nein, Andreas hat sich in einen Mann verliebt. Bei dem ist er eingezogen, er wohnt im selben Haus, nur unterm Dach. Andreas’ Sohn Erik ist bei seiner Exfrau Doris geblieben. Sie ist Ausstatterin beim Film. Die wohnen jetzt in Tempelhof, gleich beim alten Flughafen. Doris hat dort ein Lager angemietet, für ihre Requisiten. Muss ich mir unbedingt mal ansehen.«
Meine Mutter ist, wie immer, bestens informiert. Sie könnte auch die Chefin einer Klatschzeitung sein.
»Der arme Sohn ist jetzt sicher traumatisiert«, sage ich.
Meine Mutter guckt empört. »Wieso denn? Stell dir vor, ich wäre mit Billie zusammen. Das würdest du doch auch nicht blöd finden. Du bist manchmal wirklich spießig …«
Manche Leute finden es schräg, dass wir von Stadt zu Stadt tingeln. Es gibt viele, die ihre Kinder lieber ins Internat schicken. Dort könnte ich auch hin. Aber ich möchte lieber bei meiner Mutter bleiben. Auch wenn sie manchmal anstrengend ist, besonders dann, wenn sie wieder so einen Harry kennengelernt hat. Ich sehe, dass auf ihrem Handy eine Nachricht eingegangen ist. Der neue Harry fackelt nicht lange.
Schöne Raucherin. Wann treffen wir uns wieder?
Ich finde, der kann noch zappeln, deshalb lösche ich die Nachricht schnell.
»Gut, dass noch Ferien sind«, sage ich. »München war echt anstrengend. Hoffe, wir haben hier mehr Spaß.«
Meine Mutter nickt. »Mal gucken, wie es mit der Serie läuft. Wenn alles klappt, kann ich länger für die Firma arbeiten, und wir können es uns in Berlin mal eine Weile richtig gemütlich machen. Wenigstens so ein, zwei Jahre. Schicke Wohnung, viel Kohle für die Arbeit, im Wannsee schwimmen.« Sie seufzt sehnsüchtig. »Würde dir so ein Leben gefallen?«
Hätte ich nichts dagegen. In der Hauptstadt wohnen ist irgendwie cool. Glaube ich zumindest.
»Parkplatz direkt vor der Haustür. Ich liebe Berlin jetzt schon. Aufwachen, Alice. Wir sind da!«
Das Friseurgeschäft Haarscharf von Andreas sieht in Wirklichkeit noch cooler aus als auf dem Foto. Die Skelette tragen pinke und grasgrüne Perücken, und der Schädel des Schrumpfkopfes verbirgt tatsächlich den Schlüssel für die Wohnung.
Auf dem Küchentisch steht ein Schokoladenkuchen, an den ein Zettel festgepinnt ist.
Willkommen, ihr Lieben. Ich hoffe, euch gefällt es hier. Lasst euch den Kuchen schmecken, ich habe ihn für euch gebacken. Alice kann im Zimmer von Erik schlafen. Das mit der blauen Tür. Er holt seine letzten Sachen in den nächsten Tagen ab. Euer Andreas.
»Ist das nett!«, ruft meine Mutter gerührt. Der Schokoladenkuchen sieht extrem lecker aus. Ich mache schnell ein Foto für Billie und organisiere Teller und Gabeln und schneide uns zwei große Stücke davon ab. Dann setzen wir uns auf den Balkon in die knallroten Sitzsessel. Der Kuchen schmeckt so lecker, wie er aussieht.
»Hier kann man es aushalten!« Ich kaue und lecke sogar die Krümel vom Teller. »Ich sehe mir mal mein Zimmer an.«
Neugierig drücke ich die blaue Tür auf. Ich weiß nicht genau, was ich dahinter erwartet habe. Ich glaube, einen blauen Elefanten oder ein Spielhaus, jede Menge Kuscheltiere … aber es ist ein richtiges Jungszimmer, so wie die Zimmer der Jungs in meiner Klasse. Ich hatte gedacht, Erik müsste jünger sein als ich. Falsch gedacht. In den Umzugskartons finde ich die gleichen Schulbücher, die ich habe, und Arbeitsmappen –, oh Mann, der Junge hat die gleichen Probleme mit Rechtschreibung wie ich. Dann sind da jede Menge Skaterklamotten – die viele Jungs tragen, auch wenn sie nicht skaten – und eine ziemlich beachtliche Anzahl an Caps. Die scheint er zu sammeln. An der Wand hängen Plakate von AC/DC und einem Cro-Gig im Tempodrom in Berlin. Über seinem Bett entdecke ich noch eine Reihe aufgeklebter Schlümpfe, die scheinen schon etwas älter zu sein. Habe ich auch mal gesammelt. Ich nehme mir zwei Asterix, die ich noch nicht kenne, aus einer der Kisten und beschließe, sie mir zu leihen.
»Kommst du zurecht, Schatz?« Meine Mutter streckt den Kopf herein. »Ich hole zwei Koffer aus dem Van. Zum Glück gibt es hier einen Aufzug. Hilfst du mir, das Bettzeug raufzubringen? Den Rest laden wir erst morgen aus, ich habe den Wagen bis zum Wochenende gemietet. Vielleicht brauchen wir ihn noch.« Sie zeigt auf das AC/DC-Plakat. »Hannover, muss super gewesen sein.«
Wir haben keine Lust mehr, das Viertel auszukundschaften und essen zu gehen. Deshalb bestellen wir uns zwei Riesenpizzas, die wir auf unserem neuen Lieblingsplatz, dem Balkon, essen. »Diese Wohnung ist echt ein Glückstreffer«, sagt meine Mutter. »Wir müssen uns später unbedingt auch eine Wohnung mit Balkon suchen. Werde ich der Produktionsfirma am Montag gleich sagen.«
Es fängt ein wenig an zu tröpfeln, und wir verziehen uns ins Wohnzimmer, auf die Polsterlandschaft, und zappen uns durch die Programme.
»Mami«, murmele ich, ich träume schon fast. »Können wir nicht einfach hier schlafen?« Mir fallen die Augen zu.
Ich wache von Stimmengemurmel und Gläserklirren wieder auf. Verwirrt schaue ich mich um. Wo bin ich? Erst langsam dämmert es mir. Berlin! Unser neues Zuhause.
Meine Mutter sitzt wieder auf dem Balkon. »Alice! Das sind Andreas und sein Freund Gabriel! – Das ist meine Tochter Alice!«
Die beiden sind mir auf den ersten Blick sympathisch. »Hallo«, sage ich, schüttele den beiden die Hände und lasse mich auf einen Hocker fallen.
»Ich habe uns einen Begrüßungsschluck mitgebracht«, sagt Andreas und tippt auf die fast leere Flasche Wein.
»Alles klar.« Ich nicke. »Ist schön hier. Morgen werde ich die Gegend mal ein wenig erkunden.« Ich mache eine Handbewegung in den Berliner Nachthimmel.
»Ich werde mich morgen mal ein wenig in Andreas’ Laden nützlich machen«, sagt meine Mutter. »Er ist nämlich gerade auf der Suche nach einer Aushilfe, das wäre doch was für mich, solange mein Job noch nicht angefangen hat.« Zu Andreas sagt sie: »Ich habe meine Arbeitsverträge noch nicht bekommen, dafür muss ich erst mal nach Babelsberg fahren.«
Andreas nickt. »Das geht gut mit der S-Bahn. Ich freue mich sehr, wenn du mithilfst.« Er sieht mich an. »Ich glaube, Erik und du, ihr seid gleich alt. Hast du es dir schon gemütlich gemacht? Die Kisten kommen bald weg.«
Ich nicke. »Klar, hab ich. Ich besitze eh nicht viele Sachen, unser Kram ist noch unten im Transporter.«
Meine Mutter streicht mit über den Kopf. »Wir sind so oft unterwegs. Da sammelt sich nicht viel an, unser Hab und Gut passt in wenige Koffer.«
Stimmt. Das Einzige, was mir wichtig ist, ist meine Inliner-Ausstattung. Auf alles andere, inklusive der Schulsachen, kann ich verzichten. »Okay, ich mach mich mal bettfertig«, sage ich und winke in die Runde. »Gute Nacht.«
Meine Mutter gibt mir einen Gutenachtkuss, und Andreas ruft mir hinterher: »Träum schön. Der erste Traum in einer neuen Wohnung geht in Erfüllung.«
Ich putze Zähne, dusche in Lichtgeschwindigkeit. Ich bin total müde.
Kann mir nicht vorstellen, dass ich heute Nacht überhaupt etwas träumen werde. Und einen echten Wunsch habe ich gar nicht. Oder? Höchstens, dass es hier nicht so doof wird wie in München und dass beim Inlinern nicht alle paar Meter ein Kopfsteinpflaster auftaucht, über das man stolpert. Mehr braucht es gar nicht zu sein. Ich liege in Eriks Bett und starre die Schlümpfe an der Wand an. Nee. Kein echter Wunsch.
Das Zimmer hat keine Vorhänge, und ich kann auf den Balkon gegenüber schauen. Das Geländer ist mit einer bunten Leuchtkette verziert. Die flimmern in meinem Kopf, der schon fast eingeschlafen ist, wie Glühwürmchen. Schön.
Als ich morgens aufwache, kann ich mich tatsächlich an keinen Traum erinnern. Nur an eine sehr lästige Mücke, ich habe drei Stiche mitten im Gesicht. In einer Thermoskanne hat meine Mutter mir Kräutertee gekocht, und es liegen frische Croissants auf dem Tisch. Ich mache mich darüber her. Lecker! Ein Hausschlüssel mit Skater-Anhänger liegt auf der Zeitung. Der kann ja nur für mich sein. Meine Mutter denkt einfach an alles.
Sie ist nicht da. Entweder ist sie einkaufen (macht sie aber eigentlich nicht ohne mich), oder sie ist schon bei Andreas unten im Haarscharf.
Obwohl es erst neun Uhr ist, ist der Laden schon proppenvoll. Meine Mutter schneidet einer Frau gerade einen Kurzhaarschnitt. »Hey, Alice!«, ruft mir Andreas zu. »Was Schönes geträumt?«
Ich schüttle den Kopf und bleibe vor einem Käfig, in dem ein ausgestopfter Hamster sitzt, stehen. »Ist der echt?«
Ich stecke meinen Finger durch die Gitter. Wua! Fühlt sich sehr gruselig an.
Andreas stellt sich neben mich. »Ja, das war Muffelchen. Mein Syrischer Goldhamster. Langhaarhamster. Ist uralt geworden, fünfeinhalb, und während der letzten Sonnenfinsternis gestorben.«
Ich bin ziemlich beeindruckt. »Stopfst du alle deine Haustiere aus? Was war bisher das größte?«
Ich folge Andreas, der nebenan Haarfarbe anrührt.
»Ich lasse das machen, ich selber kann nicht präparieren. Ich hatte mal einen Foxterrier, mein erster Hund, der ist mir aber bei einem Einbruch gestohlen worden«, erklärt er. »Ich umgebe mich eben gerne mit meinen Lieben. Auch nach dem Tod.«
Ich hatte noch nie ein Haustier. Logisch.
Ich zeige auf das Skelett, das als Kleiderständer dient. »Wer war das? Erste Liebe?«
Andreas lacht. »Nein, keine Sorge. Das Ding hat mir Gabriel geschenkt, zu unserem Jahrestag. Er arbeitet in der Pathologie, und das Skelett sollte ausgemustert werden, weil irgendwelche Rippenbögen fehlen. Die hat er durch Plastikteile ersetzt, und seitdem ist das William, unser Butler.«
Hallo, William. Ich schüttele ihm die knochige Hand.
»Aber Kaffee kochen tut er noch nicht, dafür bin ich zuständig«, ruft ein Mädchen in meinem Alter mit lila Pony. »Hallo, ich bin Esther«, sagt sie und gibt mir die Hand. »Ich mache bei Andreas eine Lehre.«
Ich starre auf ihren Pony. »Super, oder?«, fragt sie. »Kann ich dir auch empfehlen, die Farbe.«
Ich schüttele den Kopf. »Vielen Dank.«
Schon immer habe ich mich darüber gewundert, dass Leute, die eine Ausbildung zum Friseur machen, sich ihre eigenen Haare oft in viel zu knalligen Farben stylen. Ich selber stehe überhaupt nicht auf bunt. Na ja, muss jeder selber wissen.
Das Telefon klingelt pausenlos, und Andreas bleibt bei jedem Gespräch gleich freundlich und entspannt.
Gerade ist meine Mutter mit dem Haarschnitt fertig und beginnt zu fegen. Sie sieht müde aus, das sehe ich daran, dass ihr linkes Augenlid immer ein wenig herunterhängt.
Ich nehme ihr den Besen aus der Hand. »Morgen, Mama. Mach mal ’ne Kaffeepause«, sage ich und gebe ihr einen Kuss.
»Du bist lieb, Schatz. Gut geschlafen?« Sie verschwindet in die Küche, und gleich darauf höre ich die Espressomaschine rumpeln.
Ich befreie den Schneideplatz von den restlichen Haaren, sortiere die Zeitungen weg und wische das Waschbecken sauber. »Hey, du kennst dich aus«, lobt mich Andreas. »Willst du auch in die Branche?«
Ich schüttle den Kopf. »Nö, ich weiß noch nicht. Vielleicht mach ich mal was mit Sport. Oder Physiotherapie. Ich steh nicht besonders auf Stylen.«
Andreas nickt. »Zum Wochenende brauche ich jemanden als Aushilfe für Haarewaschen und den ganzen Kram. Ein paar Leute haben sich wegen einer Hochzeit angemeldet. Deine Mutter macht die Frisuren und das Make-up. Falls du Lust hast und dein Taschengeld aufbessern willst …«
Warum eigentlich nicht? »Danke. Mal sehen.«
Meine Mutter kommt aus der Küche zurück. Sie schlürft heißen Kaffee.
»Ich fahr mal los und schaue mich ein wenig um, Mama«, sage ich. Mir brennt es unter den Sohlen, die Gegend auf meinen neuen Inlinern zu erkunden. Das Wetter ist optimal. Sieht nicht nach Regen aus.
Meine Mutter gibt mir einen Kuss. »Sei bloß vorsichtig.«
Klar. Was soll denn passieren? Ich fahre quasi schon immer auf Inlinern durch die Welt, noch bevor ich laufen konnte. Na ja, fast jedenfalls.
Bevor ich starte, schaue ich auf unserem Stadtplan, wo genau ich mich überhaupt befinde, und beschließe, Richtung Rathaus Schöneberg und dann durch den Park zu fahren.
Ich liebe meine neuen Swells!