Buchinfo

In Chavaleen, dem Reich der Vampire, herrscht große Unruhe! Der Vampir-Anführer Vadim Alexandrescu leidet unter einer mysteriösen Krankheit. Lilith Parker muss sofort nach Rumänien reisen, um ihm mit ihren Banshee-Kräften beizustehen. Doch als sie in der unterirdischen Stadt ankommt, kann Lilith nicht glauben, was sie erfährt: Ein Verräter droht, die Vampire den grausamen Vanator auszuliefern, und auch in Bonesdale taucht eine ungeahnte Bedrohung auf. Lilith muss unbedingt die Pläne des Verräters vereiteln und bringt sich dabei selbst in allerhöchste Gefahr.

Autorenvita

© privat

Janine Wilk wurde am 07.07.1977 als Kind eines Musikers und einer Malerin in Mühlacker geboren. Schon von Kindesbeinen an war die Literatur sehr wichtig für sie, mit elf Jahren schrieb sie ihre ersten Geschichten. Mit Anfang zwanzig begann sie mit der Arbeit an ihrem ersten Buch und schon bald folgten die ersten Veröffentlichungen im Bereich Lyrik und Kurzprosa. Janine Wilk lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von Heilbronn.

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Prolog

Valeria Stefanescu hastete über den im Dunkeln liegenden Waldweg und ärgerte sich, dass sie nicht daran gedacht hatte, für den Heimweg ihre Turnschuhe einzupacken. Die Pumps, die sie für den Geschäftstermin angezogen hatte, waren für eine nächtliche Wanderung denkbar ungeeignet. Während sich eine widerspenstige Locke aus ihrem Zopf löste und von den Windböen herumgewirbelt wurde, fuhr Valeria mit ihren feuchten Händen über das maßgeschneiderte Kostüm. Immer wieder tauchte der lautlose Widerschein eines fernen Sommergewitters den Himmel in ein unnatürlich fahles Licht. Valerias Vater hatte ihr einmal erzählt, dass das Phänomen des Wetterleuchtens ursprünglich vom Wort Weterleichen abstammte und die Menschen es für ein so schlechtes Omen gehalten hatten, dass sie die Kirchenglocken läuteten. Beim Anblick des gespenstisch erleuchteten Nachthimmels fragte sich Valeria, ob sie damit vielleicht recht haben mochten.

Sie sah auf ihre Uhr und stieß einen leisen Fluch aus – es war schon weit nach Mitternacht. Die Verhandlungen mit ihrem Mittelsmann wegen der Essenslieferungen für Chavaleen hatten bedeutend länger gedauert, als sie erwartet hatte, und die vielen Richtungsänderungen, die sie auf dem Rückweg in die unterirdische Vampirstadt zur Sicherheit einschlagen musste, zerrten an ihren Nerven. Was, wenn das Tor nach Chavaleen schon geschlossen worden war?

»BUHU«, tönte es über ihr aus dem Blättergeäst.

Der sonore Ruf der Eule ließ Valeria so erschrocken zusammenzucken, dass sie über sich selbst den Kopf schüttelte und laut aufseufzte. Sie benahm sich wie eine sterbliche Teenagerin! Allerdings war es für einen Vampir wahrscheinlich weitaus gefährlicher als für einen Menschen, hier, inmitten des rumänischen Waldes im Herzen der Karpaten, unterwegs zu sein … Ihr Blick streifte im Vorübergehen das Dickicht, das sich zu beiden Seiten des Weges erhob und durch die Böen des herannahenden Unwetters unruhig hin und her schwang.

Die Titelmelodie von Bram Stokers »Dracula« übertönte das Rauschen der Blätter und Valeria durchsuchte fieberhaft ihre Tasche nach dem Handy. Ihr Mann hatte ihr diesen Klingelton vor ein paar Wochen aufgespielt und dabei augenzwinkernd verkündet, dass sie dank dieser musikalischen Untermalung mit gebleckten Fangzähnen aus dem Gebüsch springen und umherirrenden Touristen einen ordentlichen Schrecken einjagen könnte. Doch momentan war nur sie es, die vom kreischenden Staccato der Violinen und dem unheilvollen Chor eine Gänsehaut bekam.

»Mama, wieso bist du noch nicht zu Hause?«

Unwillkürlich huschte ein Lächeln über Valerias Gesicht. »Elodia, mein Schatz! Du bist noch nicht im Bett?«

»Ich kann nur einschlafen, wenn du mir eine Geschichte vorliest«, beschwerte sich ihre Tochter.

»Dein Vater macht das sicher gerne für dich, wenn du ihn darum bittest.«

Valeria fuhr herum, da sie glaubte, hinter sich ein Rascheln und Flüstern gehört zu haben. Stirnrunzelnd versuchte sie, in der Finsternis etwas auszumachen, doch trotz ihrer vampirischen Nachtsicht konnte sie zwischen den Bäumen nichts als konturlose Schatten erkennen.

»Aber Papa ist schon nach drei Seiten eingeschlafen«, erzählte Elodia mit vor Empörung zitternder Stimme. »Und jetzt sitzt er im Sessel in meinem Zimmer und schnarcht so laut, dass ich kein Auge zubekomme.«

»Ich bin bald zu Hause, dann lese ich dir deine Lieblingsgeschichte vor«, versprach sie. »Bis dahin kannst du deinem Vater vorsichtig die Nase zuhalten, manchmal hilft das gegen sein Schnarchen.«

Beim Aufblitzen des Wetterleuchtens sah sie, wie der Ast einer Tanne aufgeregt zu ihr herüberwinkte, als ob er gerade von etwas Großem gestreift worden wäre. Ein vielstimmiges Knacken folgte, das gleichzeitig von verschiedenen Seiten zu kommen schien.

»Bitte mach schnell, Mama! Heute habe ich kurz vor meinem Mittagsschlaf einen dunklen Wald gesehen, in dem böse Monster auf der Lauer lagen und jemandem wehtun wollten. Papa meinte, dass ich wahrscheinlich schon geträumt habe und du sowieso vor Einbruch der Nacht zurück sein willst, aber jetzt …«

»Du hattest eine Vision?« Das Lächeln in Valerias Gesicht versteifte sich. Hektisch sah sie sich um und drehte sich im Kreis, so hastig, dass sie fast über ihre eigenen Füße stolperte. Sie sog tief die Luft ein und ihr geschärfter Instinkt sagte ihr, dass sie nicht mehr alleine war. Sie witterte ganz in ihrer Nähe den Geruch mehrerer Lebewesen.

»Hör zu, Elodia, geh jetzt ins Bett!«, sagte sie in ungewohnt strengem Ton. Die warme Luft ihres beschleunigten Atems wurde von ihrem Handy zurückgeworfen und strich über ihr Gesicht. »Ich bin bald bei dir.«

Mit ihrer freien Hand streifte sie die hinderlichen Pumps ab, und gerade als sie losrennen wollte, traten einige massige Schatten aus dem Wald heraus und stellten sich ihr in den Weg. Nervös fuhr sich Valeria mit der Zunge über ihre Fangzähne, die sich bei Gefahr automatisch verlängerten. Es waren mindestens acht oder neun Männer, alle stämmig gebaut und bewaffnet. Gegen eine solche Überzahl hätte sie im Kampf trotz ihres regelmäßigen Trainings keine Chance. Aber Valeria war eine gute Läuferin, wenn sie Glück hatte, konnte sie ihnen entwischen. Sie wandte sich um und wollte sich blindlings ins Gebüsch schlagen, doch schon nach wenigen Metern ragte eine weitere Gestalt vor ihr auf.

Sie schluckte schwer, das Handy rutschte ihr aus der Hand und landete lautlos auf dem weichen Moosbett des Waldbodens.

»Sieh mal, Grigore, auf was wir hier gestoßen sind!«, rief der Mann. Er leuchtete ihr mit seiner Taschenlampe direkt ins Gesicht und sie riss geblendet den Kopf zur Seite.

Sie durfte jetzt nicht in Panik verfallen! Vielleicht täuschte sie sich auch und diese Männer waren überhaupt nicht diejenigen, für die Valeria sie hielt …

»Was wollt ihr von mir?«

»Keine Angst, gute Frau!«, sagte der Mann, der als Grigore angesprochen worden war. Er näherte sich ihr mit schweren Schritten und die anderen Männer machten ihm bereitwillig Platz. »Wir sind nur Jäger, die den Wald nach frischer Beute durchsuchen.«

Valeria war eine schlanke, hochgewachsene Vampirfrau, trotzdem überragte Grigore sie um mehr als eine Haupteslänge und seine massige Erscheinung mit den breiten Schultern ließ sie automatisch zurückweichen. Wegen ihrer empfindlichen Augen, die vom grellen Licht der Taschenlampe immer noch schmerzten, konnte sie von seinem Gesicht jedoch nicht mehr als eine verschwommene Fratze erkennen.

»Zu so später Stunde noch allein im Wald unterwegs? Wie ist dein Name?«

»Valeria«, antwortete sie zaghaft. »Valeria Stefanescu.«

Ihr Blick huschte zwischen den Männern umher und die Angst grub sich mit kalten Fingern in ihr Herz. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und ihr Atem beschleunigte sich immer mehr.

»Ich frage mich, was du um diese Uhrzeit hier draußen zu Fuß machst, Valeria?«

»Ich konnte nicht schlafen und wollte ein wenig spazieren gehen.«

Er nickte verständnisvoll. »Das mache ich auch oft. Die frische Luft hilft, den Kopf zu klären, und vertreibt die unruhigen Geister, die einem den Schlaf rauben. Merkwürdig finde ich allerdings, Valeria, dass das nächste Dorf vierzig Kilometer entfernt ist und wir hier mitten im Nirgendwo stehen.«

»Ich … ich bin mit dem Auto rausgefahren«, stammelte sie eine Erklärung. »Es steht nicht weit von hier auf einem Waldparkplatz.«

Dies entsprach sogar der Wahrheit, denn sie hatte das Auto wie alle Vampire am Rande des Waldes abgestellt, der mit einem Schutzschild vor den Augen der Menschen gesichert war.

»Du brauchst dir keine Lügengeschichten auszudenken, Weib.« Er trat in den Lichtschein und seine Augen, die die Farbe von grauen Sturmwolken besaßen, musterten sie voller Abscheu. Seine strähnigen braunen Haare fielen ihm in das grobschlächtige Gesicht, in dem jahrelanger Schlafentzug und Hass ihre Spuren hinterlassen hatten. »Willst du gar nicht wissen, was wir mitten in der Nacht jagen? Wir sind nämlich auf eine ganz besondere Art von Großwild spezialisiert.«

Ein eisiger Schauer lief über Valerias Rücken. Was sie bisher nur befürchtet hatte, wurde nun zur grausamen Gewissheit.

»Sie sind Damian Grigore«, hauchte sie. »Sie sind der Anführer der Vanator.«

»Ah, mein Ruf eilt mir voraus!« Zum ersten Mal huschte die Andeutung eines Lächelns über sein Gesicht. Er tippte sich an seine fleischige Nase. »Weißt du, ich kann euch riechen. Ich habe die Gabe von meinem Vater geerbt, so wie er schon von seinem Vater. Euer Gestank bereitet mir Übelkeit.« Er trat näher an sie heran und spuckte vor ihren Füßen auf den Boden. »Du trinkst Menschenblut, Valeria. Du bist ein Vampir.«

Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. Damian Grigore und seine Anhänger gehörten zu den wenigen Menschen, die von der Existenz der Vampire und der Welt der Untoten wussten.

»Aber ich habe nie direkt von einem Menschen getrunken, ich schwöre es euch!« Sie blickte sich Hilfe suchend um, doch keiner der Männer schien sich für ihre Unschuldsbeteuerung zu interessieren. »Ich würde niemals …«

»Das ist mir völlig gleichgültig«, fiel Grigore ihr herrisch ins Wort. »Ihr seid Abschaum, eine krankhafte Verirrung der Natur, die es auszulöschen gilt.«

Sie wollte vor ihm und seinem Hass zurückweichen, doch sie stieß mit dem Rücken an einen weiteren Vanator.

»Was wollt ihr von mir?«

Grigore packte sie brutal am Arm, der in seinen schwieligen Pranken fast zu verschwinden schien, und drückte so fest zu, dass Valeria ein Schmerzensschrei entwich. »Sag mir, wo euer Versteck ist! Wir wissen, dass es hier in der Nähe liegen muss, doch immer wenn wir einen von euch verfolgen, ist er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Das wird uns nicht noch einmal passieren – du führst uns jetzt dorthin!«

Obwohl er den Druck noch weiter verstärkte und Valeria glaubte, ihr Knochen würde jeden Moment in Stücke zerbrechen, schüttelte sie trotzig den Kopf. Sie kannte die Geschichten über die Vanator, sie wusste von deren Brutalität, Grausamkeit und ihrer Erbarmungslosigkeit. Wer den Vanator in die Hände fiel, war verloren. Sie musste jetzt stark sein, für ihre Tochter!

»Ich verrate mein Volk nicht«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ihr seid herzlose Monster, allesamt. Ich werde euch meine Familie nicht ausliefern, niemals!«

»Ich bin nicht zum Spaßen aufgelegt, Vampirweib«, brüllte er. »Wenn du mir keine Antwort gibst, wird mein Gesicht das Letzte sein, was du in diesem Leben siehst.«

Der Schmerz zwang Valeria in die Knie, während sie in Gedanken den Namen ihrer Tochter wiederholte. Elodia, Elodia … Sie musste ihre Tochter vor diesem grausamen Kerl beschützen!

Grigore schien sie mit seinem festen Blick durchbohren zu wollen, aber Valeria hielt ihm stand. »Niemals«, wiederholte sie so ruhig, wie es ihr möglich war. »Selbst wenn ich euch zu unserem Unterschlupf führe, werdet ihr mich töten. Für mich gibt es keine Hoffnung mehr.«

Er stieß wütend die Luft aus und der Geruch von billigem Tabak und Knoblauch raubte ihr für einen Moment den Atem. »Leider habe ich genug von euch Missgeburten gefoltert, um zu wissen, wann es jemand ernst meint.« Er schleuderte sie so brutal zu Boden, dass ihr Kopf mit einem stumpfen Schlag an einer hervorstehenden Baumwurzel abprallte. »Mit dir verschwende ich nur meine Zeit.«

Hinter Valerias Stirn pulsierte es, ihr Magen krampfte sich zusammen und eine Welle der Übelkeit ergriff sie. Mühsam stemmte sie sich in die Höhe. War es die Kopfwunde oder ihre Todesangst, die diesen lähmenden Schwindel verursachte? Am liebsten hätte sie sich wieder auf das weiche Moos sinken lassen, doch sie wollte nicht wie ein Tier vor den Vanator im Dreck liegen. Sie gehörte der stolzen Vampirrasse an und im Gegensatz zu Grigore klebte an ihren Händen nicht das Blut Unschuldiger. Valeria riss sich zusammen, rappelte sich schwankend auf und sah ihm in die Augen. »Dann beende dein Werk, Mörder!«

Sie hörte, wie Grigore unwillig mit den Zähnen knirschte. Eine Vampirfrau, die sich von seinen Drohungen und seiner Gewalt so wenig einschüchtern ließ, schien seinen Hass noch mehr zu schüren.

»Wie du willst! Aber du kannst nicht behaupten, dass ich dir keine Chance gegeben hätte.«

Er zog einen gespitzten Holzpflock aus einer Halterung an seinem Gürtel. Als Valeria bei dessen Anblick erschrocken zur Seite taumelte, lachte er zufrieden auf.

»Natürlich weiß ich, dass man euch auch ohne dieses kleine Hilfsmittel hier auslöschen kann, ein sauberer Schuss ins Herz wäre völlig ausreichend. Nenn mich nostalgisch, aber auch ein Vanator kann einen Sinn für Romantik haben, nicht?«

»Nein«, rief sie panisch. »Nein, bitte nicht!«

Der Holzpflock in Grigores Hand ließ sie ihren Todesmut und ihre mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung mit einem Schlag verlieren. Dieser Mann war wahnsinnig! Er konnte sie doch nicht auf diese grausame Art und Weise töten …

Valeria wollte sich umdrehen und fliehen, aber der Vanator hinter ihr packte sie an den Oberarmen und hielt sie mit eisernem Griff fest umklammert, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Heiße Tränen rannen über Valerias Wangen, während Grigore den Pflock hob und auf sie zutrat.

»Wie versprochen, ist mein Gesicht das Letzte, was du siehst, Blutsauger!«

Es ging so schnell, dass der Schrei in Valerias Kehle nicht einmal entweichen konnte. Ein unvorstellbarer Schmerz brandete in ihrer Brust auf und überflutete ihren Körper. Sie riss die Augen auf und sackte nach vorne, direkt in Grigores Arme.

Er blickte voller Genugtuung auf sie herab. »Wir werden deine elende Sippschaft ausfindig machen und die Welt endgültig von euch befreien«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Er ließ Valeria achtlos zu Boden fallen, direkt neben ihr Handy, das immer noch eingeschaltet auf dem weichen Moos lag. Mit ihrem letzten Atemzug hörte Valeria Stefanescu die Stimme ihrer Tochter, die leise schluchzte: »Mama, sind die bösen Monster bei dir? Mama? Bitte sag doch was!«

1. Kapitel

»Juley, vierzehnter Tag nach Vollmond.

Wetter: Wärmer als gestern, was meine Ladyschaft als ›brutalheiß‹ bezeichnete.

Gesundheitslage: Ohrenschmalz zeigte heute leicht rötliche Tönung. Grund zur Sorge? Fähigkeit zur Immaterialisierung lässt weiter nach, was nach meiner Verbannung aus dem Schattenreich zu erwarten war.

Mahlzeiten: Konnte dem Hund wieder sein Futter klauen, woraufhin er mich zwei Stunden lang durch die Burg jagte. Großer Spaß. Des Weiteren eine tote Ratte im Keller aufgespürt, schon etwas älteren Datums, aber schmackhaft. Tätigkeiten: Mein neues Zimmer im Kerker mit Spinnweben (inklusive Spinnen) und Grabkränzen dekoriert. Wünschte, meine Ladyschaft würde mein außergewöhnlich gutes Stilempfinden teilen. Stattdessen hat sie ihr Himmelbett mit einem nachtblauen Vorhang geschmückt, auf den der motzige Magier echte funkelnde Sterne gezaubert hat – scheußlich, von so etwas bekomme ich Dämonenkrätze!

Erzählung aus dem Schattenreich: Heute keine Zeit für weitere Einträge, muss meine ›Ode an die Todesqual‹ vollenden. Bin jetzt schon überzeugt, dass es ein Meisterwerk wird!«

Eintrag aus Strychnins Dämonen-Tagebuch

Mildred!« Lilith strampelte hektisch mit den Beinen und schnappte nach Luft, was dazu führte, dass sie noch eine Ladung Salzwasser schluckte. So langsam war ihr speiübel. »Warum kann ich denn nicht in einem Pool schwimmen lernen? Es wäre viel einfacher, wenn dieses blöde Meer nicht so … wellig wäre.«

»Bleib ruhig«, ermahnte Mildred sie. »Du beherrschst die Technik perfekt, jetzt musst du nur noch deine Angst überwinden.«

Lilith warf ihr einen säuerlichen Blick zu. Ihre Tante lag entspannt auf dem Rücken, ließ sich wie eine Feder über die Wellen tragen und reckte ihr gebräuntes Gesicht in Richtung der tief stehenden Sonne. Obwohl es schon später Nachmittag war, sirrte die Luft vor Hitze und das Wasser des Atlantischen Ozeans umspülte sie mit einer angenehmen Wärme. Zu Liliths Unbehagen drangen ihre Fußspitzen jedoch bei jedem Schwimmzug in eine deutlich kühlere Wasserschicht ein, was sie daran erinnerte, dass sich unter ihr eine fremde und lebensfeindliche Welt verbarg. Mildred schien dieser Gedanke nicht im Mindesten zu beunruhigen, aber immerhin war sie auch eine Sirene und das Meer verstärkte ihre Kräfte. Man konnte kaum seinen Blick von ihrer Schönheit abwenden und ihre melodische Stimme besaß eine solche hypnotische Kraft, dass man sich Mildreds Willen nicht widersetzen konnte.

Nachdem Lilith vergangenen Winter fast in einem Weiher ertrunken wäre, hatte Mildred darauf bestanden, ihr in den Sommerferien das Schwimmen beizubringen, und dank ihrer Sirenenkräfte funktionierte dies besser, als Lilith erwartet hatte. Ihre Angst war wie weggeblasen und sie hatte in den letzten zwei Wochen alle Schwimmstile und das Tauchen erlernt. Nun hatte ihre Tante jedoch beschlossen, dass Lilith den ersten Versuch ohne ihre beruhigenden Sirenenworte wagen musste, was sich leider als totaler Fehlschlag herausstellte.

»Das Meer ist nicht dein Feind, kämpfe nicht dagegen an, du musst es nicht schlagen und treten«, sagte Mildred schon zum wiederholten Male. »Lass dich von der Strömung treiben, so wie ich!«

Lilith schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, doch ihr vehement ausgestoßenes »Auf gar keinen Fall!« wurde von einer weiteren Welle verschluckt. Wenn das so weiterging, konnten die Wissenschaftler bald vermelden, dass das Steigen des Meeresspiegels überraschenderweise zum Stillstand gekommen war …

Sie blickte sehnsüchtig zum Ufer, das für ihren Geschmack viel zu weit entfernt lag. Schon lange bevor Lilith nach Bonesdale gekommen war und von der Welt der Untoten erfahren hatte, war ihr das Meer unheimlich gewesen, aber nun, da sie dank Arthurs Unterricht in »Spezieskunde der Untotenwelt – Verhalten, Ernährung und Geschichte« eine vage Ahnung davon besaß, was für grauenerregende Wesen tatsächlich dort unten in der Tiefe ihr Dasein fristeten, wollte sie keinen Augenblick länger als notwendig im Wasser bleiben.

»Können wir nicht wieder zurückschwimmen? Es ist spät geworden und außerdem ist meine Haut schon ganz aufgeweicht. Du willst doch nicht, dass ich bei Emmas letzter Hexenprüfung wie eine schrumpelige Fledermaus aussehe, oder?«

Seit Emma sich an ihrem dreizehnten Geburtstag zur Überraschung aller zu einer Hexe gewandelt hatte, musste sie mehrere geheime Prüfungen bestehen, und obwohl Lilith versucht hatte, aus ihrer Freundin etwas über deren Verlauf herauszubekommen, blieben Emmas Lippen stets verschlossen. Nur an ihrem stolzen Lächeln war zu erkennen, dass sie die Aufgaben anscheinend zur Zufriedenheit des Bonesdaler Hexenzirkels gelöst hatte. Nun stand die siebte und letzte Prüfung an, und aus der Aufregung, die in den letzten Tagen im Hause der Middletons herrschte, schloss Lilith, dass diese besonders wichtig sein musste. Der Hexenzirkel hatte Lilith, als Trägerin des Bernstein-Amuletts und zukünftige Führerin der Nocturi, sogar als Ehrengast eingeladen. Sie platzte fast vor Neugier und konnte den heutigen Abend kaum erwarten, auch wenn sie dafür zum ersten Mal ein Bansheefesttagskleid anziehen musste.

»Bisher hast du nicht gerade große Fortschritte gemacht«, stellte Mildred gnadenlos fest. »Es ist besser, wenn wir noch ein bisschen üben. Zuerst muss ich dir diese Angst vor dem Meer austreiben, die dir dein Vater all die Jahre über eingebläut hat.«

»Na toll, das kann ja noch ewig dauern«, murrte Lilith.

Sie konnte ihrem Vater deswegen nicht einmal böse sein, immerhin war Mildreds und Josephs Schwester mit dreizehn Jahren bei einem tragischen Unfall ertrunken, nachdem sie sich nicht zur Sirene gewandelt hatte.

»Du legst dich jetzt auf den Rücken«, befahl Mildred. »Und dann entspannst du dich gefälligst!«

Lilith runzelte verärgert die Stirn, manchmal ging ihr Mildreds herrische Art ganz schön auf die Nerven, und in Momenten wie diesen würde sie am liebsten … Nein, mahnte ihre innere Stimme sie sofort, du darfst nicht wütend werden! Seit der Nacht, in der sie mit Belial vor dem Tor zu Nightfallcastle gekämpft hatte, verbot sie sich jedes aufkeimende negative Gefühl, denn zu groß war ihre Angst, dass dadurch ihre dunkle Seite erneut zum Vorschein kommen könnte. Nie wieder wollte sie diese dämonische Macht in sich spüren, die von Belial auf so heimtückische Art und Weise geweckt worden war und von der sich Lilith bis heute nicht erklären konnte, warum sie sie in sich trug … Einzig mit Strychnin teilte sie dieses rätselhafte Geheimnis und er hatte ihr bei seiner Ehre als Dämonendiener geschworen, es niemals zu verraten.

Schwimm einfach weiter, befahl sie sich nun selbst, reg dich nicht auf und denk an etwas anderes! Mildred meinte es schließlich nur gut und mit ein bisschen Glück beendete sie bald die Schwimmstunde …

Erneut blickte Lilith sehnsüchtig zum Ufer und musste einen freudigen Aufschrei unterdrücken, denn dort stand mittlerweile eine Gestalt und winkte in ihre Richtung. Das war ihre Rettung!

»Ist das dahinten nicht Louis?«

»Was? Wo denn?« Mildreds entspannte Haltung war auf einen Schlag dahin und fast wäre sie beim hektischen Versuch, sich auf den Bauch zu drehen, untergegangen. Als sie Louis Lambert am Ufer erblickte, überzogen sich ihre Wangen mit einer zarten Röte. »Tatsächlich, dabei sind die Sonne und die Hitze doch Gift für ihn.«

Lilith grinste. »Dein Vampir scheint eben Sehnsucht nach dir zu haben.«

»Er ist nicht mein Vampir«, fauchte Mildred, während sie anmutig auf ihn zusteuerte. »Wir sind nicht zusammen.«

»Nicht?« Lilith schwamm wie ein schnaubendes Walross hinter ihr her und konnte es kaum abwarten, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. »Dann wird es aber höchste Zeit, im Dorf geht man sowieso schon davon aus, dass ihr ein Paar seid. Erst heute Morgen hat mich Emmas Mutter gefragt, ob wir drei zu ihnen zum Mitternachtsgrillen kommen wollen.«

»Das ist aber nett von ihr, richte ihr doch bitte einen lieben Dank für die Einladung aus!« Mildred schwieg einen Moment und stieß einen kaum hörbaren Seufzer aus. »Ich will ja nicht leugnen, dass Louis und ich uns gut verstehen und viel Zeit miteinander verbringen. Aber ich bin nicht mehr die Jüngste, da geht man nicht leichtfertig eine Beziehung ein. Schließlich trage ich Verantwortung: Ich muss Geld verdienen, die Bewohner des Seniorenstifts versorgen, mich um ein Kind kümmern …«

Lilith hielt mitten in der Schwimmbewegung inne. »Mit Kind meinst du doch hoffentlich nicht mich, oder?«, unterbrach sie ihre Tante scharf. »Ich werde bald vierzehn und musste schon zwei Mal gegen einen Erzdämon kämpfen – ich bin kein Kind mehr!«

»Vergiss nicht zu schwimmen, mein Kind, du säufst gleich ab«, gab Mildred unbeeindruckt zurück und beschleunigte das Tempo.

Als sie das Ufer endlich erreichten, kam Louis ihnen mit einem Lächeln entgegen. »Na, ihr Wassernixen, war es erfrischend?«, begrüßte er sie und reichte ihnen ihre Handtücher.

»Ja, sehr!« Mildred sah mit strahlenden Augen zu ihm auf. »Aber es wäre nett, wenn du uns nicht als Wassernixen bezeichnen würdest. Ich hatte leider das Pech, einige von denen kennenzulernen, und glaub mir, diese Wassernixen sind allesamt aufgedonnerte und eingebildete Schl…« Sie biss sich auf die Zunge und wickelte sich äußerst konzentriert in ihr Handtuch ein.

»Ja, Tante Mildred?«

Sie wich Liliths fragendem Blick aus und räusperte sich. »Schlangen, ich wollte eingebildete Schlangen sagen. Diese Wassernixen meinen, mit ihren Schmollmündern und ihrem unschuldigen Augenaufschlag könnten sie jeden Mann um den Finger wickeln, und außerdem tragen sie nur einen Hauch von Kleidung.«

»In der Tat«, bestätigte Louis und seufzte sehnsüchtig auf. »Leider habe ich schon ewig keine mehr zu Gesicht bekommen.«

Mildred starrte ihn fassungslos an, doch als Louis amüsiert auflachte, boxte sie ihn spielerisch in die Seite.

Nach Liliths Meinung passten die beiden großartig zusammen. Wie die meisten Vampire in ihrer Gemeinschaft besaß Louis perfekte Umgangsformen und seine ausgeglichene, ruhige Art bildete den idealen Gegenpol zu Mildreds aufbrausendem Temperament. Heute glänzte Louis’ Gesicht mit der markanten Kinnpartie weiß vom Sunblocker, den er genau wie Lilith bei Sonnenschein zum Schutz auftragen musste. Als Nocturi kannte Liliths Haut nur zwei verschiedene Tönungen: eine vornehme Blässe oder ein schmerzhaftes Krebsrot – Mildred zählte mit ihrer sommerlichen Bräune eindeutig zu den Ausnahmen. Vampire litten jedoch mehr als alle anderen unter der Sonneneinstrahlung, weshalb das stets verregnete und in graue Nebelschwaden gehüllte Bonesdale einen idealen Lebensort für sie darstellte. Doch seit einigen Wochen wurde die Insel von einer ungewöhnlich hartnäckigen Hitzewelle heimgesucht, selbst nachts kühlte sich die Luft kaum noch ab. Für die Vampire war dies besonders unangenehm, denn die hohen Temperaturen trieben ihren Kreislauf in die Höhe, was dazu führte, dass sie mehr Blut zu sich nehmen mussten. Zachary Scrope, der Bürgermeister und stellvertretende Führer der Nocturi, hatte verlauten lassen, dass die Vorräte an Blutkonserven, die im Rathaus dank der Blutspenden der Touristen gesammelt wurden, schon in bedenklichem Maße geschrumpft waren. Für einen relativ jungen Vampir wie Louis gab das wenig Anlass zur Sorge, doch für die älteren, deren Bedarf deutlich höher lag, bedeutete dies erhebliche Einschränkungen.

»Ich komme gerade von der Burg«, erzählte Louis. »Matt und ich haben ein wenig an seiner Degentechnik gearbeitet, aber für ein intensives Training war es zu heiß. Selbst in das dicke Gemäuer von Nightfallcastle hat sich diese vermaledeite Hitze mittlerweile hineingegraben.« Er warf einen scharfen Blick zur untergehenden Sonne, als könne er sie dazu bewegen, am nächsten Tag etwas weniger auf Bonesdale herabzubrennen.

Seit Kurzem nahm auch Liliths bester Freund Matt an einigen Fächern ihres außerschulischen Unterrichts teil, der größtenteils von den Bewohnern des Seniorenstifts abgehalten wurde. Zu Matts eigener Sicherheit, denn wie Arthur Bennet so treffend festgestellt hatte, war er immer mit von der Partie, wenn Lilith in gefährliche Abenteuer hineinschlitterte. Auch wenn Matt seine Verschwiegenheit bereits mehrfach unter Beweis gestellt hatte, hielten sie seinen Spezialunterricht vor den Dorfbewohnern lieber geheim, immerhin war er ein Mensch und für einige Nocturi war es schon schlimm genug, dass Lilith ihn in das Geheimnis der Untotenwelt eingeweiht hatte.

»Es wäre schön, wenn du dich zur nächsten Stunde auch mal wieder blicken lässt«, bemerkte Louis tadelnd. »Gerade du hast im Selbstverteidigungsunterricht einiges aufzuholen.«

»Äh, ja, natürlich. Ich hatte heute nur zu tun …« Peinlich berührt wich sie seinem Blick aus und machte eine vage Handbewegung zum Wasser. »Ich musste zum Beispiel das Ansteigen des Meeresspiegels verhindern. Aber ich konnte in diesem Punkt sehr gute Fortschritte erzielen.«

»Das kann ich bestätigen«, murmelte Mildred schnaubend.

Louis stammte aus einer adligen Vampirfamilie und hatte eine umfangreiche Ausbildung genossen, zu der auch Schwert- und Nahkampftechniken gehörten, weshalb er sich als ihr Lehrer angeboten hatte. Wie sich jedoch schnell herausstellte, war Lilith mit einem Schwert in der Hand in etwa so geschickt wie ihr tollpatschiger Dämon Strychnin beim Töpfern. Während sie sich beim letzten Training permanent darum gesorgt hatte, dass sie Matt ernsthaft verletzen könnte, hatte dieser ihr mit seinem Holzschwert einen Klaps nach dem anderen versetzt und dabei begeistert ausgerufen: »Schwer verletzt. Tot. Arm verloren. Schon wieder tot.« Irgendwann hatte sie das Schwert entnervt auf den Boden geschmissen und verkündet, dass sie ihre Gegner in Zukunft lieber mit Spocks Würgegriff außer Gefecht setzen würde, was Louis mit einem verständnislosen Stirnrunzeln quittiert hatte. Aber vielleicht war sie die Sache einfach falsch angegangen, überlegte Lilith. Sie hätte sich wohl besser vorstellen sollen, anstatt Matt stünde der Erzdämon Belial vor ihr. Oder Rebekka, ihre neu hinzugewonnene und äußerst nervtötende Tante.

»Ich soll dich von Melinda bitten, so bald wie möglich heimzukommen«, riss Louis sie aus ihren Gedanken. »Damit sie dich für die heutige Zeremonie fertig machen kann.«

»Jetzt schon?« Lilith zog überrascht eine Augenbraue hoch. »Emmas Prüfung wird doch erst um Mitternacht stattfinden, bis dahin kann ich mich noch zehnmal duschen und das Kleid anziehen.«

»Melinda möchte noch einmal den Sitz deines Bansheekleides überprüfen, und abgesehen davon hat sie die Küche in eine Art Schönheitssalon verwandelt«, erklärte Louis zu Liliths wachsendem Unbehagen. »Auf dem Tisch stapeln sich allerhand Tuben, Farbtiegel, Pinzetten und Klammern – frag mich bitte nicht, was sie mit all dem Zeug vorhat!«

»Ich mag mir mein Gesicht aber nicht bunt anpinseln lassen.« Lilith schmiss unwillig ihr Handtuch in ihre Tasche und zog sich T-Shirt und Shorts über. »Am Ende sehe ich noch aus wie Rebekka! Außerdem hat Melinda in den vergangenen Tagen schon mindestens ein Dutzend letzte Anproben wegen des Kleides angesetzt, doch immer wieder ist ihr etwas eingefallen, das man verbessern könnte. Als ob es nicht reichen würde, dass ich diese flatternde schwarze Scheußlichkeit heute Abend in aller Öffentlichkeit tragen muss.«

»Melinda möchte nur, dass du schön aussiehst«, tröstete Mildred sie. »Immerhin ist es dein erster offizieller Termin, den du als Trägerin des Bernstein-Amuletts wahrnimmst. Melinda hat unheimlich viel Arbeit in dein Bansheekleid gesteckt und außerdem lenkt sie das Projekt ab, ansonsten steigert sie sich nur wieder in ihre Sorgen um Isadoras Gesundheitszustand hinein. Bitte tu ihr den Gefallen und geh gleich zu ihr!«

Großzügig überhörte Lilith, dass ihr Leben gerade als Projekt bezeichnet worden war.

»Na schön«, ergab sie sich seufzend. Sie schlüpfte in ihre Flipflops und schnappte sich ihre Tasche. »Dann marschiere ich jetzt gleich zurück zur Burg.«

Louis und Mildred hatten sich im Schatten des Sonnenschirms niedergelassen und beachteten Lilith überhaupt nicht mehr.

»Tschüs«, sagte sie etwas lauter.

Keine Reaktion.

»Ich dachte mir, auf dem Heimweg öffne ich noch schnell den magischen Zaun im Schattenwald, damit Weromir und die anderen Werwölfe ein paar Tagestouristen anfallen können. Ist das okay?«

»Ja, ist gut, bis später dann!«, flötete Mildred, ohne ihren Blick von Louis abzuwenden. Sie warf ihre blonden Haare nach hinten, klimperte mit den Wimpern und zog einen Schmollmund.

Eine Wassernixe würde bei so einer gekonnt eingesetzten Flirttechnik wahrscheinlich vor Neid erblassen, dachte Lilith.

Sie schüttelte grinsend den Kopf und schaute nach oben, wo über ihr auf der Klippe die schwarzen Mauern von Nightfallcastle aufragten. Es war der Stammsitz der Nephelius-Familie, ihrer Vorfahren, und seit einigen Wochen ihr neues Zuhause. Der Vorschlag, in die Burg zu ziehen, kam zu Liliths Überraschung sogar von ihrer Tante. Mildred meinte, es wäre ein Zeichen an alle, dass Lilith gedenke, ihr Erbe als Führerin der Nocturi anzutreten, und abgesehen davon könne die Trägerin des Bernstein-Amuletts nicht in einer zugigen Villa mit undichtem Dach wohnen. Dem letzteren Argument musste Lilith wohl oder übel zustimmen, auch wenn ihr die Symbolik ihres Wohnorts relativ egal war – sie fand es einfach nur cool, in einer alten Burg zu leben. Da Nightfallcastle seit seiner Öffnung dank der tatkräftigen Mithilfe der Einwohner Bonesdales schon bald wieder instand gesetzt worden war, versprach es im nächsten Winter sicherlich ein angenehmeres Heim zu sein als die Parker-Villa, der größere und vor allen Dingen kostenintensive Renovierungsarbeiten bevorstanden. Nach ihrem Umzug hatte Lilith jedoch festgestellt, dass das Leben in Nightfallcastle nicht nur positive Seiten zu bieten hatte. Der lange und vor allen Dingen beschwerliche Heimweg hinauf zur Klippe zählte eindeutig zu den Nachteilen.

Als sie verschwitzt und atemlos den Burghof erreichte, stand vor dem Eingangsportal gerade eine Touristengruppe und bewunderte die schwarze, mit menschlichen Knochen verzierte Fassade von Nightfallcastle und die Gargoyles, die auf die Besucher mit gebleckten Zähnen herunterstarrten. Dafür, dass die Renovierung aus der Gemeindekasse bezahlt worden war, hatte Zachary Scrope verlangt, dass ein Teil der Burg für Besichtigungen zur Verfügung stand. Zu diesem Zweck war sogar die Angstschranke, die man auf dem Weg zur Burg passieren musste und die eigentlich jeden unerwünschten Besucher zuverlässig fernhielt, abgedämmt worden – nun bekamen die Touristen lediglich eine Gänsehaut und ein beklemmendes Angstgefühl, wenn sie diesen Teil des Parks passierten. Laut Jonas, dem Fremdenführer, zählte dies zu den Highlights einer jeden Tour.

»Entschuldigung, darf ich bitte mal durch?« Lilith versuchte sich einen Weg zur Tür zu bahnen, was gar nicht so einfach war, da alle fasziniert nach oben glotzten und keinen Millimeter zur Seite rückten. Als sie endlich in der ersten Reihe bei Jonas ankam, rollte sie entnervt mit den Augen, woraufhin der junge Mann ihr aufmunternd zuzwinkerte.

»… und nun werden Sie gleich dem Schrecken Ihrer nächtlichen Albträume begegnen«, fuhr er mit Unheil verkündender Stimme fort, »dem berühmten Todeskerker von Nightfallcastle! Dort wurden zur Zeit der Inquisition mindestens ein Dutzend Hexen grausam zu Tode gequält. Vielleicht begegnet Ihnen sogar der Geist einer dieser bedauernswerten Seelen …«

Lilith musste sich ein Grinsen verkneifen. Das war natürlich erstunken und erlogen, doch den Touristen gefielen solche Horrorstorys. Zum Glück gab es bis auf den Burghof keine weiteren Berührungspunkte, da die Touristen durch einen Seiteneingang direkt in den Kerker geführt wurden. Trotzdem mussten die Burgbewohner, insbesondere Sir Elliot und Strychnin, immer auf der Hut vor neugierigen Blicken sein. Ansonsten würde es nicht einfach werden, den Touristen zu erklären, warum gerade ein quietschlebendiges Skelett mit Seidenkrawatte und goldenem Monokel an ihnen vorüberlief.

Lilith sauste in das ehemalige Zimmer ihrer Mutter hinauf. Sie hatte das Turmzimmer zu ihrem neuen Reich erkoren, da es nicht nur sehr gemütlich war und einen herrlichen Blick auf das Meer bot, sondern sie sich ihrer Mutter hier näher fühlen konnte als je an einem anderen Ort zuvor. Lilith suchte sich im Chaos ihres Schrankes einige frische Kleider zusammen, duschte und machte sich auf den Weg in die Küche, wo sie bereits ungeduldig von Melinda erwartet wurde.

»Na endlich, Kind!«, rief sie vorwurfsvoll. »Wenn wir noch rechtzeitig fertig werden wollen, müssen wir uns jetzt sputen! Dabei ist bei diesem schrecklichen Wetter jede Hektik Gift für mich.«

Die alte Vampirlady tupfte sich mit einem Spitzentaschentuch die Stirn ab und fächelte sich mit einem schwarzen Fächer Luft zu. Arthur saß auf einem bequemen Sessel in der hinteren Sitzecke, paffte an seiner Pfeife und las Zeitung, während Strychnin neugierig Melindas Schminkutensilien durchwühlte. Genau wie in der Parker-Villa bildete die Küche das Zentrum für die Bewohner der Burg, hier trafen sich alle, aßen gemeinsam, tranken Tee und plauderten. Im Gegensatz zum Rest der Burg war dieser Raum mit seinen unvertäfelten Steinwänden, den blank polierten Holzmöbeln, dem Flickenteppich und dem kleinen offenen Kamin eher einfach gehalten, doch genau dies gefiel Lilith.

»Seid gegrüßt, Eure Ladyschaft«, krähte Strychnin. »Ist Euer Badeausflug zu Eurer Zufriedenheit verlaufen?«

»Ich lebe noch, insofern kann ich mich wohl glücklich schätzen.«

»Gab es irgendwelche bedenklichen Vorkommnisse?«, fragte er sorgenvoll.

»Ach, Strychnin, jetzt hör endlich auf damit! Seit Monaten fragst du mich das täglich. Wenn ich irgendwelche Anhaltspunkte habe, dass Belial zurückgekehrt ist, bist du der Erste, den ich informiere, versprochen! Aber es ist alles ruhig und in ganz Bonesdale lauert keine bösartige Gefahr, von der ich dir berichten könnte.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Wo sind denn die anderen?«

»Sir Elliot sitzt wie üblich in der Bibliothek deines Großvaters«, antwortete Arthur, zog an seiner Pfeife und schickte einen Rauchkringel in Richtung Decke. »Seine Begeisterung für diese antiken Schmöker wird immer schlimmer, das letzte Mal hat er sich hier Anfang der Woche blicken lassen. Wenn er nicht aufpasst, verhungert er noch und magert ab bis auf die Knochen!« Er lachte über seinen eigenen Scherz und unter seinem weißen Bart erschien ein breites Grinsen. »Regius versucht gerade aus Eisgnomen eine magische Klimaanlage zu bauen und Isadora …« Arthur verstummte abrupt und warf Melinda einen entschuldigenden Blick zu.

»Wie geht es ihr?«, unterbrach Lilith das angespannte Schweigen.

Melinda klappte den Fächer zusammen und legte ihn so vorsichtig auf den Tisch, als handle es sich um ein zerbrechliches Schmuckstück. »Nicht gut«, sagte sie kaum hörbar. »Obwohl wir das Zimmer abgedunkelt haben und es mit feuchten Tüchern zu kühlen versuchen, setzt die Hitze ihr ernorm zu und sie wird immer schwächer. Dabei sind es noch fünf Tage, bis wir die nächste Blutspende erhalten.« Die Sorge um ihre Schwester ließ die Falten in Melindas Gesicht noch tiefer erscheinen. »Vielleicht hätten wir doch lieber in Chavaleen unseren Lebensabend verbringen sollen, dort würde es ihr jetzt nicht so schlecht gehen.«

Chavaleen war der Hauptsitz der Vampire – eine Höhlenstadt in Rumänien, in der es weder Sommer noch Winter gab, da sie weit unter der Erde lag. Dort lebte auch Vadim Alexandrescu, der Träger des Blutstein-Amuletts, den Lilith bei ihrer Gerichtsverhandlung vor dem Rat der Vier kennengelernt hatte.

Arthur stand auf und legte Melinda tröstend eine Hand auf die Schulter. »Das wird schon wieder, meine Liebe! Wenn es Regius gelingt, diese störrischen Eisgnome wütend zu machen und die Klimaanlage damit zum Laufen bringt, geht es ihr bestimmt bald besser.«

Sie nickte, atmete tief durch und strich sich ihren Dutt zurecht. »Dann fangen wir mal an, dich in eine junge Dame zu verwandeln, Lilith.«

Sie beugte sich suchend über ihre Utensilien. »Die Zeit, in der ich einem Mann gefallen wollte, liegt zwar schon etwas zurück, aber ich habe alles aufgehoben, was eine Frau benötigt, um sich herauszuputzen. Für Vampirfrauen ist ein gepflegtes Äußeres von großer Wichtigkeit.«

Strychnin hielt sich prüfend einen Handspiegel vors Gesicht. »Na, wie sehe ich aus? Wie ein Dämon mit einem gepflegten Äußeren?« Nachdem er mehrere Lippenstifte aufgegessen hatte, war er dazu übergegangen, sich die Farbe auf seine wulstigen Dämonenlippen zu schmieren. Er grinste sich selbst wohlwollend zu und Lilith war überrascht, dass der Spiegel keinen Sprung bekam. Melinda nahm ihm entnervt die Sachen weg und trat mit einer Pinzette in der zittrigen Hand zu Lilith.

»Was wird denn das, wenn es fertig ist?«, fragte Lilith misstrauisch.

»Ich zupfe nur ein wenig deine Augenbrauen in Form. Keine Sorge, das tut fast gar nicht weh.«

Zwei Sekunden später schossen Lilith die Tränen in die Augen. »Aua!« Wenn sie das geahnt hätte, wäre sie lieber bei Mildred geblieben und eine Extrarunde um die Insel geschwommen. »Verflixt, tut das weh«, beschwerte sie sich lautstark.

»Wer schön sein will, muss leiden«, meinte Melinda ungerührt.

Arthur sah kopfschüttelnd über den Rand seiner Zeitung. »Wahrscheinlich taucht jeden Moment Jonas mit den Touristen hier auf, damit sie sich eine gequälte Seele bei der Folterung ansehen können.«

»Hört sofort auf, meine Herrin zu attackieren!«, rief Strychnin. »Ansonsten bekommt Ihr diesen Fingerquetscher zu spüren, Vampirweib!« Er stand auf dem Tisch und streckte Melinda angriffslustig einen kleinen metallenen Gegenstand entgegen.

Die alte Frau maß ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Du wagst es, mir zu drohen, du dämonischer Fettwanst? Mit einer Wimpernzange?«

»Ist schon gut, Strychnin«, schniefte Lilith. »Alles in Ordnung, leg deinen Fingerquetscher wieder weg!«

Ausgerechnet in diesem Moment kam auch noch Rebekka herein und warf einen flüchtigen Blick auf das Chaos, während sie zum Kühlschrank lief. Ihre Augen, die genau das gleiche strahlende Blau wie Liliths besaßen, waren großzügig mit schwarzem Kajal umrandet und ihre dunkelroten Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.

»Oh, die kleine Lilith soll hübsch gemacht werden? Ich wusste gar nicht, dass ihr euch neuerdings an Wundern versucht!«

Genau dies war ein weiterer und definitiv schwerwiegender Nachteil am Leben in Nightfallcastle: Rebekka wohnte ebenfalls hier. Genau genommen hatten sie und ihre Mutter Imogen als Erste einen Teil des Obergeschosses bezogen, was wahrscheinlich ein nicht unerheblicher Grund dafür war, dass Mildred einen Umzug mit einem Mal für eine grandiose Idee hielt. Denn seit Rebekka nicht mehr mit einer Lüge leben musste und ganz offiziell die uneheliche Tochter des Baron Nephelius war, spielte sie sich als Herrin über Nightfallcastle auf, mischte sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die politischen Angelegenheiten der Nocturi ein, und wer es nicht besser wusste, hätte wahrscheinlich sie und nicht Lilith für die Trägerin des Bernstein-Amuletts gehalten. Zwar verzichtete sie mittlerweile darauf, Lilith aus dem Weg zu räumen oder bösartige Intrigen zu spinnen, doch bei Rebekka machte das keinen großen Unterschied.

»Lilith wird heute bei der Hexenprüfung eine wunderschöne Banshee abgeben«, erklärte Melinda ihr das Chaos in der Küche.

»Wahrscheinlich wäre es den Hexen lieber gewesen, wenn die rechtmäßige Trägerin des Bernstein-Amuletts an der Zeremonie teilnehmen würde«, meinte Rebekka bissig. Trotz der Hitze trug sie eine enge Lederhose und ein kunstvoll zerrissenes Top, das mit Nieten besetzt war. »Aber leider habe ich heute Abend schon etwas vor.«

»Ach ja?«, gab Lilith unbeeindruckt zurück. »Wirst du mit deinen Freunden vielleicht Pflegecreme für deine Teufelshufe herstellen? Oh, ich vergaß, du hast ja gar keine Freunde.«

Rebekka ignorierte Liliths Bemerkung und stellte sich mit ihrer eisgekühlten Wasserflasche neben Melinda, die mit der Pinzette gerade an einem Augenbrauenhaar herumzog und anscheinend die Dehnbarkeit von Liliths Haut austestete. »Das ist die ganz falsche Technik«, kommentierte sie fachmännisch. »Man muss die Haut mit den Fingern spannen und schnell zupfen. Soll ich mal?«

Lilith hob abwehrend die Hände, wahrscheinlich würde Rebekka ihr – nur so zum Spaß – die Pinzette ins Auge rammen! Doch schon hatte sich Rebekka die Pinzette geschnappt und legte los. Zu Liliths Überraschung war der Schmerz tatsächlich sehr viel erträglicher.

Rebekka grinste sie mit triumphierender Miene an. »Gib es zu, deine Tante Rebekka macht das großartig!«

Eine gefühlte Ewigkeit später hatten Melinda und Rebekka sowohl ihre Schönheitsbehandlungen als auch die letzten Änderungen am Bansheefesttagskleid beendet und standen mit zufriedener Miene vor Lilith.

»Ich bin einfach gut«, lobte sich Rebekka selbst. »Besser geht’s nicht.«

»Großartig«, schniefte Melinda. »Das Kleid sitzt perfekt, dazu die langen schwarzen Haare und das bezaubernde Gesicht … Eine Banshee wie aus dem Bilderbuch.«

Lilith zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Seit wann kamen denn Banshees in Bilderbüchern vor?

»Darf ich mich jetzt endlich im Spiegel ansehen?«, verlangte sie ungeduldig. »Ich habe Emma versprochen, vor der Prüfung zu ihr nach Hause zu kommen.«

»Du wirst dich nicht mehr wiedererkennen«, versprach Rebekka und schubste sie in die Eingangshalle vor den großen Spiegel. »Das ist aber doof, ich fand mich nämlich gut, so wie ich …« Lilith brachte den Satz nicht zu Ende und starrte sprachlos ihrem Spiegelbild entgegen. Ihr Haar war mit silbrig funkelnden Spinnen festgesteckt und fiel hinten in leichten Wellen über ihre Schulter. Sie hatte befürchtet, dass sie in dem traditionellen schwarzen Bansheefesttagskleid wie eine überdimensionale Fledermaus aussehen würde, doch Melinda hatte sich selbst übertroffen: Das Kleid bestand aus einem edlen, außergewöhnlich feinen Stoff, der sich bei jedem noch so kleinen Windhauch bewegte und sich wie zarte Schwingen hinter Lilith erhob – es wirkte fast so, als hätte sie seidenschwarze Engelsflügel. Die Bordüren waren passend zum Haarschmuck mit silbernen Stickereien verziert, die geheimnisvoll glitzerten.

»Wow!«, hauchte Lilith. »Melinda, das Kleid ist wunderschön geworden.«

»Nicht wahr?« Die alte Dame lächelte stolz. »Für dein überraschtes Gesicht hat es sich gelohnt, bei den Anproben den Spiegel abzuhängen.«

Lilith trat näher an ihr Ebenbild heran. Rebekka hatte recht behalten: Sie erkannte sich tatsächlich kaum wieder. Plötzlich wirkte sie sehr viel älter und reifer. Zwar hatte sie für ihr Alter schon mehr Schicksalsschläge und gefährliche Abenteuer erlebt, als ihr lieb war, und sie feierte immerhin schon bald ihren vierzehnten Geburtstag, doch zum ersten Mal nahm Lilith wahr, dass sie sich verändert hatte. Sie war dabei, eine andere zu werden und das kleine Mädchen hinter sich zu lassen.

»Was ist los? Ist es zu viel Schminke?«, fragte Rebekka besorgt.

»Nein, es ist völlig in Ordnung.« Lilith schenkte ihr ein dankbares Lächeln.

Tatsächlich hatte sich Rebekka sehr zurückgehalten und erst bei genauerem Hinsehen bemerkte man das leichte Rouge auf Liliths Wangen und die zarte Röte auf ihren Lippen.

»Gefunden!«, hallte Mildreds Stimme irgendwo aus einem der Korridore über ihnen. »Und er funktioniert sogar noch.«

Ihre Tante hetzte die lange Treppe herunter und schwenkte dabei einen altertümlichen Fotoapparat in der Hand. »Du gehst mir nicht aus dem Haus, ehe ich dich fotografiert habe, junge Dame!«

»Muss das sein?«, stöhnte Lilith. »Wenn ich zu spät zu Emmas Prüfung komme, war dieses ganze Theater völlig umsonst.«

Doch Mildred ignorierte sie einfach und platzierte sie neben einer Rüstung. »Am besten, du stellst dich hier hin … oder nein, hier drüben am Kronleuchter ist das Licht besser. Und du verschwindest, Strychnin, dich möchte ich nicht auf dem Bild haben, da nützt auch dein frisiertes Ohrhaar nichts.«

»Och, menno!«

»Wie wäre es mit der Treppe?«, schlug Melinda vor. »Wenn Lilith die Stufen hinabgeht, flattert das Kleid hinter ihr her und im Hintergrund sieht man die große Uhr glitzern.«

»Draußen im Burghof neben dem Vollmondbrunnen wäre es aber auch nicht schlecht«, mischte sich nun auch noch Rebekka ein.

Eine hitzige Diskussion entstand, wo man das beste Foto machen könnte, während Lilith nervös danebenstand. Zum Glück klingelte in diesem Moment das Telefon, das am hinteren Ende der Eingangshalle in einer kleinen Nische stand, und Lilith war dankbar, dem unsinnigen Streitgespräch zu entkommen. Bestimmt war es Emma, die anrief, um zu fragen, wann sie endlich käme.

»Einen wunderschönen guten Abend«, meldete sie sich grinsend. »Sie sind verbunden mit der Nephelius-Heilanstalt für alle, die auf der Schwelle zum Wahnsinn stehen. Was kann ich für Sie tun? Ich muss Ihnen allerdings gleich sagen, dass wir derzeit ausgebucht sind.«

Doch sie hörte nicht Emmas Stimme, die ihr ein lachendes »Oh, wie bedauerlich!« zurückgab. Es war lediglich ein Rauschen und Knacken zu vernehmen, als käme der Anruf von weit her.

»Papa? Bist du das?«, fragte sie verunsichert. Ihr Vater hatte erst vor wenigen Tagen aus Südamerika angerufen und ihr mitgeteilt, dass er und sein Team bei der Ausgrabung in die heiße Phase kamen und er sich in den nächsten Wochen wahrscheinlich nicht mehr so oft bei ihr melden konnte. Aber vielleicht war ihm etwas zugestoßen? Bei diesem Gedanken zog sich automatisch ihr Herz zusammen und sie runzelte sorgenvoll die Stirn. »Hallo, ist da jemand?«

Nichts, keine Antwort.

Lilith war kurz davor aufzulegen, als sich das seltsame Knacken verstärkte und plötzlich einzelne Wortfetzen zu hören waren, die jedoch keinen Sinn ergaben. Wäre es ein Telefon mit Anrufererkennung gewesen, hätte ihr wenigstens die Nummer einen Anhaltspunkt geben können, doch so starrte sie hilflos auf den altmodischen Apparat mit Wählscheibe.

»Ich kann Sie nicht hören. Können Sie vielleicht etwas lauter sprechen?«