Cover

JENNIFER L.

ARMENTROUT

Torn

EINE LIEBE ZWISCHEN

LICHT UND DUNKELHEIT

BAND 2

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Michaela Link

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe
TORN
Redaktion: Martina Vogl
Copyright © 2016 by Jennifer L. Armentrout
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe und der
Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter
Verwendung eines Motivs von Bimbim / Shutterstock
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-23251-1
V002
www.heyne.de

Das Buch

Ivy Morgans Leben steht Kopf: Ihre beste Freundin Val hat das magische Tor zu Anderwelt geöffnet und dem ebenso schönen wie grausamen Prinzen der Fae den Weg nach New Orleans bereitet. Bei dem Versuch, Val und den Prinzen aufzuhalten, wird Ivy beinahe getötet. Als ob das noch nicht schlimm genug wäre, erfährt Ivy auch noch ein dunkles Geheimnis über ihre eigene Vergangenheit. Ein Geheimnis, das mit dem Fae-Prinzen zu tun hat und von dem der Orden der Fae-Jäger auf keinen Fall wissen darf, sonst ist Ivys Leben verwirkt. Und auch Ren, in den sich Ivy unsterblich verliebt hat, darf niemals erfahren, wer sie wirklich ist, denn dann müsste er sich zwischen seinen Gefühlen für sie und seiner Pflicht gegenüber dem Orden entscheiden. Doch der dunkle Prinz der Fae ist Ivy dicht auf den Fersen, und er ist bereit, alles zu tun, um sie in sein Reich zu entführen. Und als die Stunde der Entscheidung kommt, muss sich Ivy fragen, ob die Liebe, die sie und Ren füreinander empfinden wirklich stark genug ist …

»Die prickelndste Liebesgeschichte ever!«

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Die Autorin

Jennifer L. Armentrout wurde 1980 in Martinsburg, West Virginia, geboren und zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen der USA. Mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Jugendliche und Erwachsene – stürmt sie regelmäßig die nationalen und internationalen Bestsellerlisten. Wenn sie nicht gerade schreibt, frönt Jennifer L. Armentrout ihrer Leidenschaft für schlechte Zombiefilme. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Hunden in West Virginia.

Mehr zu Jennifer L. Armentrout und ihren Romanen erfahren Sie auf:

www.jenniferlarmentrout.com

Für die Leser und Kritiker.

Nichts von alledem wäre ohne euch möglich.

1

Mein Blut, dunkelrot wie frisch gefallene Rosenblätter, schäumte aus der Mitte meiner Handfläche hervor wie aus einem verfluchten Vulkan des Grauens.

Ich war der Halbling.

Ich war es. Ich war es schon immer gewesen. Und Ren – o mein Gott –, Ren war hier, um mich zu finden und zu töten, weil der Prinz der dreimal verfluchten Anderwelt im Reich der Sterblichen frei herumlief. Der Prinz war hier, um mit einem Halbling ein Apokalypse-Baby zu zeugen … mit mir.

Mir.

Ich würde mich übergeben.

Gleich hier auf die Holzdielen meines Schlafzimmers.

Ich hatte Mühe zu atmen, als ich den Blick hob. »Warum? Warum hast du mir das nicht gesagt?«

Tink schwebte näher heran, und seine hauchzarten Flügel flatterten dabei lautlos. Der verdammte Brownie. Der verdammte Brownie, den ich auf dem St. Louis Cemetery gefunden hatte. Der Brownie, dem ich aus einem Eisstiel eine Beinschiene gebastelt und um dessen zerrissenen Flügel ich vorsichtig Gaze gewickelt hatte. Der verdammte Brownie, den ich seit zweieinhalb Jahren in meiner Wohnung leben ließ und den ich noch nicht dafür umgebracht hatte, dass er ein Vermögen meines Geldes für Amazon-Bestellungen ausgegeben hatte, als wäre er einer Episode von Leben im Chaos entsprungen. Dieser verdammte Brownie würde gleich mit einem heftigen Tritt in eine andere Dimension befördert werden.

Nun rang er vor seiner Brust die Hände. Sein Hemd war mit Puderzucker bestäubt, und auf seinen Wangen klebte überall weißer Staub, so als wäre er mit dem Gesicht mitten in ein Häufchen Kokain gefallen.

»Ich dachte nicht, dass es jemals so weit kommen würde«, sagte er.

Ich hob die Hand, und das warme Blut rann meinen Arm hinab. »Tja, es ist so weit gekommen. Ziemlich genau jetzt.«

Tink schwebte nach links. »Ich hatte gedacht, wir hätten alle Tore geschlossen, Ivy. Wir hatten keine Ahnung, dass es hier in New Orleans ein zweites Tor gab. Wir glaubten, es bestände keine Gefahr, dass irgendein Mitglied des Königshofes oder der Prinz oder die Prinzessin hindurchkommen könnten. Es war kein Thema.«

Ich ließ die Hand sinken und schüttelte den Kopf. »Stell dir vor, Tink. Es ist ein Thema. Es ist ein riesiges, godzillagroßes Thema!«

»Das sehe ich jetzt auch.« Er flog zum Bett hinüber und landete auf meiner Decke. »Ich wollte dich nie belügen.«

Ich runzelte die Stirn und drehte mich zu ihm um. »Ich sage dir das nur ungern, Tink, aber wenn man jemanden nicht belügen will, dann belügt man ihn einfach nicht.«

»Ich weiiiß.« Er zog das Wort in die Länge und lief zum Bettrand. Dabei grub er seine nackten Füße in die purpurne Chenille-Tagesdecke und verteilte überall Puderzucker. »Hättest du es mir denn geglaubt, wenn ich es dir gesagt hätte? Bestimmt nicht, denn schließlich hatte ich keinen Dornenpflock herumliegen.«

Okay. Da hatte er nicht ganz unrecht. »Aber als ich das Thema zum ersten Mal angesprochen habe, hättest du was sagen können.«

Tink senkte den Kopf.

Ich holte tief Luft. »Wusstest du sofort, was ich war, als du mich das erste Mal gesehen hast?«

»Ja«, bestätigte er und fuhr hastig fort: »Aber das war keine Absicht. Dass du mich gefunden hast, war ein Glücksfall. Ein Zufall. Oder es war Schicksal. Ich bilde mir gern ein, dass es unsere Bestimmung war.«

»Hör einfach auf.« Es tat weh zu wissen, dass er die ganze Zeit über unaufrichtig gewesen war, und das Gefühl brannte tief in meinen Eingeweiden und in meiner Brust. Ich wusste nicht, wer er war.

Ich wusste nicht länger, wer ich war.

»Ich hatte keine Ahnung, bis du in meine Nähe kamst und ich das schwache Faeblut in dir gewittert habe. Aber du hast recht. Ich hätte es dir sagen sollen, Ivy Divy. Du hattest recht, aber ich hatte Angst … ich hatte Angst davor, was du tun würdest.« Tink ließ sich plötzlich rücklings auf die Tagesdecke fallen, seine kleinen Arme und Beine von sich gestreckt. »Ich wollte dir keinen Kummer bereiten, weil du mir geholfen hattest, und ich wollte nicht, dass du irgendetwas Überstürztes tust, wenn ich es dir erzähle.«

»Was hätte ich denn tun können?« Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle. »Was kann ich tun?«

Er hob kraftlos seine Arme. »Du hättest dir, ich weiß nicht, etwas antun können.«

Ich öffnete den Mund und zuckte zusammen, als sich die Haut meiner geprellten und geschwollenen Gesichtshälfte spannte. Ich schloss den Mund wieder. Mir etwas antun? Ich schaute zu dem Dornenpflock, der auf dem Boden lag. »Nein«, flüsterte ich, bückte mich und hob ihn auf. Mit meinem Shirt wischte ich das Blut von der Spitze. »Ich will nicht sterben.«

»Das ist gut.« Tink setzte sich auf, seine Arme hingen immer noch kraftlos herunter.

Ich legte den Dornenpflock auf die Kommode, neben meine eisernen Pflöcke und die Dolche. »Ich würde mir nichts antun, Tink.«

»Aber du würdest versuchen fortzugehen.« Tink war jetzt dicht hinter mir in der Luft.

Ich seufzte tief, was mir nicht half. Fortgehen? War das der nächste Schritt? Ich wandte mich von der Kommode ab und wich Tink aus, was schwerer war, als es das bei jemandem, der nur so groß war wie eine Barbiepuppe, hätte sein sollen. Bis ins Mark erschöpft, ging ich durchs Zimmer und setzte mich auf die Bettkante. Die Erschöpfung rührte nicht nur von den zahlreichen Verletzungen, die langsam verheilten.

Meine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Ich schloss die Augen, legte mich aufs Bett zurück und ließ die Beine vom Rand baumeln, während sich tief in mir Panik breitmachte. Bei der bloßen Vorstellung fortzugehen schlug mein Herz wie verrückt. New Orleans zu verlassen bedeutete, den Orden zu verlassen, und das war ein riesiger Schritt. Man konnte nicht einfach verschwinden und den Orden verlassen. Das war in etwa so, als würde man sich beim Militär unerlaubt von der Truppe entfernen. Man würde nach mir fahnden. Andere Ordensmitglieder würden nach mir suchen, und es gab Sektionen in jedem Bundesstaat. Ich würde mich nur für eine begrenzte Zeit verstecken können. Wenn ich verschwand, würde David mich verdächtigen, eine Verräterin zu sein wie … wie Val. Und er würde sich mit anderen Sektionsleitern in Verbindung setzen.

Aber es war mehr als nur meine Pflicht dem Orden gegenüber, das mich zögern ließ, New Orleans den Rücken zu kehren – viel mehr.

Gott, meine Pflicht dem Orden gegenüber schrieb vor, dass ich mich ihnen auslieferte, und selbst das war es nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte der plötzliche Widerwille dagegen, das Richtige zu tun, nichts mit meiner Pflicht zu tun.

Er hatte ausschließlich mit Ren zu tun.

Fortzugehen bedeutete, ihn zu verlassen, und beim bloßen Gedanken daran rutschte mir das Herz in die Hose. Oder gleich in die Füße. Ich liebte ihn. Gott, ich liebte ihn mehr als Pralinen und Beignets, und das war etwas sehr Bedeutsames, denn meine Liebe zu süßen, gezuckerten Dingen stand den größten Liebesgeschichten der Menschheit in nichts nach. Bei dem Gedanken, Ren nie wiederzusehen, wollte ich mich am liebsten ganz klein machen und einrollen – und das wäre unglaublich dumm, denn ich war mir ziemlich sicher, dass es mit meinen geprellten Rippen höllisch wehtun würde.

Ich hätte ihm nie so nahekommen dürfen.

Die ganze Zeit über war ich starr vor Angst gewesen, dass er sterben könnte, wie alle anderen es getan hatten, die mir wichtig gewesen waren. Nie im Leben wäre es mir in den Sinn gekommen, dass ich ihn verlieren könnte, weil ich gehen müsste. Oder weglaufen müsste, und zwar schnell.

Aber was konnte ich tun? Auf keinen Fall durfte der Prinz seine Pläne in die Tat umsetzen. Ein Kind aus einer Verbindung des Prinzen mit einem Halbling würde buchstäblich sämtliche Tore zur Anderwelt aufreißen. Sie blieben dauerhaft geöffnet, und alle Fae würden hindurchkommen. Die Menschheit würde sich in ein »All you can eat«-Büfett für Fae verwandeln.

»Du denkst gerade darüber nach zu verschwinden«, verkündete Tink.

Ich dachte in diesem Moment über eine Menge Dinge nach.

Er landete auf meinem Knie, und ich stieß ihn nur deshalb nicht weg, weil ich mir sicher war, dass ich mir dabei nur wehtun würde.

»Du denkst, deine einzige Möglichkeit besteht darin, fortzugehen. Aber das wird dir nicht helfen. Du vergisst etwas sehr Wichtiges. Eigentlich vergisst du zwei sehr wichtige Dinge.« Er hielt inne. »Wenn ich so recht darüber nachdenke, vergisst du wahrscheinlich eine ganze Menge, weil du einen Schlag auf den Kopf bekommen hast …«

»Tink«, warnte ich ihn.

Er stapfte mein Bein hinauf, was sich anfühlte, als würde eine Katze über meinen Oberschenkel tapsen. »Du müsstest einverstanden sein.«

Mühsam öffnete ich die Augen. Das linke war immer noch ziemlich angeschwollen, daher sah ich von Tink nur verschwommene Umrisse.

Er legte die Hände wie einen Trichter um den Mund. »Sex. Du musst damit einverstanden sein, mit dem Prinzen Sex zu haben. Das ist die einzige Möglichkeit, wie du ein Kind von ihm empfangen kannst. Ohne Glamour-Zauber. Ohne Magie oder Unterwerfung des Willens. Ohne Tricks. Weißt du, du musst es tatsächlich wollen …«

»Ich weiß, was einvernehmlicher Sex bedeutet«, fuhr ich ihn an.

»Anscheinend weißt du es nicht.« Tink sprang von meiner Hüfte und landete neben mir auf dem Bett. »Denn er kann dich nicht dazu zwingen. Nun, er könnte das tun, und das wäre einfach ekelhaft und falsch und nicht völlig untypisch für den Prinzen, aber ihr würdet kein Kind zeugen.«

»Oh, gut zu wissen. Er könnte mir Gewalt antun, aber hey, wenigstens gibt es kein Apokalypse-Baby. Also nichts weiter passiert.«

Tink zog seine kleine Nase kraus. »Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe.« Er erhob sich in die Luft und flog direkt über meinen Kopf. »Es gibt aber ein noch größeres Problem, Ivy.«

Ich lachte, und es klang ein wenig irre. Nicht betrunken irre. Eher Ab in die Irrenanstalt-irre. »Was könnte schlimmer sein, als dass ich ein Halbling bin?« Wieder flammte Panik in mir auf. Diese Tatsache auch nur laut auszusprechen löste starke Übelkeit in mir aus.

»Du hast gesagt, der Prinz habe dein Blut gekostet, richtig?«, hakte Tink nach. »Nach eurem Kampf?«

Ich rümpfte die Nase. »Ja. Ich meine, ich bin mir ziemlich sicher, dass er das getan hat, nachdem er … an mir gerochen hatte.«

»Dann kannst du nirgendwo mehr hin, wo er dich nicht findet.«

Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder und versuchte es dann noch einmal. »Wie bitte?«

Tink sauste zur Tagesdecke hinunter. »Er kann dich überall wittern. Selbst wenn du bis nach Simbabwe gehen würdest, und ich bin mir nicht mal sicher, wo Simbabwe genau liegt, aber es gefällt mir einfach, Simbabwe zu sagen. Wie dem auch sei, am Ende wird er dich finden, weil du jetzt ein Teil von ihm bist.«

Sekundenlang konnte ich nicht einmal denken, konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen, der über ratlose Bestürzung hinausging. »Ist das dein Ernst?«

Tink nickte und ließ sich im Schneidersitz neben meinen Arm plumpsen. Er senkte die Stimme, als fürchtete er, belauscht zu werden. »Wenn ein alter Fae wie der Prinz einen Teil von jemandem in sich aufnimmt, ist er auf ewig mit dieser Person verbunden. Ihr seid in gewisser Weise aneinander gebunden.«

»O mein Gott.« Ich schlug mir die Hände vors Gesicht. Ein neuer entsetzlicher Gedanke tauchte auf. »Dann weiß er, wo ich jetzt gerade bin?«

»Ganz bestimmt.«

»Und er wird immer wissen, wo ich bin, ganz gleich, wohin ich gehe.« Heilige Scheiße, ich konnte die Konsequenzen gar nicht verarbeiten, die sich daraus ergaben. Meine bloße Anwesenheit würde alle in Gefahr bringen! Aber wenn der Prinz mich wittern konnte wie ein Bluthund, dann verstand ich nicht, warum er noch nicht aufgetaucht war. Unser Kampf lag eine Woche zurück. Worauf wartete er?

»Das ist wirklich unheimlich, nicht wahr?«, bemerkte Tink.

Unheimlich war gar kein Ausdruck dafür. Mir fiel für all das überhaupt kein passendes Wort ein. »Weißt du, wie man ihn töten kann?«

»Du tötest ihn, wie du jeden dieser Alten töten würdest. Du schneidest ihm den Kopf ab, aber das wird nicht leicht sein.«

Ach was, echt? Es war schon nicht besonders leicht, einen normalen Fae zu erledigen. Wenn man sie mit einem eisernen Pflock erstach, wurden sie lediglich in die Anderwelt zurückbefördert. Schlug man ihnen dagegen den Kopf ab, tötete man sie.

»Das ist aber noch nicht das Wichtigste.« Tink berührte meine rechte Hand.

Mein Handgelenk hatte aufgehört zu pochen, ein weiteres sicheres Zeichen, dass der Prinz wirklich einen Teil der Verletzungen, die er mir zugefügt hatte, geheilt hatte. Ich musterte den Brownie.

»Du darfst niemanden wissen lassen, was du bist.«

»Meine Güte. Wirklich? Ich hatte überlegt, meinen Facebook-Status auf ›Halbling‹ zu setzen.«

Er legte seinen weißblonden Schopf schief. »Du bist nicht auf Facebook, Ivy.«

Ich seufzte.

Tink fuhr fort – denn natürlich war ich das nicht. »Ich habe auf Facebook nach dir gesucht. Ich wollte dich als Freundin hinzufügen, damit ich dich anstupsen könnte, und ich weiß, dass die Leute nicht mehr stupsen, aber ich finde, Anstupsen ist eine tolle Art auszudrücken, wie man …«

»Ich weiß, dass ich es niemandem erzählen kann, aber was hindert die Fae daran, mein Geheimnis preiszugeben?«, fragte ich.

»Wäre die Wahrheit über dich bekannt, dann wüssten die Fae es, weil der Orden dich dann töten würde.« Er sagte das, als redete er über Harry Potter und nicht über mich, die man einfach mal so wie einen tollwütigen Hund erlegte. »Der Prinz wird das nicht riskieren wollen, selbst wenn es andere weibliche Halblinge da draußen gibt. Er wird es allein schon wegen der Zeit, die es kosten würde, nicht riskieren, einen anderen zu finden.«

»Tja, ich schätze, das ist wenigstens eine gute Sache«, erwiderte ich trocken.

Er zog seine Hand zurück. »Du darfst es nicht einmal Ren erzählen. Vor allem ihm nicht.«

Mein Blick landete auf Tink.

»Ich weiß, was er ist. Ich habe es dich an dem Morgen, bevor ihr zum Tor aufgebrochen seid, flüstern hören. Er ist ein Mitglied der Elite, und obwohl ich finde, dass das ein genauso lahmer Name ist wie ›der Orden‹, habe ich von ihnen gehört.«

»Wie hast du von ihnen gehört?«

Er schwirrte näher, bis er neben meinem Kopf war. Dann beugte er sich vor und flüsterte mir ins Ohr: »Ich bin omnipräsent.«

»Was?« Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«

Er richtete sich auf. »Es ergibt absolut einen Sinn.«

»Ich glaube, du meinst omniscient.«

Er schaute zur Decke hoch. »Hm.«

»Du bist nicht allwissend«, erklärte ich ihm und fügte dann hinzu: »Oder?«

Tink grinste teuflisch. »Nein.«

Ärger wallte in mir auf. »Du musst ehrlich zu mir sein. Keine Lügen mehr. Keinen Blödsinn mehr, Tink. Ich meine es ernst. Ich muss dir vertrauen können, und ich bin mir nicht sicher, ob das im Moment der Fall ist.«

Seine Augen weiteten sich leicht, dann sank er auf die Knie. »Das habe ich verdient.«

Ja, das hatte er, denn ich hatte ihn aufgenommen, und er hatte mich in vielen Dingen belogen. Es spielte keine Rolle, dass er gute Gründe gehabt hatte. Es waren trotzdem Lügen gewesen.

Und dann traf es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich würde das Gleiche tun müssen: Ren aus einem guten Grund belügen. Ren und … und auch alle anderen, also war ich nicht wirklich besser als Tink.

»Gut, ich werde ganz ehrlich sein. Ich weiß über die uralten Fae Bescheid, weil ich in der Anderwelt gelebt habe. Wir mussten alles über sie lernen, um zu überleben«, begann er. »Der Prinz und die Prinzessin und der König und die Königin sind die Mächtigsten, aber es wurde immer über die Elite geredet. Viele Fae sind ihnen zum Opfer gefallen, als sie in dieser Welt ein und aus gingen, wie es ihnen gefiel, damals, bevor die Tore geschlossen wurden.«

Das klang glaubwürdig. Schätzte ich.

Tink verzog das Gesicht. »Obwohl es mich wundert, dass Ren einer von ihnen ist. Er erscheint mir nicht klug oder cool genug, um so ein knallharter Typ zu sein.«

»Ren ist durchaus cool und beeindruckend genug«, korrigierte ich Tink. »Er ist ein total harter Typ.«

»Egal.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir werden uns darauf einigen müssen, dass wir anderer Meinung sind. Themawechsel. Du darfst es ihm nicht erzählen. Es ist seine Pflicht, deinem Leben ein Ende zu setzen.«

Mir stockte der Atem.

So wie es seine Pflicht gewesen war zuzulassen, dass sein bester Freund Noah wegging, in dem Wissen, dass er ihn nie wiedersehen würde. O mein Gott, Ren hatte gesagt, dass er das nicht noch einmal ertragen würde, und ich konnte ihm das nicht antun. Ich konnte ihm diese Art von Wissen nicht aufbürden.

»Ich werde es ihm nicht erzählen«, flüsterte ich.

Tink stupste mich mit seinem Fuß an. »Du musst dich zusammenreißen, Ivy. Und zwar ziemlich plötzlich.«

Ich schaute zu ihm hin. »Ich denke, ich habe für die nächsten paar Minuten das Recht auf eine Mitleidsparty.«

»Heb dir deine Tränen fürs Kopfkissen auf.«

Ich verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Das hier ist keine Episode aus Dance Moms.«

Aber Tink hatte recht. Nicht, dass ich ihm das sagen würde, vor allem da ich immer noch mit dem Gedanken spielte, ihm mäßige körperliche Gewalt anzutun. Fortzugehen war keine Option. Ich hatte die Kontrolle über den ganzen Aspekt der Zeugung eines Babys, und auf keinen Fall würde ich freiwillig mit diesem Freak ins Bett hüpfen. Ich musste mich zusammenreißen, denn jetzt hatte ich keine andere Wahl, als den Prinzen zu stoppen.

Den Prinzen zu stoppen und dafür zu sorgen, dass niemand, Ren eingeschlossen, herausfand, was ich war. Ich fröstelte. Eine Frage schwirrte noch durch meinen überfüllten Kopf und verdrängte alles andere.

»Ich verstehe es nicht.«

»Was?«, fragte Tink.

»Wie … wie kann ich ein Halbling sein?« Ich starrte an die Decke. »Ich erinnere mich zwar nicht an meine Eltern, aber Ren hat gesagt, er habe Nachforschungen über sie angestellt. Er hat gesagt, sie hätten einander geliebt. Wie konnte das passieren?«

Tink antwortete nicht.

Er wusste es nicht. Wahrscheinlich würde niemand je die Wahrheit herausfinden. Alles war möglich. Meine Mutter konnte mit einem Fae geschlafen haben. Oder vielleicht war es wie bei Noahs Vater gewesen, und er hatte eine Fae getroffen und mit ihr ein Baby gezeugt, bevor er die Frau kennenlernte, die er später heiratete. Es überstieg meine Vorstellungskraft, wie jemand, der wusste, wie Fae waren, wissentlich mit ihnen Sex haben konnte.

Ich atmete zittrig aus und überlegte, vielleicht doch all meine Tränen in mein Kissen zu weinen. Irgendwie wollte ich mich einfach auf die Seite drehen und alles rauslassen. Und eigentlich wollte ich über nichts von alledem nachdenken, aber das war unmöglich.

»Du musst ihn loslassen«, sagte Tink leise.

Ich wandte ihm wieder den Kopf zu. »Was?«

»Ren. Du musst ihn gehen lassen. Stoß ihn weg. Mach mit ihm Schluss. Was auch immer. Du musst so weit von ihm wegkommen wie möglich.«

Ich versteifte mich, und meine Antwort kam prompt. »Nein.«

»Ivy …«

»Nein«, wiederholte ich und wedelte mit der linken Hand. »Ende der Diskussion.«

Tink starrte mich aufsässig an, aber er hielt den Mund. Ich wusste, dass es klug und richtig gewesen wäre, Ren loszulassen und ihn zu vergraulen, für den Fall, dass die Dinge schiefgingen. Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, das auch nur in Erwägung zu ziehen. Das warf wahrscheinlich ein ziemlich schlechtes Licht auf mich.

Okay. Es warf definitiv ein schlechtes Licht auf mich.

Aber ich hatte Ren gerade erst gefunden. Ich hatte mich bis über beide Ohren in ihn verliebt, steckte schon so tief drin. Ich konnte mich nicht von ihm trennen. Ich war zu egoistisch. Er war … er war mein, und ich wollte verdammt sein, wenn ich auch das wegen Geschehnissen verlor, die sich vollkommen meiner Kontrolle entzogen. Es war nicht fair … ich verdiente ihn.

»Na schön«, murrte Tink schließlich.

Ich blieb noch einige Momente auf meinem Bett liegen und raffte alles zusammen, was mir an Fassung geblieben war. Wie in eine zerlumpte Decke hüllte ich mich darin ein, richtete mich schließlich auf und verzog das Gesicht. »Ich brauche eine Dusche.«

»Dank sei Königin Mab!« Tink schwirrte zum Fußende des Bettes und machte mir Platz. »Du riechst langsam schon ein wenig ranzig.«

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und stand auf.

»Und dein Haar sieht aus, als könnte ich damit Pommes frittieren.« Er wirbelte in der Luft herum, und der Rest des Puderzuckers traf mich im Gesicht. »So fettig ist es.«

Ich ließ die Schultern hängen und schlurfte zum Badezimmer. »Vielen Dank«, sagte ich und drückte die Tür auf.

Plötzlich schwebte Tink direkt vor mir, und ich prallte zurück. »Ich weiß, du bist sauer auf mich, und du willst mich wahrscheinlich am liebsten in kleine Würfelchen schneiden und meine Haut als neues Armband tragen.«

Ich sah mich um. »Ähm. Das ist nicht unbedingt das, was ich tun will.«

Seine Augen weiteten sich hoffnungsvoll.

»Aber ich habe irgendwie Lust, dich die Toilette runterzuspülen«, räumte ich ein.

Er schnappte nach Luft. »Ich würde stecken bleiben! Und diese Rohre sind alt. Wie willst du das überhaupt anstellen? Ich bin kein Goldfisch.«

Ich verdrehte die Augen.

Tink schwankte, schoss dann nach vorn und legte mir seine winzigen Hände auf die Wangen. »Es tut mir leid.«

Blinzelnd versuchte ich, mich daran zu erinnern, ob Tink sich jemals für irgendetwas entschuldigt hatte. Mir fiel nichts ein. Nicht einmal, als er meinen Laptop aus Versehen vom Balkon geworfen hatte, damals, als er beschlossen hatte, sich Harry Potter im Freien anzusehen. Oder als er den Herd in Brand gesteckt und dann versucht hatte, das Feuer mit meiner Lieblingsdecke zu löschen. Oder als er … Nun, es gab eine Menge Vorfälle, für die er sich hätte entschuldigen sollen, es aber nicht getan hatte.

»Du glaubst mir das vielleicht nicht, aber ich bin nicht bei dir geblieben, weil du ein Halbling bist.« Seine hellen Anderweltaugen schauten in meine. »Ich bin geblieben, weil ich dich mag, Ivy. Ich bin geblieben, weil du mir etwas bedeutest.«

Ach du liebe Güte.

Ich öffnete den Mund, und ein Kloß schmalziger Gefühle sammelte sich in meiner Kehle. Ich wollte wieder weinen. Ich war ein solches Wrack, ein kaputtes und müffelndes Wrack.

Tink grinste, und seine Augen schimmerten. »Und okay, ich bin auch geblieben, weil du das magische und wunderbare Amazon Prime hast.«

2

Körperlich, geistig und definitiv emotional erschöpft, schaffte ich es nach meiner dringend benötigten Dusche nur noch, eine Pyjamahose und ein Tanktop überzustreifen. Nie im Leben würde ich die Energie oder auch nur das Verlangen aufbringen, die Masse nasser Locken auf meinem Kopf zu föhnen, also zwirbelte ich sie hoch und fixierte sie mit einer dicken Haarnadel.

Abends gegen elf schlenderte ich ins Wohnzimmer hinüber. Beim Duschen hatte ich gegen das überwältigende Durcheinander an Gefühlen angekämpft, hatte sie weggeschlossen und den Schlüssel fortgeworfen. Na ja, um ehrlich zu sein, hatte ich den Schlüssel zu diesem schier bodenlosen emotionalen Zusammenbruch wahrscheinlich bloß verloren, aber ich war in der Dusche geblieben, bis ich zuversichtlich gewesen war, mit allem fertigzuwerden.

Ich musste damit fertigwerden.

Auf dem Weg in die Küche bemerkte ich, dass Tinks Schlafzimmertür einen Spaltbreit offen stand. Es war dunkel in dem Raum, aber ich bezweifelte, dass er tatsächlich schlief. Mit knurrendem Magen steuerte ich den Pappkarton vom Café du Monde an, mit dem Ren Stunden zuvor aufgetaucht war. Nachdem ich mir im Geiste schnell die Daumen gedrückt hatte, schnippte ich den Deckel auf und seufzte.

Es war ein Krapfen übrig.

Einer.

Mit einem wütenden Blick auf Tinks Tür schnappte ich mir ein Papiertuch von der Theke und nahm mir das zuckrige, himmlische Gebäck. Dann holte ich mir ein Root Beer aus dem Kühlschrank und eine Packung Pringles aus dem Schrank.

Der Gipfel gesunder Ernährung, aber ich fand, ich verdiente das.

Wieder im Wohnzimmer, ließ ich mich auf dem Sofa nieder und schaltete den Fernseher ein. Ich entschied mich für eine Sendung über Wunderkinder und stopfte mir dabei das Essen blindlings in den Mund. Es landeten mehr Zucker- und Kartoffelchipkrümel auf meinem Tanktop als in meinem Mund, weil ich mich viel zu sehr in die Sendung vertiefte. Ich war zu gleichen Teilen fasziniert davon, wie unglaublich klug diese Kinder waren, und beschämt, weil ich keine Ahnung hatte, was die Hauptstadt von Tadschikistan war, obwohl ein Zehnjähriger das wusste.

Ich musste eingenickt sein, denn als Nächstes spürte ich eine sanfte Berührung an meiner rechten Wange. Flatternd öffnete ich die Lider und sah als Erstes einen kräftigen Unterarm, der mit dunkelgrünen Ranken überzogen war. Ich folgte dieser Tätowierung hinauf zu einem dunklen Hemdärmel – ich wusste, dass das erstaunliche Design unter dem Soff weiterging – und bis zu der sexy Kehle hinauf. Ich hatte nie gewusst, dass Kehlen sexy sein konnten, aber sie konnten es. O ja, das konnten sie.

Ren saß auf der Sofakante, und mein Herz vollführte einen unsicheren Purzelbaum, als ein schrecklicher Gedanke mein vom Schlaf getrübtes Bewusstsein durchdrang. Würde er hier sitzen, wenn er wüsste, dass ich ein Halbling war? Ich kniff die Augen zusammen. Natürlich kannte ich die Antwort. Er wäre so weit von mir entfernt wie menschenmöglich. Wahrscheinlich sogar in einer anderen Zeitzone.

»Hey.« Rens tiefe Stimme war wie Sex am Stiel. Und zwar guter Sex. Perfekter Sex. Umwerfender Sex. Sie war weich wie Schokolade und voll. Ich musste mein Gehirn wirklich abschalten.

»Geht es dir gut?«, fragte er.

Ich räusperte mich. »Ja«, bestätigte ich und erinnerte mich, dass ich mich vorhin zusammengerissen hatte. Ich öffnete die Augen wieder und sah, dass Ren eine Pringles-Packung auf dem Schoß hatte. »Was machst du mit den Chips?«

Ein Grübchen erschien in seiner linken Wange. Der Junge hatte ein Paar Grübchen, das einfach zum Küssen war. Und zum Ablecken. Tatsächlich war Rens ganzes Gesicht zum Ablecken und wie eine Tüte Beignets obendrauf. Ein Kinn wie Marmor. Breite und hohe Wangenknochen und eine Nase mit leichtem Knick, als wäre sie ihm irgendwann einmal gebrochen worden. Nicht unwahrscheinlich, wenn man bedachte, womit wir unser Geld verdienten. Seine Lippen waren voll und ausdrucksstark, und die Augen waren absolut umwerfend. Dichte, dunkle Wimpern umrahmten eine Iris so grün wie frisch in einer Mine gebrochene Smaragde.

Ren war unglaublich gut aussehend, beinahe so attraktiv wie ein Fae. Und das hieß einiges, denn die Fae waren außerordentlich schön, sowohl in ihrer wahren Gestalt – dort besonders – als auch in der, die sie den Menschen mit einem Glamour-Zauber vorspiegelten. Aber Ren schlug sie alle: Fae besaßen kein Gramm von seiner Wärme und Menschlichkeit.

»Mit den Chips?«, fragte er, hielt die Dose lachend hoch und schüttelte sie. »Wohl eher mit der leeren Verpackung.«

Ich runzelte die Stirn. »Ich hatte Hunger.«

»Du hast mit der leeren Dose gekuschelt.« Eine widerspenstige Locke fiel ihm in die Stirn.

Ich sah ihn empört an. »Gar nicht.«

»Hast du wohl. Du hast sie dir an die Brust gedrückt, als wäre sie ein kostbarer Schatz. Ich musste sie mit Gewalt aus deinen Fingern lösen.«

»Tja, ich mag Pringles eben sehr.«

»Das sehe ich.« Er beugte sich vor und legte die Dose auf den Couchtisch. Das andere Grübchen erschien, als er meine Brust betrachtete, und mir wurde ganz warm und schummrig.

»Du hast überall Zucker und Krümel.«

Oh.

Das warme und schummrige Gefühl verschwand. »Ich hatte Hunger und war müde.«

Ren lachte leise, senkte den Kopf und küsste mich auf den Mundwinkel. Ein weiterer elender Gedanke machte sich selbstständig. Würde er mich küssen, wenn er … Ich verbat mir den Gedanken und konzentrierte mich auf einen besseren. Ich konnte es kaum erwarten, bis er mich wieder richtig küssen konnte. Eine aufgeplatzte Lippe war extrem ätzend.

Er hob den Kopf. »Hat dieser kleine Arsch dir ein paar Krapfen übrig gelassen?«

Eines Tages würde er Tink vielleicht nicht mehr ausschließlich nach Körperteilen benennen. »Einen.«

Er fluchte leise. »Und es sieht so aus, als hätte dein Oberteil den größten Teil davon gegessen.«

»Vielen Dank«, brummte ich und drehte mich auf die Seite, damit er mehr Platz hatte. Er rückte näher und legte den Arm über die Rückenlehne des Sofas.

»Wie viel Uhr ist es?«

»Kurz nach zwei Uhr morgens.« Seine Wimpern senkten sich mit den halb geschlossenen Lidern, und er zog den Finger über den Halsausschnitt meines Tanktops. Ich erschauerte. »Die Straßen waren wie ausgestorben. Keine Spur vom Prinzen oder irgendwelchen seiner Kriegerritter, die durch das Tor gekommen sind. Ich habe einen Fae gesehen, aber der ist mir in der Nähe der Royal Street entwischt.«

Ich wollte mich aufrichten, aber sein Finger machte eine weitere Runde und glitt diesmal zwischen meinen Brüsten entlang. Es war schwer, mich auf wichtige Dinge zu konzentrieren, wenn er mich berührte, aber es gelang mir. »Irgendetwas ist im Gange. Ich verstehe nicht, warum sie sich so bedeckt halten, vor allem nachdem sie den Prinzen befreit haben.«

»Sie versuchen wahrscheinlich, am Leben zu bleiben.« Weitere Finger kamen ins Spiel, die er vorsichtig über meine geprellte Seite und meine immer noch schmerzenden Rippen wandern ließ. »Schließlich werden sie vor allem darauf konzentriert sein, den Halbling zu finden.«

Mir stockte der Atem.

Er nahm die Hand weg und sah mir schnell in die Augen. »Habe ich dir wehgetan?«

»Nein.« Ich schluckte hörbar, setzte mich auf und lehnte mich an die Armlehne des Sofas. Dann schloss ich die Hand, die ich mir aufgeschlitzt hatte, zur Faust, um die Wunde zu verstecken. Obwohl sie Ren, da ich am ganzen Körper zerschunden war, wohl kaum auffallen würde. »Hast du David heute Abend gesehen?«

Er schaute mir forschend ins Gesicht. »Nur kurz im Hauptquartier. Er war damit beschäftigt, die neuen Mitglieder einzuweisen.«

»Wie viele haben wir bekommen?« Wir hatten sechzehn Männer und Frauen in der Nacht verloren, in der die Fae in dem unauffälligen Backsteingebäude, das neben New Orleans berühmtestem Geisterhaus stand, das Tor zur Anderwelt geöffnet hatten – in jener Nacht, in der meine beste Freundin, meine engste Freundin, uns verraten hatte.

»Ich glaube, fünf fürs Erste.« Er beugte sich noch etwas weiter vor, stützte sich mit einem Ellenbogen ab und schob sich die Faust unters Kinn. »Er hat gesagt, dass er versuchen will, weitere Leute aus Georgia zu bekommen. Und während er sowohl jemanden am Telefon als auch die neuen Mitglieder anbrüllte, hat er sich nach dir erkundigt.«

Das überraschte mich. »Wirklich?«

Er nickte. »Er will wissen, ob du immer noch vorhast, morgen zu kommen und wieder zu arbeiten. Ich habe ihm geantwortet, dass du meiner Meinung nach noch ein paar Tage mehr Ruhe gebrauchen könntest.«

Vor zwölf Stunden wäre ich bei diesem Vorschlag vollkommen ausgerastet, aber nach dem, was ich vorhin entdeckt hatte, war ich mir nicht mehr sicher, was meine morgige Rückkehr betraf. »Ich weiß nicht, ob ich … schon wieder bereit bin.«

»Ich denke, du solltest dir noch ein wenig Zeit lassen.« Er streckte seine freie Hand aus und griff nach einer meiner inzwischen getrockneten Locken. »David ist derselben Meinung. Du hast in einer Woche große Fortschritte gemacht, aber Süßes, du …« Er brach ab und zog die Locke gerade, dann ließ er sie wieder los. Sie hüpfte zurück. »Du warst schwer verletzt. Ich will dich nicht auf der Straße haben, solange du nicht hundertprozentig wiederhergestellt bist.«

Mein Blick fiel auf meine geschlossene Hand. Ich war mir nicht sicher, ob ich in absehbarer Zeit hundertprozentig wiederhergestellt sein würde. Physisch? Ja. Alles andere? Ha.

»Hey.« Er legte mir zwei Finger unters Kinn und hob meinen Kopf etwas hoch. Seine Augen waren strahlend und schön. »Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ja, ich bin nur müde.« Das war nicht direkt gelogen.

»Dann lass uns ins Bett gehen.«

Ich protestierte nicht, als Ren aufstand und nach meiner Hand griff, um mich sanft vom Sofa zu ziehen und zur Schlafzimmertür zu führen. Ich schaute mich um, in der Erwartung, Tink um die Ecke spähen zu sehen, aber er blieb unsichtbar. Es wunderte mich, dass er sich eine so hervorragende Gelegenheit entgehen ließ, Ren auf die Palme zu bringen.

Ich kletterte ins Bett und machte es mir auf meiner Seite bequem – denn jetzt hatte ich meine eigene Seite, die linke Seite, und Ren hatte die rechte Seite, da er in der letzten Woche jede Nacht bei mir geblieben war. Ich beobachtete, wie er sich auszog. Das war etwas, das ich nie versäumen wollte, ganz gleich, was in meinem Kopf oder vielleicht mit meinem Körper los war.

Ren begann immer mit seinem Hemd, und er entledigte sich dessen auf eine Weise, die ich faszinierend fand. Er packte es im Nacken und zog es sich über den Kopf. Ich weiß nicht, was es damit auf sich hatte, aber bei dem Anblick merkten all meine weiblichen Körperteile auf.

Dasselbe passierte beim Anblick seiner Brust- und Bauchmuskeln.

Weil wir uns bei unserem Job mit Kreaturen anlegen mussten, die uns wie einen Fußball herumkicken konnten, mussten wir in Form bleiben, aber ich hatte das Gefühl, dass sein makelloses Sixpack und seine wohldefinierte Brust irgendwie ein Geschenk Gottes waren. Genau wie diese faszinierenden Kuhlen auf beiden Seiten seiner schmalen Hüften. So perfekt, dass es beinahe unanständig war.

Als Nächstes hakte Ren den Gurt auf, den er direkt unterhalb der Brust um seinen Oberkörper trug, und machte sich daran, die Dolche an seiner Seite herauszuziehen. Er legte sie neben meine auf die Kommode. Waffen für sie und ihn waren im Orden etwas durchaus Romantisches. Dann schlüpfte er aus seinen Stiefeln, und zwei weitere Pflöcke gesellten sich zu seinem Arsenal. Seine Socken folgten.

Den Kopf gesenkt, öffnete er den Knopf seiner Hose. Er zog den Reißverschluss herunter. Ich krallte die Finger in die Bettdecke, und er sah auf. »Dir gefällt, was du hier siehst, nicht wahr?«, fragte er, während er seine Hose abstreifte.

Ich nickte. »Ja«, bekräftigte ich, für den Fall, dass er es bezweifelte.

Ein sinnliches Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich mag es, wenn du mich beobachtest.«

Ren verzichtete manchmal auf Unterwäsche, und der Gedanke daran war unglaublich heiß. Heute trug er enge schwarze Boxershorts, und ich konnte an der beachtlichen Wölbung unter dem straff gespannten Stoff erkennen, wie sehr es ihm gefiel, dass ich zuschaute.

Mein Magen tat einen Hüpfer, als er seine Sachen aufhob, sie säuberlich faltete und auf den Stuhl neben der Tür legte. Dann verschwand er ins Bad. Wir hatten seit meinen Verletzungen nichts wirklich Unartiges mehr miteinander unternommen und auch nur an dem Dienstagabend und am Mittwochmorgen vor dem Kampf mit den Fae miteinander geschlafen. Bis dahin hatten Ren und ich rumgemacht, und es war wunderbar gewesen, aber wir hatten noch nicht viel Zeit miteinander verbracht. Und vor Ren war da nur Shaun gewesen, und das nur ein einziges Mal. Eine Woge der Trauer erfasste mein Herz, als ich an den Jungen dachte, den ich geliebt und vor drei Jahren verloren hatte. Der Schmerz war immer noch da, würde wahrscheinlich für immer Teil von mir sein, aber er verblasste, wie es vermutlich … wie es vermutlich sein sollte.

Aber jetzt war da Ren, und ich weigerte mich, auch ihn zu verlieren.

Die Badezimmertür wurde geöffnet. Unsere Beziehung war noch so frisch, dass mich ein feines Beben erfasste, als er zum Bett kam.

»Also, ich mache mir Gedanken über etwas«, sagte er und blieb auf seiner Seite stehen.

Ich sah ihm aufmerksam ins Gesicht. »Worüber?«

»Warum klammerst du dich an die Bettdecke, als würde sie dir gleich weglaufen?«

»Oh.« Ich ließ die Decke los und warf mich auf den Rücken. »Keine Ahnung.«

Ein schwaches Grinsen erschien, und er schlüpfte unter die Decke und schaltete die Lampe aus. Dann drehte er sich auf die Seite und sah mich an. »Du bist wirklich seltsam heute Nacht.«

Oje. »Nein, bin ich nicht.«

Er legte mir sanft einen Arm auf die Hüfte und rückte eng an mich heran. Ich konnte seine Gesichtszüge nicht erkennen, da ich schwere Vorhänge vor meinen Fenstern hatte. Im Zimmer war es stockdunkel, aber ich spürte seinen Blick.

Und ich spürte seine harte Erektion an meiner Hüfte.

Ich konnte nichts dagegen tun – sofort stellte ich mir vor, wie er sich in diesem Bett über mir und in mir bewegte. Verlangen erwachte zwischen meinen Schenkeln. Ich rieb leicht meine Hüfte an seiner, und Ren stieß ein tiefes Knurren aus. Ich bewegte mich erneut.

Ren spreizte die Finger auf meiner Haut, senkte den Kopf und strich mit den Lippen über meine Schläfe. »Wenn du dich so bewegst, treibst du mich in den Wahnsinn.«

Seine Worte gingen mir durch und durch. »Wir könnten, du weißt schon, etwas dagegen unternehmen«, schlug ich vor.

Er gab wieder diesen Laut von sich, und ich spürte, wie die Spitzen meiner Brüste kribbelten.

»Ivy, wir müssen das alles für ein Weilchen etwas ruhig angehen lassen.«

»Was?«, flüsterte ich und drehte mich auf die Seite. Ich legte ihm die Hände auf die Brust. Es war so dunkel im Zimmer, dass ich nur spürte, dass er mir einen Kuss auf die Stirn gab. »Willst du … nicht?«

Kaum hatte ich diese Frage gestellt, hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Was zum Teufel stimmte nicht mit mir? Ich war ein Halbling! Und zugegeben, ich war ein ganz klein wenig unsicher, ob ich ihn überhaupt noch so anmachen sollte, nun, da ich dieses … dieses Ding war, das er buchstäblich zu töten hergekommen war. Betrog ich ihn nicht in gewisser Weise, seine …

»Babe, ich täte nichts lieber, als zwischen diese Beine zu gelangen, mit meinen Händen, meinem Mund und ganz besonders mit meinem Schwanz. Aber ich werde es nicht riskieren, dir wehzutun.« Der Griff an meiner Hüfte wurde fester. »Für den Moment bleibt es für mich also dabei: Nur meine Hand und ich, und der Gedanke daran, wie du nackt unter mir liegst und meinen Namen schreist, wenn du kommst.«

Mir wurde ganz heiß bei der Vorstellung, wie Ren sich selbst berührte. »Das hilft nicht.«

»Gleichfalls.«

Ich sank wieder auf den Rücken, atmete leise aus und schloss die Augen. Seine Hand blieb auf meiner Hüfte liegen, während er sich an mich schmiegte. Einige Sekunden verstrichen, und in dieser Zeit schossen mir hundert verschiedene Dinge durch den Kopf. Ich schob den ganzen Halblingskram beiseite und wünschte beinahe, ich hätte es nicht getan, denn sofort war ich in Gedanken bei Val.

Ich konnte noch immer nicht glauben, was sie getan hatte. Ich hatte zwar akzeptiert, dass sie ein verräterisches Miststück war, aber ich verstand einfach nicht, warum. Wie lange hatte sie schon mit den Fae zusammengearbeitet? Sie konnte es auf keinen Fall schon getan haben, als ich sie vor drei Jahren kennengelernt hatte. Zumindest hoffte ich das. Ihr Wille war nicht unterworfen worden, denn sie hatte das vierblättrige Kleeblatt in ihrem Armband getragen. Ich hatte es gesehen, und dieses einfache und doch extrem machtvolle kleine Ding hinderte einen Fae daran, einen Menschen seinem Willen zu unterwerfen. Val hatte den Fae also aus freien Stücken geholfen, selbst als sie ins Hauptquartier zurückgekehrt war und einen seltsamen, unbekannten Kristall aus Davids Lagerraum entfernt hatte. Sie hatte sich für all das entschieden.

Wie hatte sie uns das antun können?

Mit pochendem Herzen öffnete ich die Augen. »Ren?«

»Ja?«

»Hat … David irgendetwas über Valerie gesagt?«

Er antwortete nicht sofort. »Die Ordensmitglieder suchen nach ihr, aber niemand hat sie bisher gesehen.«

Das lag daran, dass sie nicht wussten, wo sie suchen mussten, und dass sie sie nicht so gut kannten wie ich. Aber ich würde sie finden. Ich musste sie finden, denn ich musste verstehen, wie sie das hatte tun können.

»Val stellt ein großes Problem dar. Sie weiß eine Menge über den Orden, und David ist nicht begeistert darüber, dass sie den Fae wahrscheinlich einen Haufen Geheimnisse verraten hat.« Er schwieg kurz. »Ich will sie immer noch am liebsten umbringen.«

Und mir fiel es immer noch schwer, das zu hören.

Doch ich verstand Rens Ärger. Ich war ebenfalls zornig. Nachdem das Tor sich geöffnet hatte und der Prinz hindurchgeschritten war und wahllos zugeschlagen hatte, war ich ihm und Val zurück zum Hauptquartier des Ordens gefolgt, und sie … Sie hatte mich dort mit ihm allein gelassen. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie wusste, was passieren würde, und sie hatte mich trotzdem im Stich gelassen.

»Aber es ist mehr als das.« Seine Stimme klang schwerer, müde. »David hinterfragt diesen ganzen Mist mit dem Halbling nicht mehr. Er weiß, dass wir sie finden müssen.«

Langsam begriff ich. »Du denkst, Val ist der Halbling?«

»Ja, Babe. Das denke ich schon seit einiger Zeit. Darum wollte ich dir auch nicht sagen, wer die andere Person war, die ich überprüft habe. Ich wollte dir diesen Verdacht nicht in den Kopf setzen, falls er sich als falsch erwiesen hätte«, erklärte er.

Ach du meine Güte.

Ren und David, der Sektionsleiter, hielten Val für den Halbling. Aus ihrer Sicht ergab das durchaus Sinn. Doch mussten sie dann nicht schon halb verrückt vor Sorge sein, dass Val längst dabei war, mit dem Apokalypse-Baby schwanger zu werden?

»Sie muss es irgendwie herausgefunden haben. Vielleicht ist ein Fae nah an sie herangekommen und hat es entdeckt«, fügte Ren hinzu, dann gähnte er. »Ich weiß, dass ihre Eltern es abstreiten. Beide behaupten, ihre echten, leiblichen Eltern zu sein. Aber wer würde eine solche Scheiße schon zugeben?«

Mir sank das Herz. »Wo sind ihre Eltern jetzt?«

»Keine Ahnung. Es interessiert mich auch nicht wirklich.«

Mir schnürte sich die Brust zu. Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen … um ihm was genau zu sagen? Dass ich ganz sicher wusste, dass ihre Eltern sich nicht mit einem Fae eingelassen hatten? Wie konnte ich das beweisen, ohne mich selbst zu belasten? Ich schloss den Mund, und o Gott, ich war eine schreckliche Person, ein wahrlich furchtbares menschliches Wesen.

Na ja …

Nein. Ich war ja gar kein richtiges menschliches Wesen, nicht wahr?

O mein Gott, mein Gehirn sollte am besten von einer verdammten Klippe springen. Was zum Teufel würde ich tun? Ich konnte nicht zulassen, dass Vals Eltern starben, denn ich bezweifelte ernsthaft, dass sie irgendetwas mit dem zu tun hatten, was Valerie getan hatte. Und sie würden sterben. So arbeitete der Orden. Ihre Eltern würden als Bedrohung betrachtet werden, und Bedrohungen begegnete man nur mit einer Methode. In meiner Brust erwachte Unruhe, zusammen mit einer ordentlichen Portion Furcht.

»Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?«, fragte Ren plötzlich.

»Ja«, hauchte ich, zwang meine verspannten Muskeln, sich zu entspannen, und konzentrierte mich auf etwas anderes. »Hat David irgendetwas über diesen Kristall gesagt, den Val gestohlen hat?«

»Er weiß nicht, was dieser Kristall ist.« Ren hielt inne. »Oder er sagt es nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob er im Moment überhaupt jemandem vertraut. Doch ich habe die Fühler ausgestreckt, um herauszufinden, ob irgendjemand in der Elite eine Idee hat.«

Ich konnte es David nicht zum Vorwurf machen, dass er niemandem traute. Hoffentlich wusste irgendjemand etwas über den Kristall. Ich dachte an Merle. Sie hatte einen Kristall einmal beiläufig erwähnt, aber es widerstrebte mir, sie und ihre Tochter da hineinzuziehen. Ich wollte ihnen keinen Ärger machen. Sie hatten genug ertragen.

Rens Lippen fanden in der Dunkelheit noch einmal meine Wange, dann schmiegte er sich an mich, und ich ließ ihn diesmal einschlafen. Ich selbst starrte weiter ins Leere, während meine Gedanken von einer verkorksten Situation zur nächsten sprangen. Dumme Tränen brannten mir in den Augen, aber ich kämpfte gegen sie an, denn wenn ich ihnen freien Lauf gelassen hätte, wäre Ren aufgewacht, und ich fühlte mich zu schwach, zu dünnhäutig, um dieses sehr große, sehr schreckliche Geheimnis hinter Schloss und Riegel zu halten.

Aber je länger ich dort lag, desto mehr wuchs die Furcht in mir. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass egal, was ich auch tat, alles ein schlimmes Ende nehmen würde.

Und zwar bald.