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Inhaltsverzeichnis




















Textnachweise

Peter Kümmel: Loriot, unser Lehrmeister, in: DIE ZEIT Nr. 35/2011, S. 41.

Sven Kuntze: Altern wie ein Gentleman, München 2011, S. 217.

Ebd., S. 248.

Zitiert nach Susanne Gaschke: Entspann Dich, Alter, in: DIE ZEIT Nr. 15/2011, S. 17.

Hannelore Schlaffer: Das Alter. Ein Traum von Jugend, Frankfurt 2003, S. 67ff.

Horst W. Opaschowski: Leben zwischen Muss und Muße, Hamburg 1998, S. 16.

Sven Kuntze, aaO., S. 12.

Eva R. Schmitt/Hans G. Berg: Beraten mit Kontakt, Offenbach 2004, S. 427ff.

Thomas Rottenberg: Das Männerverstehbuch, St. Pölten 2005, S. 76.

Philipperbrief Kap. 2, Vers 3.

Bettina von Kleist: Wenn der Wecker nicht mehr klingelt, Berlin 2006, S. 204.

Zitiert nach Frederike Schröter: Die grauen Engel, in: DIE ZEIT Nr. 15/2011, S. 19.

Zitiert nach Dorit Kowitz: Generation Armut, in: DIE ZEIT Nr. 21/2011, S. 33.

Zitiert nach Elisabeth Niejahr/Kolja Rudzio: Besonders Frauen werden profitieren, in: DIE ZEIT Nr. 37/2011, S. 26.

Ursula Ott: Total besteuert, München 2010, S. 55.

Ebd., S. 66.

Zitiert nach Elisabeth Niejahr: Lasst uns länger arbeiten!, in: DIE ZEIT Nr. 22/2011, S. 4.

Ebd.

Bettina von Kleist, aaO., S. 59.

Harald Martenstein: Ansichten eines Hausschweins, München 2011, S. 13f.

Norbert Bolz, zitiert nach Bettina von Kleist: aaO., S. 20.

Gretchen Dutschke: Wir hatten ein barbarisch schönes Leben, Köln 1996.

Martin Hecht: Deutsche Unsitten, Frankfurt 2007, S. 45.

1. Korintherbrief Kap. 14, Vers 34: »Das Weib schweige in der Gemeinde«.

Johannes-Evangelium Kap. 13, Vers 23: »Einer der Jünger lag an Jesu Brust. Der, den Jesus lieb hatte«.

Matthäus-Evangelium Kap. 3, Verse 4 und 7b: »Johannes der Täufer trug Kleidung aus Kamelhaar und einen Ledergürtel, aß Heuschrecken und wilden Honig und sprach: Ihr Otterngezücht, wer hat Euch gesagt, dass Ihr dem zukünftigen Zorngericht entgehen werdet?!«

Richard Rohr: Der wilde Mann. Geistliche Reden zur Männerbefreiung, München 1987.

Robert Bly: Eisenhans, Hamburg 2009.

John Eldredge: Der ungezähmte Mann, Gießen 2001.

Johannes-Evangelium Kap. 1, Vers 29.

Offenbarung Kap. 5, Vers 5: »Siehe, der Löwe aus dem Geschlecht Judas«.

Zitiert nach Michael Klonovsky: Der Held. Ein Nachruf, München 2011, S. 44.

David Murrow: Warum Männer nicht zum Gottesdienst gehen, Haiterbach-Beilingen 2011.

Dieter Nuhr: in Satiregipfel, ARD 12.9.2011.

Zitiert nach Hartmut Meesmann: Die verlorene Identität, in: Publik Forum Nr. 21/2010, S. 18f.

Ebd.

Thomas Gesterkamp in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, zitiert nach Meesmann, aaO.

Martin Kohli/Harald Künemund: Die zweite Lebenshälfte, Leverkusen 2005, S. 205ff.

Horst W. Opaschowski, aaO., S. 61-71.

Johan Schloemann: Futtern wie bei Muttern, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.3.2009.

Meredith Haaf: Heult doch!, München 2011, S. 29.

Ebd., S. 126.

Ebd., S. 114.

Klaus Hurrelmann (Hrsg.): 16. Shell Jugendstudie, Frankfurt 2010.

Klaus Hurrelmann: Lebensphase Jugend, Weinheim 2009.

Zitiert nach Karlheinz A. Geißler: Lob der Pause, München 2010, S.72.

Ronald Henss (Hrsg.): Hundert haarige Limericks, Saarbrücken 2008.

Joschka Fischer: Mein langer Lauf zu mir selbst, Köln 2000.

Sven Kuntze, aaO., S. 145f.

V Man Magazine Nr. 20/2010.

Roman Maria Koidl: Scheißkerle, Hamburg 2010, S. 168f.

Volkmar Sigusch: Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit, Frankfurt 2011, S. 118.

Tamara Domentat: Lass Dich verwöhnen. Prostitution in Deutschland, Berlin 2003.

Lea Ackermann: Verkauft, versklavt, zum Sex gezwungen, München 2005, S. 70.

Bernard Starr/Marcella Weiner: Liebe im Alter, Frankfurt 1998, S. 16.

Norbert Kluge/Marion Sonnenmoser: Das Sexualleben der Deutschen, Frankfurt 2002.

Focus vom 29.4.2002

Zitiert nach Michael Klonovsky: aaO., S. 43.

Björn Schwentker/James Vaupel: Die politische Dimension des demographischen Wandels, zitiert nach »Zeitzeichen« Nr. 3/2011, S. 20ff.

Sven Kuntze, aaO., S. 66.

Karl Rahner: Zum theologischen Grundverständnis des Alterns, in: Schriften zur Theologie Bd. 15, Freiburg 1983, S. 315ff.

H. J. Eckstein: Du hast mir den Himmel geöffnet, Holzgerlingen 2001, S. 126.

Paul Simon: »Slip sliding away«, aus: Still crazy after all these years, 1976.

Hans Goldbrunner: Altwerden als Herausforderung für die Familie, Mainz 1999, S. 35f.

Tilman Moser: Gott auf der Couch, Gütersloh 2011, S. 132.

Klaus-Peter Hertzsch: Chancen des Alters, Stuttgart 2008, S. 20.

Ebd., S. 91f.

Tilman Moser, aaO., S. 66f. und S. 127f.

Matthias Drobinski/Claudia Keller: Glaubensrepublik Deutschland, Freiburg 2011, S. 13.

Herbert Schnädelbach: Religion in der modernen Welt, Frankfurt 2009, S. 79f.

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, zitiert nach Klaus-Peter Hertzsch: Chancen des Alters, aaO., S. 110ff.

Maren Kroyman: The Sixties, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.9.2011.

Tilman Moser: aaO., S. 57 und S. 88.

Zitiert nach Evelyn Finger: Weihnachten, in: DIE ZEIT, Nr. 51/2010, S. 64.

Ebd.

Sven Kuntze, aaO., S. 122f.

Ebd., S. 129.

Petra-Angela Ahrens (Hrsg.): Uns geht’s gut. Religiosität und kirchliche Bindung 60 plus, Berlin 2011, S. 107.

Zitiert nach »Zeitzeichen« Nr. 9/2011, S. 7.

Ulrich Linse: Geisterseher und Wunderwirker. Heilsuche im Industriezeitalter, Frankfurt 1996, S. 216.

Petra-Angela Ahrens, aaO., S. 87.

Bascha Mika: Die Feigheit der Frauen, München 2011.

Bundesinitiative Großeltern von Trennung und Scheidung betroffener Kinder, BIGE: .

Zitiert nach Nora Gantenbrink: Die Uni-Omas, in: DIE ZEIT vom 21.7.2011.

Helga Gürtler, Das Glück einer besonderen Beziehung, Freiburg 2007.

Stephan Bartels/Till Raether: Männergefühle, Frankfurt 2011.

Roman Leuthner: Hilfe, wir werden Großeltern, München 2010.

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... ABER SONST IST NOCH ALLES O.K.!

Was haben Sie vor diesem »aber sonst« gesagt? Das ist doch ein verräterischer Nachsatz, finden Sie nicht? Verdächtig wie die berühmte Urlauber-Beteuerung »aber sonst hat Mallorca auch ruhige Gegenden«. Aha? Also nicht nur Ballermann. Wie schön. Ich vermute, es hat Sie jemand gefragt: »Und, wie geht’s?« (Unter Männern: »Und, wie läuft’s?«) Sie haben erst einmal mit den Achseln gezuckt und ein tiefes »Och« eingeatmet. Dann haben Sie eine kurze Zusammenfassung der aktuellen Beschwernisse und Schmerzen, der Sorgen und Leiden Ihres Lebens jenseits der 50 erzählt und noch während Sie sprachen, kamen Ihnen Bedenken, das höre sich jetzt aber allzu wehleidig an. Deshalb schnell hinterher geschoben: »... aber sonst, also im Großen und Ganzen ...« Pause. »... können wir nicht klagen.« Ihr Gegenüber lächelte beruhigt. »... und überhaupt und im Grunde muss man noch froh sein.« So so. Dabei war schon die erste Hälfte nur halb wahr, aber voll geschönt. Vielleicht kommen Ihnen folgende Beobachtungen nicht völlig fremd vor:

 

Wenn Sie aus einem tiefen Sessel aufstehen, aus der Hocke hochkommen oder aus Ihrem Auto aussteigen, stöhnen Sie »Ah!« (Und wenn andere dabei sind, nehmen Sie sich vor, jetzt nicht »Ah« zu stöhnen.)

 

Ihr Namensgedächtnis mag auch früher schon schlecht gewesen sein. Aber die Zeitspanne, bis«der Groschen fiel«, war kürzer. Jetzt fällt Ihnen vom Beginn bis zum Ende der zweistündigen Jubiläumsveranstaltung ums Verrecken nicht ein, wie diese Frau dort drüben, ja genau, die da in der zweiten Reihe, wie hieß die gleich, die hat mir doch damals ... Nichts. Null. Blackout. Spätabends, beim Sektmit-Smalltalk im Foyer, könnte diese Bekannte aber auf Sie zukommen und von genau jenem »damals« plaudern wollen. Und übermorgen, völlig zusammenhanglos, wird Ihnen ihr Name wieder einfallen, plötzlich und glasklar. Wenn es niemand mehr braucht.

 

Nicht nur Namen vergessen Sie jetzt häufiger, sondern auch, was Sie wem gesagt oder schon mal erzählt haben. Das führt im Normalfall bei den Zuhörenden zu geduldiggelangweiltem Lächeln oder artigem Lachen. (»Ein Gentleman ist jemand, der jeden Witz noch nie gehört hat.«) Schlimmstenfalls führt es zu furchtbaren Peinlichkeiten (»also mir gegenüber hat sie das aber ganz anders ...«), im besten Falle führt es zu mehr Ehrlichkeit. In jedem Fall aber bauen Sie ein kleines Frühwarnsystem ein, einen Brems-Impuls wie die Asphalt-Erhebungen in den Spielstraßen und 30er-Zonen der Wohnviertel: »Und da sagt doch dieser Taxifahrer zu mir ... oder hab ich Euch das schon erzählt?«

 

Die Glitschigkeit einer Duschkabine – im Hallenbad, im Hotel, in der Ferienwohnung, bei Freunden, den Haltegriff über der Badewanne haben Sie ein halbes Leben lang nicht einmal wahrgenommen. Jetzt achten Sie drauf. Denn kurzes Stolpern kann lang anhaltende Rückenschmerzen bedeuten. Von Muskelzerrungen oder einem Bandscheibenvorfall ganz zu schweigen. Wer will schon als Humpelstilzchen zum Frühstück erscheinen? Überhaupt: Jede noch so kleine Verletzung – der Daumen in der Garagentür, das Schienbein an der Bettkante, die rasierklingenverletzte Halsfalte bei Herren und das entzündete Nagelbett bei Damen  – alles schmerzt viel länger als früher. Alles heilt unglaublich langsam und bleibt danach monatelang sichtbar.

 

Wenn Sie unbedacht und hastig etwas trinken, bei einem angeregten Tischgespräch zu schnell atmen, reden, kauen und sich plötzlich verschlucken – dann ist das nicht, wie in Kindertagen, mit zwei Klapsen auf den Rücken getan. Nein, Sie glauben zu ersticken. Sie werden puterrot, ihre Stimme versagt. Die Luftröhre ist wie zugeschnürt. Sie entschuldigen sich röchelnd, flüchten ins Badezimmer und sind erst nach zehn Minuten wieder soweit gesellschaftsfähig, dass Sie an die Tafel zurückkehren können. Dort haben inzwischen die anderen Gäste ihre eigenen Verschluckungserlebnisse mit Nuss-Schokolade, Krokantplätzchen, Pinienkernen, mit Rucola-Salat und scharfen Thaisuppen zum Besten gegeben. Alle haben vollstes Verständnis für Sie, aber ja doch! Trotzdem denken Sie: Warum ist das im Alter so ein Drama, verdammt nochmal?!

 

Es war Ihnen doch jahrzehntelang schnurzpiep-egal, wo Sie im Großraumwagen eines Zuges Platz nahmen. Schülerhorden oder verliebte junge Pärchen merken ja nicht mal, dass sie überhaupt in einem öffentlichen Verkehrsmittel reisen. Sie aber – Sie achten seit ein paar Jahren darauf, dass es von der Tür her nicht zieht (Rücken!), dass Sie nicht am Fenster sitzen, wo die grelle Sonne flackert und flimmert (nervöse Augenrötung!) und dass Sie in Fahrtrichtung sitzen (leichte Kopfschmerzen!). Wenn nämlich der »Franken-Sachsen-Express« mit Tempo 180 und Neige-Technik von Nürnberg nach Dresden rast, reagiert Ihr Magen wie bei einer Achterbahnfahrt rückwärts.

 

Wenn Ihre Lesebrille wieder mal, gottweißwo, liegengeblieben ist, können Sie sich die Speisekarte ja vom Kellner vorlesen oder zumindest in Auszügen zitieren lassen. (Was sich für die Restaurantgäste an den Nachbartischen bisweilen anhört wie eine Theaterprobe zwischen Regisseur und Schauspieler: »Kann ich nochmal diese Stelle weiter vorne hören bitte? Ab Carpaccio etwa?«) Wenn Sie aber ohne Lesebrille am Bankschalter oder auf einer Behörde etwas unterschreiben sollen – dann müssen Sie dran glauben. Also dran glauben, dass alles seine Richtigkeit hat, was Sie da halbblind mit Ihrem Namenszug bestätigen.

 

Wenn Sie in den finanziell klammen Jugendjahren eine Strecke von, sagen wir, 350 Kilometern auf der Autobahn zu fahren hatten, dann lautete die wichtigste Frage: »Wie weit reicht die Tankfüllung noch?« Die hatte nämlich Papa gesponsert. Heute lautet Ihre wichtigste Frage: »Wie weit noch bis zur nächsten Toilette?« Und: »Können wir deine und meine Pinkelpausen bitte so koordinieren, dass wir nicht an jeder Raststätte halten müssen?!«

 

Zu Terminen und Veranstaltungen kommen Sie neuerdings lieber zu früh als pünktlich. Beginnt in der Seniorenresidenz ein Vortrag um 19.00 Uhr, ist um 18.00 Uhr der Saal voll. Bei Volksmusik im Festzelt sitzen die ersten Alten schon, wenn die letzte Bierbank noch nicht steht. Opern-und Konzerthäuser, Stadthallen und Kirchen rechnen mit etwa 30 Minuten Rentner-Vorlauf. Nur Hiphop-Solisten und junge Rockbands können bis kurz vor Konzertbeginn Soundcheck und Lichtprobe machen – ihre Klientel unter 20 trödelt notorisch zu spät in die Location. Woher kommt diese alterstypische Sorge vor dem Zu-spät-sein? Es existieren nur Vermutungen: Sie sitzen im Auto, haben etwas vergessen und müssen zurück ins Haus. Bei Abfahrt Nr. 2 fällt Ihrem Mann ein, was er vergessen hat. Seither plädieren Sie für frühen Aufbruch. Außerdem hassen Sie es, gehetzt und genervt irgendwo zu erscheinen und, etwa im Theater, ganze Stuhlreihen für sich aufstehen zu lassen. Und schließlich die simple Rechnung: Eine halbe Stunde Hinfahrt plus zwei Stunden Kinofilm ohne Pause – da lassen wir uns doch sicherheitshalber etwas Zeit, vorher noch kurz wohin zu gehen.

 

Wissen Sie, was Essensreste nachts zwischen Ihren Zähnen anrichten?«, fragt der Zahnarzt. »Ich weiß es nicht«, sagt der Patient, »wir schlafen getrennt.« Selbst wenn es bei Ihnen noch nicht so weit ist: Das in Jahrzehnten entstandene (und teuer zusatzbezahlte) Mit- und Nebeneinander von Füllungen, Jackett-Kronen, Brücken und Implantaten hat im Mund eine alterstypische Folge: Hähnchenfleisch, Gulasch, Gewürzkörner, Kresse und Schnittlauch, am schlimmsten jedoch erkalteter Fondue-Käse, bleiben hinterhältig und hartnäckig zwischen den sogenannten Zähnen hängen. Nisten sich ein, krallen sich fest, kleben und haken und hängen so penetrant in den Spalten und Klüften, dass kein Zahnstocher mehr etwas ausrichten kann. Auch hinter vorgehaltener Hand nicht. Vorspeise und Hauptgang sind geschafft, Sie verschwinden mal kurz in den Waschraum der Toilette, fuhrwerken vor dem Spiegel mit der Zahnseide herum und – kommen mit blutendem Zahnfleisch wieder raus. Zum Dessert gibt es Apfelkuchen mit Mandelsplittern. Na danke schön! Was werden Sie tun? Sie lächeln nur noch mit geschlossenem Mund und versuchen es mit der Zunge. Die ausgebeulte Wange – ein untrügliches Erkennungszeichen älterer Menschen beim Nachtisch. Dass da im Verborgenen eine hyperaktive Fleischbürste ihre akrobatische Schwerstarbeit verrichtet, kann manchmal sogar intellektuell wirken. Das geht so: Wenn Ihr Gegenüber einen Satz beendet hat, ziehen Sie staunend die Augenbrauen hoch, schauen nachdenklich ins Weite und befehlen Ihrem Höhlenbohrer im Mund einen abrupten Stopp in der Hamsterbacke. Sieht aus, als würden Sie gleich den ontologischen vom kausalen Gottesbeweis unterscheiden und die Grundthesen des Aristoteles gegen Immanuel Kant verteidigen. Ist in Wahrheit aber nur der Moment, wo Sie spüren: »Sie hat ihn!! Diesen elenden Mandelsplitterrest!«

 

Sie werden neuerdings von Rührung und Sentimentalität überfallen. Bei der Taufe Ihrer Patentochter oder Enkelin ging’s ja noch. Aber jetzt, wenn Sie bei der Konfirmation eines süßen Teenagers eine Tischrede halten sollen?! Wieso steigt ihnen das Heulen ins Gesicht, woher dieses Zucken der Unterlippe, wie kriege ich den Kloß im Hals raus und Festigkeit in die Stimme rein? Meine-Güte-reiß-Dichdoch-zusammen! Dass ein Vater zwischen 50 und 65 mit Tränen in den Augen seine brautkleidgeschmückte Tochter durch den Mittelgang zum Traualtar führt, wo Mutter und Schwiegereltern, Omas und Opas in blumendekorierten Kirchenbänken längst die Taschentücher gezückt haben – geschenkt! Versteht jeder. Darf sein. Ist doch klar. Aber unvermittelt mit den Tränen kämpfen an einem werktägigen Vormittag in der Küche, nur weil NDR Kultur oder Klassik Radio die »Pathetique« von Beethoven spielt?! Die »Kinderszenen« von Robert Schumann oder »Thais« von Massenet mit Anne Sophie Mutter an der Violine? Der Vorstandsvorsitzende im dicken Daimler, die Chefärztin auf dem Parkplatz des Klinikums müssen ihre Telefonate unterbrechen, nur weil Gary Brooker von »Procol Harum« mit kehliger Stimme die erste Zeile von »A Salty Dog« intoniert. »All hands on deck / we run aflow / I heard the captain cry« – und dass der sonst so machtvoll-rational auftretende Boss dabei heulen muss, dass die sonst so gestrenge Frau Doktor einen Kloß im Hals spürt, hat ja weder mit irgendeiner konkreten Erinnerung noch mit Traurigkeit zu tun. Nicht mal mit Sehnsucht nach dem Meer. Es ist die reine Melancholie. Oder alberne Sentimentalität. Oder ist es nicht mal das, sondern schlicht eine Art alterstypische Gemütsschwäche?

 

Als die Kinder noch klein waren und es an Ihrer Arbeitsstelle brummte, da fielen Sie abends wie tot ins Bett und hörten nach sechs oder sieben Stunden Erschöpfungsschlaf das Piepen des Weckers wie die Glocken zum Jüngsten Gericht. Genussvoller Luxus war es, draufzuhauen und satte zwei Stunden weiterzuschlafen. Jetzt – die Kinder sind aus dem Haus, die Firma hat Sie frühpensioniert – jetzt wachen Sie ungewollt um 5.00 Uhr zum ersten Mal auf, ganz ohne Wecker um 6.00 Uhr erneut, stehen um halb sieben auf und sind ab 14.00 Uhr bleiern müde. Sie schlafen mehr als früher – aber in kurzen Häppchen. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass Sie in der »Apotheken-Umschau« (»Rentner-Bravo«) lesen, das sei ganz natürlich und passiere allen alten Leuten. Sie sind seit Tau und Tag auf den Beinen, Schwager und Schwägerin kommen zum Mittagessen, der verregnete Sonntagnachmittag am Kaffeetisch zieht sich in die Länge – und Sie stemmen sich gegen die Tonnage Ihrer Augenlider. Kämpfen um Ihr Gleichgewicht im Sitzen. Und gegen den Grauschleier im Hirn. Müdigkeit. Lähmend wie ein Vollrausch. Was gäben Sie drum, einfach aufstehen zu dürfen und schlafen zu gehen!

 

Und die wirklich ernsten Veränderungen im Alter? Das mit dem Sex und dem Geld und der Achtung voreinander und den seelischen Narben der Vergangenheit, die plötzlich wieder wehtun, all das wurde noch gar nicht erwähnt! Von Selbstbewusstsein und Sich-Nützlich-Machen, von vermeintlich dringenden Terminen und Placebo-Wichtigkeiten, von Würde und Selbstwert, Schuld und Scham haben wir noch nicht geredet. »Aber sonst ...«, beenden Sie den kurzen Smalltalk auf der Straße, »aber sonst ist noch alles o.k.!«