Schon zu Lebzeiten ein soziologischer Klassiker, hat das Werk Pierre Bourdieus bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Wer seine Schriften gelesen hat, sieht die Welt mit anderen Augen. Doch wie nähert man sich einem derart vielschichtigen und umfangreichen Œuvre? Hans-Peter Müllers Einführung liefert einen systematischen Überblick über das Werk und präsentiert Bourdieus begrifflichen Baukasten und seine empirischen Studien in einer Weise, die Einsteigern und Kennern einen zuverlässigen Wegweiser bietet und zugleich Lust darauf macht, von einem der großen Soziologen und kritischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts zu lernen.

Hans-Peter Müller ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Hans-Peter Müller

Pierre Bourdieu

Eine systematische Einführung

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73692-0

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5Inhalt

Vorwort

Einführung: Leben und Werk

1. Einleitung

2. Leben (1930-2002)

3. Werk

I. Der analytische Baukasten

1.Die Grundformel des Ansatzes: Struktur, Habitus und Praxis

2.Die Konstruktion des sozialen Habitus

3.Die Konstruktion des sozialen Raums: gesellschaftliche Kapitalsorten und soziale Klassen

3.1 Das Modell der Kapitalsorten

3.2 Die Logik der Klassenanalyse und das Modell der Klassen

4.Die Konstruktion der sozialen Felder

4.1 Der Begriff des Feldes

4.2 Die Konfiguration der Felder

4.3 Feld und Feldanalyse

4.4 Der analytische Baukasten – kritisch betrachtet

II. Die empirischen Studien

5.Bildung und soziale Ungleichheit

5.1 Einleitung

5.2 Bildung und soziale Reproduktion

5.3 Akteure und Institutionen sozialer Ungleichheit

5.4 Das französische Bildungssystem und die Institutionen höherer Bildung

5.5 Die Illusion der Chancengleichheit

5.6 Titel und Stelle

5.7 6Homo academicus

5.8 Der Staatsadel

5.9 Fazit: Bildung und Gesellschaft

6.Soziale Klassen und Lebensstile

6.1 Einleitung

6.2 Klasse und Klassifikation

6.3 Soziologie der Erkenntnis: Doxa, Orthodoxie und Heterodoxie

6.4 Soziologie der Ästhetik: Klasse und Geschmack

6.5 Grundzüge einer kulturellen Ethnographie Frankreichs

6.6 Fazit: Klassen und Lebensstile

7. Kultur und kulturelle Feldanalysen: Das literarische Feld

7.1 Einleitung

7.2 Aufbau und Struktur einer vollständigen Feldanalyse: Die Regeln der Kunst

7.3 Das Konzept des Feldes und die Besonderheiten des kulturellen, künstlerischen und literarischen Feldes

7.4 Methodische Fragen: Zur Soziologie kultureller Werke

7.5 Das literarische Feld: Genese und Wirkungsweise

7.6 Flaubert als Analyst von Flaubert

7.7 Fazit: Bourdieus Analyse des literarischen Feldes

8. Das ökonomische Feld

8.1 Einleitung

8.2 Der Häusermarkt

8.3 Zur Logik des Produktionsfeldes

8.4 Die Kaufentscheidung: »Ein Vertrag unter Zwang«

8.5 Der Eigentumssinn: Mieten oder kaufen?

8.6 Das Konzept des ökonomischen Feldes

8.7 Fazit: Ökonomische Ökonomie versus Ökonomie der symbolischen Güter und der symbolischen Gewalt

9. Das politische Feld

9.1 Einleitung

9.2 Politik und Kultur

9.3 Die Doxosophen und die öffentliche Meinung

9.4 7Die Konstitution des politischen Feldes

9.5 Staatsadel und Machtfeld

9.6 Fazit: Das politische Feld

10. Die Intellektuellen und die Kritik

10.1 Einleitung

10.2 Ideologiekritik: Der Kampf gegen die neoliberale Globalisierung

10.3 Sozialkritik: Das Elend der Welt

10.4 Feministische Kritik: Die männliche Herrschaft

10.5 Medienkritik: Über das Fernsehen

10.6 Intellektuelle Kritik: Die Intellektuellen und die Gesellschaft

10.7 Fazit: Soziologie und Intellektuelle

Epilog: Aufgaben einer analytischen, empirischen und kritischen Soziologie

Literaturverzeichnis

Zeittafel

Abbildungsverzeichnis

Namenregister

Sachregister

9Vorwort

Diese kleine Einführung in Pierre Bourdieus Denken und Forschen versucht, ein gutes Jahrzehnt nach seinem Tod, in verständlicher und systematischer Weise einen Überblick über sein Werk zu geben. Bourdieu hat nicht nur die klassische Bildung eines Philosophen genossen, sondern sich auch selbst zum Soziologen und Ethnologen weitergebildet, der zum zeitgenössischen Kritiker westlicher Gesellschaften und zu einem europäischen Intellektuellen mit globaler Ausstrahlung wurde. Er hat ein unglaublich vielfältiges und reichhaltiges Werk hinterlassen. Wir werden also nicht den »ganzen« Bourdieu abhandeln können, sondern den »charakteristischen« Bourdieu vorstellen. Er ist ein kritischer Ordnungsdenker, der die Produktion und Reproduktion des sozialen Lebens untersucht. Dabei will er die geheimsten Grundlagen der sozialen Welt aufdecken und ihre Mechanismen der Reproduktion genauer bestimmen. Diese Art von kritischer Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsanalyse ist in seinen Augen die vornehmste Aufgabe der Soziologie. Es ist ein Stück soziologischer Aufklärungsarbeit, die Bourdieu damit leisten will. Er und seine Forschungsgruppe haben keine theoretischen, methodischen und empirischen Mühen gescheut, um »hinter die Kulissen« des gesellschaftlichen Geschehens zu blicken. Das Resultat ist ein ganz eigen- und einzigartiges Werk: Wer Bourdieu gelesen hat, wird die Gesellschaft mit anderen Augen sehen. Es ist der genuin soziologische Blick, mit dem man plötzlich gesellschaftliche Verhältnisse viel besser verstehen kann. Was vorher natürlich und normal schien – »die Welt, so wie sie ist« –, wird nicht nur transparent, weil man plötzlich versteht, wie sie funktioniert, sondern sie erscheint mit einem Mal auch änderbar durch Kritik und politisches Handeln. Bourdieu verführt zu selbstständigem und kritischem Denken.

Gewidmet ist dieses Buch den Studierenden, mit denen ich in den letzten Jahren diese beglückende Transformationserfahrung in Vorlesungen und Seminaren machen durfte. Lena Pelull, Stephan Paetz und Florian Eyert sei für ihre Vorschläge gedankt. Henri Band, der mit gewohnter Umsicht die Gestalt und die Lesbarkeit 10des Textes erhöht und die Endredaktion zuverlässig betreut hat, danke ich für wichtige Kritik und Verbesserungsvorschläge.

Hans-Peter Müller, Berlin im Oktober 2013

11Einführung:
Leben und Werk

1. Einleitung

Schon zu Lebzeiten war Pierre Bourdieu (1930-2002) ein soziologischer Klassiker. Als Nachfolger von Raymond Aron am prestigereichen Collège de France hatte er bereits 1981 die Spitze der wissenschaftlichen Hierarchie seiner Disziplin erklommen, denn diese ruhmreiche Institution nimmt nur einen Kandidaten aus jedem Fach oder jeder Disziplin als Professor in seine heiligen Hallen auf, dann aber auf Lebenszeit – die ultimative Auszeichnung im wissenschaftlichen Feld Frankreichs. So konnte Bourdieu, distinktiv herausgehoben und für alle sichtbar, in seiner Person die ganze französische Soziologie verkörpern: »La sociologie, c’est moi!«

Von 1964 bis 1992 gab er die Buchreihe Le sens commun bei Les Éditions de Minuit heraus, von 1989 bis 1998 die Zeitschrift Liber, von 1996 bis 2002 die Buchreihe Raisons d’agir und von 1997 bis 2002 die Buchreihe Liber bei Les Éditions du Seuil. 1975 gründete er mit seiner Forschungsgruppe die Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales, deren Geschicke er bis zu seinem Tod lenkte.

Als Intellektueller unterbreitete er soziologische Zeitdiagnosen, prangerte in La misère du monde mit dem bekannten französischen Priester Abbé Pierre das Elend der Pariser Vorstädte an, half verfolgten algerischen Intellektuellen, stellte sich an die Spitze der Schülerproteste in Frankreich, engagierte sich kritisch in der Globalisierungsdiskussion, diskutierte mit Hans Haacke die Situation der zeitgenössischen Kunst und war, darin Jean-Paul Sartre vergleichbar, stets da präsent, wo es brannte.

Das Werk aus vierzig Jahren Arbeit ist dementsprechend breit gefächert und umfangreich. Es umfasst 37 Bücher, und »Hyper-Bourdieu«, die Webseite von Ingo Mörth und Gerhard Fröhlich, führt unglaubliche 1800 Publikationen auf. Gisèle Sapiro und Maurizio Bustamante (2009) haben den globalen Übersetzungsbetrieb untersucht und herausgefunden, dass bis zum Jahr 2008 347 von Bourdieus Werken in 34 Sprachen und 42 Ländern übersetzt wurden. Wie kann man ein so umfangreiches Werk schaffen? Erstens muss man sehr fleißig und diszipliniert sein, viel forschen, arbeiten und sein Leben der Wissenschaft, hier: der Soziologie, widmen. 12Zweitens sollte man eine große Forschungsgruppe von talentierten jungen Leuten um sich scharen, um Kollektivprodukte zu schaffen, denn so wachsen der Publikationsradius und die Sichtbarkeit des Meisters. Drittens ist es wichtig, dass die kollektiv geleistete Forschungsarbeit und deren Ergebnisse am Ende stets in eine Monographie münden. Obgleich Resultat kollektiver Forschung, trägt sie am Ende häufig nur den Namen »Bourdieu«. Viertens muss man an ein und demselben Problem immer weiterarbeiten, denn das heißt, einen Text vielfach umzuschreiben und ihn dann unter jeweils neuem Titel erscheinen zu lassen. Fünftens muss man rege in alle Sprachen der Welt übersetzt werden. Sechstens – und das ist entscheidend – muss man etwas zu sagen haben, so dass die (Fach-)Welt schon ungeduldig auf den nächsten großen Wurf wartet. Voilà, das sind die Operationsprinzipien eines großen Œuvres.

Bourdieus Einfluss übersteigt die Fachgrenzen der Soziologie, sein Werk ist vielfältig anschlussfähig in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wird breit rezipiert, umfänglich diskutiert[1] und vielfach ausgezeichnet. So ist Bourdieu der erste Soziologe, der vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) im Jahre 1993 die Goldmedaille erhielt. Außerdem verliehen ihm die Freie Universität Berlin (1985), die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (1996), die Universität Athen (1996) und die Universität Ioensuu (Finnland, 1998) die Ehrendoktorwürde. Die University of California in Berkeley zeichnete ihn mit dem 13Erving-Goffman-Preis (1996) aus, die Stadt Ludwigshafen mit dem Ernst-Bloch-Preis (1997) und das Royal Anthropological Institute in London mit der Huxley Memorial Medal (2000). 2001 wurde er korrespondierendes Mitglied der Britischen Akademie. Preise, Ehren und Würdebezeigungen zuhauf. Kurz: Er war der Soziologe, Wissenschaftler und Intellektuelle schlechthin.

Das ist indes nur die eine Seite, die Hochglanzfassade des »Wissenschaftsunternehmens Bourdieu«. Die Kehrseite dieser Medaille ist die ambivalente Haltung ihm gegenüber. Bourdieu ist kontrovers: Er lässt weder kalt noch gleichgültig, sondern spaltet. Es gibt die glühenden Anhänger und die vehementen Kritiker. Wer »für Bourdieu« ist, sieht in ihm den größten und prominentesten Soziologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur Frankreichs, sondern weltweit. Seinem Werk hat die Soziologie entscheidende neue Impulse zu verdanken in fast allen Feldern, in denen er und seine Mitstreiter geforscht haben. Wer »gegen Bourdieu« ist, sieht in ihm und seinem Schaffen die typische Hybris der Soziologie am Werk: Für die einen ist er ein Wiedergänger von Émile Durkheim und dessen Soziologismus, der auch glaubte, alles erklären zu können. Für die anderen sind seine Arbeiten von einem überkommenen Neomarxismus in der Nachfolge von Antonio Gramsci, Georg Lukàcs und Louis Althusser inspiriert. Insgesamt wird sein autoritärer Gestus des Omniszientismus moniert, der in Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit einen regelrecht totalitären Zug anzunehmen geeignet ist. Bourdieus Rede verträgt keine Widerrede. Seine kritische Soziologie, der nichts heilig zu sein scheint, reagiert selbst nur sehr ungnädig auf etwaige Kritik.

Soziologismus, Neomarxismus und Omniszientismus – diese Vorwürfe markieren nur die schrillsten Töne der Kritik. Darüber hinaus sind in den letzten Jahren auch viele Einwände gegen seine Art der Theorie- und Begriffsbildung, seine Methoden und seine Analysen erhoben worden.

Kurz und gut: Bourdieu war schon zu Lebzeiten ein Klassiker, aber Person und Werk waren niemals unumstritten. Bourdieu hätte wohl in dieses Lamento eingestimmt, wenn auch mit etwas anderer Akzentsetzung. Trotz aller Aufmerksamkeit, die seiner Forschung zuteilwurde, fühlte er sich chronisch miss-, ja regelrecht falsch verstanden. Es war nicht bloße Koketterie oder gar Obsession, immer wieder zu betonen, dass niemand ihn richtig zu lesen verste14he. Um etwaige Missverständnisse abzubauen, musste der Diskurs über seine Arbeiten mit eigenen Kommentaren und Erläuterungen vorangetrieben werden. Resultat dieser interpretativen Diskursmanie: weitere und neue Fragen. Jeder Interviewband zur Klärung in erzieherischer Absicht verdichtete also den Nebel, der sein Werk mehr und mehr umhüllen sollte. Die Vorstellung von der Einheit und Bewegung seiner Forschung ging zusehends verloren. Trotz allem gab Bourdieu (1989b: 8) die Hoffnung nicht auf, dass jemand »aus meinen Ausführungen, und sei es für kurze Momente, eine zusammenfassende Sicht meines Werkes zu gewinnen vermag, das, auf der Ablehnung des schulmäßig-akademischen Systematisierens begründet, sich so leicht nicht preisgibt – nicht einmal seinem Autor selbst«.

Was tun angesichts dieser verfahrenen Situation? Labyrinthisch und unabgeschlossen, wie sein Œuvre sich präsentiert, muss jeder Überblick notwendig vereinfachend und unvollständig, aber auch jeder Versuch, seine Soziologie möglichst analytisch rein herauszuschälen, willkürlich und verzerrend ausfallen. Aus der Not eine Tugend machend, können wir nur »Probebohrungen« an seinem Werk vornehmen, in der Hoffnung, die Eigenart seines Denkens, zentrale Begriffe und Theoreme sowie einschlägige Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus seinen Arbeiten zu gewinnen. Selbst wenn das gelingt, ist das nicht der ganze, aber vielleicht der charakteristische Bourdieu.

Nach einem Blick auf seine Biographie und die Konturen seines Werkes soll im ersten Teil dieses Buches sein soziologischer Ansatz anhand seines »analytischen Baukastens« vorgestellt werden. Das schließt seine Grundformel von »Struktur – Habitus – Praxis« ebenso ein wie die Grundbegriffe von sozialem Raum, Kapital, Klasse und Feld. Ohne eine solche theoretische und methodologische Vororientierung lässt sich sein Werk nur schwer verstehen. Im zweiten Teil sollen dann die wichtigsten empirischen Studien vorgestellt werden. Zunächst wenden wir uns seiner Bildungssoziologie zu, die vor allem das Verhältnis von Bildung und sozialer Ungleichheit untersucht. Zu diesem Zweck konsultieren wir zunächst seine frühen empirischen Studien zur Illusion der Chancengleichheit und zu den Erben, um dann seine späteren institutionellen Analysen Homo academicus und La Noblesse d’Etat zu behandeln. In einem zweiten Schritt betrachten wir seine Analysen zum sozialen 15Raum und zu sozialen Klassen. Hier steht seine bahnbrechende Studie über Die feinen Unterschiede im Mittelpunkt. Im dritten Schritt zeichnen wir seine zentralen Analysen sozialer Felder nach: Beginnend mit dem kulturellen Feld, diskutieren wir vor allem seine Studie über die Literatur, die wohl die umfassendste Feldanalyse darstellt. Danach wenden wir uns in einem vierten Schritt dem ökonomischen Feld zu und analysieren anhand seiner Studie von Eigenheimbesitzern die sozialen Strukturen der Wirtschaft. Im fünften Schritt vollziehen wir seine Überlegungen zum politischen Feld nach, abschließend analysieren wir in einem sechsten Schritt die Rolle der Intellektuellen und die Formen der Kritik. Nacheinander betrachten wir seine politische Kritik und seine ideologiekritische Intervention gegen die neoliberale Globalisierung – »Das Modell Tietmeyer«. Danach schauen wir auf seine soziale Kritik und sein gesellschaftliches Engagement am Beispiel der großen Studie Das Elend der Welt. Es folgt ein Blick auf seine feministische Kritik an der männlichen Herrschaft, die mit einer Kritik am Feminismus verbunden ist. Ferner skizzieren wir seine Medienkritik anhand seiner Studie Über das Fernsehen. Schließlich diskutieren wir seine intellektuelle Kritik selbst, die eine Kritik der Intellektuellen einschließt. Ideologiekritik, Sozialkritik, feministische Kritik, Medienkritik und intellektuelle Kritik bezeichnen die fünf Formen der Kritik, die Bourdieu immer wieder geübt hat.

2. Leben (1930-2002)

Geboren am 1. August 1930 in dem kleinen Dorf Denguin (1936: 407; 2009: 1726 Einwohner) im Département Pyrénnées-Atlantiques, wächst Pierre Bourdieu an der südwestlichen Peripherie Frankreichs auf. Trotz seiner niedrigen sozialen Herkunft fällt schon der junge Bourdieu durch seine wache Intelligenz und seine überdurchschnittlichen schulischen Leistungen auf. Von 1941 bis 1947 besucht er deshalb als interner Schüler das Lycée Louis Barthou im 14 Kilometer entfernten Pau. Auch hier brilliert er und wird nach Paris auf das Lycée Louis-le-Grand geschickt, um von 1948 bis 1951 die Vorbereitungsklassen für die École Normale Supérieure an der Rue d’Ulm zu absolvieren. Von 1951 bis 1954 studiert er an dieser Elitehochschule, die nur eine kleine Zahl von Stu16dierenden aufnimmt (32 in den Geisteswissenschaften, 25 in den Naturwissenschaften), Philosophie und schließt seine Aggregation als Jahrgangsbester ab.

Das Muster des Erfolgs und des schier unaufhaltsamen Aufstiegs durch Bildung zeichnet sich bei Bourdieu recht frühzeitig ab. Darüber darf man indes nicht den Preis für die Mühen des Aufstiegs und die Leiden auf diesem Weg übersehen. Von Beginn an macht Bourdieu Erfahrungen mit sozialer Ungleichheit, dem Leiden und der Scham im Gefolge sozialer Deklassierung. Das beginnt in Denguin. Der Vater ist Briefträger, also ein kleiner Beamter mit geringem Einkommen, dessen soziales Ansehen in einer ländlichen Gesellschaft denkbar gering ausfällt, denn auf dem Dorf zählen nur die Größe des Besitzes und die Stückzahl des Viehs. Bei jungen Männern zieht ein geringer Sozialstatus oft sogar das Schicksal lebenslangen Junggesellendaseins nach sich. Bourdieu hat diesem Los ein ergreifendes soziologisches Denkmal gesetzt: seine Untersuchung des Béarn, Der Junggesellenball. Studien zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft (Bourdieu 2008). Bourdieus Vater, der dem republikanischen Ideal der Meritokratie (also »freie Bahn den Besten!«) anhängt und fest an den Aufstieg durch Bildung glaubt, hat seinem Sohn jedenfalls die Hochachtung vor den kleinen Leuten beigebracht und ihm jeglichen Klassenrassismus ausgetrieben.

Die zweite Ungleichheitserfahrung, die er in der Schule macht, könnte man interne Ausgrenzung nennen, also »Dabeisein«, ohne richtig »dazuzugehören«. Bourdieu et al. (1997) sollten später in ihrer Studie über Das Elend der Welt die davon Betroffenen die »intern Ausgegrenzten« nennen. Zwar schafft es der junge Pierre auf das Gymnasium in Pau, aber hier wird er ein »Interner«. Er bleibt die ganze Woche in Pau, denn 14 Kilometer sind in dieser Zeit eine unüberwindbare Entfernung für eine arme Familie ohne Auto wie die Bourdieus. Dagegen dürfen die bürgerlichen Kinder nach der Schule in ihr Elternhaus am Ort zurückkehren. Bourdieu sagt, dass er im Internat die soziale Welt kennengelernt habe. Damit ist nicht der heute in den Medien so präsente sexuelle Missbrauch gemeint, sondern das, was er in der Folgezeit symbolische Gewalt nennen sollte; alle diese feinen Unterschiede, Abstufungen und Inegalitäten: intern oder extern, besser oder schlechter gekleidet, mehr oder weniger Geld etc. Hinzu kamen die Herrschaftsinstrumente der Schule in Gestalt von Klassifikationen, welche die Schüler stigmatisieren 17und deklassieren oder aber auszeichnen. Bourdieus Erfahrung ist auch hier, dass es dabei keineswegs fair zugeht, sondern dass die schulische Klassifikation sich häufig nach dem Sozialstatus der Eltern richtet. Als Sohn armer Eltern scheint er in diesem erlauchten Kreis der Bessergestellten nur geduldet zu sein dank des staatlich administrierten Ideals des meritokratischen Republikanismus und seiner sehr guten Leistungen.

Eine dritte Form der sozialen Ungleichheit, die ebenso symbolischer Natur ist, begegnet ihm gleichfalls schon früh: die Sprache. Er spricht das lokale Béarnais, eine Variante des Gascognischen, muss auf dem Gymnasium indes Französisch sprechen. Auch wenn ihm das Lernen keine Mühe bereitet, eignet er sich ein Südfranzösisch an, dessen Akzent ihm in Paris noch lange zu schaffen macht. Sein Akzent ist, trotz seiner schulischen und akademischen Erfolge, eine ständige Quelle der Scham und Peinlichkeit. In Pariser Ohren klingt Südfranzösisch – und das ist alles, was südlich der Loire gesprochen wird – linkisch, unbeholfen, bäuerlich ungeschliffen und ein bisschen dumm. Hinzu kommt natürlich die Distanz zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie, Zivilisation und Barbarei. Die französische Welt außerhalb von Paris ist einfach die Provinz. Bourdieu macht also Primärerfahrungen sozialer Ungleichheit, die dann Themen für seine Studien werden sollten, am eigenen Leib. »Wenn er sich zeitlebens intensiv mit Fragen der sozialen Reproduktion, der Illusion der Chancengleichheit und Bildungselite befassen wird, so verweist dies immer auch auf diese bleibende persönliche Betroffenheit«, schreibt Franz Schultheis (2007: 29) in seiner lesenswerten Biographie Bourdieus Wege in die Soziologie.

Die Folgen dieses bemerkenswerten Bildungsganges sind eine tiefe Ambivalenz und das, was Bourdieu selbst einen »gespaltenen Habitus« nennt. Einerseits verdankt er der republikanischen Schule alles: sein Wissen, seinen Werdegang und seinen Aufstieg. Andererseits bleibt er immer ein »intern Ausgegrenzter«, selbst noch am Collège de France, dem Gipfelpunkt seines Aufstieges. Auch da ist er ein Fremder trotz der Vertrautheit mit der Bildungswelt. Aber gerade diese Ambivalenz, dieses Sitzen zwischen allen Stühlen, so meine These, prädestinieren Bourdieu zu einem besonders scharfsinnigen und genauen Soziologen und Beobachter wie Kritiker der Gesellschaft. Er gehört nicht mehr zur Dorfwelt seiner Jugend im 18Béarn, obwohl er zeitlebens in den Sommerferien dorthin zurückkehrt. Er gehört aber auch nicht zum Pariser Staats- und Bildungsadel, den er in Noblesse d’Etat unnachahmlich porträtieren sollte.

Genau diesen gespaltenen Habitus, setzt er zeitlebens produktiv um. Er entgeht auf diese Weise den beiden typischen Strategien zur Vereinheitlichung des Habitus, um die Diskrepanz zwischen sozialer Herkunft, Persönlichkeit und neuem sozialen Status auszubügeln: dem Überkonformismus nebst dem Verleugnen der eigenen sozialen Herkunft einerseits, dem Ressentiment und der sozialromantischen Verklärung der Einfachheit, Anständigkeit und Geradlinigkeit der kleinen Leute andererseits.

Nach dem Studium an der École Normale ist es üblich, für ein Jahr an einem Gymnasium im Land zu unterrichten. Bourdieu nimmt diese Pflicht als Philosophielehrer an einem Gymnasium in Moulins (1954-1955) wahr, in der tiefsten Provinz des nördlichen Zentralmassivs. 1955 wird er zum Militärdienst einberufen. Frankreich befindet sich in diesen Jahren in Algerien in einem blutigen Kolonial- und Bürgerkrieg. Bourdieu, der als »Normalien« das Recht hat, Offizier zu werden, lehnt ab. Zudem hat er sich schon politisch gegen den Algerienkrieg exponiert. So wird er mit anderen, ungebildeten jungen Männern aus dem Südwesten Frankreichs nach Algerien an die Front geschickt. Statt die Flughäfen zu bewachen – angesichts der ständigen Gefahr algerischer Anschläge eine riskante Aufgabe –, wird er dank der Intervention eines Offiziers aus dem Béarn, eines Verwandten der Mutter, in die Schreibstube abkommandiert. Diesen glücklichen Umstand nutzt Bourdieu sogleich und beginnt, über Algerien zu schreiben. Er wird zum Autodidakten und studiert Methoden der empirischen Sozialforschung ebenso wie Max Webers berühmte Protestantismus-Studie, die er selbst übersetzt. Da er mit seinen Studien so schnell nicht fertig wird, nimmt er nach seinem Militärdienst noch für zwei Jahre eine Stelle als Assistent für Philosophie an der Universität Algier an.

Um die algerische Gesellschaft möglichst umfassend zu bestimmen und grundlegend zu verstehen, arbeitet er mit dem algerischen Intellektuellen Abdelmalek Sayad wie ein Ethnologe an qualitativen Untersuchungen und mit Vertretern des französischen Statistikamtes INSEE an quantitativen Studien. Algerien und der Kolonialkrieg machen aus dem Philosophen Bourdieu einen 19Ethnologen und später dann einen Soziologen. Dieser tiefgreifende Wandel kommt einer »Initiation« gleich. Zudem legen die Algerien-Studien den Grundstock für Bourdieus Werk, denn in diesen Studien tauchen alle Themen und Probleme, Begriffe und Theoreme auf, die in späteren Werken ausgearbeitet werden. Man kann die Arbeit in Algerien deshalb zu Recht als »Kristallisationskern« (Schultheis 2007) von Bourdieus Theorie bezeichnen.

Zurück in Frankreich, kehrt er mit seinem Freund Sayad ins Béarn zurück, um die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse mit den neu gewonnenen Begriffen und Methoden zu untersuchen. Der posthum erschienene Junggesellenball (2008) legt Zeugnis ab von seinen damaligen Studien zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft.

Schon während seines Algerienaufenthaltes hatte Bourdieu Kontakt zu Raymond Aron in Paris aufgenommen, der ihn als Assistent an die Sorbonne holt und 1962 zum Ko-Direktor seines Centre de sociologie européenne macht. Damit beginnt Bourdieus Karriere in der Soziologie. Er nimmt eine Stelle als Maître de conférence in Lille von 1961 bis 1964 an, die es ihm erlaubt, weiter in Paris zu wohnen. Die Themen, denen er sich zuwendet, entstammen allesamt der Kultur- und Bildungssoziologie, die sein gesamtes Werk prägen. Schon als die kritische Studie Les Héritiers 1964 erscheint, beginnt die Entfremdung von Aron, dem der radikale Ton und Gestus der Studie missfällt. Als Aron die Studentenrevolte im Mai 1968 als »Karneval« bezeichnet, kommt es zum Bruch. Das Centre wird aufgeteilt, Bourdieu leitet künftig seine eigene Forschungsgruppe. 1979 gründet er die Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales, in der sowohl seine Arbeiten (im ersten Entwurf) wie auch die seiner Gruppe erscheinen. Die Actes werden sehr schnell zu einem großen Erfolg, unterscheidet sie sich doch sichtbar von klassischen professionellen Zeitschriften. Großes Format, viele Bilder, Comics und alle möglichen Text- und Datengattungen, welche die empirische Evidenz für die abgedruckten Studien verstärken können, machen Actes zu einem Lektüreerlebnis.

1981 wird Bourdieu nach dem Tod von Raymond Aron in das Collège de France gewählt, wo er sehr aktiv wirkt. Die 1990er Jahre sehen einen auch politisch engagierten Bourdieu, der gegen die neoliberale Globalisierung in allen ihren Formen Front macht. Als Bourdieu am 23. Januar 2002 überraschend stirbt, bleibt sein Werk 20unvollendet, obwohl es bereits einen gewaltigen Umfang angenommen hat. »Pierre Bourdieu ist tot«, verkündet Le Monde auf der Titelseite, und ein Comic rät, nun wieder Bourdieu zu lesen. Das wollen wir hier auch tun.

3. Werk

Man kann Bourdieus Werk chronologisch oder systematisch aufschlüsseln. Verfährt man chronologisch, kann man grob drei Werkphasen unterscheiden.

1. Die Frühphase der Formation (Paris und Algerien): In Paris wird Bourdieu zum »Normalien« ausgebildet, also zum Philosophen und Philosophielehrer; in Algerien wendet er sich unter dem Druck der kriegerischen Ereignisse der Ethnologie zu, um die Transformation der algerischen Gesellschaft zu untersuchen. 2. Die mittlere Phase der Bildungs- und Kultursoziologie: Zurück in Paris, beginnt Bourdieu in Raymond Arons Centre de sociologie européenne zu Themen wie Fotografie, Bildung und Museumsbesuch zu forschen. Zentrale Ereignisse dieser Phase sind die Gründung seiner eigenen Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales 1975 auf der einen und das Erscheinen von La Distinction im Jahre 1979 auf der anderen Seite. Die feinen Unterschiede, so der deutsche Titel, markieren Höhe- und Endpunkt dieser mittleren Phase, denn mehr und mehr rückt Bourdieu vom Konzept des sozialen Raumes ab und widmet sich immer stärker der Feldanalyse. Statt des sozialen Raumes und der sozialen Klassen betrachtet er nunmehr vor allem die Beziehungen zwischen Habitus und Feld. 3. Die dritte und letzte Phase markiert die Konsolidierung und Elaborierung wichtiger Konzepte, allen voran des Feldkonzepts, das er durch die Untersuchung verschiedener Felder verfeinert. Höhepunkt dürfte hier die Studie Les règles de l’art sein, die eine umfassende Analyse des literarischen Feldes darstellt.

Freilich ist auch eine solche Dreiteilung des Werkes ein Stück weit arbiträr, denn sie widerspricht Bourdieus Arbeitsweise: der frühen Formulierung eines Problems und der schrittweisen Ausarbeitung und Ausweitung dieses Problems zu einem späteren Zeitpunkt. So reichen etwa seine Überlegungen zum literarischen Feld weit bis in die 1960er Jahre zurück, so dass Die Regeln der Kunst 21eher als Synthese der vergangenen Arbeiten erscheinen denn als eine originär neue Studie.

Wesentlich einleuchtender scheint vor diesem Hintergrund der Bourdieu’schen Arbeitsweise ein systematischer Zugriff auf sein Werk zu sein, der die Themen, Probleme und Bereiche abdeckt, mit denen sich Bourdieu beschäftigt hat. An erster Stelle ist an seine lebenslange Reflexion von Begriffen, Theorien und Methoden zu denken. Dieses ständige Nachdenken über das eigene soziologische Tun spiegelt Bourdieus Anspruch wider, über Rolle, Status und Folgen seiner kritischen Wissenschaft Rechenschaft abzulegen. An zweiter Stelle ist sein enormes Interesse für die Welt der Bildung zu nennen, die nach seinem Verständnis von symbolischer Gewalt eine zentrale kulturelle Quelle sozialer Ungleichheit darstellt. An dritter Stelle muss man auf seine Analysen zur Sozialstruktur und zur sozialen Ungleichheit hinweisen, deren prominenteste sicherlich Die feinen Unterschiede ist. An vierter Stelle kann man auf seine zahlreichen Feldanalysen verweisen, die vor allem das kulturelle, aber auch das ökonomische und politische Feld sowie dasjenige der Kritik betreffen. An fünfter Stelle steht sein ethnographisches Werk, wie seine Studien zu Algerien, zur Kabylei und zu Frankreich dokumentieren.

Wie sehr sich der systematische Zugriff anbietet, macht auch ein Blick auf die drei Thesen klar, die die nachfolgenden Überlegungen anleiten sollen. In werkgeschichtlicher Hinsicht besticht die bemerkenswerte Kontinuität in den Grundintuitionen und -ideen, die seinen Ansatz lenken. Genau genommen finden sich im Kern die zentralen Momente und Elemente seines Ansatzes allesamt schon in den Frühschriften. Häufig genug kommt es bei sozialwissenschaftlichen Autoren vor, dass sich im Lauf einer langen Forschungstätigkeit notwendig die Perspektive verschiebt oder sich ein regelrechter Bruch im theoretischen Denken ergibt. So sprechen wir etwa vom frühen und späten Marx, dem strukturellen und kulturellen Durkheim, vom soziologischen und philosophischen Simmel. Nicht so bei Bourdieu. In seinem Fall überrascht vielmehr die Kontinuität im theoretischen Kern seines Ansatzes. Ziel seiner Gesellschaftstheorie ist es, die Konstitution und Reproduktion sozialen Lebens zu verstehen und die Mechanismen, die dabei wirksam werden, aufzudecken. Ihn interessieren der praktische Sinn und die praktischen Wertungen, die der gesellschaftlichen Konstruktion 22der Wirklichkeit und den Strategien der individuellen wie der kollektiven Akteure zugrunde liegen. Wie und mit welchem grundbegrifflichen Instrumentarium setzt er an, um den praktischen Sinn aufzuspüren? Bourdieu entwickelt eine Strukturierungsidee, die sich auf die Grundformel »Struktur – Habitus – Praxis« bringen lässt. Abstrakt gefasst und allgemein angelegt, kann man diese Strukturierungsvorstellung als Rahmen für alle möglichen Gesellschaftstypen verwenden. Das Leitmotiv ist Marx’ (1971: 339) Praxisphilosophie, die »menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis«, die er als Ökonomie der Praxis begreift. Diese ursprünglich philosophische Grundidee wird radikal soziologisiert und mit dem Gedankengut von Max Weber angereichert. Im Sinn der elementaren Interessiertheit beziehungsweise Interessengebundenheit alles menschlichen Handelns herrscht die Ökonomie nicht nur in der Wirtschaft, sondern durchzieht alle gesellschaftlichen Lebensbereiche, auch jene, die von interessegeleiteten Strategien und Taktiken ausgenommen zu sein scheinen. Das gilt etwa für die Religion (Bourdieu 2000b), in der es vermeintlich nur um das »Heilige« und den Glauben daran geht. Bourdieu (1987a: 37) beruft sich auf Max Weber, der »die materialistische Denkweise auf Gebiete anwendet, die der Marxismus faktisch dem Idealismus überließ«. Bourdieu macht also mit Webers Entzauberungsidee Ernst und erhebt die Aufdeckung der geheimsten Grundlagen der Sozialwelt zur vornehmsten Aufgabe der Soziologie. Kein Wunder, dass die Soziologie stets ein »enfant terrible« bleibt, wenn sie kritisch sein will: »une science qui dérange«, wie Bourdieu (1980b: 19 ff.) sagt. Eine Wissenschaft, die an- und aufregt, muss zwischen allen Stühlen sitzen und der Gesellschaft in aufklärerischer Absicht den Spiegel vor Augen halten.

Meine werkgeschichtliche These geht also von einer Kontinuität der Grundgedanken aus, was einzelne Verschiebungen (wie von der Klasse zum Feld) und theoretische Weiterentwicklungen nicht ausschließt. Bourdieus Ökonomie der Praxis stellt den praktischen Sinn in den Mittelpunkt, um auf diese Weise allen eingefahrenen Dualismen ein Ende zu machen, welche die »zwei Soziologien« beherrschen: Individuum und Gesellschaft, Handeln und Struktur, Voluntarismus und Determinismus, Handlungs- und Systemtheorie, Phänomenologie und Strukturalismus und so fort.

Der praktische Sinn als archimedischer Punkt alles sozialen Lebens, so die methodologische These, verbindet nicht einfach jene 23Dualismen, er überwindet sie. Was wie die Quadratur des Kreises aussieht, ist eine neue Synthese, die im Modell von Struktur – Habitus – Praxis konkrete Gestalt annimmt.

Bourdieus Augenmerk, so die theoretische These, konzentriert sich auf die Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur und Kultur. In der traditionellen Soziologie (Müller 1994, 1996) häufig auseinandergerissen – hier die Gesellschaft, dort die Kultur; hier die Basis, dort der Überbau –, werden sie bei Bourdieu in ihrem Wechselspiel analysiert. Seine Ökonomie der Praxis wird in einer doppelten, wenn auch innerlich eng verbundenen Stoßrichtung entwickelt. Zum einen studiert er die vertikale Dimension der Gesellschaft und damit das Verhältnis von sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit. Auf die Zusammenhänge von Kultur, Herrschaft und sozialer Ungleichheit gerichtet, entwickelt Bourdieu eine soziokulturelle Klassentheorie, die ausführlich den Beziehungen zwischen Klassenpositionen, Bildungsbeteiligung, Kulturkonsum und Lebensstilen nachgeht. Wie man sich dieses komplexe Beziehungsgeflecht im Einzelnen vorzustellen hat, werden wir an seiner Studie Die feinen Unterschiede sehen. Zum anderen untersucht er die horizontale Dimension der Gesellschaft und damit das Verhältnis von sozialer Differenzierung und der Entwicklung verschiedener, relativ autonomer gesellschaftlicher Felder. Moderne Gesellschaften sind komplex und nicht nur vertikal nach einem »Oben-unten-Schema« differenziert, sondern auch horizontal nach dem Schema »arbeitsteiliger Spezialisierung«. Bourdieu untersucht alle möglichen Felder vom politischen bis zum künstlerischen, vom juristischen bis zum religiösen Feld. Sein Schwerpunkt liegt indes auf dem Verhältnis zwischen Macht- und Kulturfeld, ist folglich also auf die Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Politik einerseits, Wissenschaft, Kunst und Literatur andererseits gerichtet.

25I. Der analytische Baukasten

271. Die Grundformel des Ansatzes:
Struktur, Habitus und Praxis

Das Ziel von Bourdieus Gesellschaftstheorie besteht darin, die Produktion und Reproduktion des sozialen Lebens zu verstehen und die Mechanismen aufzudecken, die dabei wirksam sind. Aber wie macht man das? Wie entwickelt man eine Ökonomie der Praxis, die dem praktischen Sinn der Akteure und der praktischen Vernunft der sozialen Welt Rechnung trägt? Oder allgemeiner: Wie entwirft man eine Theorie der sozialen Welt, die deren eigene Grundlagen und die Mechanismen ihrer Aufrechterhaltung enthüllt? Das sind die Fragen, die Bourdieu von Beginn an interessieren und die ihn sein Leben lang beschäftigen werden.

Er entwickelt zu diesem Zweck eine praxeologische Erkenntnisweise, die der gesellschaftlichen Strukturiertheit ebenso wie der Handlungsproduziertheit der sozialen Welt gerecht zu werden sucht, denn: »Der Fortschritt der Erkenntnis setzt bei den Sozialwissenschaften einen Fortschritt im Erkennen der Bedingungen der Erkenntnis voraus.« (Bourdieu 1987a: 7)

Wie setzt man diesen Fortschritt ins Werk? Bourdieu greift alle epistemologischen und theoretischen Dualismen und Dilemmata aus Philosophie und Sozialwissenschaften auf (Subjektphilosophie versus Philosophie ohne Subjekt, Individualismus versus Holismus, Subjektivismus versus Objektivismus, Handlungs- versus Systemtheorie etc.), um sie dann in einer soziologischen Synthese zu überwinden. Kurz: Er versucht, philosophische Probleme soziologisch zu lösen.[2]

Um seine eigene Position zu finden, setzt sich Bourdieu mit den epistemologischen, methodologischen und theoretischen Positionen seiner Zeit auseinander. »Verstehen heißt«, so Bourdieu (2002: 11) in seinem soziologischen Selbstversuch,[3] »zunächst das 28Feld zu verstehen, mit dem man und gegen das man sich entwickelt«. In den 1950er Jahren, als Bourdieu seine Arbeit aufnimmt, dominieren das epistemologische Feld in Frankreich zwei unversöhnliche Positionen: die Subjektphilosophie von Jean-Paul Sartre (1993) einerseits, die eine existentialistische Handlungstheorie zur Erklärung sozialen Lebens entwickelt und die Gesellschaft aus Bourdieus Sicht in den Spontanakten von Individuen aufgehen lässt, und die Philosophie ohne Subjekt andererseits, wie im Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss (1978) sowie im strukturellen Marxismus von Louis Althusser (1968), Maurice Godelier (1973) und Nicos Poulantzas (1968) auf der anderen Seite. Strukturaler Anthropologie und Marxismus gemeinsam ist die Vorstellung, dass das soziale Leben durch mentale Strukturen beziehungsweise durch die Strukturgesetzlichkeiten kapitalistischer Produktionsweisen bestimmt wird.

Beide Positionen markieren (wie Pole in einem epistemologischen Feld) spiegelbildliche Einseitigkeiten:[4] Der Subjektphilosophie mangelt es vor lauter Voluntarismus an einer adäquaten Vorstellung von gesellschaftlicher Struktur und deren Wirkungsweise; der Philosophie ohne Subjekt geht angesichts der Dominanz mentaler oder gesellschaftlicher Strukturen eine angemessene Vorstellung von sozialem Handeln verloren.

Dennoch zeigen gerade seine frühen Arbeiten zur Kabylei und zu Algerien den starken Einfluss des Strukturalismus; später sollte dieser freilich einer kritischen Distanz Platz machen. Doch sind es drei zentrale Momente der strukturalistischen Methode, die Bourdieu zeitlebens beibehält: erstens das Denken in Relationen; zwei29tens die Suche nach dichotomen Strukturen; drittens die Suche nach strukturellen Homologien zwischen verschiedenen Bereichen. Zunächst einmal erkennt Bourdieu die entscheidende Neuerung an, die mit Lévi-Strauss einsetzt:

[D]aß mit ihm die strukturelle Methode oder einfacher das relationale Denken in die Sozialwissenschaften eingeführt wurde, das mit dem substantialistischen Denken bricht und dazu führt, jedes Element durch die Beziehungen zu anderen zu charakterisieren, die es zu den anderen Elementen innerhalb eines Systems unterhält und aus denen sich sein Sinn und seine Funktion ergeben. (Bourdieu 1987a: 12)

Alles, was der Fall ist, also jedes soziale Phänomen, das die Soziologie untersucht, muss jeweils eingebettet werden in das Feld der Relationen, in dem es steht. Jegliche isolierte Betrachtungsweise führt nicht nur in die Irre, sondern unter Umständen auch zu einer substantialistischen Sichtweise eines Phänomens, der Suche nach einer unveränderlichen Entität namens »Gesellschaft«, »Kapitalismus« oder »Arbeiterklasse«, so als ob diese abstrakten Einheiten tatsächlich handeln könnten.

Zweitens kommt man der Strukturiertheit der sozialen Welt auf die Spur, wenn man nach Dichotomien oder dichotomen Paaren von Strukturen sucht und ihre Beziehungen untersucht. So kann man etwa vom Alter (jung/alt) oder vom Geschlecht (männlich/weiblich) ausgehen und dann nach den Zusammenhängen zwischen diesen Strukturen fragen.

Drittens wird man nach Transformationsgesetzen suchen, welche Strukturen erster Ordnung in Strukturen zweiter bis n-ter Ordnung übersetzen. Falls erfolgreich, erlaubt es dieser Schritt, Homologien zwischen ihnen nachzuweisen und die dabei wirksamen operativen Mechanismen zu benennen und zu erklären, wie eine Struktur in eine andere transformiert wird.

Wie muss man sich das Denken in Relationen, in dichotomen Strukturen und in strukturellen Homologien konkret vorstellen? Zwei Beispiele aus seinen Studien zur Ethnographie der Kabylei und der französischen Gesellschaft sollen die strukturale Denkweise und ihre Logik illustrieren. Die soziale Ordnung archaischer Gesellschaften, wie sie die Kabylen, ein Berberstamm in Algerien, repräsentieren, wird durch Alter, Geschlecht und Verwandtschaft strukturiert. Man kann etwa vom Geschlecht ausgehen und an30hand des Gegensatzes zwischen Mann und Frau die gesamte Gesellschafts- und Raumordnung in ihrer Struktur rekonstruieren. Wenn man so verfährt, ergibt sich folgendes Bild:

Der bewohnte Raum – in erster Linie das Haus – ist der bevorzugte Ort der Objektivierung der Erzeugungsschemata, und durch die Einteilungen und die Hierarchien, die es unter den Dingen, Personen und Praktiken herstellt, trichtert dieses dinggewordene Rangordnungssystem die Prinzipien der für das kulturell Willkürliche konstitutiven Klassifizierung ein und verstärkt sie unablässig. So materialisiert sich der Gegensatz zwischen dem rechten Geheiligten und dem linken Geheiligten, zwischen nif und h’aram, zwischen dem mit Schutz- und Befruchtungseigenschaften ausgestatteten Mann und der zugleich geheiligten und mit unheilbringenden Eigenschaften ausgestatteten Frau in der räumlichen Trennung zwischen dem männlichen Raum mit dem Versammlungsort, dem Markt oder den Feldern und dem weiblichen Raum von Haus und Garten als Refugium des h’aram; und in zweiter Linie in dem Gegensatz, der im Hausinnern selbst die Raumbereiche, Gegenstände und Tätigkeiten nach ihrer Zugehörigkeit zur männlichen Welt des Trockenen, des Feuers, des Oberen, des Gekochten oder des Tags, oder zur weiblichen Welt des Feuchten, des Wassers, des Unteren, des Rohen oder der Nacht voneinander scheidet. (Bourdieu 1987a: 141 f.)

Die geschlechtsspezifische Differenzierung von Mann und Frau und die Klassifikation »männlich/weiblich« kann als Basisdichotomie genutzt werden, um durch weitere Relationierung von Räumen, Dingen und Eigenschaften die Ordnung der sozialen Welt der Kabylei zu rekonstruieren. Archaische Gesellschaften wie die der Kabylei sind nach den Kriterien von Alter, Geschlecht und Verwandtschaft als den Differenzierungs- und Teilungsprinzipien dieser Gesellschaftsform gegliedert. Genau deshalb bieten sich diese basalen Differenzierungsprinzipien an, um von dort aus die Struktur der Gesellschaft abzuleiten. Seien es die Räume wie Markt und Felder für den Mann, Haus und Garten für die Frau, seien es die Dinge und Eigenschaften für die männliche und die weibliche Welt: das Trockene/das Feuchte, das Feuer/das Wasser, das Obere/das Untere, das Gekochte/das Rohe, der Tag/die Nacht.

Kurz und als allgemeines methodisches Prinzip formuliert: Die strukturale Methode erlaubt es, ausgehend von einem Gegensatzpaar (hier: männlich – weiblich) »alle möglichen praktischen Äquivalenzen zwischen den verschiedenen Teilungen der Sozialwelt« zu 31rekonstruieren, »also der Teilung nach Geschlechtern, Altersklassen oder gesellschaftlichen Klassen« (Bourdieu 1987a: 134).

Gleiches gilt nicht nur für archaische Gesellschaften, sondern auch für moderne Klassengesellschaften wie Frankreich. Nehmen wir als Beispiel das Groß- und Kleinbürgertum. Wenn man etwa das System objektiver Marktchancen von groß- und kleinbürgerlichen Gruppierungen ermittelt hat, kann man sich fragen, ob es zu den Markterfolgschancen Analogien in anderen Bereichen gibt, die ähnliche Homologien aufweisen, wie etwa moralische Dispositionen (tolerant/rigide), Geschmackspräferenzen (Luxusgeschmack/Bildungsbeflissenheit), Rolle der Bildung (Erwerb im Elternhaus/in der Schule) oder Umgang mit Kultur (spielerisch/bemüht). Das werden wir anhand seiner Studie über Die feinen Unterschiede im Einzelnen noch sehen.

Fassen wir zusammen: Denken in Relationen, dichotome Strukturen und strukturelle Homologien – alle diese zentralen Elemente der strukturalen Methode verbinden Bourdieu unzweideutig mit dem Strukturalismus. Die heuristische Fruchtbarkeit dieser Methode hat er in vielen Studien unter Beweis gestellt, und an ihren Vorzügen hält er zeit seines Lebens fest. Die Gemeinsamkeiten zwischen Strukturalismus und Praxeologie bringen Bourdieu zunächst in die Nähe des strukturalistischen Lagers. Trotz der Übernahme der strukturalen Methode vergisst er darüber jedoch nicht die drei konstitutiven Schwächen des Strukturalismus. Sie bestehen in einer mechanistischen Handlungstheorie, einem kruden Objektivismus und einem naiven Strukturrealismus.

Eine mechanistische Handlungstheorie modelliert das Verhältnis von Kultur und Verhalten nach dem Modell von Struktur und Ausübung. Erschöpft sich indes soziale Praxis in mechanistischer Ausübung, weil man einfach einem Regelcode folgt wie in Lévi-Strauss’ Perspektive, dann verschwindet die soziale Praxis hinter der Analyse von Strukturen. Hier ist die Regel, daraus folgt automatisch das Handeln; wenn nicht, dann liegt abweichendes Verhalten vor, das eigens untersucht werden muss. Diese mechanistische Vorstellung der sozialen Welt unterschlägt all das, was die soziale Praxis ausmacht und die Soziologie als Praxeologie interessiert: die soziale Situation und der Kontext, in dem regelkonformes oder abweichendes Verhalten erfolgt; Kampf und Konflikt um Ressourcen, aber auch die Auslegung von Regeln; Macht und Herrschaft der 32Akteure, sich in einer sozialen Situation und einem sozialen Kontext zu bewähren oder zu scheitern.

Letztlich beruht eine mechanistische Handlungstheorie auf einer objektivistischen Perspektive, denn