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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-713-4
Die Familie saß an dem großen, langen Tisch im Eßzimmer. Dort, wo früher Christoph Eggebrechts Platz gewesen war, saß heute sein ältester Sohn Leopold. In diesem Augenblick allerdings saß er nicht, sondern stand. Er stand mit erregt vorgebeugtem Oberkörper und hämmerte mit der Faust auf die polierte Tischplatte.
»Dieses Testament ist eine Schande«, schrie er, »wir können uns so etwas auf keinen Fall gefallen lassen! Auf keinen Fall! Ich weiß nicht, was Vater sich eigentlich dabei gedacht hat, aber wir müssen etwas dagegen unternehmen.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Leopold Eggebrecht sah die Familienmitglieder der Reihe nach an, als wolle er ihnen noch einmal einhämmern, daß man unbedingt etwas unternehmen müsse.
Es war seine Schwester Natalie, die jüngste der vier Eggebrecht-Töchter, die das Schweigen brach. »Und was willst du unternehmen?« fragte sie mit ihrer tiefen, etwas rauhen Stimme. »Ich meine, hast du einen bestimmten Plan?«
Leopold Eggebrecht schwieg.
»Na also«, sagte seine Schwester ruhig, »das habe ich mir doch gedacht. Ihre Stimme klang scharf, als sie fortfuhr: »Du solltest alt genug sein, Leopold, um nicht immer so töricht zu schwätzen.«
Leopold brauste auf. »Ich werde etwas unternehmen, darauf kannst du dich verlassen. Das bin ich der Familie und unserem Namen schuldig.«
»Quatsch«, entgegnete Natalie scharf. »Es würde dir nichts schaden, wenn du bei anderen Gelegenheiten öfter daran denken würdest, was du unserem Namen schuldig bist.«
Leopold Eggebrecht bekam einen roten Kopf. Die anderen Familienmitglieder sahen betreten vor sich hin. Außer Natalie und Leopold saßen noch fünf Personen an dem großen Tisch: ihre Schwestern Gertrud und Rudolfine mit ihren Männern und Susanne Diettmer, die Urenkelin des alten Christoph Eggebrecht.
Eigentlich hätte Susannes Großmutter, die Älteste der Schwestern Eggebrecht, hier sitzen müssen. Aber sie war schon seit fünfzehn Jahren tot. Und ihre einzige Tochter, Susannes Mutter, war kurz darauf bei einem Autounfall, gemeinsam mit ihrem Mann, ums Leben gekommen. So hatte die achtjährige Susanne auf einmal allein in der Welt gestanden, ohne Vater und Mutter. Damals hatte Natalie Eggebrecht das Kind zu sich genommen und großgezogen. Zwischen Mutter und Tochter hätte es kein innigeres Verhältnis geben können, als es zwischen Natalie Eggebrecht und ihrer Großnichte bestand. Die unverheiratete Natalie schenkte alle Liebe, deren ihr Herz fähig war, Susanne. Und Susanne wußte es ihr zu danken. Die letzten Jahre über war sie allerdings nur selten zu Hause in der alten Eggebrecht Villa gewesen. Sie hatte Volkswirtschaft studiert und vor ein paar Monaten ihr Studium abgeschlossen.
Natalie Eggebrechts Augen ruhten zärtlich auf dem schönen Gesicht des jungen Menschenkindes, das neben ihr saß. Susanne war zum Glücklichsein wie geschaffen, dachte sie, und sie hatte auch schon einen Plan, wie dieses Glück aussehen sollte. Aber davon gedachte Natalie niemandem etwas zu sagen.
Sie schreckte auf, als Ludwig Walber, Gertruds Mann, sich erhob. Er streckte sein spitzes Kinn in die Luft und begann mit seiner hüstelnden Stimme: »Mhm…«, räusperte er sich und wandte sich dann an Natalie. »Du mußt verzeihen, meine liebe Natalie, wenn ich anderer Meinung bin – mhm…«, er hüstelte schon wieder. »Ich bin der gleichen Ansicht wie Leopold, es ist tatsächlich unsere Pflicht, gegen Papas Testament etwas zu unternehmen. Ich sage das als Mann und Vertreter eurer Schwester Gertrud. Wir könnten…«, wieder räusperte er sich, »wir könnten dieses Testament – mhm – anfechten!« Damit setzte er sich.
Einen Augenblick lang herrschte Stille im Raum. Etwas Ungeheuerliches war ausgesprochen worden. Den letzten Willen von Christoph Eggebrecht anfechten! Christoph Eggebrechts Kinder duckten sich in scheuer Furcht. Während ihres ganzen Lebens hatten sie es nie gewagt, sich gegen den Willen des Vaters aufzulehnen, weder Leopold noch Gertrud noch Rudolfine. Natalie allerdings, hatte oft ihre eigene Meinung gehabt und sie auch zu sagen gewagt. Und merkwürdigerweise pflegte ihr Vater sogar darauf zu hören.
Aber sie war ja auch Vaters Liebling gewesen – so behaupteten die anderen wenigstens. Und das bewies ja auch das Testament.
Sie ahnten nichts von den Gesprächen, die Vater und Tochter manchmal geführt hatten. »Wenn du ein Junge wärst, Natalie«, hatte Christoph Eggebrecht zuweilen gesagt, »dann sähe vieles hier anders aus.«
»Aber Papa…« Natalie war darauf bedacht, den Bruder zu verteidigen, »Leopold ist doch weiß Gott ein gehorsamer Sohn.«
»Ach, Unsinn…«, der alte Herr wurde scharf, »ein Trottel ist er! Mir wäre viel lieber, wenn er ein bißchen weniger gehorsam wäre und etwas mehr eigenes Urteil zeigte. Aber er ist ein weichlicher, engstirniger Schwächling!« Um den Mund des alten Herrn lag ein bitterer Zug. »Und meine Herren Schwiegersöhne«, fuhr er mit Bitterkeit fort, »die sind auch nicht besser.«
Darin mußte Natalie ihm recht geben. Ludwig Walber, Gertruds Mann, hätte ein Bruder Leopolds sein können, was seinen Leichtsinn anging. Er hatte Gertruds Mitgift mit einer Schnelligkeit durchgebracht, die die ganze Familie in Erstaunen versetzt hatte. Und seither lebten sie von der Wohltätigkeit des alten Eggebrecht, denn für eine ehrliche Arbeit war Ludwig Walber sich viel zu schade. Und Christoph Eggebrecht war immer großzügig gewesen und hatte reichlich gegeben.
Dann war da noch Rudolfines Mann, Hubertus von Müller, der neben ihr ganz unten am Tisch saß. Er war klein und grauhaarig, und hin und wieder warf er einen ängstlichen Blick auf seine Frau. Natalie mußte immer ein Lachen unterdrücken, wenn sie die beiden längere Zeit beobachtete. Rudolfine hatte Hubertus von Müller nur geheiratet, weil das »von« ihr in die Augen stach.
Natalie erinnerte sich, wie ihr Vater damals gelacht hatte. »Rudolfine ist närrisch«, hatte er gesagt. Aber in seinem Lachen war auch Bitterkeit gewesen. Der alte Eggebrecht hatte sich so sehr einen tüchtigen Schwiegersohn gewünscht. »Ein einfacher Müller mit etwas mehr Grips wäre mir viel lieber«, hatte er sarkastisch gesagt.
Aber Rudolfine hatte auf ihrem Willen bestanden. Sie hatte ihren Hubertus geheiratet und einen vollendeten Pantoffelhelden aus ihm gemacht.
Der einzige, der nach Christoph Eggebrechts Geschmack gewesen war, war der Mann seiner ältesten Tochter Theresa gewesen. »Paß auf«, hatte er damals zu Natalie gesagt, »der wird noch einmal mein Nachfolger. Er muß noch eine Menge lernen, aber er hat das Zeug dazu.«
Aber der alte Eggebrecht hatte Pech. Theresas Mann fiel im Weltkrieg und ließ Frau und Kind allein zurück. Theresa war damals in das Elternhaus zurückgekommen, mit ihrer Tochter Annemarie, Susannes Mutter.
»Ich habe Pech mit meiner Familie«, hatte der alte Eggebrecht damals gesagt, »die was taugen, sterben mir weg. Oder sie heiraten nicht – wie du! Warum hast du mir das eigentlich angetan?« Er hatte Natalie unter buschigen Augenbrauen her angeblickt.
»Ach Vater…« Natalie hatte schmerzlich gelächelt, »du weißt doch, warum ich nicht geheiratet habe!«
Da hatte er nichts mehr gesagt.
Natalie Eggebrecht hatte einmal einen Mann sehr geliebt. Aber sie hatte sich bescheiden müssen. Denn dieser Mann hatte ihre Schwester Theresa geheiratet. Daß auch sie ihn liebte, sie, die häßliche Natalie, das hatte er niemals erfahren. Niemand außer dem Vater hatte davon gewußt. Und danach hatte Natalie sich entschlossen, nicht zu heiraten.
Natalie Eggebrecht schrak aus ihren Träumereien auf. Die helle, scheppernde Stimme Ludwig Walbers drang wieder an ihr Ohr. »Meine lieben Geschwister«, sagte er und Natalie wehrte sich innerlich dagegen, zu seinen »Geschwistern« zu gehören, »ich wiederhole noch einmal, das Testament muß angefochten werden.«
Wieder herrschte Stille. Der Gedanke war allen ungeheuerlich. Aber dann raffte Leopold sich auf. »Glänzend, mein lieber Schwager«, sagte er, »glänzend! Wir werden das Testament anfechten.« Er blickte Natalie herausfordernd an. »Vater war immerhin fünfundachtzig, als er starb. Ich kann mir nicht denken, daß er wirklich noch bei Verstand war, als er diese Verfügung traf.« Er erregte sich wieder: »Uns diesen jungen Bengel vor die Nase zu setzen! Er kann nicht zurechnungsfähig gewesen sein, als er das tat!« Er schwieg und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.
Natalie seufzte ein wenig. Wenn diese Familiensitzung doch nur schon zu Ende gewesen wäre! Sie hätte gern ein wenig Ruhe gehabt. Diese nutzlosen Gespräche ermüdeten sie. Und außerdem haßte sie den Gedanken, daß sie zehn Tage nach dem Tode ihres Vaters mit anhören mußte, wie seine Kinder ihn zu einem Schwachsinnigen stempeln wollten, nur weil ihnen sein Testament nicht paßte.
Allerdings – dieses Testament war seltsam genug. Und sie konnte den Zorn der anderen verstehen, wenn sie auch wußte, warum der Vater so gehandelt hatte. Er hatte vor allem sein Werk schützen wollen, vor seinen Schwiegersöhnen und auch vor seinem eigenen Sohn. »Die Fabrik darf nicht vor die Hunde gehen«, hatte er zu Natalie gesagt, als er einmal mit ihr über sein Testament gesprochen hatte. Das war seine größte Sorge gewesen, und aus dieser Sorge war das seltsame Testament entstanden, über das seine Kinder sich nun so aufregten.
Heute morgen hatten sie seinen Inhalt erfahren, auch Natalie, die ihn allerdings längst gekannt hatte, denn sie war die Vertraute ihres Vaters gewesen. Danach vermachte Christoph Eggebrecht sein Vermögen, wie erwartet, seinen Kindern. Dieses Vermögen wurde jedoch nicht in fünf, sondern in sechs Teile geteilt. Zwei davon fielen an Natalie. Niemand wußte, warum sie doppelt so viel wie die anderen bekommen hatte. Aber mißgünstig waren sie alle.
Einen Teil bekam Susanne als Enkelin der verstorbenen Theresa, und die anderen Teile gingen an die Geschwister. Über diese Verteilung war schon ein wenig gemurrt worden, aber am schlimmsten wurde es, als die anderen Bedingungen bekannt wurden.
Die Eggebrecht-Werke – so bestimmte Christoph Eggebrecht – sollten in eine GmbH umgewandelt werden. Zwei Geschäftsführer sollten die Betriebe haben. Und das war der Grund für die Aufregung Leopold Eggebrechts! Denn nicht er sollte Geschäftsführer werden, wie er ganz sicher geglaubt hatte, sondern ein der Familie völlig Fremder. Den zweiten Geschäftsführer allerdings konnte die Familie bestimmen. Doch auch hier hatte Christoph Eggebrecht eingeschränkt. Dieser Geschäftsführer konnte nicht ohne Natalies ausdrückliche Einwilligung gewählt werden. Und das sollte heute geschehen.
Natalie Eggebrecht setzte sich plötzlich aufrecht hin. »Ich möchte etwas zu eurem Plan sagen«, begann sie.
Erwartungsvolle Stille trat ein. Natalie, die sonst nur als die »alte Jungfer« gegolten hatte, war durch das Testament eine wichtige Person geworden! Was sie sagte, zählte!
Natalie Eggebrecht begann: »Es schmerzt mich tief«, sagte sie, »daß ihr das Andenken unseres Vaters durch eine solche Handlung verunglimpfen wollt. Ihr wißt alle, daß Vater bis zu seinem letzten Tage geistig gesund und rege gewesen ist und daß er immer gewußt hat, was er tat. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Lügner. Aber euer Plan beunruhigt mich nicht. Wir haben genug Zeugen, um nachzuweisen, daß Vater völlig klar war. Ihr werdet mit einer Anfechtung niemals durchkommen.«
Betroffenes Murmeln entstand. Daran hatten sie nicht gedacht.
Natalie ließ sich nicht stören. »Ich bin jetzt erst einmal dafür«, fuhr sie fort, »daß wir uns an die Wahl eines Geschäftsführers machen.«
Sie blickte die anderen der Reihe nach an. Das Stimmengewirr verstärkte sich. Nur Leopold schwieg. Er saß ganz ruhig an seinem Platz, aber in seinen Augen las man die erwartungsvolle Spannung, die ihn beherrschte.
Dann erhob sich Ludwig Walber. »Mhm…«, begann er, »mhm – ich bin dafür, daß wir – mhm – Leopold dazu bestimmen. Er ist der einzige Träger des Namens Eggebrecht und wohl – mhm – am besten dazu geeignet.« Erwartungsvoll sah er sich im Kreis um, Leopold Eggebrecht bekam bei diesem Lob, das nicht unerwartet kam – denn er hatte das alles mit seinem Schwager vorher ganz genau festgelegt – einen roten Kopf.
Gertrud Walber nickte ihrem Mann zu, Hubertus von Müller blickte auf seine Frau, und als die ebenfalls zustimmend den Kopf senkte, nickte auch er.
Die junge Susanne sagte nichts. Sie sah Natalie an, von Tante Natalie hing schließlich die Entscheidung ab.
Auch die anderen wandten sich Natalie Eggebrecht zu, die sich noch immer nicht geäußert hatte.
Natalie blickte ihren Bruder eine Weile an. »Mein lieber Leopold«, sagte sie dann, »es tut mir sehr leid für dich, aber – ich kann dieser Wahl nicht zustimmen.«
Am Tisch herrschte tiefes Schweigen.
Leopold Eggebrechts Kopf hatte sich so sehr gerötet, daß es fast so aussah, als müsse er jeden Augenblick einen Schlaganfall bekommen. Er atmete mühsam. Zu sagen vermochte er nichts.
Da sprang sein Schwager ein. »Und warum nicht, meine liebe Natalie?« fragte Ludwig Weiher mit öliger Freundlichkeit.
»Weil unser Vater niemals damit einverstanden gewesen wäre«, gab Natalie ruhig zurück. »Das wißt ihr alle. Es tut mir leid, daß ich so deutlich sein muß, mein lieber Leopold, aber es geht nun einmal nicht anders. Vater würde deiner Wahl niemals zugestimmt haben. Deshalb kann ich es auch nicht. Wenn es dich tröstet …«, fügte sie hinzu, »ich halte auch niemanden anders von unseren männlichen Angehörigen für fähig, ganz zu schweigen von deinem hoffnungsvollen Sprößling.«
Da sprang Leopold Eggebrecht auf. »Ich verbitte mir das«, schrie er. »Aber ich weiß ja, daß du mich immer gehaßt hast. So sehr, daß du diesen Haß sogar auf meinen Sohn überträgst.«
»Unsinn«, sagte Natalie. »Ich hasse weder dich noch deinen Sohn Jürgen. Ich weiß nur, genau wie Papa das gewußt hat, daß du zur Leitung des Werkes nicht geeignet bist. Es tut mir leid, aber ich muß dir das in aller Offenheit sagen. Und ich weiß auch, daß dein Sohn hoffnungslos verzogen worden ist. Und wenn ihr tausendmal den Namen Eggebrecht tragt, das allein zählt nicht, Die Werke verlangen Tüchtigkeit. Und es kommt mir keiner in die Fabrik, der nicht tüchtig ist. Nicht, solange ich lebe!«
Sie schwieg.
Wieder erhob sich erregter Tumult.
Natalie störte sich nicht daran. Sie lächelte Susanne an, die ein ganz verstörtes Gesicht machte.
Dann erhob Ludwig Walber sich wieder. Er hüstelte. »Und wen, meine liebe Schwägerin, schlägst du für diesen Posten vor, wenn wir das fragen dürfen?«
»Du darfst fragen«, sagte Natalie mit ihrer rauhen Stimme. »Ich werde dir sogar antworten: Für diesen Posten schlage ich unsere Nichte Susanne vor.« Das schlug ein wie eine Bombe!
»Unmöglich!«
»Verrückt geworden.«
»Nicht ganz gescheit!« So ging es hin und her.
»Tante Natalie!« flüsterte Susanna verwirrt.
Natalie drückte ihr beruhigend die Hand. Sie wartete, bis es ruhiger wurde. Dann wandte sie sich an ihre Großnichte. »Mein liebes Kind…«, begann Natalie Eggebrecht. »Ich weiß, mein Vorschlag kommt nicht nur für unsere Verwandte, sondern auch für dich selbst überraschend. Aber ich bin durchaus in der Lage, diesen Vorschlag zu begründen und zu verteidigen. Der Haupteinwand wird wohl sein, du seist noch zu jung. Dagegen sage ich …«, Natalie Eggebrecht sah sich in dem stillgewordenen Kreis um, »daß junge Esel mir auf jeden Fall lieber sind als alte. Aber du bist keineswegs ein Esel! Jeder von uns weiß, daß du deine Examina glänzend bestanden hast. Natürlich fehlt dir die Praxis. Aber wo könntest du sie besser erwerben als in den Eggebrechtwerken? Das ist ja nur eine Frage der Zeit. Und außerdem gibt es im Werk noch ein paar tüchtige Leute aus Großvaters Zeiten, die dir über die Anfangsschwierigkeiten sicher gern hinweghelfen werden. Ganz zu schweigen von unserem neuen Geschäftsführer, Herrn Amsinck.«
Natalie wurde von empörtem Gemurmel unterbrochen. Sie wartete. Sofort wurde es wieder ruhig. »Wie dem auch sei«, fuhr sie fort und wandte ihre Augen von dem jungen Mädchen ab, das ganz benommen und verlegen dasaß. »Ich werde zu keiner anderen Wahl meine Zustimmung geben!« Sie setzte sich hin.
Die anderen schwiegen.
Dann sagte Rudolfine von Müller. »Also gut! Dann wählen wir eben überhaupt keinen Geschäftsführer!« Sie blickte ihre Schwester über ihr Lorgnon hinweg feindlich an.
»Tu mir einen Gefallen und steck das Ding weg«, sagte Natalie ungerührt. »Ich weiß, daß deine Augen gut genug sind, um mich auch so ganz genau zu sehen.«
Rudolfine schoß ihr einen giftigen Blick zu.
Aber Natalie ließ sich nicht davon beeindrucken. »Ihr könnt machen, was ihr wollt«, sagte sie dann zu den anderen. »Wenn ihr keinen Geschäftsführer wollt – auch gut! Ich möchte euch in diesem Fall nur darauf aufmerksam machen, daß die Familie Eggebrecht dann überhaupt nicht in der Leitung der Werke vertreten ist und der von euch so geschätzte Herr Amsinck allein regieren kann. Wenn euch das also angenehmer ist«, sie zuckte mit den Achseln.
Dieses Argument leuchtete allen sofort ein. Sie beugten sich über den Tisch und tuschelten miteinander. Dieser Amsinck sollte allein die Geschäfte führen? Unmöglich! Dann nahm man schon lieber die junge Susanne in Kauf. So ärgerlich es auch war, daß man der starrköpfigen Natalie nachgeben mußte.
So bekam Natalie Eggebrecht nach langem Hin und Her ihren Willen und die junge Susanne wurde Geschäftsführerin der Eggebrecht-Werke.
*
Zuletzt blieben nur noch Natalie und Susanne in der Eggebrechtschen Villa zurück. Natalie stellte ihren Stuhl an den Tisch. »Komm, Kind«, sagte sie zu Susanne, »laß uns in den Salon gehen. Da ist es gemütlicher. Grete hat, glaube ich, auch schon den Tee bereitgestellt.«
Sie gingen in den altmodischen Salon hinüber, der seit Jahren schon Natalies Wohnzimmer war. Als sie Platz genommen hatten und Natalie die Tassen vollschenkte, sagte Susanne: »Das hättest du nicht tun sollen, Tante Natalie.«
Natalie brummte unwillig etwas vor sich hin, dann antwortete sie: »Laß gut sein, Susanne. Mein Vater hat schon gewußt, was er tat, als er sein Testament machte. Und ich weiß es auch.« Sie tätschelte die Hand des jungen Mädchens. »Du wirst schon alles richtig machen. Du bist eine Eggebrecht, wie mein Vater sie sich vorgestellt hat. Ich bin sicher, daß er mit mir einverstanden wäre. Und du wirst schon alles gut machen.«
Susanne hob ihre Tasse und nahm einen Schluck, dann sagte sie: »Ich weiß nicht genau, Tantchen, ich fürchte mich fast. Am liebsten hätte ich abgelehnt.«
Natalie sah auf. »Warum?«
Susanne zögerte. »Erstens«, begann sie dann, »habe ich gar keine Praxis und Erfahrung. Und die Eggebrechtwerke erfordern eine ganze Menge Arbeit. Und zweitens – ich habe keine Lust, mit diesem Herrn Amsinck zusammenzuarbeiten.«
»Und warum nicht?« fragte Natalie Eggebrecht.
Susanne nahm eines der lecker zurechtgemachten Brötchen. »Ich halte nichts von ihm«, sagte sie.
»Aber Susanne!« Natalie Eggebrecht war ganz entrüstet. »Er ist sehr tüchtig.«
Susanne zuckte die Achseln. »Mag sein. Aber ich glaube, daß Onkel Leopold in diesem Fall recht hat. Dieser Amsinck hat sich Urgroßvaters Wohlwollen erschlichen. Und das ist ihm ja auch gelungen.«
»Ach was…« Natalie war ärgerlich, »du hast dir einen Floh ins Ohr setzen lassen. Du kennst ihn doch gar nicht.«
»Ich habe ihn einmal ganz kurz gesehen.«
»Und da machte er dir den Eindruck eines Erbschleichers?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich weiß nicht einmal mehr, wie er aussieht. Aber Onkel Leopold erzählte, daß dieser Amsinck ganz arm gewesen sei, als er in die Fabrik eintrat. Da hat er gedacht, daß das seine große Chance sei. Und hat Urgroßvater entsprechend beeinflußt. Deshalb mag ich ihn gar nicht.«
Natalie blickte Susanne nachdenklich an. Dann lächelte sie ein wenig. »Ich finde«, sagte sie und betonte das »ich«, »daß er ein reizender, junger Mann ist. Aber vielleicht hat er sich auch mein Wohlwollen auf geheimnisvolle Weise erschlichen.«
In ihrer Stimme war ein wenig Spott. »Wie dem auch sei – wenn du so denkst, ist es ja doppelt wichtig, daß jemand von der Familie in der Fabrik ist. Damit er uns nicht übers Ohr haut. Also…?«
Da nickte Susanne Diettmer ergeben. Gegen Tante Natalies Willen kam man nicht an.
*
Der Mann, von dem an diesem Nachmittag so viel die Rede gewesen war, ahnte nichts von dem, was Gutes und Schlechtes über ihn gesagt worden war. Aber auch wenn er es geahnt hätte, so würde es ihn wenig gestört haben.
Denn Stephan Amsinck gehörte nicht zu den Menschen, die auf das Gerede anderer Leute etwas geben. Außerdem steckte er bis über den Kopf in Arbeit und hatte gar keine Zeit, sich um gute oder üble Nachreden zu kümmern.
Stephan Amsinck war dreiunddreißig Jahre alt und seit fast zehn Jahren in den Eggebrechtwerken tätig.
Leopold Eggebrecht hatte recht, Stephan war arm gewesen, ganz arm, als er gleich nach seinem Studium die Stellung in den Werken bekam. Er hatte ganz unten angefangen, aber er hatte die Möglichkeit gehabt, sich hochzuarbeiten. Und das hatte er getan. Als er seine Tüchtigkeit bewiesen hatte, da war ihm der alte Eggebrecht ein väterlicher Freund geworden, der ihm mit Rat und Tat zur Seite stand und ihm alle Wege ebnete. Bis zum Prokuristen war er aufgestiegen.
Und mehr und mehr hatte Christoph Eggebrecht in den letzten Jahren die Geschäfte in Stephans Hände gelegt.
Stephan Amsinck saß tief in Gedanken an seinem Schreibtisch.
Nun hatte er die Arbeit doch unterbrochen.
Aber das passierte ihm manchmal in diesen Tagen, seit der alte Mann nicht mehr da war und der große Schreibtisch gegenüber dem seinen immer leer stand.
Dort hatte der alte Eggebrecht gesessen, zwei Tage vor seinem Tod noch!
Ein Gefühl der Einsamkeit überkam den Jüngeren. Er rückte an der schwarzen Krawatte, die er trug als Zeichen der Trauer um den Toten. Ja, er trauerte! Stephan schien es, als habe er einen unersetzlichen Verlust erlitten.
Christoph Eggebrecht war der einzige Mensch gewesen, der sich um Stephan Amsinck gekümmert hatte.
Stephan hatte die Kinderzeit in einem Heim verbracht. In einem sehr guten und teuren Heim! Aber Liebe hatte man ihm dort nicht viel geboten. Und er hatte oft nachts geweint, weil er nicht begreifen konnte, daß er keinen Vater und keine Mutter hatte.
Man hatte es ihm zwar erklärt. Tot seien seine Eltern, hatte man ihm gesagt. Aber begriffen hatte er es trotzdem nicht.
Später, als er ungefähr fünf Jahre alt war, war er adoptiert worden, von einem Eisenbahnbeamten und seiner Frau. Es war ein Ehepaar in mittleren Jahren. Stephan hatte die beiden Menschen sehr gern gehabt, und sie waren sehr stolz auf ihn gewesen, als er seine ersten Erfolge in der Schule hatte. Später hatten sie ihn auf die Universität geschickt. Stephan hatte sich manchmal darüber gewundert, daß sie soviel für ihn taten. Die beiden lächelten nur, wenn er danach fragte, aber sie sagten nichts.
Kurz nachdem er seine Stellung in den Eggebrecht-Werken bekommen hatte, war dann die Mutter gestorben. Der Vater lebte noch. Er wohnte in seinem kleinen, efeuumrankten Häuschen und ging seinen Liebhabereien nach. Stephan unterstützte ihn, und manchmal besuchte er ihn auch.
Stephans Gedanken wurden durch ein leises Klopfen unterbrochen. Er sah auf. »Ja?« sagte er leise.
Seine Sekretärin trat ein. »Dr. Mußner möchte Sie sprechen.«
Stephan zog die Stirn zusammen. Dr. Mußner?
Das war Christoph Eggebrechts Anwalt! Was mochte er wollen? Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Er wußte, wie sehr Leopold Eggebrecht ihn haßte. Jetzt würde seines Bleibens hier wohl nicht mehr lange sein.
Stephan erhob sich. »Soll hereinkommen«, sagte er.
Dr. Mußner war ein kleiner, dicklicher Herr von etwa sechzig Jahren. Seit Jahrzehnten war er der Anwalt der Eggebrechts und in vielen Dingen Christoph Eggebrechts vertrauter Freund und Ratgeber gewesen.
Mit kleinen, eiligen Schritten kam er auf Stephan zu. »Haben Sie Zeit?« fragte er in seiner hastigen Art. »Ich habe nämlich einige wichtige Dinge mit Ihnen zu besprechen.«
Stephan nickte belustigt. Er kannte die eilige Art des Anwalts. Dann bot er ihm einen Platz an und klingelte seiner Sekretärin. Er wies sie an, ihn während der nächsten Stunde nicht zu stören.
Dann rückte er sich einen Stuhl zurecht und blickte Dr. Mußner erwartungsvoll an. Jetzt kam wahrscheinlich die Kündigung, ausgesprochen durch die Erben Christoph Eggebrechts und übermittelt durch Dr. Mußner. Stephan hatte keine Angst davor. Er wußte, daß er jederzeit wieder Arbeit finden würde.
Der Rechtsanwalt kramte umständlich in seiner Aktentasche und holte ein paar Schriftstücke hervor.
Stephan wunderte sich. Das sah nicht nach Kündigung aus.
»Zuerst«, begann der Anwalt, »möchte ich Ihnen Kenntnis von Christoph Eggebrechts Testament geben, soweit Sie darin erwähnt sind.«
Stephan horchte auf. Und dann erfuhr er, daß der alte Eggebrecht ihn auf Lebenszeit zum Geschäftsführer der Werke bestimmt hatte, wenn Stephan nicht freiwillig auf diesen Posten verzichtete.
»Mein Gott«, sagte Stephan erschrocken. Der Rechtsanwalt nickte.
Er wußte, was Stephan meinte, war er doch auf die gleiche Weise erschrocken gewesen, als der alte Eggebrecht ihm den Entwurf zu seinem Testament gegeben hatte. »Und Ihr Sohn?« hatte Dr. Mußner damals gefragt.
»Mein Sohn?« In der Stimme des Alten hatten Schmerz und Verachtung zugleich gelegen. »Ich habe ein Leben lang gearbeitet, Doktor«, hatte er dann mit müder Stimme gesagt, »um die Werke zu dem zu machen, was sie heute sind. Ich bin stolz darauf. Wenn sie Leopold in die Hände fallen, sind sie in ein paar Jahren heruntergewirtschaftet. Lassen Sie nur…« er winkte ab, als Dr. Mußner etwas Verbindliches sagen wollte. »Ich habe recht. Ich kenne meinen Sohn. Ich mache mir keine Illusionen über ihn, und ich weiß, daß er ein Schwächling und ein Trinker ist.«
Das Gesicht des alten Mannes hatte verfallen und krank ausgesehen bei diesen Worten. »Vielleicht habe ich ihn falsch erzogen«, hatte er gesagt, »ich weiß es nicht. Aber die Werke bekommt er nicht in die Hände. Dafür muß ich sorgen.«
»Es wird ihn furchtbar kränken«, hatte der Rechtsanwalt eingewandt.
»Möglich«, der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Mich hat auch manches gekränkt, was Lepold im Laufe der Jahre angestellt hat. Glauben Sie mir das! Es gibt da so einiges, was ich ihm nie verzeihen werde. Aber das wissen Sie ja selbst. Sie wissen, er kann ein Schurke sein, wenn man ihm die Möglichkeit dazu gibt.« Der alte Mann hatte mit eingesunkenen Schultern dagesessen, als sei die Last zu schwer für ihn.
Dr. Mußner hatte genickt. Er wußte Bescheid. Da war mehr als eine peinliche Geschichte gewesen, die Leopold Eggebrecht sich eingebrockt hatte und die er dann seinem Vater zum Auslöffeln ließ. Vor allem, als er noch jünger war. Seit er älter wurde, begnügte er sich damit, zu trinken und große Schulden zu machen, die sein Vater dann regelmäßig und stillschweigend bezahlte. Ja, der alte Mann hatte recht.
Die beiden Männer erwachten aus ihren Gedanken, die sich mit dem Seniorchef der Eggebrecht-Werke befaßt hatten. »Ja«, sagte Dr. Mußner, »heute nachmittag hat übrigens die Familie getagt, gleich nach der Verlesung des Testamentes. Fräulein Natalie hat mich vorhin angerufen und mir davon erzählt. Sie haben den zweiten Geschäftsführer gewählt.« Dr. Mußner machte eine Pause.
Stephan Amsinck beugte sich gespannt vor.
Wer von den Männern des Hauses Eggebrecht mochte Geschäftsführer geworden sein? Leopold wahrscheinlich!
Stephan graute schon bei dem Gedanken an die Zusammenarbeit mit dem Mann, der ihn so haßte.
Dr. Mußner lächelte. »Sie werden staunen«, sagte er. »Geschäftsführer der Eggebrecht-Werke ist neben Ihnen Fräulein Susanne Diettmer!«
Stephan Amsinck war maßlos erstaunt. Susanne Diettmer?
Er erinnerte sich nur undeutlich an das junge Mädchen, das er früher, als sie noch ein Backfisch war, häufig einmal gesehen hatte. In den letzten Jahren allerdings waren sie sich nie mehr begegnet, da Susanne auf der Universität war.
»Ist sie nicht ein bißchen jung?« fragte Stephan zögernd. Es schien, als würde alles noch schlimmer durch die Wahl des jungen Mädchens.
Diese Schande würde Leopold Eggebrecht niemals überwinden! Wie aber war es gekommen, daß sie Susanne gewählt hatten?
Dr. Mußner gab ihm die Antwort darauf. »Daran ist wohl Fräulein Natalies diktatorischer Einfluß schuld«, meinte er mit einem Lächeln und erzählte Stephan von Christoph Eggebrechts Testamentsbedingungen.
Dann nahm der Anwalt einen dicken weißen Umschlag aus seiner Ledertasche. »Und dies hier«, sagte er mit eigentümlicher Betonung –, »ist für Sie. Es ist Christoph Eggebrechts letzte Nachricht. Er hat mich gebeten, Ihnen diesen Brief nach der Testamentsverlesung zu überreichen. Und er läßt Ihnen sagen, daß niemand davon weiß.«
Damit erhob Dr. Mußner sich. »Sie werden mich entschuldigen«, sagte er, »ich habe noch ein paar eilige Angelegenheiten zu erledigen.« Damit schüttelte er Stephan die Hand und war verschwunden.
Stephan Amsinck sah ihm geistesabwesend nach. Seine Gedanken waren noch bei des Anwalts letzten Worten. Christoph Eggebrecht hatte eine besondere Botschaft für ihn hinterlassen! Und niemand wußte davon!
Er nahm den Umschlag zur Hand.
Ein eigentümliches Gefühl beschlich ihn. Christoph Eggebrechts letzte Nachricht! Was es wohl sein mochte?
Er nahm den Brieföffner und schlitzte den Brief auf. Ein paar Bogen fielen heraus, ein wenig vergilbt, als seien sie vor vielen Jahren geschrieben worden. Und dann waren noch ein paar andere Bogen darin, aus weißem steifem Papier, das Stephan als Christoph Eggebrechts Briefpapier erkannte. Sie waren mit der Handschrift des alten Herrn bedeckt.
Stephan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nahm die Bogen zur Hand.
Er überflog die ersten Zeilen. Tiefes Erstaunen malte sich auf seinen Zügen. Er begann noch einmal. Und dann las er weiter, tief versunken in das Neue, das sich da vor ihm auftat.
Die Zeit verging – längst hatte er zu den vergilbten Briefen gegriffen und einen nach dem anderen gelesen – immer wieder.
Draußen wurde es dunkel.
Einmal hatte es leise an die Tür geklopft, aber er hatte nicht geantwortet.
Er hatte das Klopfen überhaupt nicht gehört.
*
An einem Frühsommertag begann die junge Susanne ihre Arbeit in den Eggebrecht-Werken. Den kurzen Weg von der Villa her war sie ganz langsam gegangen, nun, als sie vor dem großen Portal stand, klopfte ihr Herz wie rasend.
Sie fürchtete sich.
Sie fürchtete sich vor der unbekannten Arbeit, vor der Verantwortung, die ihr aufgebürdet wurde, und sie fürchtete sich vor Onkel Leopold und seinem Haß. Denn seit jenem Nachmittag haßte er sie, das hatte sie gefühlt.
Und am meisten fürchtete sie sich vor Stephan Amsinck.
Und nun sollte sie Tag für Tag mit ihm in einem Zimmer sitzen!
Susanne wollte unbemerkt an dem Portier vorbeischlüpfen. Aber da trat Stephan Amsinck auf sie zu.
Er blieb vor ihr stehen und versperrte ihr den Weg. »Mein verehrtes gnädiges Fräulein«, sagte er, »darf ich Sie im Namen aller Betriebsangehörigen als unsere neue Chefin begrüßen?«
Susanne wußte nicht recht, was sie erwidern sollte. Sie sah in die neugierigen Gesichter der Umstehenden. Einen solchen Empfang hatte sie nicht erwartet.
»Vielen Dank«, sagte sie zurückhaltend und blickte in das offene, gebräunte Gesicht des großen, schlanken Mannes, der vor ihr stand. Sicher war diese Freundlichkeit nicht echt.
Wahrscheinlich hat er es auch so mit Urgroßvater gemacht, dachte sie mißtrauisch.
Nebeneinander gingen sie die Treppe hinauf.
Oben im Büro wartete eine Reihe alter Angestellter, um ihr zu dem Anfang alles Gute zu wünschen.
Dann führte Stephan Amsinck sie zu ihrem Arbeitsplatz. Sie sah, daß ihre beiden Schreibtische sich gegenüberstanden, genauso, wie es zu Zeiten ihres Urgroßvaters gewesen war.
»Muß das sein?« fragte sie stirnrunzelnd. »Ich hätte viel lieber ein Zimmer für mich gehabt.«
Stephan Amsincks Gesicht blieb undurchdringlich. Nichts verriet, was er über Susannes Unfreundlichkeit dachte. »Es ist immer so gewesen«, sagte er gleichmütig, »und die Angestellten würden sich wahrscheinlich sehr wundern, wenn es plötzlich geändert würde. Aber wenn Sie wünschen…« Ein kurzer Blick aus stahlgrauen Augen flog über sie hin und haftete einen Moment auf dem zarten Oval des jungen Gesichtes.
Susanne machte eine verlegene Bewegung. »Nein, danke«, sagte sie kurz, »wir lassen alles beim alten.«
Den Rest des Morgens zeigte er ihr den Betrieb, weihte sie in die Geheimnisse des riesigen Werkes ein und tat sein Bestes, um ihr den Anfang leicht zu machen.
Wenigstens glaubte er das – Susanne dachte dagegen erbost, wie unerträglich er sich vor ihr aufspielte. Er wollte ihr doch nur zeigen, wie sehr viel besser er alles wußte.
Aber sie merkte sich alles ganz genau, was er ihr erklärte. Sie wollte so schnell wie möglich unabhängig werden von ihm!
*
Zwischen Leopold Eggebrecht und den beiden jungen Geschäftsführern hatte sich ein sehr kühles und von seiner Seite aus feindliches Verhältnis entwickelt.
Wenn er mit einem von ihnen, besonders aber mit Amsinck, sprechen mußte, blickte er über ihn hinweg, als sei er im Grunde genommen Luft für ihn.
Mitunter kam es zu heftigen Meinungsverschiedenheiten, bei denen er sehr ausfällig wurde. Es stellte sich nämlich manchmal heraus, daß Leopold sinnlose Anordnungen getroffen hatte, die ihm nicht zukamen. Einer von den alten Angestellten hatte sie dann ängstlich befolgt und sie mußten zurückgenommen werden.
Eines Tages kam es aus einem solchen Grund zum Krach.
Es war in einer der großen Werkhallen.
Stephan und Susanne waren auf ihrem täglichen Rundgang, als sie Leopold Eggebrecht begegneten. Sie grüßten ihn.
Er erwiderte ihren Gruß mit eisiger Höflichkeit, dann sagte er wie nebenher zu Stephan: »Übrigens habe ich die neue Drehbank bestellt, von der vorgestern die Rede war.«
Susanne sah erschrocken auf.
Gerade gestern hatten sie entschieden, diese Drehbank nicht zu kaufen, weil sich herausgestellt hatte, daß sie einen Konstruktionsfehler hatte. Und Onkel Leopold hatte das bestimmt gewußt! Er war von dieser Entscheidung noch am Nachmittag in Kenntnis gesetzt worden.
Und trotzdem hatte er die Maschine bestellt! Obwohl er gar kein Recht dazu hatte!
Ehe sie etwas sagen konnte, hatte Stephan schon geantwortet. »Dann werden wir sie wieder abbestellen müssen«, sagte er mit ruhiger Stimme und so leise, daß die Arbeiter ihn nicht verstehen konnten.
Aber Leopold Eggebrecht fühlte sich trotzdem bloßgestellt. »Das werden Sie nicht!« schrie er.
»Das werde ich doch!« sagte Stephan, immer noch leise. Susanne sah, daß er sich mühsam beherrschte.
Die Leute hatten aufgehorcht, als Leopold Eggebrecht so laut schrie. Er redete weiter, mit einer Stimme, die den Lärm der Maschinen übertönte. »Wagen Sie das nicht«, schrie er in hilflosem, kindischem Zorn. »Sie Eindringling, Sie Erbschleicher! Sie haben meinen Vater dazu gebracht, Sie hier hereinzusetzen. Belogen haben Sie ihn, sich in sein Vertrauen geschlichen! Sie Lump!«
Stephan Amsincks Augen waren plötzlich schwarz vor Zorn. Susanne sah, wie er die Fäuste ballte. Einen Augenblick lang glaubte sie, er würde auf ihren Onkel losgehen.
Auch Leopold Eggebrecht mochte das denken, als er in die Augen des anderen blickte, denn er duckte sich jäh und trat ein paar Schritte zurück.
Da zog Stephan Amsinck verächtlich die Mundwinkel herunter, drehte sich um und ging.
Susanne fühlte tausend neugierige Augen auf sich ruhen. Sie faßte den Arm ihres Onkels. »Beruhige dich doch, Onkel Leopold«, sagte sie, »ich bitte dich. Die Leute.«
Schroff machte er sich los. »Laß du mich in Ruhe«, zischte er. »Und lauf ihm nach. Das würdest du ja doch am liebsten tun, nicht wahr?« In seiner Stimme lag tückische Bosheit.
Susanne sah ihn mit erschrockenen Augen an. Was hatte er da gesagt? Sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Hastig wandte sie sich ab und lief aus dem Maschinensaal hinaus, um den neugierigen Blicken der Arbeiter zu entrinnen.
Als sie wieder in ihr Büro kam, saß Stephan ganz ruhig an seinem Schreibtisch.
Er sah nicht auf, als sie sich hinsetzte. Und er sagte auch eine ganze Weile nichts. Als sie einmal scheu zu ihm hinblickte, sah sie, daß er untätig saß und vor sich hinstarrte.
Dann auf einmal sagte er, als spräche er zu sich selber: »Ich mußte es ihm doch sagen!«
Susanne gab keine Antwort.
Er strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Ja, ich weiß! Sie denken genauso! Ich bin ein Eindringling, ein Erbschleicher, nicht wahr? Sagen Sie es doch!«
Susanne blickte ihn gerade an. »Wenn Sie es selber wissen«, sagte sie eiskalt, »dann brauche ich es Ihnen doch nicht mehr zu sagen.«
Als sie die Wirkung ihrer Worte sah, verstummte sie erschrocken.
Stephans Gesicht war aschfahl geworden. Einen Augenblick lang sah er schweigend auf sie herunter. »Gut«, sagte er dann mit einer Stimme, vor der sie sich fürchtete. »Sie sollen wissen, daß ich kein Eindringling bin! Ich bin heute zum letztenmal in den Eggebrecht-Werken gewesen.« Damit drehte er sich um und ging hinaus.
Susanne starrte ihm erschrocken nach. Zum erstenmal gefiel ihr seine Haltung. Ob sie sich nicht doch in ihm geirrt hatte?
Sie war noch ganz verstört, als sie nach Hause zum Mittagessen ging. Während des Essens saß sie ganz still am Tisch. Es wurde ihr schwer, auch nur ein paar Bissen herunter zu bringen.
Natalie sah sie mehrmals forschend an. Aber sie fragte nichts.
Susanne war ihr dankbar dafür. Sie ahnte nicht, daß Natalie sofort nach dem Essen ihren Fahrer bestellte und ihm den Auftrag gab, zu Stephan Amsincks Wohnung zu fahren.
Sie ließ sich nicht erst lange melden, sondern ging sofort hinter der Haushälterin her in Stephans Wohnzimmer hinein.
Sie fand ihn, wie er an seinem Schreibtisch stand und auf ein Bild heruntersah, daß in einem silbernen Rahmen stand.
Ruhig trat sie neben ihn. »Sind Sie nicht ein bißchen voreilig gewesen?« fragte sie.
Er blickte sie an. »Bitte?« sagte er dann erstaunt.
Natalie Eggebrecht suchte ihn auf!
Sie lächelte ein wenig. »Sie wundern sich, nicht wahr? Aber ich weiß alles. Ich habe so meine Leute, wissen Sie?«
Sie stand noch immer neben ihm. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf das Bild ihres Vaters, auf das er gerade geblickt hatte. »Wenn er wüßte, wie schnell Sie die Flinte ins Korn werfen…«, sagte sie ganz ernst.
»Ach…« Stephan wandte sich unwillig ab. »Wenn er wüßte, daß seine Familie mich einen Erbschleicher nennt!«
»Wer hat das getan?« fragte Natalie zurück.
»Ihr Bruder« antwortete er, »und…«
»Und?« fragte sie.
»Und Susanne«, sagte er ganz leise und senkte den Kopf.
Natalie Eggebrecht lächelte ein wenig. »Susanne? Soso.« Sie nickte gedankenvoll vor sich hin. Dann legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Nehmen Sie es ihr nicht übel, Stephan. Sie ist ja noch so jung. Und eines Tages werden sie alle wissen – auch Susanne – daß Sie kein Erbschleicher sind, sondern die gleichen Rechte haben wie alle anderen.«
Stephan fuhr herum.
Natalie nickte. »Mein Vater hat manches mit mir besprochen, Stephan«, sagte sie gütig. »Er hat mir auch den Brief gezeigt, den Sie nach seinem Tod haben sollten. Sie haben ihn doch bekommen, nicht wahr?«
Stephan nickte wortlos.
Ihre Hand lag noch immer auf seinem Arm. »Er hat sich so viele Sorgen um das Werk gemacht«, sagte sie und deutete auf das Bild in dem silbernen Rahmen, »und er hat alle seine Hoffnungen auf Sie gesetzt. Wollen Sie ihn wirklich enttäuschen? Ohne Sie würde die Fabrik zugrunde gehen, sagte er immer.«
Stephan lachte bitter. »Das müssen Sie Susanne erzählen.«
Natalie nickte. »Das werde ich auch eines Tages. Darauf können Sie sich verlassen. Und dann wird sie sich furchtbar schämen, das können Sie mir glauben.« Auf ihrem Gesicht lag ein weises Lächeln. »Susanne ist nämlich ein einsichtiger Mensch mit einem starken Charakter. Und wenn sie weiß, daß sie Unrecht getan hat, dann wird sie es sofort zugeben.«
Natalie lächelte. »Sie ist überhaupt sehr nett, nicht wahr? Gefällt sie Ihnen nicht?«
Stephan dachte an ein schmales, weiches Gesicht, an ein Paar blitzende Augen, die ihn noch nie angelacht hatten.
Er nickte wortlos. Dann, als er in die Augen der alten Dame sah, mußte er lächeln. Er nahm ihre Hand und beugte sich darüber. »Sie sind eine ganz gefährliche Person, gnädiges Fräulein«, sagte er.