Das Buch
Das Leben der jungen Beth Randall hat sich radikal verändert: sie hat die triste Einsamkeit ihres kleinen Apartments in Caldwell gegen die prunkvolle Weitläufigkeit des Hauptquartiers der BLACK DAGGER eingetauscht, sie wurde von der schüchternen Journalistin zur einer strahlend schönen Vampirin. Und sie hat die Liebe ihres Lebens gefunden: Wrath, den König aller Vampire. Beth war noch nie zuvor in ihrem Leben so glücklich, doch langsam beginnt sich ein Schatten auf ihre strahlende Zukunft zu legen: Der Vampiradel schmiedet ein Komplott, um ihren geliebten Gatten vom Thron zu stoßen, und die Bruderschaft der BLACK DAGGER, die den König beschützen soll, scheint dagegen machtlos zu sein. Ausgerechnet jetzt wo die Zukunft der BLACK DAGGER auf dem Spiel steht, wünscht sich Beth ein Baby. Doch eine Schwangerschaft bedeutet bei Vampirinnen fast immer den Tod im Kindbett, und so bringt Beth Wrath in eine schwierige Situation: Soll er ihr ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen, auch wenn das bedeutet, dass er sie möglicherweise für immer verliert?
Die Autorin
J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.
Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von J.R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.
www.twitter.com/HeyneFantasySF
@HeyneFantasySF
www.heyne-fantastisch.de
J. R. Ward
NACHTHERZ
Ein Black dagger-Roman
Wilhelm Heyne Verlag
München
In Gedenken an:
Jonah alias Boo
alias der allerbeste WriterDog.
Ruhe in Frieden.
Wir sehen uns wieder.
Und:
W. Gilelette Bird, Jr.
Danksagung
Ein großes Dankeschön allen Lesern der Bruderschaft der Black Dagger!
Vielen Dank für all die Unterstützung und die Ratschläge an: Steven Axelrod, Kara Welsh, Claire Zion und Leslie Gelbman.
Danke auch an alle Mitarbeiter von NAL – diese Bücher sind echte Teamarbeit!
Alles Liebe an das Team Waud – ihr wisst, wer gemeint ist. Ohne euch käme die Sache gar nicht zustande.
Nichts von alledem wäre möglich ohne: meinen liebevollen Ehemann, der mir mit Rat und Tat zur Seite steht, sich um mich kümmert und mich an seinen Visionen teilhaben lässt; meine wunderbare Mutter, die mir mehr Liebe geschenkt hat, als ich ihr je zurückgeben kann; meine Familie (die blutsverwandte wie auch die frei gewählte) und meine liebsten Freunde.
Ach ja, und meinem neuen WriterAssistant Naamah.
Glossar der Begriffe und Eigennamen
Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.
Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. Sie werden als Angehörige der Aristokratie betrachtet, obwohl sie eher spirituell als weltlich orientiert sind. Normalerweise pflegen sie wenig bis gar keinen Kontakt zu männlichen Vampiren; auf Weisung der Jungfrau der Schrift können sie sich aber mit einem Krieger vereinigen, um den Fortbestand ihres Standes zu sichern. Einige von ihnen besitzen die Fähigkeit zur Prophezeiung. In der Vergangenheit dienten sie allein stehenden Brüdern zum Stillen ihres Blutbedürfnisses. Diese Praxis wurde von den Brüdern wieder aufgenommen.
Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.
Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.
Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.
Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.
Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.
Dhunhd – Hölle.
Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.
Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.
Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.
Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.
Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.
Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.
Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.
Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.
Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König als Beraterin dient sowie die Vampirarchive hütet und Privilegien erteilt. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und besitzt umfangreiche Kräfte. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.
Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.
Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.
Lewlhen – Geschenk.
Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.
Lhenihan – Mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.
Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.
Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.
Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.
Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.
Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.
Novizin – Eine Jungfrau.
Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.
Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Bedeutet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.
Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.
Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.
Rahlman – Retter.
Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.
Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.
Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.
Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.
Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.
Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.
Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.
Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.
Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.
Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.
Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.
Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.
Prolog
Altes Land, Siebzehntes Jahrhundert
»Lang lebe der König.«
Instinktiv wollte Wrath, Sohn des Wrath, sich bei dieser feierlichen Anrede nach seinem Vater umsehen … und ein Funke der Hoffnung glomm auf, dass dieser nicht gestorben war und noch unter ihnen weilte.
Aber natürlich blieb es dabei: Der große Herrscher, sein geliebter Vater, war in den Schleier eingetreten.
Wie lange würde er noch nach ihm Ausschau halten, fragte er sich betrübt. Dabei war es so töricht, schließlich war er mittlerweile selbst mit den heiligen Insignien angetan, die den König der Vampire auszeichneten: mit den juwelenbestickten Schärpen, dem seidenen Mantel, den Zeremoniendolchen. Doch sein Verstand ignorierte alle Zeugnisse seiner eben erst erfolgten Krönung … oder war es sein Herz, das unberührt blieb von dem neuen Amt?
Gütige Jungfrau der Schrift, ohne seinen Vater fühlte er sich so allein, selbst inmitten all der Leute, die ihm zu Diensten waren.
»Mein Gebieter?«
Er setzte ein ausdrucksloses Gesicht auf und wandte sich um. In der Tür zu den königlichen Empfangssälen stand sein engster Berater, lang und dünn wie eine Rauchsäule, in dunkle Gewänder gehüllt.
»Mein ehrfürchtiger Gruß.« Der Vampir verbeugte sich tief. »Seid Ihr bereit, das Weib zu empfangen?«
Nein. »Selbstverständlich.«
»Sollen wir mit der Prozession beginnen?«
»Ja.«
Während sein Berater sich mit einer weiteren Verbeugung zurückzog, schritt Wrath in dem eichengetäfelten Saal umher. Kerzen flackerten in der Zugluft, die ihren Weg durch das Steingemäuer der Burg fand, und das prasselnde Feuer im brusthohen Kamin schien lediglich Licht zu verströmen, aber keine Wärme.
Wrath hatte kein Interesse an einer Shellan – oder vielmehr an einer Bettgefährtin, denn mehr würde sie nicht sein. Eine Shellan erforderte Liebe, und davon hatte er keine zu geben.
Aus dem Augenwinkel sah er etwas glitzern, und um sich die Zeit vor dem gefürchteten Treffen zu vertreiben, trat er vor den prunkvollen Tisch und betrachtete den Schmuck, der dort ausgelegt war. Diamanten, Saphire, Smaragde, Perlen … die Schätze der Natur kunstvoll in Gold gefasst.
Die größte Kostbarkeit waren die Rubine.
Er streckte die Hand nach den blutroten Steinen aus. All dies kam zu früh, dachte er. Die Krönung, die arrangierte Vermählung, die tausend Pflichten, die er fortan zu erfüllen hatte und von denen er zu wenig verstand.
Er brauchte mehr Zeit, um von seinem Vater zu lernen …
Der erste von drei donnernden Schlägen gegen die Tür hallte durch den Saal, und Wrath war froh, dass niemand bei ihm war und sah, wie er zusammenzuckte.
Das zweite Klopfen war nicht minder laut.
Beim dritten musste er sich rühren.
Er schloss die Augen. Seine Brust schmerzte, und sein Hals schnürte sich zu. Er sehnte sich nach seinem Vater – all das kam zu früh für ihn, er war zu jung, sein Vater hätte die Übergabe leiten sollen, nicht irgendein Höfling. Doch das Schicksal hatte sein Vorbild hinweggerafft und ihn der Jahre beraubt, die ihm zugestanden wären. Und jetzt hatte der Sohn das Gefühl zu ertrinken, obwohl ihn Luft umgab.
Ich kann das nicht, dachte Wrath.
Und doch, als das dritte Klopfen verhallte, straffte er die Schultern und ahmte den Tonfall seines Vaters nach. »Tretet ein.«
Auf seinen Befehl hin ging die schwere Tür auf und eröffnete den Blick auf die versammelte Hofgesellschaft, angetan in düstere, graue Gewänder wie der Berater, der ganz vorne stand. Doch Wrath achtete nicht auf den Adel. Sein Blick fiel auf jene, die hinter ihnen standen: Vampire von riesenhafter Statur mit zusammengekniffenen Augen. Und diese hoben nun zu einem vielstimmigen Gesang in tiefer, sonorer Tonlage an.
Insgeheim fürchtete er die Bruderschaft der Black Dagger.
Wie es Brauch war, verkündete der Berater laut und vernehmlich: »Mein König, man bietet Euch eine Gabe dar. Erlaubt mir, sie Euch vorzuführen.«
Als wäre die Adelstochter ein bloßer Gegenstand. Doch Tradition und höfische Gepflogenheiten wiesen ihr nun einmal die Aufgabe zu, den Fortbestand der königlichen Linie zu sichern, und demnach würde man sie wie eine kostbare Zuchtstute behandeln.
Wie sollte er das nur anstellen? Er wusste nichts über den Geschlechtsakt, und doch würde er ihn, sollte sie sein Gefallen finden, schon in der kommenden Nacht vollziehen.
»Ja«, hörte er sich sagen.
Die Höflinge traten paarweise durch die Tür, trennten sich und stellten sich ringsum an den Wänden auf. Und dann wurde das Singen lauter.
Die riesenhaften Krieger der Bruderschaft marschierten ein, von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet und mit Waffen bespickt, und ihre Stimmen und Schritte waren so präzise aufeinander abgestimmt, dass sie wie eine Einheit erschienen.
Anders als die Angehörigen der Glymera teilten sie sich nicht auf, sondern blieben in ihrer viereckigen Formation, Schulter an Schulter, Brust an Brust. Wrath konnte nicht sehen, was sich in ihrer Mitte befand.
Aber er fing einen Duft auf.
Und der innere Wandel vollzog sich augenblicklich und war unwiderruflich. Von einem Herzschlag auf den anderen vergaß er alles, was ihn niederdrückte, und er geriet in einen Zustand freudiger Erregung … der in Angriffslust umschlug, als die Brüder näher kamen, eine Regung, die ihm fremd war, die er jedoch auf keinen Fall verdrängen wollte.
Er atmete ein zweites Mal ein, und mehr von diesem Duft strömte in seine Nase, in sein Blut, bis in seine Seele – und es war nicht das Öl, mit dem man sie eingerieben hatte, oder das Parfum an ihren Gewändern. Es war die Haut unter all den Schichten, das liebliche Zusammenspiel weiblicher Elemente, die ihr, und ihr allein, zu eigen waren.
Die Bruderschaft machte halt, und zum ersten Mal flößten diese Männer mit ihrer bedrohlichen Ausstrahlung Wrath keine Furcht ein. Nein. Diesmal fuhren seine Fänge aus, und seine Oberlippe verzog sich angriffslustig.
Er trat sogar einen Schritt auf sie zu, bereit, die Kerle zur Seite zu stoßen, um an das zu gelangen, was sie vor ihm verbargen.
Der Berater räusperte sich, als wollte er die Versammelten daran erinnern, welch immense Bedeutung ihm zukam. »Mein König, sollte sie Euer Gefallen finden, bietet Euch ihre Familie diese Tochter zum Gebären Eurer Nachkommenschaft an. Wenn Ihr sie einer genaueren Betrachtung unterziehen wollt …«
»Lasst uns allein«, blaffte Wrath. »Auf der Stelle.«
Betroffenes Schweigen folgte auf seine Worte, doch das kümmerte Wrath nicht.
Der Berater senkte die Stimme. »Mein König, erlaubt mir, die Darbietung zu Ende zu …«
Ohne sein Zutun wirbelte Wrath herum und blickte dem Berater in die Augen. »Raus hier.«
Hinter ihm glucksten die Brüder, als fänden sie Gefallen daran, wie ihr Herrscher den Höfling in die Schranken wies. Nur der Berater fand es weniger amüsant. Und Wrath war es einerlei.
Es gab auch nichts mehr zu besprechen: Der Berater war mächtig, aber er war nicht der König.
Die graugewandeten Vampire schoben sich unter Verbeugungen aus dem Saal, bis Wrath mit den Brüdern allein war. Und sogleich traten sie zur Seite …
In ihrer Mitte stand eine schlanke Gestalt, die vom Scheitel bis zu den Füßen in eine schwarze Robe gehüllt war. Dieses Wesen war viel zarter als die Krieger, viel zierlicher und kleiner – und doch war sie es, die ihn ins Wanken brachte.
»Mein König«, sagte einer der Brüder respektvoll, »das hier ist Anha.«
Mit dieser schlichten und doch angemessenen Vorstellung ließen ihn die Brüder mit der Vampirin allein und schlossen die Tür.
Wieder handelte Wraths Körper eigenmächtig. Mit den Sinnen tastete er sie ab und näherte sich ihr, ohne auch nur einen Schritt auf sie zuzugehen. Gütige Jungfrau der Schrift, nichts von alledem hatte er gewollt, weder seine Reaktion auf sie, noch die Begierde, die sich in seinen Lenden ausbreitete, oder die Angriffslust, die in ihm erwacht war.
Aber allem voran hatte er noch nie diesen Gedanken gehegt …
Mein.
Es war wie ein Blitz aus klarem Nachthimmel, der eine Scharte in seine Brust schlug und ihn für immer schwächte. Und trotz alledem erschien es ihm richtig. Der ehemalige Berater seines Vaters wollte wahrlich das Beste für ihn. Mit dieser Vampirin konnte er die Einsamkeit überwinden: Obwohl er ihr Gesicht nicht sah, ließ sie ihn die Kraft in seinen Lenden fühlen, ihre zarte, elegante Gestalt füllte ihn aus, weckte den Drang in ihm zu beschützen und lieferte die Bestimmung, die ihm so schmerzlich gefehlt hatte.
»Anha«, hauchte er und blieb vor ihr stehen. »Sprich mit mir.«
Es folgte ein langes Schweigen. Dann drang ihre Stimme an seine Ohren, leise und süß, aber zitternd. Er schloss die Augen und geriet ins Wanken, der Klang versetzte sein gesamtes Inneres in Schwingung und war lieblicher als alles, was er je gehört hatte.
Doch dann runzelte er die Stirn, denn er verstand ihre Worte nicht. »Was sagst du da?«
Einen Moment lang ergab es keinen Sinn, was da unter dem Schleier hervordrang. Dann aber entschlüsselte sein Verstand die Bedeutung der Silben:
»Möchtet Ihr lieber eine andere sehen?«
Wrath runzelte verdutzt die Stirn. Warum sollte er …
»Ihr hebt meinen Schleier gar nicht an«, hörte er sie antworten, als hätte er seiner Verwunderung laut Ausdruck verliehen.
Mit einem Mal bemerkte er ihr Zittern, das sich durch die Robe abzeichnete – und tatsächlich mischte sich deutlich eine Note von Angst in ihren Duft.
Seine Begierde hatte jedes weitere Bewusstsein für sie vernebelt, das musste umgehend behoben werden.
Er hievte den Thron hoch und schleppte das mit Schnitzereien verzierte Ungetüm zu ihr. Sein Bestreben, es ihr bequem zu machen, verlieh ihm übergroße Kräfte. »Setz dich.«
Sie fiel regelrecht auf das ochsenblutrote Leder – und als ihre verhüllten Hände die Armlehnen umklammerten, stellte er sich vor, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, während sie verzweifelt Halt suchte.
Wrath sank vor ihr auf die Knie und sah zu ihr auf. Ja, er wollte sie besitzen, aber vor allen Dingen wollte er, dass sie sich niemals fürchten musste.
Nie.
Anha erstickte beinahe unter der schweren Robe. Vielleicht war es aber auch die Angst, die ihr das Atmen so erschwerte.
Sie hatte dieses Schicksal nicht gewollt und nicht gewählt. Sie hätte es bereitwillig an jede der jungen Vampirinnen abgetreten, die sie all die Jahre über beneidet hatten: Von Geburt an war sie dem Sohn des Königs als erste Frau versprochen gewesen – und dieser Ehre war es geschuldet, dass man sie in klösterlicher Abgeschiedenheit großzog, ohne Kontakt zu den Eltern oder der Außenwelt. In ihrer Einsamkeit hatte sie keine Mutter umhegt und kein Vater beschützt. Stattdessen war sie allein auf einem Meer von fremden Untergebenen dahingetrieben, behandelt wie ein wertvolles Objekt, aber nicht wie ein Lebewesen.
Und jetzt, beim großen Ereignis, dem Moment, auf den sie ein Leben lang hingearbeitet hatte … schien alle Vorbereitung vergebens gewesen zu sein.
Denn der König war unzufrieden: Er hatte den gesamten Hofstaat vor die Tür gesetzt. Er hatte keinen einzigen ihrer Schleier gelüpft, wie es seine Pflicht gewesen wäre, wollte er sie in irgendeiner Form akzeptieren. Stattdessen lief er rastlos umher und strahlte Wut aus.
Vermutlich hatte sie ihn mit ihrer Dreistigkeit noch mehr erzürnt. Einem König unterbreitete man keine Vorschläge …
»Setz dich.«
Anha folgte dem Befehl, indem sie ihre wackeligen Knie einknicken ließ. Sie erwartete, auf dem kalten, harten Boden zu landen, aber ein wuchtiger Polstersessel fing sie auf.
An den knarzenden Dielenbrettern konnte sie mitverfolgen, wie er sie erneut mit schweren Schritten umkreiste. Seine Gegenwart war so stark, dass sie seine Größe erspüren konnte, obwohl sie ihn nicht sah. Während ihr der Schweiß am Hals herabrann und zwischen ihre Brüste lief, erwartete sie bangen Herzens seinen nächsten Schritt – der vielleicht gewaltsam war. Dem Gesetz nach konnte er frei über sie verfügen. Er konnte sie töten oder der Bruderschaft vor die Füße werfen, damit sie sich mit ihr vergnügte. Er konnte sie ausziehen, entjungfern und danach verstoßen – und sie dem Ruin überlassen.
Er konnte sie aber auch entkleiden und an ihr Gefallen finden – und ihre Tugend für die Nacht nach der Zeremonie bewahren. Oder … wie sie es sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte … er könnte sie kurz inspizieren und dann in feine Stoffe hüllen. Damit würde er signalisieren, dass er sie in den Stand einer Shellan erheben wollte – und ihr damit das Leben am Hof vereinfachen.
Sie hatte zu viel über Höflinge gehört, um Freundlichkeit von ihnen zu erwarten. Und sie wusste nur zu gut, dass sie auch als Gefährtin des Königs auf sich allein gestellt sein würde. Wenn sie jedoch ein klein wenig Macht erlangte, könnte sie sich dem Geschehen am Hof besser entziehen und das Feld Vampirinnen überlassen, die ehrgeiziger oder raffgieriger waren als sie.
Die Schritte verstummten abrupt, und die Dielen vor ihr knarzten, als hätte er eine andere Haltung eingenommen.
Jetzt war der große Moment gekommen, und ihr Herz verstummte, als wollte es nicht die Aufmerksamkeit des königlichen Dolchs auf sich ziehen …
Mit einem Ruck wurde ihr die Kapuze heruntergezogen. Kühle Luft traf auf ihr Gesicht und strömte in ihre Lunge.
Anha konnte nicht fassen, was sie vor sich sah.
Der König, der Herrscher, der höchste Vertreter ihrer Spezies … kniete vor dem Sessel, den er für sie bereitgestellt hatte. Und das wäre schon verblüffend genug gewesen, aber seine Geste der Unterwerfung war noch das Geringste.
Denn er war unglaublich schön – und während all der Vorbereitungen auf diesen Moment wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie sein erster Anblick derart verzaubern könnte.
Seine Augen hatten die Farbe von blassen Frühlingstrieben und strahlten hell wie Mondlicht auf einem See, als er zu ihr aufblickte. Und sein Gesicht war das anmutigste, das sie je gesehen hatte, obwohl ihm dieses Kompliment kaum gerecht werden konnte, da man ihr bislang den Blick auf alles Männliche verwehrt hatte. Sein Haar glänzte schwarz wie Krähenschwingen und fiel auf einen breiten Rücken.
Doch nicht einmal das war es, was sie am tiefsten verwirrte.
Es war die Besorgnis in seinem Gesicht.
»Hab keine Angst«, sagte er mit einer Stimme, die samtig klang, obwohl sie kratzte. »Ich bin hier. Niemand soll dir je ein Leid zufügen.«
Ihre Augen brannten. Und dann öffnete sich ihr Mund wie von selbst, und sie sagte: »Mein König, Ihr solltet nicht knien.«
»Wie sonst könnte ich eine Frau wie dich begrüßen?«
Anha versuchte zu antworten, doch unter seinem Blick fiel ihr das Denken schwer. Er schien einem Märchen entsprungen zu sein, dieser mächtige Vampir, der sich vor ihr verneigte. Unwillkürlich hob sich ihre Hand und bewegte sich auf ihn zu …
Was tat sie da? »Vergebt mir, mein König …«
Er fing ihre Hand in seiner auf, und ihr entfuhr ein leiser Schrei. Oder waren sie das beide gewesen?
»Fass mich an«, befahl er. »Wo du willst.«
Er ließ ihre Hand los, und Anha legte sie zitternd auf seine Wange. Sie war warm. Weich von einer frischen Rasur.
Der König schloss die Augen und schmiegte sich in ihre Handfläche, wobei ihn ein Zittern durchzuckte.
Und während er in dieser Stellung verharrte, überkam sie ein Gefühl von Macht – doch war dies keine arrogante oder gewinnsuchende Haltung. Das Gefühl entsprang vielmehr daraus, dass sie auf unsicherem Terrain unvermutet Halt gefunden hatte.
Wie konnte das sein?
»Anha …«, hauchte er ihren Namen einer Beschwörungsformel gleich.
Sie sprachen nicht weiter, doch das war auch nicht nötig. Worte konnten ohnehin nicht beschreiben, welches Band sich zwischen ihnen bildete und sie fest miteinander verknüpfte.
Schließlich senkte sie den Blick. »Möchtet Ihr nicht mehr von mir sehen?«
Der König knurrte tief: »Ich möchte alles sehen – und bei der Betrachtung soll es nicht bleiben.«
Plötzlich lag der Geruch von männlicher Erregung in der Luft, und zu ihrem Erstaunen reagierte ihr Körper auf diesen Ruf. Doch Wrath zügelte seine Gier mit eiserner Entschlossenheit: Er würde sie nicht auf der Stelle nehmen. Nein, anscheinend wollte er ihre Tugend bewahren und ihr Respekt zollen, indem er sich erst offiziell mit ihr vereinigte.
»Die Jungfrau der Schrift hat meine Gebete auf die wundersamste Weise erhört«, flüsterte sie und blinzelte durch einen Schleier von Tränen. All die Jahre bangen Wartens, drei Jahrzehnte unter dem Damoklesschwert …
Der König lächelte. »Hätte ich gewusst, dass deinesgleichen existiert, hätte auch ich gebetet. Doch ich war ahnungslos – und das ist gut so. Sonst hätte ich tatenlos darauf gewartet, dass du in mein Leben trittst, und viele Jahre vergeudet.«
Damit erhob er sich ruckartig und ging zu einer Auslage von Gewändern in allen Farben des Regenbogens. Anha hatte von früh auf gelernt, was die einzelnen Farben in der höfischen Hierarchie bedeuteten.
Er wählte das rote für sie aus, die mächtigste Farbe von allen. Sie gebührte der bevorzugten unter seinen Gemahlinnen.
Der Königin.
Es war eine große Ehre. Anha hätte hoch zufrieden sein sollen, doch der Gedanke an die anderen, die er zur Shellan nehmen würde, schmerzte sie. Und er musste ihre Traurigkeit gespürt haben. »Was schmerzt dich, Lielan?«, fragte er, als er zu ihr zurückkam.
Doch Anha schüttelte den Kopf. Sie hatte kein Recht, traurig zu sein, weil sie ihn mit anderen teilen musste. Sie …
Der König schüttelte den Kopf. »Nein. Für mich wird es keine andere geben. Nur dich.«
Anha wich zurück. »Mein König, der Brauch …«
»Wer ist hier der Herrscher? Bestimme ich nicht über Leben und Tod meiner Untertanen?« Als Anha nickte, verhärtete sich sein Ausdruck – und plötzlich empfand sie Mitleid mit all jenen, die sich ihm in den Weg stellen sollten. »Ich bestimme über den Brauch. Und ich nehme keine zweite Shellan.«
Wieder traten Tränen in Anhas Augen. Sie wollte ihm glauben, und doch schien es unmöglich – selbst als er die blutrote Seide um ihre schwarze Robe wickelte.
»Ihr ehrt mich«, sagte sie und blickte ihm ins Gesicht.
»Nicht genug.« Er wandte sich ab und ging zu einem Tisch voller Juwelen.
Die Größe der Edelsteine war ihre geringste Sorge gewesen, als er ihre Kapuze angehoben hatte, doch jetzt weiteten sich ihre Augen beim Anblick des dargebotenen Reichtums. So etwas verdiente sie nicht. Nicht bis sie ihm einen Erben geschenkt hatte.
Eine Aufgabe, die ihr plötzlich gar nicht mehr wie eine Bürde erschien.
Er kam zu ihr zurück, und sie schnappte nach Luft. Rubine, mehr, als sie zählen konnte, ein ganzes Tablett voll. Und darunter der Rubin der Nacht, der ihres Wissens stets die Hand der Königin zierte.
»Nimm das als Zeichen meiner Aufrichtigkeit«, sagte er und ging einmal mehr vor ihren Füßen in die Knie.
Anha spürte, wie sie den Kopf schüttelte. »Nein, nein, dieser Schmuck ist für die Zeremonie …«
»… die wir hier und jetzt vollziehen wollen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Reich mir die Hand.«
Anha zitterte von Kopf bis Fuß, doch sie gehorchte. Als er ihr den Rubin der Nacht an den rechten Mittelfinger steckte, japste sie erschrocken auf. Doch als sie den Edelstein betrachtete, brach sich das Kerzenlicht darin und ließ ihn von innen erstrahlen wie ein Herz, das von wahrer Liebe erfüllt ist.
»Anha, nimmst du mich als deinen König und Gefährten an, bis sich die Pforte zum Schleier vor dir auftut?«
»Ja«, hörte sie sich überraschend deutlich sagen.
»Dann nehme ich, Wrath, Sohn des Wrath, dich zu meiner Shellan. Du und unsere Kinder, so sie uns vergönnt sind, stehen fortan unter meiner Obhut, so wie mein Königreich mit all seinen Bürgern unter meiner Obhut steht. Du sollst mein sein, jetzt und immerdar – deine Feinde sind die meinen, unsere Blutlinien werden sich verweben, deine Sonnenauf- und Untergänge teilst du mit mir und mit mir allein. Weder äußere noch innere Kräfte sollen diesen Bund lösen, und« – hier machte er eine Pause – »es soll nur eine für mich geben: Meine alleinige Königin bist du.«
Damit hob er die andere Hand und verschränkte ihre Finger miteinander. »Nichts soll uns trennen. Niemals.«
Obgleich Anha es zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, würde sie sich in künftigen Jahren, während das Schicksal seine Fäden spann und die Gegenwart in die Vergangenheit verwandelte, immer wieder an diesen Moment erinnern. Später würde sie erkennen, dass sie zwei Suchende waren, die in dieser Nacht im Anblick des anderen den langersehnten Halt gefunden hatten.
Später, wenn sie neben ihrem Hellren im Bett lag und ihn leise schnarchen hörte, wusste sie, dass dieser Mann, der ihr zu Beginn wie ein Traum erschien, in Wirklichkeit ein Fleisch gewordenes Wunder war.
Und in der Nacht, in der sie und ihr geliebter Hellren getötet wurden, als ihre Augen sich auf den Zwischenraum hefteten, in dem sie ihren Nachfahren verborgen hatte, ihre Zukunft, das Einzige, das noch größer war als ihre Liebe zueinander … würde ihr letzter Gedanke im Sterben sein, dass es ihr Schicksal war. Glück und Verderben, alles war vorherbestimmt gewesen, und hier hatte es seinen Anfang genommen, in dem Moment, als der König die Finger mit den ihren verschränkte und sie sich miteinander verbanden, auf immer und ewig.
»Wer soll sich heute Nacht und morgen vor der offiziellen Zeremonie um dich kümmern?«, fragte er.
Sie wollte sich nicht von ihm trennen. »Ich sollte in meine Kammer zurückkehren.«
Er bedachte sie mit einem strengen Blick. Doch dann ließ er sie los und schmückte sie in aller Seelenruhe mit Rubinen, die bald Ohren, Hals und Arme zierten.
Der König berührte den größten der Steine, der auf ihrem Herzen lag. Und als seine Lider sich senkten, hatte sie den Eindruck, dass seine Gedanken ins Fleischliche abschweiften – vielleicht malte er sich aus, wie sie ohne Kleidung aussah, wenn dieser schwere, diamantbesetzte Goldschmuck mit den sagenhaften roten Juwelen auf ihrer nackten Haut lag.
Der letzte Schmuck war die Krone selbst. Er hob den Reif vom samtenen Tablett, setzte ihn auf ihr Haupt und lehnte sich zurück, um sie zu begutachten.
»Du überstrahlst allen Schmuck«, sagte er.
Anha blickte an sich herab. Rot, überall Rot, die Farbe des Blutes und des Lebens selbst. Es waren Edelsteine von unermesslichem Wert, aber nicht das berührte sie. Es war die namenlose Ehrerbietung, die er ihr entgegenbrachte. Und plötzlich wünschte sie, all das könnte zwischen ihnen bleiben, im Privaten.
Doch das war unmöglich. Und die Hofgesellschaft würde missbilligen, was hier geschah.
»Ich bringe dich zu deinen Gemächern.«
»Mein König, macht Euch nicht die Mühe …«
»Ich versichere dir, ich habe heute Nacht keine anderen Verpflichtungen.«
Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Wie Ihr wünscht, mein Gebieter.«
Doch sie wusste nicht recht, ob sie stehen würde können, mit all dem …
Sie kam nicht dazu, es zu versuchen. Der König hob sie hoch, als wöge sie nicht mehr als eine Taube, und trug sie auf den Armen.
Er marschierte auf die Tür zu, die er mit einem gezielten Fußtritt öffnete, und trat hinaus in den Gang durch das Gedränge aus Aristokraten und Brüdern der Black Dagger. Instinktiv vergrub sie das Gesicht an seinem Hals.
Anha war sich immer wie ein Objekt vorgekommen, während man sie für den König aufgezogen hatte. In der Gegenwart von Wrath war dieses Gefühl zum ersten Mal verflogen. Doch unter den abfälligen Blicken der Hofgesellschaft wurde sie wieder auf die alte Rolle reduziert: ein Besitzstück, keine Ebenbürtige.
»Wohin wollt Ihr?«, erkundigte sich einer der Aristokraten, als der König achtlos an der Menge vorbeiging.
Wrath lief weiter – doch der Höfling war beharrlich.
Er stellte sich Wrath in den Weg. »Mein König, üblicherweise …«
»Wir gehen in meine Gemächer. Dort werde ich mich um sie kümmern, heute Nacht und in allen, die da kommen mögen.«
Der Aristokrat mit dem schmalen, verkniffenen Gesicht war erstaunt. »Aber mein Gebieter, diese Ehre gebührt allein der Königin. Selbst wenn Ihr diese Frau bereits besessen habt, ist die Verbindung erst rechtskräftig, wenn …«
»Wir sind ordnungsgemäß vereinigt. Ich selbst habe die Zeremonie vollzogen. Sie ist mein, ich gehöre ihr, und sicher willst du dich keinem gebundenen Vampir mit seiner Shellan in den Weg stellen – schon gar nicht dem König und seiner Königin. Oder doch?«
Zwei Zahnreihen klackten aufeinander, als hätte jemand hastig einen offen stehenden Mund geschlossen.
Als Anha über die Schulter von Wrath blickte, sah sie zustimmende Gesichter in der Bruderschaft, als fänden die Kämpfer Gefallen an der Angriffslust des Königs. Doch in den Mienen der Adeligen in den grauen Roben war keinerlei Zustimmung zu finden. Stattdessen: Ohnmacht. Unterwerfung. Verhaltene Wut.
Sie wussten, wer das Sagen hatte: Sie waren es nicht.
»Nehmt Begleitschutz«, sagte einer der Brüder. »Nicht um einem Brauch gerecht zu werden. Es sind schwierige Zeiten. Selbst in der Festung gebührt der Hohen Familie Schutz.«
Der König überlegte und nickte. »Sehr wohl. Folgt mir, aber« – seine Stimme senkte sich zu einem Knurren – »fasst sie nicht an. Wer sie durch Berührung beschmutzt, dem reiße ich den Arm aus.«
Der Bruder schien angetan. Seine Stimme klang respektvoll: »Wie Ihr wünscht, mein König. Bruderschaft!«
Auf dieses Kommando rissen die Krieger ihre Dolche aus den Brusthalftern. Die Klingen schimmerten schwarz im Licht der Fackeln an den Wänden des Gangs, und während Anha die Finger im kostbaren Ornat des Königs vergrub, stießen die Brüder einen schallenden Schlachtruf aus und hoben die Klingen über die Köpfe.
In einer Simultanität, die nur durch langes Beisammensein erworben wird, fielen sie in einem Kreis auf die Knie und rammten die Spitzen ihrer Dolche in den Boden.
Dann beugten sie die Häupter und sprachen wie aus einem Munde – etwas, das Anha nicht verstand.
Und doch waren diese Worte an sie gerichtet: Die Brüder schworen ihrer Königin die Treue.
Eigentlich hätte dieser Eid in der nächsten Nacht vollzogen werden sollen, in Anwesenheit der Glymera. Doch auf diese Weise war es Anha lieber. Und als die Blicke der Krieger sich hoben, strahlten ihre Augen vor Respekt – ihr gegenüber.
»Mein tiefster Dank der Bruderschaft«, hörte sie sich sagen. »Und all meine Ehrerbietung unserem König.«
Im nächsten Moment wurden sie und ihr Gefährte von den hünenhaften Kriegern umringt. Anha hatte ihren Treueschwur angenommen, der Dienst begann auf der Stelle. Flankiert von beiden Seiten, so wie Anha auf ihrem Weg zum König, lief Wrath weiter.
Über die Schulter ihres Gefährten und durch die Masse der Brüder sah Anha die versammelte Hofgemeinschaft, die hinter ihnen zurückblieb.
Der Berater stand mit finsterer Miene vor allen anderen, die Hände in den Hüften … er war alles andere als erfreut.
Ein Schauder erfasste sie.
»Keine Bange«, flüsterte Wrath ihr ins Ohr. »Ich werde zärtlich beginnen.«
Anha errötete und vergrub das Gesicht erneut an seinem starken Hals. Er wollte sie nehmen, wenn sie das angesteuerte Ziel erreichten, wo es auch lag. Er würde seinen heiligen Leib mit ihr verbinden und ihre Vereinigung fleischlich besiegeln.
Erschrocken stellte sie fest, dass auch sie das wollte. Jetzt und auf der Stelle. Schnell und hart …
Doch als sie endlich alleine waren und sich auf einem herrlichen Bett aus Daunen und Seide niedergelassen hatten … da war sie dankbar, dass er geduldig und liebevoll mit ihr umging, wie er es versprochen hatte.
Es war das erste Mal von vielen, vielen weiteren, dass ihr Hellren sie nicht enttäuschte.