Für Finn

Gedankenbotschaften

Lenas Tante war Wahrsagerin von Beruf. Unten in ihrem Haus gab es eine kleine Praxis mit einem überfüllten Wartezimmer, in dem all die Leute saßen, die sich von Tante Mel die Zukunft voraussagen ließen. Und wenn Lena bei ihr zu Besuch war und die Kunden nichts dagegen hatten, durfte sie beim Handlesen oder Kartenlegen sogar zusehen.

Manchmal kamen auch Tante Mels Freunde vom Zirkus Pirelli vorbei. Lena mochte die Zirkusleute sehr, vor allem Frau Lapislazuli, die Schlangenbeschwörerin. Frau Lapislazuli ging niemals ohne ihre Lieblingsschlange aus. Die Lieblingsschlange hieß Bella und war eine zwei Meter lange gelbe Boa. Meist trug Frau Lapislazuli Bella wie einen Schal um ihren Hals, ab und zu aber auch wie einen Hut auf dem Kopf! Der Boahut sah allerdings eher wie ein spitzer Turban aus, und ganz oben, an der höchsten Stelle, flatterte Bellas kleine gespaltene Zunge in der Luft wie die Fahne eines Aussichtsturms.

Vor langer Zeit hatte Tante Mel selber einmal beim Zirkus Pirelli gearbeitet. Dort hatte sie mit der Ferse an einer Schaukel hoch über der Manege gehangen und mit dem Kopf nach unten gelächelt. Das ging drei Jahre lang gut. Bis bei einer Vorstellung ein Mann im falschen Moment schrecklich laut nieste. Alle im Zelt erschraken, weil es gerade vollkommen still war und jeder vor Spannung den Atem anhielt. Tante Mels Ferse erschrak leider ebenfalls und zuckte ein bisschen, deswegen war Tante Mel in die Tiefe gestürzt und hatte sich dabei fast das Genick gebrochen – aber zum Glück nur fast.

»Der Unfall hatte ja auch was Gutes«, sagte Tante Mel jedes Mal, wenn sie die Geschichte erzählte. Denn als sie nach ihrem Sturz dort unten in der Manege gelegen hatte, tat ihr alles so weh, dass sie beschloss, aus ihrem Körper auszusteigen – bis dahin hatte Tante Mel gar nicht gewusst, dass sie so etwas konnte. Sie war einfach aus sich selbst herausgeschwebt, war neben den Rettungsmännern hergelaufen und hatte zugeschaut, wie ihr Körper ins Krankenhaus gefahren wurde. Und ihr selbst ging es die ganze Zeit ganz wunderbar, weil sie ja nicht mehr in ihrem Körper steckte und ihn deshalb auch nicht spüren musste.

Als Tante Mel endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte sie einen steifen Hals und brauchte zum Laufen eine Krücke. Auf die Schaukel klettern konnte sie auch nicht mehr, also kündigte sie beim Zirkus und eröffnete ihre Praxis.

Lena liebte ihre Tante über alles und glaubte fest daran, dass Tante Mel eine sehr, sehr gute Wahrsagerin war, denn sie besaß ein sagenhaft feines Gespür. Zum Beispiel wusste sie immer ganz genau, wie es Lena gerade ging.

Früher, als Lenas Eltern noch nicht getrennt gewesen waren, hatte es oft Streit gegeben, manchmal so schlimm, dass Lena unter den Küchentisch kroch und brüllte: »Ich will weg! Ich will weg!«

Dann verging keine halbe Stunde, bis es an der Haustür pochte, und jeder wusste, dass Tante Mel dort draußen stand, denn sie benutzte nie die Klingel, sondern klopfte mit der Krücke.

Lenas Vater machte ihr immer auf, obwohl Lenas Mutter brüllte: »Lass sie bloß nicht rein, die blöde Kuh!« Sie konnte Tante Mel nicht leiden.

Tante Mel tat einfach so, als hätte sie es nicht gehört. Sie bückte sich ein wenig, lächelte von der Tür bis unter den Küchentisch und sagte:

»Komm, Lena, wir fahren mal weg, wir beide.«

Dann machten sie zusammen einen Ausflug und Lenas Eltern konnten in Ruhe streiten.

Doch das Tollste an Tante Mel waren ihre Gedankenbotschaften. Abends, wenn es vom Kirchturm neun geschlagen hatte, hörte Lena Tante Mels Stimme – nicht in Wirklichkeit, sondern in Gedanken, aber mindestens genauso deutlich, als würden sie telefonieren.

Meistens lag Lena schon im Bett und war kurz vorm Einschlafen, wenn Tante Mel eine Gedankenbotschaft schickte. Das klang dann zum Beispiel so:

»Tante Mel an Lena, Tante Mel an Lena. Hallo! Hallo? Bist du da?«

»Ja … Ja«, antwortete Lena in Gedanken. »Ich höre dich, aber da rauscht irgendwas!«

»Schle… chr-chr-chr-chr-chr …te Verbindung heute«, knarzte Tante Mels Stimme. »Na, wie war dein Tag?«

»Blöd.«

»Oh. Warum?«

»Mama hat Papa gestern rausgeworfen. Und sie hat gesagt, er darf nie wieder herkommen und auch nicht anrufen.«

»Hm. Dann musst du ihn anrufen und ihn besuchen.«

»Das geht nicht. Ich weiß nicht, wo er wohnt. Und Mama hat das Telefon abgemeldet und benutzt nur noch ihr Handy. Und ein eigenes krieg ich nicht, weil das zu teuer ist.«

In der Gedankenleitung rauschte und knirschte es eine ganze Weile. Tante Mel dachte nach.

»Und wie sollst du dann mit deinem Papa reden?«

»Gar nicht«, antwortete Lena und hörte ein lautes, ärgerliches Schnauben. Das machte Tante Mel immer, wenn sie sich über irgendetwas aufregte.

»Ich komme morgen und rede mit ihr!«

Am nächsten Tag kam Tante Mel nachmittags vorbei und hämmerte mit ihrer Krücke an die Tür.

»Hau ab!«, brüllte Lenas Mutter.

»Doro, mach die Tür auf!«, brüllte Tante Mel zurück. »Wenn du mich nicht auf der Stelle reinlässt, zieh ich dir mit der Krücke eins über!«

Lena fand das total unlogisch, weil man doch niemanden verprügeln kann, wenn er die Tür nicht aufmacht. Aber Doro konnte anscheinend nicht sehr logisch denken, zumindest nicht in diesem Moment, denn sie bekam solche Angst, dass sie Tante Mel tatsächlich hereinließ.

Die beiden setzten sich an den Küchentisch. Mel an die rechte schmale Seite, Doro an die linke schmale Seite und Lena hockte sich auf die kleine Trittleiter vor dem Vorratsregal.

»Du kannst Lena und ihrem Vater doch nicht einfach verbieten, miteinander zu reden!«, schimpfte Tante Mel.

»Du hast mir gar nichts zu sagen!«, blaffte Doro.

Lena hörte gar nicht richtig hin, sondern versuchte herauszufinden, ob die beiden sich irgendwie ein bisschen ähnlich sahen. Schließlich waren sie Schwestern.

Doro war lang und dürr und hatte staksige Jeansbeine und einen rot gefärbten Stoppelschnitt, bei dem die Haare vom Kopf abstanden wie die Stacheln eines Igels.

Mel hatte wilde braune Locken und ein Doppelkinn, und wenn sie mit ihrer Krücke die Treppe heraufkam, wackelte alles an ihr. Bei Doro wackelte nichts.

Nein, die beiden sahen überhaupt nicht aus wie Schwestern, fand Lena.

»Zu wem hältst du eigentlich?«, fauchte Doro gerade. »Zu mir oder zu Piet?«

Tante Mel stöhnte genervt auf und verdrehte die Augen, was wohl bedeutete, dass sie die Frage ziemlich blöd fand.

»Zu Lena«, sagte sie.

»Lena ist meine Tochter, nicht deine!«

Tante Mel schwieg einen Moment, dann griff sie nach ihrer Krücke und erhob sich mühsam vom Tisch.

»Wenn du Lena ihren Vater wegnimmst, rede ich kein Wort mehr mit dir«, sagte sie. »Nie wieder!«

Und damit humpelte sie zur Tür hinaus.

Ein paar Tage später lag Lena abends im Bett und wartete auf Tante Mels Gedankenbotschaft. Draußen war es dunkel, und die Straßenlaterne warf ein Leopardenmuster aus Licht und Schatten an die Decke, das sich von Zeit zu Zeit bewegte. Wenn der Wind durch die Baumwipfel strich, begannen die Flecken über Lenas Kopf zu tanzen.

Seit Tante Mel nun abends immer Gedankenbotschaften schickte, hatte Lena im Dunkeln überhaupt keine Angst mehr. Im Gegenteil, sie fühlte sich sicher und beschützt. Die Dunkelheit hüllte sie ein wie ein warmer, weicher Mantel.

Vom Kirchturm schlug es neun. Lena zählte die Schläge mit. Nach dem neunten und letzten Schlag dauerte es meistens noch einen Moment, bis Tante Mels Stimme zu hören war. Das lag daran, dass ihr alter Wecker etwas nachging.

Neun. Lena schloss die Augen und wartete.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und das Licht ging an.

Lena schlug die Augen auf.

Vor ihr stand Doro, so bleich, dass sie fast wie ein Vampir aussah. Wie ein Vampir mit feuerroten Haaren.

»Lena«, krächzte Doro. Ihre Stimme hörte sich ganz heiser an. »Ich muss dir etwas sagen.«

»Was denn?«

»Tante Mel hatte einen Unfall …«

»Weiß ich doch«, sagte Lena. »Sie ist im Zirkus von der Schaukel gefallen, damals, als ich noch klein war.«

»Nein«, sagte Doro. »Das meine ich nicht. Sie hatte einen Autounfall, heute Nachmittag.«

Lena sah, dass Doros Lippen zitterten. Das taten sie sonst nie.

Tante Mel war mit einem alten Freund zum Gartencenter gefahren. Und weil sie es eilig hatten, fuhren sie ein Stück über die Autobahn und waren nach der großen Kurve in das Ende eines Staus gerast.

Der Freund hatte den Unfall überlebt, Tante Mel nicht.

»Sie ist tot!«, schluchzte Doro.

Genau in diesem Moment empfing Lena eine Gedankenbotschaft.

»Stimmt nicht«, sagte Tante Mels Stimme in Lenas Kopf. »Es war alles ganz anders!«

Lena sprang aus dem Bett.

»Mama, Tante Mel ist gar nicht tot!«

Doro starrte sie entgeistert an.

»Was redest du denn da?«

»Ich kann ihre Stimme hören. Jetzt gerade, in diesem Moment … Und sie sagt, dass es ihr gut geht.«

»Lena, das ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment für alberne …«

»Aber es stimmt. Ehrlich. Ihre Stimme ist in meinem Kopf. Das haben wir so verabredet. Jeden Abend um neun Uhr schickt sie mir …«

»Hör sofort auf damit! Ich will diesen Quatsch nicht hören!«

»Aber …«

»Kein Aber!«

Genau das war der Grund, warum Lena ihrer Mutter noch nie etwas von den Gedankenbotschaften erzählt hatte.

Doro wischte sich die Tränen ab und blickte Lena einen Moment lang an, als stünde ein vollkommen fremdes Kind vor ihr. Dann ging sie wortlos aus dem Zimmer.

»Tante Mel?«, flüsterte Lena.

»Pst! Erschrick nicht, ich bin hier!«

Lena zuckte zusammen. Denn diesmal hatte sie Tante Mels Stimme nicht in Gedanken gehört, sondern ganz in echt. So, als befände sich Tante Mel keine zwei Meter weit von ihr entfernt. Ungefähr neben dem Schreibtisch. Aber dort war nichts!

»Bist du … ein Geist?«

»Nein«, sagte Tante Mel sehr entschieden, was ein bisschen komisch wirkte, weil sie ja unsichtbar war. »Rutsch mal ein Stück, damit ich mich auf deine Bettkante setzen kann.«

Und dann erzählte sie Lena, was bei dem Unfall passiert war: Theo der Gärtner, ein Freund von Tante Mel, hatte am Steuer gesessen, und sie selbst auf dem Beifahrersitz. Und als sie auf die Autobahn fuhren, war Tante Mel plötzlich siedend heiß eingefallen, dass in ihrer Küche noch die linke hintere Herdplatte brannte. Jedenfalls war sie sich nicht ganz sicher gewesen, ob sie sie auch wirklich ausgeschaltet hatte. Und weil Tante Mel seit dem Unfall im Zirkus ja ihren Körper verlassen konnte, beschloss sie, während der Fahrt mal eben nachzusehen, ob zu Hause auch alles in Ordnung war.

»Was für ein Glück, denn deswegen war ich gar nicht im Auto, als der Unfall passierte«, erzählte Tante Mel. »Bloß mein Körper. Und der ist nun hinüber. Aber ich selber bin noch da … Und die Herdplatte war übrigens gar nicht an!«

»Aber dann musst du doch ein Geist sein.«

»Also bitte, Lena«, schnaubte Tante Mel. »Ich kenn mich wirklich aus mit Geistern! Können Geister etwa ganz normal reden?«

»Nein … Aber was bist du dann

Tante Mel setzte sich ein bisschen anders hin, was Lena daran merkte, dass ihr Bett leise knarrte.

»Hm. Ich hab da so einen Verdacht … Kannst du mal die Waage holen?«

»Die Waage?«

»Ja, die im Badezimmer.«

Lena sprang aus dem Bett und schlich sich auf Zehenspitzen ins Bad. Kurz darauf schlüpfte sie mit der Waage durch den Türspalt zurück ins Zimmer und stellte sie vors Bett.

Tante Mel erhob sich von der Bettkante und stieg auf die Waage – das konnte Lena daran sehen, dass die Zahlen auf der Digitalanzeige sich plötzlich veränderten.

»Na bitte, genau wie ich gedacht habe«, sagte Tante Mel.

»Was denn?«

»Fünfunddreißig Kilo! Genau die Hälfte von dem, was ich früher gewogen habe … Ganz klar, ich bin halbmateriell!«

»Halbmateriell? Was ist denn das?«

»Meine Seele hat jetzt eine dünne Körperhülle, die so luftig ist, dass man sie nicht mehr sehen kann.« Tante Mel stieg wieder herunter.

Lena streckte vorsichtig die Hand aus, um Tante Mel zu berühren. Sehr viel spürte sie nicht. Aber da war ein leichter Widerstand. Und der war warm und weich.

»Blöd«, sagte Lena. »Ich will dich lieber sehen!«

»Das ist ein kleiner Nachteil«, gab Tante Mel zu. »Aber es gibt auch Vorteile. Ich kann umsonst ins Kino gehen. Oder mich in ein Flugzeug nach Australien setzen, ohne zu bezahlen. Außerdem ist mein Hals nicht mehr steif, und ich bin nicht mehr so schwer, ganz ohne Diät! Und weißt du, was das Tollste ist? Ich brauch zum Gehen keine Krücke mehr. Nie wieder humpeln! Das ist doch fabelhaft!«

»Willst du Mama nicht Bescheid sagen?«, fragte Lena.

»Hm, ich weiß nicht. Ich hab so ein Gefühl, dass es besser wäre, noch damit zu warten. Wer weiß, wozu es gut ist. Du weißt doch, wie das bei mir ist mit dem Gespür.«

Tante Mels Gespür hatte sich noch nie geirrt.

»Dann behalten wir es für uns«, flüsterte Lena. »Nur wir zwei wissen Bescheid!« Geheimnisse sind etwas Wunderbares, dachte sie.

»Genau, mein Schatz«, flüsterte Tante Mel. »Nur wir zwei.«