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Copyright © by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2014

Umschlag- und Innengestaltung: Gunta Lauck

Abbildung Eiswaffel © unpict-Fotolia.com, Eiswürfel ©Tim UR-Fotolia.com

Satz und E-Book-Umsetzung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-646-92605-7

Alle Bücher im Internet unter www.carlsen.de

Connis Soundtrack: Peter Fox, Bosse, Aura Dione, TobyMac, Dionne Bromfield, Cyndi Lauper, Selig, Olly Murs, Amy Winehouse, Pohlmann, Die Toten Hosen, Söhne Mannheims, Cro, Marteria.

 

Dagmar Hoßfeld

Wozu gibt es Zeitzonen
und wieso
stecke ich in einer?

Boom boom bang, gimme boom boom bang …

Du lieber Himmel, was ist das? Ich versuche, meine Augen zu öffnen. Sie weigern sich. Versuch’s später noch mal, signalisieren sie mir. Wenn wir ausgeschlafen haben.

Ich ignoriere den Vorschlag und reiße die Augenlider auf. Das dröhnende Geräusch kommt näher. Haben meine Eltern vergessen, mir mitzuteilen, dass unser Haus heute abgerissen wird? Dabei hab ich gerade so schön geträumt. Von Phillip und seinen weichen Locken. Wir lagen an einem einsamen Strand, haben uns geküsst und dann –

Boom boom bang, gimme boom boom bang …

Ich springe aus dem Bett, tapse ans Fenster und werfe einen Blick hinaus. Nichts zu sehen. Inzwischen bin ich allerdings wach genug, um das Geräusch zu analysieren, das mich so unsanft aus dem Tiefschlaf gerissen hat. Irgendein Idiot hat die Anlage in seinem Auto voll aufgedreht und fährt mit der rollenden Disco durch unsere Wohnstraße, um friedlich schlummernde Menschen wie mich zu ärgern.

Als das Wummern leiser wird und sich schließlich entfernt, krabbele ich wieder in mein Bett. Es ist eindeutig zu früh, um aufzustehen. Es sind Sommerferien. Ich will weiterschlafen. Mau klettert aus seinem Korb und springt neben mich. Er kuschelt sich ganz eng in meine Armbeuge und schnurrt mir ins Ohr.

Ich klappe die Augen zu und versuche mich auf meinen Traum von vorhin zu konzentrieren. Wo war ich stehengeblieben?

Phillip und ich.

Einsamer Strand.

Wellen rollen ans Ufer.

Palmen rascheln im Wind.

Zärtlicher Kuss.

Pustekuchen. Es funktioniert nicht. Ich bin viel zu wach.

Ich angele meinen himbeerfarbenen Laptop vom Fußboden und stopfe mir das Kopfkissen in den Rücken. Irgendwo hab ich neulich gelesen, dass mit sechzehn ein besonderer Lebensabschnitt beginnen soll. Aufregende Geheimnisse warten auf dich, hieß es da. Du wirst deine einzig wahre Liebe finden. Ein Leben voller Verheißungen liegt vor dir!

Ha, ha, wer’s glaubt. Außerdem: Warum erst mit sechzehn? Das wahre Leben fängt eindeutig früher an, das weiß ich genau. Und zwar aus eigener Erfahrung.

Ich bin fünfzehn, seit exakt zweieinhalb Monaten und vier Tagen, und kurz nach meinem 15. Geburtstag hat ein sehr besonderer Abschnitt meines Lebens begonnen. Ich nenne ihn den Wie überlebe ich ohne meinen Freund-Abschnitt.

Nicht nur, dass ich entdeckt habe, dass mein Freund sich um ein Haar nach San Francisco verkrümelt hätte, ohne mir Bescheid zu sagen, nein, auch meine wahre und einzige Liebe habe ich längst gefunden.

Vergesst also die Sache mit dem 16. Geburtstag. Das Leben fängt tatsächlich schon früher an. Es wartet jeden Tag auf dich, auf mich, auf alle Mädchen. Und DAS finde ich ziemlich cool!

Ob es dazugehört, dass man sich hin und wieder ein bisschen orientierungslos fühlt, wenn man erwachsen wird, weiß ich nicht so genau. Ich vermute mal, eher nicht. Ich möchte mir echt nicht vorstellen, dass auf einen Schlag sämtliche Fünfzehnjährigen unter einer Zeitzonen-Phobie leiden und nicht wissen, in welcher Zonenzeit der Welt sie selbst und ihr Freund gerade stecken. (Es sei denn, sie sind Zeitreiseexperten. Dann kennen sie sich natürlich mit so was aus.)

Nein, alle Mädchen leiden bestimmt nicht darunter.

Nur ich.

Seit Phillip nicht mehr da ist (ihr wisst schon: meine wahre Liebe; der Junge, der sich heimlich verkrümeln wollte), leide ich darunter und bin daher manchmal etwas durcheinander – speziell was die Zeit angeht, in der ich mich gerade befinde. Das fängt schon morgens beim Aufwachen an.

Bei uns herrscht momentan Sommer, weshalb für mich die Mitteleuropäische Sommerzeit, kurz MESZ, gilt. Phillips aktuelle Zeitzone ist die Pacific Daylight Time. Übersetzt steht das für Pazifische Sommerzeit und bedeutet im Klartext, dass wir uns längengradmäßig in zwei komplett verschiedenen Zonen befinden.

Er in Berkeley, Kalifornien, USA.

Ich hier. Irgendwo in Deutschland.

Zwischen uns der Atlantik, jede Menge Flugmeilen und neun Stunden Zeitunterschied.

Neun Stunden!

Ja, es ist kompliziert. Besonders, wenn wir spontan miteinander reden wollen. Zum Beispiel, um uns zu sagen, dass wir uns lieben (immer noch und trotz der Entfernung), uns vermissen (ganz schrecklich!) oder uns nacheinander sehnen (immer mehr!!).

Um uns das mitzuteilen, müssen wir zuerst mal nachrechnen, ob der andere nicht vielleicht gerade schläft oder im Unterricht sitzt. Auf Dauer killt das garantiert jede Romantik.

Aber zum Glück ist Phillip nicht auf Dauer weg, sondern nur für ein halbes Jahr. Wir haben jetzt schon zwei ganze Wochen ohneeinander überlebt. Die restlichen fünfeinhalb Monate schaffen wir auch noch. Das haben wir uns jedenfalls fest vorgenommen.

Bleibt uns was anderes übrig?

Nein, seufz …

Blöder Schüleraustausch!

Wenn ich daran denke, dass tatsächlich schon zwei Wochen vergangen sind, seit Phillip und ich uns zum Abschied geküsst haben, wird mir ganz anders. Zwei Wochen kein Blick, kein Kuss, keine Berührung, keine Zärtlichkeit …

Harte Zeiten, Conni Klawitter. Echt harte Zeiten.

Ich balanciere meinen Laptop auf den Knien und lausche. Im Haus ist es ruhig. Meine fleißigen Eltern sind wahrscheinlich längst bei der Arbeit. Jakob, mein kleiner Bruder, ist für eine Woche mit seinem Sportverein in einem Zeltlager an der Nordsee.

Es ist ungewohnt, ganz allein zu sein, aber auch irgendwie schön.

Träge blinzele ich in einen Sonnenstrahl, der durchs Fenster fällt. Ein leichter Windhauch pustet in den Vorhangstoff und lässt ihn wie ein Segel flattern. Goldene Staubkörnchen tanzen durchs Zimmer. Es sieht hübsch aus. Wie ein Miniatur-Feenballett.

Die Uhr meines Laptops zeigt kurz nach neun. Dann ist es in Berkeley kurz nach Mitternacht.

Ob ich Phillip mal anstupsen soll? Vielleicht ist er noch wach. Vielleicht kann er nicht schlafen. Oder er schläft und träumt von mir.

Vielleicht spürt er in dieser Sekunde, dass ich an ihn denke, schlägt genau jetzt seine Augen auf und hat ein kuscheliges Gefühl im Bauch, von dem er nicht weiß, woher es kommt.

Von mir und meinen Gedanken nämlich.

Ich schließe meinen Tagebuch-Ordner und logge mich bei Skype ein. Phillips Account ist im Schlafmodus. Genau wie er selbst vermutlich. Hätte ich mir eigentlich denken können. Er ist Sportler und geht normalerweise früh ins Bett.

Seufzend schiebe ich den Laptop auf die Seite und stoße dabei gegen meinen schlafenden Tigerkater, der wie üblich zwei Drittel des Bettes für sich beansprucht. Wie kann ein so kleines Tier sich so breitmachen? Es ist unglaublich!

Mau hebt den Kopf und schaut mich an, als müsste er erst mal sortieren, wer ich bin und was ich in seinem Bett zu suchen habe. Dann gähnt er löwenmäßig und fängt an, sich zu putzen.

Lächelnd streichele ich sein weiches Fell. Er fährt mit seiner Morgenwäsche fort, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Dann eben nicht, Mister Mau-Cat.

Mein Handy liegt auf dem Nachttisch. Ich strecke mich danach und checke den Posteingang. Phillip hat mir eine SMS geschickt; wie jeden Abend, bevor er ins Bett geht. Wegen der blöden Zeitzonen bin ich dann meistens leider schon im Tiefschlafmodus und lese sie daher immer erst morgens.

MISS U steht auf dem Display.

Mit einem Finger streife ich über die Nachricht und fahre die Buchstaben einzeln nach, als könnte ich sie dadurch zum Leben erwecken.

„Ich vermiss dich auch“, sage ich leise. „Und wie.“

Ich tippe XOXO und drücke auf Senden.

Billi hat mir auch eine SMS geschickt. Leider auf Italienisch, weshalb ich nur die Hälfte verstehe. Aber es geht ihr gut, so viel kann ich entziffern, und die Sonne scheint offenbar auch in Italien den ganzen Tag.

Il sole splende tutto il giorno, hat sie gesimst. Dafür reicht mein Italienisch aus.

Ich schreibe ihr zurück, dass sie wegen des Sonnenscheins nicht extra nach Italien hätte fahren müssen, und wünsche ihr schöne Restferien. Dann wühle ich mich endlich aus dem Bett.

Eine halbe Stunde später bin ich frisch geduscht und angezogen. Es ist ein herrlicher Sommermorgen, sonnig und warm; wie in einem schwedischen Kinderbuch.

Shorts, Top und Flipflops genügen. Meine nassen Haare lasse ich an der Luft trocknen. Wie jeder neue Tag kommt mir auch dieser wie eine leere Tagebuchseite vor, die nur darauf wartet, von mir gefüllt zu werden. Ich bin gespannt.

In der Küche singt Peter Fox von seinem Haus am See. Ich drehe das Radio lauter und trällere mit, während ich Cornflakes in eine Schüssel schütte, eiskalte Milch aus dem Kühlschrank darübergieße und mit meinem Frühstück durch den Flur ins Wohnzimmer tanze, um die Tür zum Garten sperrangelweit zu öffnen.

Mau ist mir gefolgt und springt sofort ins Freie. Eine Hummel summt um ihn herum. Er schlägt halbherzig mit der Pfote nach ihr, erwischt sie aber nicht. Dann verschwindet er im dichten Urwald unseres Gartens.

Ich setze mich im Schatten der Markise auf die Terrasse und löffele die schon leicht matschigen Cornflakes. So mag ich sie am liebsten: schön eingeweicht und mit Milch vollgesogen. Im Gegensatz zu Phillip, der sie am liebsten crunchy knabbert.

Phillip – schon wieder!

Ist es normal, dass ich ständig an ihn denke? Morgens, mittags, abends, nachts und sogar, während ich weiche Cornflakes in mich hineinschaufele?

Hm, vermutlich schon. Vielleicht wäre es anders, wenn Schule wäre. Dann hätte ich etwas um die Ohren und wäre abgelenkt. Aber so …

Ich wüsste zu gerne, ob er genauso oft an mich denkt wie ich an ihn.

Wir skypen in jeder freien Minute. Manchmal telefonieren wir auch übers Handy, aber leider ist die Verbindung ziemlich mies. Und es kostet ein Vermögen. Simsen funktioniert besser. Endlos lange Mails schreiben wir auch zwischendurch. Wir hören und sehen uns also jeden Tag. Trotzdem vermissen wir uns wie verrückt. Und es wird nicht weniger, im Gegenteil. Aber das ist eigentlich kein Wunder, wo doch ganze Lichtjahre zwischen uns liegen.

Am liebsten würde ich meinen Rucksack packen und zu ihm fliegen. Heute noch. Schließlich sind Ferien und ich bin zeitlich flexibel. Aber meine Eltern haben etwas dagegen.

Wieso eigentlich? Ein Last-Minute-Flugticket nach San Francisco kostet echt nicht die Welt, das hab ich im Internet gecheckt. Wenn sie mir das Geld für die Reise vorschießen würden, können sie es von mir aus mit allen noch zu erwartenden Taschen-, Weihnachts-, Geburtstags-, Kindergeld- und sonstigen Zahlungen bis zu meiner Volljährigkeit verrechnen, kein Problem.

Aber nein, sie stellen sich quer. Kompromisslos, stur und zu keiner weiteren Diskussion bereit. Wie Eltern in dem Alter nun mal sind. Hoffentlich werde ich später anders.

Mein Handy meldet sich. Seit kurzem hab ich Die schönste Zeit als Klingelton. Ich mag Bosse. Die Musik passt einfach perfekt zu meiner Stimmung, seit Phillip weg ist.

Melodisch-melancholisch, sagt meine Freundin Lena dazu. Sie hat Recht.

Witzigerweise ist Lena dran.

„Hi, Strohwitwe!“ Sie kichert mir ins Ohr wie eine kleine Hexe. Im Hintergrund dröhnen Motorengeräusche. „Wollte nur mal kurz die Lage peilen. Was machst du so?“

„Frühstücken“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Und mit dir telefonieren.“

„Cool! Und später?“

„Weiß ich noch nicht.“ Ich schlürfe den Rest meiner ertränkten Cornflakes direkt aus der Schüssel. „Vielleicht geh ich in die Stadt, ein bisschen bummeln.“

„In die Stadt? Bei dem genialen Wetter?“

Lena ruft etwas. Ich kann es nicht verstehen, aber ich bin auch gar nicht gemeint.

„Wo bist du?“, frage ich sie.

„Wie hört es sich an?“, fragt sie keck zurück.

„Als würdest du auf einem Trecker sitzen“, wage ich eine Vermutung.

„Bingo!“

Ich hätte es mir ja denken können! Lena, das verrückte Huhn, verbringt seit einigen Wochen erstaunlich viel Zeit auf den diversen Sitzen landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge. Genauer gesagt, auf den Sitzen von Nutzfahrzeugen, die ihrem Freund Krischan gehören. Das Liebesglück der beiden hat in der Küche von Lenas Müttern seinen Anfang genommen, als Krischan eine Ladung frisches Biogemüse auf die dortige Anrichte gewuchtet hat. Zufällig war ich damals dabei und konnte mit eigenen Augen verfolgen, wie die Funken zwischen den beiden hin und her geschossen sind. Ihre Herzen standen innerhalb von Millisekunden füreinander in Flammen. Sie passen aber auch wirklich gut zusammen. Mindestens so gut wie Phillip und ich. Nur mit dem feinen Unterschied, dass Krischan hier ist und Phillip nicht.

„Macht’s Spaß mit dem Biobauern?“, frage ich.

Lenas Antwort geht in einem undefinierbaren Mix aus Rauschen, Rumpeln und Brummen unter.

„Sorry!“, schreit sie ins Handy. „Ich glaub, ich muss Schluss machen. Die Ballenpresse ist zu laut!“

Ballenpresse, aha.

„Ist gut!“, rufe ich zurück, in der Hoffnung, dass sie mich versteht. „Wir können ja später noch mal telefonieren!“

Ich drücke auf die rote Taste, um das Gespräch zu beenden, und muss grinsen. In meiner Fantasie baut sich ein wunderschönes Bild auf: Lena und Krischan in Latzhosen, selig Händchen haltend auf einem Traktor, der ein Strohballen pressendes Ungetüm hinter sich herzieht und dabei eine fette Staubwolke produziert. So rollen sie glücklich durch den Sommertag bis an ihr Lebensende.

Kichernd trage ich mein Geschirr in die Küche und spüle es ab. Dann schnappe ich mir Handy, Hausschlüssel und Geldbeutel, stopfe alles in meine Lieblingsumhängetasche, schiebe mir die Sonnenbrille in die Haare und ziehe zum Schluss noch die Terrassentür zu. Ein Stadtbummel ist jetzt genau das Richtige für mein Summerfeeling. Vielleicht irgendwo ein Eis essen oder mich im Park unter einen Baum setzen. Ein bisschen träumen und dabei an Phillip denken …

Die Katzenklappe lasse ich vorsichtshalber offen, falls Mau den Wunsch haben sollte, in den nächsten Stunden von seinem Streifzug zurückzukehren, was ich eigentlich nicht glaube. Aber bei ihm weiß man nie.

Kaum hab ich das Haus verlassen, bleibe ich wie vom Blitz getroffen stehen.

Ich schnappe nach Luft. Oder besser: Ich versuche es. Die Luft ist nicht nur warm, sie ist heiß. So heiß, dass ich das Gefühl habe, der Asphalt unter meinen Füßen wäre ein glühender Lavastrom, der die Gummisohlen meiner Flipflops augenblicklich zum Schmelzen bringt.

In unserem schattigen Garten habe ich die Hitze gar nicht als so extrem empfunden, aber hier, in der absoluten Windstille zwischen den Häusern und parkenden Autos, scheint sie sich regelrecht aufgestaut zu haben.

Weil Atmen nahezu unmöglich ist, halte ich die Luft an und hüpfe in den Halbschatten eines Gebüschs, wo es allerdings auch nicht viel kühler ist.

Ich verspüre den dringenden Wunsch, kopfüber in einen Kübel mit Eiswasser zu springen und so lange nicht wieder aufzutauchen, bis die Sonne in irgendeinem Meer versinkt. Nur leider habe ich weder einen Kübel, der groß genug wäre, noch Eiswasser. Aber ich könnte schwimmen gehen. Ja, warum eigentlich nicht? Der Tag ist so herrlich, und in unseren Breitengraden weiß man schließlich nie, wie lange sich das Wetter hält. In die Stadt kann ich auch später noch gehen. Vielleicht morgen. Heute wird geschwommen und gechillt!

Ich will gerade umkehren, um meine Badesachen zu holen, als sich ein überfülltes und bis zum Anschlag gechlortes Freibad vor meinem geistigen Auge manifestiert. Die Vorstellung ist echt abtörnend, aber leider auch relativ alternativlos. Der nächste Strand ist Hunderte Kilometer entfernt. Bleibt nur noch der Waldsee, aber der ähnelt in den Ferien und bei Sonnenschein einer baumumstandenen Badewanne, die sich die Bewohner unserer Kleinstadt teilen müssen. Auch nicht wirklich verlockend.

Der Swimmingpool in Phillips Garten fällt mir ein. Ja, das wäre eine Alternative! Nur fürchte ich, dass Phillips Vater komisch gucken würde, wenn ich mit Bikini und Handtuch bewaffnet plötzlich an seiner Tür klingeln und ihn fragen würde, ob ich ein paar Runden schwimmen dürfte. Nee, das trau ich mich nicht. So gut kenne ich Herrn Graf schließlich nicht. Ich weiß auch gar nicht, ob er überhaupt zu Hause ist. Er ist zusammen mit Phillip nach San Francisco geflogen, um ihm die Westküste zu zeigen, bevor er ihn bei seiner Gastfamilie abgeliefert hat. Vielleicht hat er noch ein paar Urlaubstage drangehängt und kurvt jetzt alleine durch die Staaten. Oder seine Freundin ist nachgekommen und begleitet ihn. Keine Ahnung. Jedenfalls fällt der Privatpool flach.

„Außerdem bist du aus deinem Bikini rausgewachsen“, murmele ich vor mich hin. „Schon vergessen?“

Hm, stimmt leider. Mein alter Bikini geht nur noch für den Hausgebrauch. Erstens ist er mir inzwischen eine bis zwei Nummern zu klein – besonders obenrum –, zweitens ist der Stoff schon ganz ausgeblichen, und dann ist auch noch der Schnitt total kleinmädchenhaft. Kein Wunder, ich hab das Teil bekommen, als ich dreizehn war. Von den aufgedruckten niedlichen Schmetterlingen will ich lieber gar nicht erst anfangen!

Kurz: Ich habe nichts Passendes anzuziehen. Es sei denn, ich will an den FKK-Strand, was ich nicht ernsthaft in Erwägung ziehe und was außerdem daran scheitern würde, dass es so etwas hier in der Gegend zum Glück nicht gibt. Ich meine, es wäre doch echt peinlich, wenn man da zum Beispiel seinen Mathelehrer treffen würde, oder?

Also muss ich doch zuerst in die Stadt. Bikini-Shopping – und das bei dieser Affenhitze!

Nach wenigen Metern fühle ich mich wie die letzte Überlebende einer ökologischen Katastrophe. Von meiner erfrischenden Morgendusche ist nicht mehr viel zu spüren. Auf meiner Stirn folgen die Schweißperlen dem Gesetz der Schwerkraft und sammeln sich in meinen Augen, wo sie höllisch brennen. Mein Top klebt eklig zwischen den Schulterblättern. Und das, obwohl ich mir die allergrößte Mühe gebe, mein Energielevel niedrig zu halten, und mich nur schleichend fortbewege. Ich gehe jede Wette ein, dass die Polkappen geschmolzen sind. Die Versteppung der Landschaft hat schon eingesetzt. Oder war das Gras neben der Bushaltestelle gestern auch schon so verdorrt und es ist mir nur nicht aufgefallen? Und hat der Sprecher im Frühstücksradio vorhin nicht etwas vom bisher heißesten Tag des Jahres gefaselt? Warum hab ich nicht besser zugehört? Jetzt ist es zu spät. Ich werde an einem Hitzschlag sterben. So viel steht fest.

Sämtliche Straßen und Parkplätze in der Innenstadt sind wie leer gefegt. Das Thermometer an der alten Apotheke zeigt knapp unter dreißig Grad. Und ich hab nichts Besseres zu tun, als in dieser Gluthitze durch die Gegend zu latschen.

Geht’s noch?, zischt mir eine mäkelige Stimme ins Ohr.

Was bleibt mir denn anderes übrig?, fauche ich in Gedanken zurück. Schon vergessen? Es sind Sommerferien! Das ist die Zeit des Jahres, in der man normalerweise jede Menge Spaß hat. Aber meine große Liebe ist leider nicht da, und meine besten Freundinnen sind entweder verreist oder haben was Lustigeres vor, als mit mir als fünftem Rad am Wagen durch die Gegend zu ziehen. Die haben nämlich Freunde. Und zwar hier. Nicht Abertausende von Flugmeilen entfernt in Kalifornien. Noch Fragen?

Die Stimme antwortet nicht. Vermutlich ist sie beleidigt. Oder es ist ihr zu heiß zum Streiten. Vielleicht hat sie aber auch einen Sonnenstich. Es würde mich nicht wundern.

Vielleicht wäre sie nicht ganz so mäkelig, wenn sie mit mir und meiner Familie verreist wäre. Aber das ist in diesen Ferien nicht drin. Mein Vater hat ein wichtiges Projekt, das sich nicht aufschieben lässt, und meine Mutter ist den Sommer über allein in der Praxis. Der Familienurlaub ist ersatzlos gestrichen, leider.

Mit letzter Kraft schleppe ich mich zu einer Boutique – sie liegt auf der Schattenseite der Einkaufszone – und hadere mit meinem Schicksal. Dabei streift mein Blick zufällig einen Bikini. Er ist aus schwarzem, leicht glänzendem Stoff und liegt im Schaufenster, als hätte er dort auf mich gewartet. Eigentlich besteht er nur aus ein paar dreieckigen Stoffstücken und Bändern. Aus erstaunlich kleinen Stoffstücken und sehr dünnen Bändern, wie ich feststelle, während ich das Teil genauer unter die Lupe nehme. Trotzdem wirkt er sehr edel und schick.

Vergiss es!, meldet sich die Mäkelstimme ungefragt zu Wort. Schwarz ist nicht deine Farbe!

Hm, stimmt leider. Schwarz lässt mich krank und blass aussehen. Wie eine Trauerweide mit Brechdurchfall. Trotzdem gefällt mir der Bikini. Und das, obwohl er eindeutig die falsche Farbe hat und außerdem winzig und viel zu teuer ist. Über fünfzig Euro für die paar Quadratmillimeter? Frechheit!

Ehe ich mich bremsen kann, drücke ich die Ladentür auf. Über meinem Kopf bimmelt ein Glöckchen. Ich bleibe stehen und schaue mich um.

Üblicherweise kaufe ich meine Klamotten in stinknormalen Jeans-Shops und nicht in solchen Edelboutiquen. Ich fühle mich unwohl und ein bisschen fehl am Platz – was aber auch an den unverschämt hohen Preisen liegen kann, die mir von den Schildern entgegenleuchten. Aber wenigstens ist es hier drinnen kühler als draußen.

Aus einem verborgenen Lautsprecher kommt chillige Musik. Ich entspanne mich.

Ob man sich in so einer schicken Boutique einfach selbst bedienen darf? Im Fernsehen kommen immer gleich zwei bis drei stylische Verkäuferinnen auf einen zugeschossen. Hier bin ich anscheinend nicht nur die einzige Kundin, sondern auch sonst ziemlich allein. Ob ich mal Hallo rufen soll? Oder doch lieber unauffällig verschwinden?

Als ich mich gerade entschlossen habe, zu gehen und vielleicht später wiederzukommen, taucht wie aus dem Nichts eine Verkäuferin auf. Unmöglich, zu sagen, wie alt sie ist. Sie hat rotbraune Locken und eine Figur, als würde sie alle vier Wochen nur kurz an einem Salatblatt knabbern. Sie könnte Ende zwanzig sein, aber genauso gut Anfang vierzig. Ihre Haut ist so glatt und straff, dass sie kaum lächeln kann.

Trotzdem versucht sie es.

„Hi“, begrüßt sie mich. „Kann ich helfen?“

Fasziniert betrachte ich ihre langen, seidig schimmernden Wimpern, die unmöglich echt sein können, und nicke.

„Der Bikini im Schaufenster … Welche Größe hat der?“

„Der schwarze?“ Sie dreht sich um und stöckelt auf schwindelerregend hohen Absätzen in Richtung Auslage.

Ich frage mich, wie sie in diesen Schuhen laufen kann, ohne mit verstauchten Knöcheln in der Unfallambulanz zu landen, aber vermutlich hat sie lange trainiert. Sie erreicht ihr Ziel unfallfrei und zeigt auf den Bikini.

„Das ist ein Einzelstück. Reduziert.“

Danke, aber das beantwortet meine Frage nicht wirklich.

Das Schaufenster ist zum Laden hin offen. Mit zwei Fingern schnappt sie sich das Bikinihöschen, zieht es heraus und lässt den Stoff über ihre Hand gleiten. Alles in einer einzigen, sehr graziösen Bewegung.

„Sechsunddreißig“, sagt sie und schüttelt ihre Mähne.

Mist, zu klein. Ich hab’s geahnt.

„Ich hab ihn hinten noch in 38.“ Sie mustert meine Hüften und scannt anschließend meinen Brustumfang. „Und in 40.“

„Ähm …“, mache ich. „Okay.“

Die Verkäuferin entschwebt. Ich traue mich, wieder zu atmen. Hab ich wirklich die ganze Zeit die Luft angehalten?

Ich wünschte, Lena wäre hier, um mir beizustehen. Oder Anna, Billi, Dina. Egal wer. Hauptsache, eine von meinen Freundinnen. Am liebsten alle zusammen. Die Verkäuferin jagt mir irgendwie Angst ein. Sie wirkt auf mich wie eine Schaufensterpuppe. Total perfekt.

Was, wenn sie gleich mit den anderen Größen wiederkommt und ich die Teile anprobieren soll? Ein Wunder, dass die hier überhaupt so große Größen haben! Wo doch jeder weiß, dass alles, was größer als Größe null ist, für Elefanten und Trampeltiere reserviert ist. Ob ich nicht doch lieber abhauen soll?

Zu spät.

„Sodele“, flötet die Brünette und reicht mir zwei identisch aussehende Bikinis auf Plastikbügeln.

Sodele?

„Die Kabinen wären dahinten.“ Ihre matt lackierten Schaufensterpuppenfingernägel wedeln in eine vage Richtung.

„Danke“, krächze ich und stolpere fast über meine Flipflops.

Eigentlich hab ich gar keine Lust mehr aufs Anprobieren, stelle ich fest, als ich den Vorhang hinter mir zuziehe, der die Kabine vom Laden trennt.

Ich pose halbherzig vor dem Spiegel, schneide blöde Grimassen und halte mir die Bikinis nacheinander vor Brust, Bauch und Po. Mit bloßem Auge ist überhaupt kein Größenunterschied zu erkennen. Die eingenähten Schildchen behaupten das Gegenteil. Aber soll ich mich deswegen jetzt echt aus meinen verschwitzten Klamotten schälen? Mein Geld reicht sowieso nicht. Heute nicht und morgen auch nicht.

Ich ziehe den Vorhang wieder auf und halte der Verkäuferin die beiden Bügel hin.

„Ich überleg’s mir noch mal“, sage ich freundlich.

Sie nickt. Wahrscheinlich hat sie schon damit gerechnet.

Draußen unterdrücke ich ein Kichern. Was für eine Zeitverschwendung!

Apropos Zeit …

Ich werfe einen Blick auf mein Handy und seufze. Es ist immer noch viel zu früh, um Phillip anzurufen.

Wie ich diese Zeitzonen hasse!