Cover

Die Autorin:

Prof. em. Dr. Ulrike Petermann war Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie mit Schwerpunkt Klinische Kinderpsychologie und Direktorin der Psychologischen Kinderambulanz der Universität Bremen. Zusammen mit Franz Petermann hat sie im Beltz Verlag bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht.

Über dieses Buch:

Erst Entspannung und Gelöstheit ermöglichen eine Atmosphäre, in der Selbstwahrnehmung und Verhaltensmodifikation möglich sind. Dieses praxisorientierte Standardwerk für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wurde für die 9. Auflage aktualisiert und ergänzt. Es stellt die wichtigsten kognitiven, imaginativen und sensorischen Entspannungstechniken für Kinder und Jugendliche vor und gibt Hinweise zu ihrer Anwendung im häuslichen, schulischen und therapeutischen Bereich.

Franz Petermann
und
Dieter Vaitl
gewidmet,
denen das Thema »Entspannung«
sowohl aus wissenschaftlicher
als auch aus anwendungsbezogener
und praxisorientierter Perspektive
ein Herzensanliegen war und ist.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Alltag von Kindern heute

Was Sie in diesem Buch erwartet

1
Bedeutung von Entspannung für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche

1.1 Wie entwickeln sich Verhaltensprobleme

1.2 Typische Verhaltensprobleme

1.3 Die Bedeutung von Entspannungs- und Ruheritualen für Kinder und Jugendliche

2
Grundlagen von Entspannung

2.1 Überblick über Standardtechniken

2.2 Ebenen der Wirkung von Entspannung

2.3 Erklärungsansätze zum Entspannungsgeschehen

2.4 Arten von Entspannung

3
Anwendung von Entspannung in Institutionen und Durchführungsbedingungen

3.1 Indikation und Kontraindikation von Entspannung

3.2 Anforderungen an die Durchführung

3.3 Notwendige Bedingungen und mögliche Schwierigkeiten

3.4 Berechtigte Erwartungen und Illusionen

4
Entspannungsverfahren für Kinder und Jugendliche

4.1 Sensorische Entspannungsverfahren

4.2 Imaginative Entspannungsverfahren

Literatur

Bezugsquellennachweise

Glossar

Vorwort

Das Thema Entspannungstechniken ist in den letzten Jahrzehnten geradezu in Mode gekommen. Auch für Kinder und Jugendliche wurde eine Reihe von spezifischen Entspannungstechniken entwickelt und propagiert. Oft wird Entspannung mit Gesundheit einerseits und Stressbewältigung andererseits in Zusammenhang gebracht. Mit manchen Buchtiteln werden mystisch klingende Versprechungen gemacht, indem zum Beispiel Bewusstseinsveränderungen oder einfache Lösungen von Alltagsproblemen mit Entspannung in Beziehung gebracht werden.

Sieht man von diesen unseriösen Modeerscheinungen ab, gibt es eine Reihe sehr positiver Ergebnisse beim Einsatz von Entspannungstechniken und Ruheritualen. Das Anliegen dieses Buches ist es, den heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand über Entspannungsverfahren praxisnah darzulegen und Beispiele für geeignete Verfahren zum Einsatz bei Kindern und Jugendlichen vorzustellen.

Entspannungsverfahren leben davon, dass sie in den Alltag eines Kindes übertragbar sind und Kinder motiviert werden können, diese Hilfe anzunehmen und anzuwenden. Eltern und andere wichtige Bezugspersonen eines Kindes können dabei eine große Hilfe sein. Aus diesem Grund sind »Elternbücher«, die in das Thema einführen und eine alltagsnahe Anleitung vermitteln, hilfreich. In diesem Zusammenhang konnte ich auf der Basis der Kapitän-Nemo-Geschichten zum Abbau von Angst und Stress (Petermann, 2021) einen Elternratgeber vorlegen, der auch durch eine CD für Kinder ergänzt wurde (Petermann, 2007). Solche praxisorientierten Materialien tragen dazu bei, dass Entspannungsübungen mit Kindern und Jugendlichen problemlos realisiert werden können.

Viele praktische und alltagsnahe Hinweise in diesem Buch waren durch die Rückmeldungen von Kindern, Eltern und Anwendern von Entspannungstechniken im pädagogischen und kindertherapeutischen Arbeitsfeld möglich, wofür ich sehr dankbar bin. Besonderer Dank gilt Frau Angela Friedeberg, die in ihrer bewährt ruhigen Art alle Korrekturen und Ergänzungen für diese Auflage zuverlässig, schnell und kompetent im Manuskript umsetzte.

Danken möchte ich auch dem Beltz Verlag, allen voran Frau Carmen Kölz, für die Unterstützung, das Verständnis und die große Geduld bei der umständehalber immer wieder verschobenen Überarbeitung des Buches für diese Neuauflage sowie Frau Katrin Meisel für die kompetente Umsetzung dieses Werkes.

Abschließend möchte ich meinem lieben, viel zu früh verstorbenen Ehemann, Franz Petermann, danken, der bei früheren Auflagen dieses Buches zu mancher Abendstunde und an manchem Wochenende auf mich verzichten musste und in seiner ihm eigenen geduldigen, ermutigenden sowie helfenden Weise meine Arbeit unterstützte.

Ulrike Petermann Bremen, im Juli 2021

Einleitung

Alltag von Kindern heute

Die aktuelle Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen ist häufig durch Unruhe, Hektik und ein Übermaß an verschiedenen Reizeinflüssen geprägt. Diese Tatsache muss man sich vor Augen führen und sich vergegenwärtigen, dass Kinder und Jugendliche nicht mehr selbstverständlich mit Ruhe vertraut sind. Die Technisierung der Welt führte zu einem großen Ausmaß an Zeitdruck, Stress und Lärmbelastung. Auch die visuellen Einflüsse durch Computer, Handy und Fernsehen, häufig mit extrem schnellen Bildschnitten verbunden, stellen höchste Anforderungen an die menschliche Informationsverarbeitung. Kinder und Jugendliche können diese Flut an auditiven und visuellen Angeboten kaum mehr verarbeiten. Der Tagesablauf vieler Kinder ist durch mangelnde Zeit der Eltern einerseits, aber auch durch minutiös verplante Freizeit der Kinder andererseits geprägt. Häufig finden wir dabei zwei Extreme vor: zum einen Kinder, die ganz und gar sich selbst überlassen sind und unter anderem deshalb externe Stimulationen, die ihnen verfügbar sind, aufsuchen, wie Computer, Fernsehen oder Computerspiele; zum anderen haben wir eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Kindern in unserer Gesellschaft, bei denen jede Minute des Tages sieben Tage die Woche verplant ist; sie sollen mit diesem Angebot ideal gefördert und auf die hohen Anforderungen unseres Alltags sowie des späteren Lebens vorbereitet werden. Diese Kinder finden im Tages- und Wochenablauf kaum die Ruhe und Muße, zu spielen und sich selbstgenügsam zu beschäftigen. Unabhängig davon, durch was die Reizüberflutung bedingt ist, sie führt zu Anspannung, innerer Unruhe, dem Gefühl des Getriebenseins, erhöht den Leistungsdruck und hat Konzentrationsprobleme, Leistungsängste, generell erhöhte Ängstlichkeit sowie Ein- und Durchschlafprobleme zur Folge.

In jüngster Zeit sind Belastungen durch die Coronapandemie mit ihren Beschränkungen hinzugekommen. Für viele Kinder und Jugendliche bedeutet dies unter anderem soziale Isolation, was wiederum mit verpassten Lernchancen und eingeschränkten Möglichkeiten zum Einüben kompetenten sozialemotionalen Verhaltens einhergeht. Dadurch werden die Kinder einmal mehr auf ein Leben »aus zweiter Hand« (Computer, Internet, Netflix, Fernsehen) zurückgeworfen. Diese ausschnittartige Beleuchtung von Kinderalltag soll einen Eindruck davon vermitteln, in welchem Ausmaß Kinder oftmals mit Ruhe- und Rastlosigkeit konfrontiert sind. Umso wichtiger ist es für Kinder mit und ohne Verhaltensauffälligkeiten, dass regelmäßig Ruherituale in ihren Tages- und Wochenablauf integriert werden.

Die Bedeutung von Entspannungstechniken für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche ist in besonderem Maße durch zwei Phänomene gegeben, die bei diesen beobachtbar sind: Zum einen sind sie sehr unruhig, unkonzentriert, impulsiv oder ängstlich, zum anderen wirken sie angespannt, erregt oder aufgedreht. Um solche Kinder und Jugendliche in Kindertageseinrichtungen, Schulen, Freizeitgruppen oder zu Hause fördern zu können, benötigen diese oftmals eine Art »Vorbehandlung« im Sinne von Entspannungsritualen. Nur mit Ruhe ist Lernen effektiv, ist vertieftes Spielen möglich, ist mit anderen ohne Streitlust auszukommen oder kann man abends gut einschlafen. Aus diesem Grund wird in diesem Buch ein Schwerpunkt auf die Bedeutung von Entspannung für diese Kinder gelegt. Darüber hinaus ist es generell für alle Kinder wichtig, immer wieder Ruhephasen im Tagesablauf zu erfahren. Dann kann Erlebtes verarbeitet und Kraft für neue Eindrücke geschöpft werden.

Was Sie in diesem Buch erwartet

Das Buch gibt eine Übersicht über verschiedene Entspannungstechniken für Kinder und Jugendliche. Die Leser sollen Kenntnisse über die körperlichen Zusammenhänge von Entspannungsvorgängen erlangen. Sie sollen in die Lage versetzt werden, mit Überzeugung einerseits, aber auch mit kritischer Sicht andererseits Entspannungsverfahren auszuwählen und anzuwenden. Schließlich sollen sie durch eigene Übungen sowie die Reflexion der damit verbundenen Erfahrungen erkennen und erleben, welche Körpersensationen (Körperempfindungen) mit Entspannungsübungen hervorgerufen werden können. Aus diesem Grund bieten die Kapitel 2 und 4 Anleitungen für Übungen, anhand deren einiges von dem, was in diesem Buch dargestellt wird, praktisch erfahrbar ist. Mithilfe dieser Übungen können die Wahrnehmungsfähigkeit und das Bewusstsein für Entspannungsphänomene erhöht werden. Diese Selbsterfahrung mit den Wirkungen von Entspannungsverfahren ist hilfreich, um mit Kindern Entspannungsübungen erfolgreich durchzuführen.

Die Ausführungen zur Alltagssituation von Kindern heute sowie die möglicherweise auftretenden Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Verhaltensstörungen legen es nahe, auf die wichtigsten Verhaltensprobleme, nämlich die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, aggressives Verhalten sowie die Angststörungen in diesem Buch einzugehen. So werden auch die Kriterien für das Vorliegen solcher Probleme benannt.

Das Standardvorgehen des Autogenen Trainings und der Progressiven Muskelentspannung, welche die verbreitetsten Entspannungsverfahren darstellen, wird verdeutlicht. Die fünf physiologischen Wirkungsebenen von Entspannung lernt der Leser kennen und kann sie mit eigenen Entspannungserfahrungen aufgrund der Übungen in Verbindung bringen.

Indikation und Kontraindikation von Entspannungsverfahren werden verdeutlicht, ebenso die Abgrenzung der Kontraindikationen von den Nebenwirkungen sowie die Abgrenzung der Nebenwirkungen von den für Entspannungsgeschehen normalen Körpersensationen.

Auf die Bedingungen für die Durchführung von Entspannung, wie äußere Gegebenheiten, die Bedeutung von Vertrauen sowie den Zusammenhang von pädagogischem Konzept, Alltagsverständnis und Entspannungsritualen, wird eingegangen. Vieles gilt auch für die häusliche Alltagssituation und den Eltern-Kind-Kontakt, worauf an einigen Stellen verwiesen wird.

Dem Leser wird auch vermittelt, welche Probleme bei der Anwendung von Entspannung bei Kindern und Jugendlichen auftreten können und wie man damit umgehen kann.

Ausführlich werden abschließend geeignete Beispiele von Entspannungsverfahren für Kinder und Jugendliche beschrieben. Das Schildkröten-Fantasie-Verfahren für Kinder und die Progressive Muskelentspannung für Jugendliche stehen für körperbezogene (sensorische) Entspannungstechniken. Die Kapitän-Nemo-Geschichten und weitere Beispiele verdeutlichen den imaginativen Ansatz der Entspannungsverfahren. Drei Beispiele für die Kapitän-Nemo-Geschichten laden Eltern wie Pädagogen zum Vorlesen und Ausprobieren ein.

1

Bedeutung von Entspannung für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche

Unabhängig davon, ob man mit verhaltensauffälligen Kindern spielen, sie unterrichten oder sie in ihrem Sozialverhalten fördern möchte, wird man durch die innere Unruhe und Angespanntheit sowie die motorische Unruhe und Hyperaktivität dieser Kinder sehr schnell an Grenzen geführt. Diese Grenzen behindern nicht nur den Pädagogen in der Förderung der Kinder oder den Kindertherapeuten, sondern hemmen auch die Kinder selbst in ihrer Entwicklung. Aus diesem Grund ist es von großer Bedeutung, dass die Kinder in ihrer Alltagssituation Ruhepunkte finden können und Hilfen erhalten, immer wieder zur Ruhe zu kommen. Ein minimales Maß an Ruhe und Entspanntheit ermöglicht es erst, mit verhaltensauffälligen Kindern erfolgreich zu arbeiten.

In diesem Kapitel soll genauer darauf eingegangen werden, wie sich Verhaltensprobleme entwickeln, welchen Stellenwert Entspannungs- und Ruherituale für Kinder und Jugendliche haben und welche Rahmenbedingungen beachtet werden müssen, um Entspannungsverfahren erfolgreich einzusetzen.

1.1Wie entwickeln sich Verhaltensprobleme

Verhaltensprobleme bei Kindern und Jugendlichen werden in die beiden Gruppen internalisierendes und externalisierendes Problemverhalten eingeteilt (vgl. Petermann, F., 2013a). Die externalisierenden Störungen umfassen die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS), oppositionelles, aufsässiges Verhalten und aggressiv-dissoziales Verhalten (vgl. Petermann & Petermann, 2015). Das aggressiv-oppositionelle Trotzverhalten und das aggressiv-dissoziale Verhalten gehören zur Gruppe der Störungen des Sozialverhaltens (vgl. Dilling et al., 2015; Petermann & Petermann, 2015). Damit wird deutlich, dass sich externalisierendes Problemverhalten, wie das Wort auch ausdrückt, auf solche Verhaltensweisen bezieht, die nach außen und auf andere gerichtet sind. Internalisierende Problemverhaltensweisen umfassen verschiedene Ängste, wie Angst vor und Vermeidung von Sozialkontakt, aber auch soziale Unsicherheit und Isolation bis hin zur Depression. Diese Problemverhaltensweisen sind auf den ersten Blick nicht so auffällig wie die externalisierenden. Internalisierendes Problemverhalten bezieht sich stärker auf die eigene Person, und nur in Fällen extremen Vermeidungsverhaltens, etwa gekoppelt mit dem Verweigern des Schulbesuchs, werden diese Probleme offensichtlich. Ein Kind mit einer oder mehreren Verhaltensauffälligkeiten beeinträchtigt je nach Problematik sich selbst in seiner Entwicklung, schadet anderen oder beides. Bei Kindern mit massiven Verhaltensproblemen kann man sehr häufig feststellen, dass es nicht bei einer Problematik alleine bleibt, sondern sich im Laufe der Schulzeit Lernstörungen hinzugesellen. Verhaltens- und Lernprobleme verstärken sich häufig wechselseitig. Im Gegensatz zu der Ansicht von vor 20 Jahren geben neuere Studien Hinweise darauf, dass ein größerer Teil der Kinder mit Lernstörungen diese nicht primär erworben hat; vielmehr scheint die Lernstörung häufig eine Folge einer Verhaltensstörung zu sein.

Eine Analyse von Längsschnittstudien, die Loeber (1990) durchführte, kann aufzeigen, dass sich infolge einer längerfristig bestehenden Verhaltensproblematik auch schulische Lern- und Leistungsschwierigkeiten parallel entwickeln. Diese Analyse bezieht sich auf die Entstehung, den Verlauf und die Prognose aggressiven Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen. Sie zeigt außerdem auf, dass eine ungünstige Entwicklung oftmals zu einer Vielzahl von psychischen Auffälligkeiten und Störungen führt, die nebeneinander bestehen und sich in der Regel ungünstig wechselseitig beeinflussen. Dies soll am Beispiel des aggressiven Verhaltens aufgezeigt werden.

Loeber (1990) kann in seiner Analyse aggressiven Verhaltens bereits prä- und perinatale Risikofaktoren feststellen, die Hinweise darauf geben, dass aggressives Verhalten schon früh angelegt sein kann. So sind besonders Kinder gefährdet, deren Mütter während der Schwangerschaft Gifte wie Nikotin, Alkohol, Drogen oder Medikamente zu sich genommen haben. Diese können neurobiologische Veränderungen während der Entwicklung des Gehirns beim ungeborenen Kind bewirken und beeinflussen das Verhalten des Säuglings und Kleinkindes. Der Säugling und das Kleinkind erweisen sich infolge dieser toxischen Einwirkungen als schwierige, nicht »pflegeleichte« Kinder. Schwierige Kinder sind solche, die nicht essen oder nicht schlafen wollen, keinen Schlafwach-Rhythmus entwickeln sowie ein kaum beeinflussbares, exzessives Schreiverhalten zeigen. Diese schwierigen Kinder prägen entscheidend die erste Eltern-Kind-Interaktion. Die belasteten Eltern reagieren gereizt, die Zuwendung für das Kind ist negativ gefärbt; in manchen Fällen erfährt ein Kind zum ersten Mal Gewalt (z. B. in Form von festem Schütteln), weil es sich nicht beruhigen lässt und sein Schreien nicht einstellt. Die nächste Entwicklungsstufe, die Loeber herausarbeiten konnte, ist durch das Risiko geprägt, eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu entwickeln, die schon bei kleinen Kindern mit anderthalb, zwei und drei Jahren offensichtlich werden kann. Dieser folgt ein über das übliche Maß hinausgehendes oppositionelles Trotzverhalten, welches sich in starkem Opponieren in vielen Alltagssituationen zeigt. Häufig mit Beginn der Grundschulzeit gehen diese Entwicklungen in aggressives Verhalten mit delinquenten, dissozialen Anteilen über. Dadurch entstehen gestörte Interaktionsformen, die sich auch außerhalb der Familie, zum Beispiel in der Schule, zeigen. So entstehen nicht nur Konflikte zwischen dem auffälligen Kind und seinen Mitschülern, sondern auch zwischen dem Kind und seinen Lehrern.

Da die in der Entwicklungslinie früher entstandenen Probleme mit dem Auftreten einer neuen Problematik nicht verschwinden, sondern bestehen bleiben, differenzieren sich die Verhaltensstörungen immer stärker aus. Dies bedeutet, dass eine ADHS-Problematik durch ein oppositionelles Trotzverhalten bereits im Kindergartenalter verstärkt wird, und im Grundschulalter treten meistens dann auch Lernprobleme auf. Die Lernprobleme resultieren sowohl aus der Aufmerksamkeitsproblematik als auch aus dem oppositionellen Trotzverhalten (möglicherweise auch dem aggressiven Verhalten) im Unterricht. Die Lernprobleme bedeuten eine weitere Einschränkung einer positiven schulischen Entwicklung. Sie verhindern Erfolgserlebnisse in der Schule, da diese Kinder als Störenfried wahrgenommen und entsprechend behandelt werden. Da positive Erfahrungen in der Schule und im Umgang mit Gleichaltrigen ausbleiben, wird das Kind immer wieder auf sein aggressives Verhalten zurückgeworfen, das sich dadurch weiter differenziert und sich auf viele Alltagssituationen und Personen ausweitet. Die Zuwendung von Mitschülern und Lehrern erfolgt immer häufiger im Zusammenhang mit aggressivem Verhalten; das unangemessene Verhalten wird dadurch verstärkt und stabilisiert sowie auf unterschiedliche Situationen übertragen.

Ein über längere Zeit bestehendes aggressives Verhalten bedingt mangelnde sozial kompetente Verhaltensweisen, und die Informationsverarbeitungsdefizite dieser Kinder werden ebenfalls immer größer. Mit Informationsverarbeitungsdefiziten ist gemeint, dass aggressive Kinder ihre Umwelt bevorzugt feindselig wahrnehmen, weil sie sich übermäßig schnell bedroht fühlen. Besonders in mehrdeutigen sozialen Situationen erleben sie schnell Bedrohung und glauben, sich verteidigen zu müssen (vgl. Petermann & Petermann, 2013, S. 305). Dadurch entsteht ein ungünstiger Kreislauf von Sich-bedroht-Fühlen und aggressiver Verteidigung, welcher im Laufe der Zeit zu großen Problemen mit Gleichaltrigen führt. So sind in der Folge davon aggressive Kinder häufig in der Gleichaltrigengruppe eher isoliert, und sie suchen sich deshalb Bezugsgruppen, in denen ihr unangemessenes Verhalten nicht nur akzeptiert wird, sondern erwünscht ist, weil es die Gruppennorm darstellt. Damit ist im Übergang zum Jugendalter ein Risiko zu aggressiv-dissozialem Verhalten gegeben. Abbildung 1 zeigt im Überblick den ungünstigen Entwicklungsverlauf.

Wie die Entwicklungsleiter in Abbildung 1 aufzeigt, entsteht auffälliges Sozialverhalten nicht in einer kurzen Entwicklungsspanne, sondern weist in den meisten Fällen eine langjährige Vorgeschichte auf. Loeber (1990) spricht in diesen Fällen von frühen Startern. Bisher unauffällige Kinder, die aufgrund belastender Veränderungen ihrer Umwelt (kritische Lebensereignisse) mit einer Verhaltensstörung reagieren, können als Quereinsteiger in die Entwicklungsleiter (späte Starter) bezeichnet werden. Diese Kinder weisen, wie leicht nachzuvollziehen ist, eine gute Chance auf, aus diesem ungünstigen Entwicklungsverlauf wieder auszusteigen; denn diese Verhaltensstörung ist bei den Kindern nicht so stark verfestigt und vor allem nicht in dem Maße auf viele Personen und Situationen generalisiert, wie dies bei Kindern der Fall ist, die schon länger in diesen Entwicklungsstufen verweilen. Darüber hinaus verfügen die »späten Starter« über sozial kompetentes Verhalten, das ein wichtiger Schutzfaktor sein kann und den Kindern bzw. Jugendlichen auch wieder den Querausstieg aus der Aggressionsentwicklung erlaubt.

Abbildung 1: Entwicklungsverlauf externalisierender Verhaltensprobleme nach der Analyse von Loeber (1990)

Bei den internalisierenden Verhaltensproblemen, zu denen die verschiedenen Angststörungen und die Depression im Kindesalter zählen, liegen Längsschnittanalysen vor, die ebenfalls ungünstige Verläufe bei der Entstehung und beim Verlauf von Angststörungen illustrieren (vgl. Vasey & Dadds, 2001). So wird deutlich, dass ängstliches und unsicheres Verhalten bei Kindern schon im frühen Alter beginnt und verschiedene Angstformen umfasst, z. B. von der Trennungsangst bis zur sozialen Phobie und Schulangst; bei Nichtbehandlung und bei fortschreitender Kindheit, spätestens beim Übergang in die Pubertät, besteht das Risiko, dass sich Ängste zur Depression weiterentwickeln können (vgl. Petermann & Suhr-Dachs, 2013; Suhr-Dachs & Petermann, 2013).