Nybbas Blut
Schattendämonen 3
Jennifer Benkau
Schattendämonen 1: Nybbas Träume
Schattendämonen 2: Nybbas Nächte
© 2012 Sieben Verlag, Ober-Ramstadt
Umschlaggestaltung: Mark Freier, München
Korrektorat: Susanne Strecker, www.schreibstilratgeber.com
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion, Großburgwedel
ISBN Buch: 978-3-864430-66-4
ISBN PDF: 978-3-864430-67-1
ISBN EPub: 978-3-864430-68-8
www.sieben-verlag.de
1
onnenstrahlen griffen wie lange Finger durch vom Smog getrübte Fenster, tasteten sich zwischen den vollgestopften Regalen quer durch den staubigen Raum. Sie strichen über das Gesicht des Mannes, spielten in seinen Bartstoppeln und ließen sie in der Farbe von frischem Blut und altem Gold leuchten.
Köstlich.
„Auf welchen Namen darf ich die Rechnung ausstellen, Madam?“
Sie musste einen Moment überlegen, ehe sie die Frage des Antiquitätenhändlers beantworten konnte. Namen waren eine Angelegenheit von Monaten, Jahren oder allenfalls Dekaden. Sie vergaß sie hin und wieder.
„Shima“, sagte sie dann und strahlte den Mann an. „Natasha Shima.“ Dieser Name war leicht zu merken, obwohl sie ihn erst seit Kurzem trug. Ihre Herrin – die sich aller edlen Traditionen zum Trotz ungern so ansprechen ließ – hatte ihn ihr gegeben. Sie sollte ihn besser verinnerlichen, schon um die Herrin zu ehren. Wie glücklich sie war, sie endlich gefunden zu haben. Sie hatten einander so lange gesucht.
Der Antiquitätenhändler interpretierte ihr Lächeln falsch. „Eine wirklich hervorragende Ware, die Sie da erworben haben. Sie haben Glück, so antike Stücke sind auf dem freien Markt nur schwer erhältlich. Die Museen erheben oft Anspruch auf solche Qualität.“
Sollte er nur reden. Sie wusste sehr genau, wie alt das bemalte Tongefäß war und wie man seinen Wert realistisch einzuschätzen hatte. Der Händler hätte ein äußerst lukratives Geschäft gemacht, wenn seine Kundin wirklich nichts weiter als eine menschliche Kunstliebhaberin gewesen wäre. Gefäße wie dieses gab es wie Sterne am Himmel, es war weder antik noch wirklich modern, sondern irgendetwas dazwischen. Bloß alt. Wertlos für jeden Menschen. Wie gut, dass sie kein Mensch war. Denn das, was diesen Topf für sie so wertvoll machte, war weder sein Alter noch sein Kunstwert, sondern allein der Verwendungszweck, dem er gedient hatte. In diesem Gefäß war vor nicht allzu langer Zeit ein Dämon eingesperrt gewesen. Sie hatte erst kürzlich gelernt, die minimalen Veränderungen zu erspüren, die im Material zurückblieben, aber bei diesem Stück gab es keinen Zweifel. Sie würde es kein zweites Mal berühren, die Energie prickelte so stark, dass sie bis tief in ihr Inneres schmerzhaft gezogen hatte. Vielleicht sprach dies von der Macht des Dämons, der darin gemartert worden war. Die Herrin würde es herausfinden. Sie sammelte solche Artefakte; Beweise der Grausamkeiten, denen ihr Volk seit Jahrhunderten ausgeliefert war.
„Packen Sie es gut ein“, wies sie den Händler an.
„Natürlich. Wir wollen ja nicht, dass dem guten Stück etwas passiert.“ Er gab sich ausgesucht charmant, das musste sie ihm lassen.
Sie wollte das Gefäß vor allem nicht mehr berühren müssen. Aufmerksam beobachte sie, wie die geschick-ten Männerhände es zunächst in Seidenpapier, dann in Polsterfolie und schließlich in braunes Packpapier wickelten. Die Adern auf seinen kaum behaarten Handrücken, Flüsse aus Leben auf einer von Jahren und reichlich Sonnenlicht bräunlich geprägten Karte, faszinierten sie. In ihrem Schoß kribbelten zarte Erwartung und ein Hauch von Bedauern. In früheren Zeiten hätte sie einen schönen Mann wie diesen sicher nicht sofort getötet, sondern eine Weile behalten. Die Herrin hatte allerdings nichts übrig für menschliche Mitbewohner. Ein zu vernachlässigender Nachteil – immerhin hatte sie Natashas Katzen gern und erfreute sich an deren Gesellschaft fast so sehr wie sie selbst. Der Antiquitätenhändler hob das verpackte Stück in eine Tragetasche aus stabiler Pappe, die mit dem Emblem seines Geschäfts von Hand bemalt war. Derartiges blieb für gewöhnlich bestimmt den besseren Kunden vorbehalten. Erahnte sie da ein schlechtes Gewissen, weil er glaubte, sie über den Tisch gezogen zu haben? Sie gab sich Mühe, nicht zu lachen, aber in ihren Augen funkelte sicher ein wenig ihrer Erheiterung. Sie nahm die Tasche an, stellte sie auf den Boden, wo ihr nichts passieren würde, und ging zur Tür, wo sie das „Geöffnet/Geschlossen“ Schild umdrehte, um mit ihm ungestört zu sein. Zur Sicherheit drehte sie auch den Schlüssel im Schloss herum. Als sie sich umwandte, sah sie Erstaunen im Gesicht des Mannes, doch schien er gewisse Erwartungen mit ihrem Verhalten zu verknüpfen, die ihn offenbar nicht beunruhigten. Er würde sich noch wundern.
„Was spielst du hier?“, fragte er, eine Braue über den blitzenden braunen Augen hochgezogen.
Sie antwortete nicht, sprang stattdessen geschmeidig auf die Theke und kickte den Block mit den Rechnungsvordrucken vom Tisch. Der oberste, mit ihrem Namen beschriftete Beleg, wehte wie ein Laubblatt durch den halben Laden. Der Blick des Mannes haftete kurz an ihrem rechten Stiletto und glitt dann an ihrer von schwarzen Nylons bestrumpften Wade nach oben zum Rocksaum. Sie hob das Bein an, setzte dem Mann den Fuß auf die Schulter. Sein Lächeln war von jener Mischung aus Unglauben und Freude, die ihr zeigte, dass sie bereits gewonnen hatte. Seine Hände umfassten ihren Oberschenkel. Sie waren rau und warm, ein angenehmes Gefühl durch den dünnen Strumpf.
„Es wird wie ein Überfall aussehen“, sagte sie.
„Was?“
Ihre Worte hätten ihn warnen sollen, ebenso die unmenschliche Leichtigkeit ihrer Bewegungen. Aber die Lust verschleierte seinen Blick; er war blind, der arme Mann, vollkommen blind. Sie nahm seine Hand in ihre, fuhr die Adern auf dem Handrücken nach und stellte sich vor, sie aufzureißen und das Blut sprudeln zu sehen. Wie gern sie den Moment hinauszögerte, das letzte bisschen Misstrauen arbeiten ließ. Sie liebte es, wenn Menschen sich nicht entscheiden konnten zwischen der instinktiven Furcht und dem Gefühl, den Glücksgriff ihres Lebens gemacht zu haben.
Sie hätte ihn länger am Leben gelassen, wenn er ein bisschen weniger plump vorgegangen wäre. Zu schnell tasteten sich seine Finger über den nackten Streifen Haut bis zu ihrem Höschen, und dass er es gleich beiseiteschob und tiefer glitt, besiegelte sein Schicksal. Sie zog ihren Fuß zurück, spannte die Wade an und trat den Absatz des Stilettos quer durch seine Kehle. Eine Sekunde lang geschah nichts, er runzelte bloß die Stirn. Dann quoll Blut hervor, vermischte sich mit den röchelnden Versuchen, zu atmen. Der Mann ging in die Knie, sie verlor den Schuh – er blieb in dem durchbohrten Hals stecken. Winzige Blutspritzer leuchteten auf ihrem Strumpf wie glänzend rote Sterne. Der Antiquitätenhändler starb langsam, aber er fand sich erstaunlich schnell mit dem Tod ab. Das war sehr freundlich von ihm. Kaum etwas war so lästig wie das erbärmliche und sinnlose Auflehnen gegen das Unvermeidliche. Das hatte dieser Mann nicht nötig. Ohne Gegenwehr blieb er hinter seiner Theke liegen und blutete den speckigen Teppich voll.
Sie sprang auf seine Brust, ließ sich dort nieder und widmete sich endlich diesen hübschen Adern auf seinem Handrücken, bevor sie verdorren würden, was doch wirklich eine Schande gewesen wäre.
2
er Streifen auf dem Teststäbchen war von einem äußerst blassen Rosa. Kaum zu erkennen. In Joanas Magen kribbelte es, die ersten Anzeichen einer beginnenden Übelkeit, die sie sich sicher nur einbildete. Eine Klischeeschwangerschaft mit Morgenübelkeit kam überhaupt nicht infrage. Ach verdammt, eigentlich kam überhaupt keine Schwangerschaft infrage! Ihr stieg ein kleiner Schwall bittere Galle in die Kehle. Das war nur der Schreck.
Schwanger.
Es konnte nicht wahr sein. Nein, nicht möglich.
Nicht, weil ihr Liebster kein Mensch war. Sie war inzwischen hinreichend mit der Welt der Dämonen vertraut, um auf Bauernweisheiten wie ‚paranormale Wesen zeugen keine Kinder‘ nichts zu geben. Gerade sie war prädestiniert für eine solche Verbindung, schließlich waren Menschen mit Fähigkeiten, wie sie sie besaß – Clerica – den Legenden nach aus einem schlechten Scherz der Dämonengöttin Lilith entstanden. Über unzählbare Ecken waren Dämonen und Dämonenjäger miteinander verwandt, es gab also keinen Grund, warum sie nicht in jeglicher Hinsicht miteinander harmonieren sollten. Sie musste kichern, doch das Lachen versoff in einem Schluchzen und sie begann zu weinen.
Langsam ließ sie sich auf den Rand der Badewanne sinken. Sie berührte ihren Bauch mit der Spitze ihres Zeigefingers. Behutsam, als tickte in ihrem Leib eine Bombe. Nichts geschah. Nichts deutete auf eine fremde Anwesenheit hin, nichts weckte den Anschein, als bestünde ein Problem außer der bekannten kleinen Schwäche für Weingummi und portugiesisches Gebäck. Ein paar Tränen tropften auf den Stoff ihres Trägertops. Der Schwangerschaftstest in ihrer anderen Hand zitterte vor sich hin. Vielleicht irrte sie. Sah sie wirklich einen rosa Streifen oder erkannte sie nur die Kontaktfläche, die auf Schwangerschaftshormone im Urin rosa werden sollte? Sie hielt den Streifen ins Licht, drehte ihn leicht hin und her. Mit der freien Hand suchte sie Halt am Marmor, über dem eine Kalkschicht darauf aufmerksam machte, dass sie eine grausige Hausfrau war. Niemand, dem man ein Kind anvertrauen konnte. Das schlecht geputzte Bad war das geringste Problem. Sie war eine Frau, die die Flucht aufgegeben hatte, eine Frau, die einen Kampf erwartete; eine Frau, die ein Monster liebte und bis aufs Blut verteidigen würde. Dass sie ihre Periode schon beim letzten Mal nur ganz schwach bekommen hatte, dies aber mit ‚Kommt schon mal vor‘ abgetan hatte, sagte alles. In ihrem Leben war kein Platz für Verantwortung einem hilflosen und unschuldigen Wesen gegenüber. Sie nahm nicht einmal eine Katze zu sich, weil sie ihr kein sicheres Leben bieten konnte. Sie war doch keine Mutter!
Sie hatte getötet. Sie sprach diesen Gedanken aus, mit lauter Stimme in dieses cremefarbene, luxuriöse, aber ungeputzte Marmorbad mit Nischen in den Wänden, in denen Kerzen standen, die fast jeden Abend brannten, sodass Wachsnasen an den Kacheln bis auf den Boden reichten. „Ich habe getötet.“ Sie betrachtete die Weinflasche, die Nicholas und sie am Abend zuvor in der Badewanne geöffnet hatten, ohne sich um Gläser zu scheren oder um das anschließende Aufräumen. Sie dachte an die erste Flasche Wein, nachdem sie nach Portugal zurückgekommen waren.
Wir sollten uns nicht betrinken, Nicholas.
Sagt wer?
Ich. Sie können jederzeit kommen.
Ich kenne den Luzifer nicht, Jo, aber ich vermute, es kann nicht schaden, wenn wir ihn uns schön trinken. Entspann dich. Solche Angelegenheiten eilen selten. Wir haben Zeit.
Die Dämonen hatten Zeit, das war richtig, aber wenn Joana den Namen Luzifer richtig interpretierte, würde der Dämonenfürst es Nicholas nicht gönnen, ein Menschenleben lang – ihr Menschenleben –, sein Dasein in Frieden zu genießen, ehe er die Rache einforderte, die ihm angeblich zustand. Ganz davon abgesehen störte sie auch diese Vorstellung. Der Luzifer sollte Nicholas gefälligst auch nach ihrem Ableben in Ruhe lassen, war das denn zu viel verlangt, Herrgott noch mal?
„Shit, das ist doch alles absurd. Ich kann kein Kind bekommen.“
Nichts zu machen. Der Streifen machte sich nichts daraus, wer sie war, was sie getan hatte oder was sie glaubte, zu können. Er war und blieb rosa.
Joana hatte das Gefühl, den ganzen Tag im Bad vertrödelt zu haben; als ließe sich aufhalten, was in ihrem Körper geschah, wenn sie und der rosa Streifen bewegungslos verharrten. Doch als sie nach unten ging und ihr Blick die Uhr streifte, erkannte sie, dass nicht einmal zwanzig Minuten vergangen waren, seit sie sich mit voller Blase und dem Test aus der Drogerie eingesperrt hatte. Das Radio murmelte leise vor sich hin. Nicholas schaltete es nie aus, er drehte einfach den Ton leiser, wie er auch Lampen, die sich dimmen ließen, nie abschaltete, sondern auf ein schwaches Glimmen runterdrehte. Gerade erklang der Refrain zu Bob Marleys „Stir it up“, einem Gute-Laune-Song, der Joanas Überzeugung bekräftigte, dass es einen Gott geben musste: einen Gott mit Hang zu sarkastischen Gemeinheiten oder sehr großem Gerechtigkeitssinn. Sie hatte es vermutlich verdient.
Sie bewegte sich lautlos auf bloßen Füßen, schlich durch das Wohnzimmer in die Küche und fühlte sich trotz der beschwingenden Musik fehl am Platz und wie aus hundert Augenpaaren beobachtet. Wie jemand, der etwas Verbotenes tat. Verrat beging. Dabei war das lächerlich. Sie hatte Nicholas zwar nichts von ihrem Verdacht erzählt, aber nur, weil sie überzeugt gewesen war, sich zu irren. Sie wollte klarstellen, dass da nichts war, darüber schmunzeln und nie wieder daran denken. Den Test hatte sie nur deshalb vor ihm versteckt, weil sie sich seines zärtlichen Spotts gewiss war, zu dem sie ihm keine Gelegenheit bieten wollte. Und darum war sie auch heute nicht mit ihm zur Werkstatt gefahren, sondern hatte behauptet, länger schlafen zu wollen, sich am Vormittag um die Steuer zu kümmern und ihn zum Mittagessen in Loulé zu treffen. Am Tag zuvor hatte sie nicht glauben können, in dieser Nacht überhaupt einen Moment Ruhe zu finden, doch entgegen ihren nervösen Erwartungen hatte sie tief und fest geschlafen. Als sie erwacht war, hatte sie genau das erleichtert aufatmen lassen, was ihr an manchen anderen Morgen die Laune vermieste: Die Betthälfte neben ihr war leer. Nicholas war aufgebrochen, ohne sie zu wecken.
Auf der Tafel neben dem Tresen, der die Küche vom Wohnzimmer trennte, befand sich neben der Zeichnung einer Blaumerle, die sie am Tag zuvor im Garten beobachtet und grob stilisiert hatte, eine schwer zu entziffernde Nachricht in Nicholas’ Handschrift.
Hunger! 10:30 Uhr, zweites Frühstück im Vertigo?
Sie musste lächeln. Er wusste genau, dass sie dem Frühstück in diesem herrlichen kleinen Café, in dem es immerzu nach Sommer roch, nicht widerstehen konnte.
Aber was ist mit den Steuerunterlagen, du anarchistischer Dämon? Die ungeliebte Büroarbeit war leider nicht ausschließlich ein Vorwand gewesen. Während sie sich einen Kaffee aufbrühte und wegen der kalten Fliesen mit den Zehen wackelte, fiel ihr Blick auf ihr Mobiltelefon, das auf der Arbeitsplatte lag. Eine SMS war unbemerkt eingegangen. Sie wusste, was drin stand, ehe sie sie geöffnet hatte:
‚Ach, und Joana: Scheiß auf die Steuer.‘
Normalerweise hätte sie sich darüber amüsiert. So war er eben, ihr Liebster; er tat, was ihm gefiel. Irgendjemand würde schon alles andere erledigen. Damit irrte er selten. Doch mit einem Mal kam ihr brutal und ungewollt etwas in den Sinn, was sie in ihrem Schreck zunächst ganz vergessen hatte. Wenn sie schwanger war – was ihr langsam als Tatsache erschien und nicht mehr als absurde Idee – dann würde nicht nur sie Mutter werden. Nicholas würde Vater werden.
Der Kaffee roch bitter. Joana kippte ihn in den Ausguss, die Tasse entglitt ihren Händen und zerbrach im Spülbecken.
~*~
Der Mann kam zu spät. Nicholas hasste Unpünktlichkeit, wenn er es war, der warten musste. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, Joana anzurufen und das Frühstück zu verschieben, da sah er durchs Fenster den Lieferwagen doch noch in den Hof einbiegen. Wurde auch langsam Zeit. Doch dann stutzte er. Ein Gemüsehändler? Der Kerl am Steuer wirkte nicht wie jemand, der mit Äpfeln und Orangen handelte. Nicholas füllte die letzten beiden Punkte im Kostenvoranschlag für einen seiner besten Kunden aus und versandte rasch die E-Mail, bevor er das Büro verließ, die Halle durchmaß und auf den Hof trat. Hoch konzentriert witterte er die Emotionen des Fahrers. Es war riskant gewesen, in die alte Oldtimerwerkstatt zurückzukehren, wo der Luzifer und seine Schergen sie vermutlich zuerst suchen würden, denn hier hatten sie vor dem Abenteuer in Island gelebt. Andererseits war genau das vielleicht der Grund, warum alles friedlich blieb. Wer ging schon davon aus, dass Joana und er sich dreist wieder dort niederlassen würden, wo man sie schon einmal aufgespürt hatte? Der Luzifer suchte vermutlich am anderen Ende der Welt und drehte dort jedes Steinchen um. Umso besser, dann war er eine Weile beschäftigt.
Der Fahrer war harmlos. Zwar waren ihm Emotionen wie Misstrauen und ein wenig Furcht anzuspüren, aber das lag in dem Inhalt der Apfelsinenkisten begründet, die er in seinem Wagen durch halb Portugal kutschierte. Nicholas begrüßte ihn mit Handschlag und der Mann im ölfleckigen Overall begann in hilflosem Englisch eine schlechte Schmierenkomödie und erzählte von einer Lieferung besonders schmackhafter, frischer Früchte, die nicht einmal Saison hatten. Nicholas hatte selten eine derart grottenschlechte Tarnung erlebt. Was zur Hölle sollte ein Gebrauchtwagenhändler, der sich auf deutsche Oldtimer spezialisiert hat, mit Obst?
„Lass gut sein, ich koste mal.“ Nicholas öffnete die hintere Klappe und sprang in den Sprinter. Er musste den Kopf einziehen. Im Inneren des Wagens roch es nach fauligen Äpfeln, offenbar hatte man den Plan gehabt, die Tarnung glaubwürdig aufzuziehen. An der Umsetzung haperte es gewaltig. Der Lieferant wies nach links und Nicholas klopfte ein paar Kisten ab. In der zweiten von unten klang es, als bestünde der Inhalt aus mehr als Bio-Abfall. Er zog die Kiste heraus und öffnete sie. Bingo, alles entsprach der Bestellung: Ein AKS-74 Sturmgewehr nebst 40-mm Granatwerfer, klein zerlegt in unscheinbare Einzelteile. Etliche kleine Kartons, randvoll mit Munition für die neuen sowie die alten Waffen. Nicht zu vergessen, zwei Taser – Stromschockgeräte von Stinger, denen ganz ähnlich, die die Polizei verwendete, aber weit wirkungsstärker als alles, was man auf legalem Weg beschaffen konnte. Waffen wie diese waren eines der wenigen Mittel, das im Kampf gegen Dämonen Sinn machte. Nach einem Schuss oder einer Stichverletzung war ein Dämon immer noch in der Lage, seinen menschlichen Körper fallen zu lassen und im dämonischen Leib zu kämpfen. Ein starker Taser machte selbst einen mächtigen Dämon bewegungsunfähig, zwar nur kurzfristig, aber Sekunden reichten zum Überleben und auch zum Sterben.
„Zufrieden?“ Der Lieferant verschränkte die Arme. Ihm war nicht wohl in seiner Haut, Nicholas roch sein Unbehagen; wie Körpergeruch strömte es bei jeder Bewegung durch seine Kleidung.
„Frisch ist das nicht gerade. Du kommst fast eine Stunde zu spät.“ Er nahm die Kiste und sprang aus dem Wagen. Sofort kam Leben in den Lieferanten, er hob eine Obstbox hoch und wollte sie über die Waffenkiste stapeln, damit der Inhalt nicht zu sehen war. „Stell das darüber“, murmelte er. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Wurde aufgehalten.“
Nicholas wandte sich ab. „Lass den Blödsinn, hier ist niemand, dem du dein Theater vorspielen musst.“ Nur André Bergot, sein Mechaniker, war in der Werkstatt und machte einen Ölwechsel an einem sechzig Jahre alten Porsche. Der Mann wusste nicht, wer sein Boss wirklich war, aber er war sich der Tatsache bewusst, dass Nicholas und Joana in irgendeiner Hinsicht mächtigen Dreck am Stecken hatten; er war ja nicht blöd. Die Einzelheiten interessierten ihn allerdings nicht, er war insbesondere Jo gegenüber loyaler als ein Großvater es sein konnte.
„Man muss vorsichtig sein … heiße Ware“, stammelte der Lieferant. Soso, Hehlerware also. Vermutlich gestohlen. Nicholas musste sich ein Grinsen verkneifen. Beinah hätte er den Mann gemahnt, beim nächsten Mal lieber auf Pünktlichkeit zu achten. Ein nächstes Mal würde es sicher geben, der Mann würde wiederkommen. Allerdings ohne Erinnerung. Er stellte die Waffenkiste auf dem Boden ab und zog einen Geldschein aus der hinteren Hosentasche. 50 Euro für den Fahrer, die Lieferung hatte er zuvor bereits über ein anonymes Konto bezahlt. Kleine Nullnummern wie diesen Kerl hier ließ man vielleicht mit Waren durchs Land fahren, an denen sie sich höchstens selbst verletzen würden, aber man brachte sie nicht in Versuchung, indem man ihnen mehr Bares gab, als ihnen unbedingt zustand. Der Mann nahm das Geld und murmelte einen halbherzigen Dank. Nicholas hielt ihm die Hand zum Einschlagen hin. Er erkannte das minimale Zögern. Der kleine Gauner war ein mickriger Fisch – diese galten gemeinhin als die besten Kuriere – aber seine Instinkte waren gut. Irgendein Gefühl warnte den Mann vor Nicholas. Nicht ganz zu unrecht. Der Nybbas quälte seine zerbrechliche menschliche Hülle schon seit Stunden mit bestialischem Hunger. Kaum dass ihre Finger sich berührten, zerrte der Dämon die Emotionen aus dem Lieferanten heraus und sog sie in sich auf wie ein trockener Schwamm das Wasser. Der Mann schwankte und kippte gegen Nicholas. Er legte ihm die freie Hand in den Nacken. Nährende Gefühle sprudelten durch ihn hindurch, löschten brennende Feuer aus Gier. Zwischen der Erleichterung nahm er noch etwas anderes wahr, Ansätze von Erinnerungen. Seit seinem Kampf gegen die Speculara drängten sie sich ihm manchmal auf, wenn er Gefühle stahl: Bilder, wie unter Milchglas liegend, aber zu erkennen. Jetzt sah er eine keifende Frau, die mit der Faust drohte, eine sich schließende Tür und dann eine spartanisch eingerichtete Kammer, eine Matratze auf dem Boden, verpacktes Brot und Käse auf einem Stuhl, weil weder Schrank noch Tisch vorhanden waren. Ein alter Hund erhob sich mühsam und wedelte vor Freude mit dem Schwanz.
Was für ein armer Schlucker. Nicholas fühlte sich unweigerlich an Elias erinnert, auch wenn diese erbärmliche Kreatur und den gefallenen Racheengel nichts verband, außer der Perspektivlosigkeit, die beider Leben dominierte. Er ließ den Kurier los, verwirrt stolperte dieser ein paar Schritte zurück und rieb sich die Stirn. Der Geldschein segelte zu Boden und blieb auf dem Kies liegen. „Ver… verdammt“, stotterte der Fahrer. „Was is’ passiert?“
Nicholas bückte sich nach dem Geld, steckte es dem Mann in die Hemdtasche und schob ihn in Richtung seines Wagens. „Steig ein, fahr nach Hause, zahl deine Miete und fütter deinen Hund. Und dann such dir einen anderen Job. Ich will dich hier nicht mehr sehen, hast du mich verstanden?“
Der Mann nickte und stieg ein. In fünf Minuten würde er sich nicht mehr erinnern können, Nicholas je gesehen zu haben. Seine Arbeitgeber würden ihn für high halten, wenn sie ihn nach seiner Tour fragten, und den Kopf über seine Ahnungslosigkeit schütteln. Wenn der Junge Glück hatte, warfen sie ihn raus.
Er sah dem Sprinter nach. Zuerst glaubte er, der Typ würde gegen sein Tor fahren, doch wie durch ein Wunder wich der Obstwagen im letzten Moment aus, bog auf die Straße ab und verschwand in Schlangenlinien. Er war nicht länger Nicholas’ Problem.
Er ging zurück zu seiner Waffenkiste, wo ihn sein Mobiltelefon ablenkte. Eine SMS von Joana, in der sie ihm mitteilte, dass die Steuer bedauerlicherweise wichtig sei.
Er tippte zurück, dass Essen wichtiger sei. Einen Moment darauf vermeldete das Handy ihren Anruf.
„Nicholas, ich muss diese Arbeit wirklich jetzt erledigen“, sagte sie. „Aufschieben verursacht schlechte Laune.“
„Und daran kann man nichts ändern?“
„Leider nein.“
„Wie du willst.“ Er seufzte theatralisch, klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter, hob die Kiste auf und trug sie zu seinem BMW. „Kommst du am Nachmittag zur Werkstatt? Du fehlst mir. Außerdem habe ich eine Überraschung für dich.“
Sie flüsterte etwas, das wie ‚Und ich für dich‘ klang, doch dann stimmte sie zu. „Was ist es denn? Eine schöne Überraschung?“
„Zweckdienlich“, wich er aus. Sie war nie begeistert, wenn er neue Waffen kaufte, hatte sich mittlerweile aber damit abgefunden, dass er sie beide ausrüstete wie Geheimagenten und Joana regelmäßig zum Training in eine verfallende Lederwarenfabrik am Stadtrand entführte, wo sie Löcher in die porösen Wände schossen. „Nennen wir es eine Fabrikhallenüberraschung.“
Sie stöhnte. „Na toll. Nicholas, ich weiß nicht recht, ob das gerade so …“
„Was meinst du?“
Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: „Ach, was soll’s. Ich komme, sobald ich hier fertig bin. Was hast du diesmal? Als Tampons getarnte Handgranaten? Neuralisatoren zum Blitzdingsen? Photonentorpedos und Phaser?“
„Du schaust zu viel fern, Jo, aber du bist nah dran. Die Taser wurden gerade geliefert.“
„Das ist zumindest mal was Neues.“
~*~
Eine Trainingseinheit mit Elektroschockpistolen erschien Joana nicht als der rechte Zeitpunkt, Nicholas von seiner bevorstehenden Vaterschaft zu berichten. Überhaupt kamen ihr im Laufe des Tages immer größere Zweifel. Der Streifen war doch wirklich kaum erkennbar rosa gewesen. Und wenn ihre letzte fast ausgebliebene Periode als Indiz hinzukam, müsste sie bereits in der zehnten Woche sein. Sollte ihr nicht übel sein? Sollten nicht die Hosen spannen?
Sie beschloss, den Test wegzuwerfen und in ein paar Tagen einen neuen zu kaufen, ehe sie sich durch ihre Hysterie lächerlich machte. Schließlich konnte sie überhaupt nicht schwanger sein. Sie hatte immer regelmäßig die Pille genommen.
Als sie am Abend nach Hause kamen, fühlte sie sich erschöpft, dabei war das Training mit den Tasern verhältnismäßig sanft ausgefallen. Kein Vergleich zu ’Nicholas’ Versuchen, ihr Karatetricks oder den Umgang mit altmodischen Schwertern beizubringen oder ihre Ausdauer durch sadistisches Zirkeltraining zu optimieren. Nach einer Dusche ging sie im Bademantel und mit einem Handtuchturban noch einmal in die Küche. Hunger hatte sie keinen, eher das Gefühl, nie wieder etwas essen zu können, aber ein entspannender Tee würde ihr sicher gut tun. Von draußen drang ein Klappern herein, es klang wie der Deckel einer Mülltonne. Das Haus lag näher an der Straße als ihr letztes Domizil in Portugal, weniger abgelegen. Das Leben um sie herum führte dazu, dass sie sich sicherer fühlte, auch wenn das bestimmt nichts als eine Illusion war. Dämonen ließen sich wohl kaum davon abhalten, dass Nachbarn durch die Gardinen herauslugten. Joana stellte sich vor, die gemütliche alte Dame von schräg gegenüber würde den Luzifer mit ihrer selbst geräucherten Salami erschlagen oder mit Knoblauchkränzen in die Flucht schlagen.
Müde lehnte sie sich gegen den Kühlschrank und schnupperte an den Teebeuteln, während der Wasserkocher seine Arbeit tat. Die Nacht drückte sich gegen die Fensterscheibe; sie war dunkel, der Mond sowie jeder Stern von Wolken verschleiert.
Etwas bewegte sich im Garten. Sie kniff die Lider zusammen, um besser sehen zu können. Vielleicht hatte sie nur eine Spiegelung im Glas gesehen? Nein, sie stand bewegungslos, doch dort draußen regte sich etwas. Ein Tier? Nicht zu erkennen. Mungos oder Waschbären kamen manchmal in die Gärten und verwüsteten im Sommer die Beete, doch was sich dort bewegt hatte, schien größer als ein Waschbär. Auch ein Fuchs wäre kein ungewöhnlicher Besucher, und immer, wenn sie einen erblickte, musste sie an den flüchtigen Fuchsdämon Tomte denken. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen, mit zwei raschen Schritten war sie am Fenster und riss es auf. Äste krachten, Blätter raschelten. Und dann erkannte sie, was durch die Wachholdersträucher schlich, die das Grundstück zur linken Seite eingrenzten. Es war kein Fuchs. Es war ein Mensch.
Joana fand die Nerven, zu bemerken, dass Nicholas’ Training sich ausgezahlt hatte. Ohne zu zögern, riss sie eine der überall deponierten Pistolen aus einer Schublade, ging in eine sichere Position neben dem Fensterrahmen und legte auf den Eindringling an. Erst als der Laserzielpunkt auf der Stirn der wie im Schock erstarrten Person zu erkennen war, begann Joanas Herz schneller zu schlagen.
„Beweg dich nicht.“ Sie rief nicht, sie flüsterte. Einer von Nicholas’ Tipps, um Menschen einzuschüchtern. Es funktionierte, die finstere Gestalt erzitterte. Joanas Hand blieb ganz ruhig.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit im Garten. Sie erkannte, dass der Eindringling einen Mantel und einen Hut trug, außerdem hatte er einen ausgebeulten Rucksack umgeschnallt und eine Art Sack in der Hand.
„Alles fallen lassen!“
Es klang, als wäre das, was er in die Büsche sinken ließ, eine Plastiktüte. Joana lauschte ins Haus. Stille, bis auf das leise Wasserrauschen aus dem Bad. Nicholas duschte noch, er würde sie nicht hören, selbst wenn sie schrie. Solange er sich nicht auf die ihn umgebenden Gefühle konzentrierte, konnte er auch nicht spüren, dass jemand in der Nähe war. Sie war auf sich gestellt. Entgegen ihrer Prognose und der Überzeugung, dass sie eigentlich ein friedfertiger Mensch war und nichts als ihre Ruhe haben wollte, fühlte es sich gut an, alles im Griff zu haben. Das hatte sie doch? Vielleicht war es ein verräterisches Gefühl, dieser Eindruck von Macht, der in ihren Adern prickelte. Aber es fühlte sich gut an, sich nicht länger zu verstecken, sondern vorzutreten und notfalls zu kämpfen. Die Zeit des Verkriechens war endgültig vorbei. Die Waffe lag kalt und schwer in ihrer Hand, aber das Training hatte ihre Arme stark gemacht.
„Hände hoch!“, verlangte sie. Sie hatte sogar daran gedacht, Portugiesisch zu sprechen. „Und nun komm raus aus dem Gebüsch!“
Die Gestalt gehorchte, trat auf die Wiese und presste unverständliche Laute hervor, die sie an ein Gebet oder eine Bitte um Gnade denken ließen. Joana tastete über sich und drehte eine der tief hängenden Lampen so, dass ihr Schein den Eindringling einrahmte. Es war ein Mann, er blinzelte gegen das Licht. Sein Gebrabbel wurde zu einem Flüstern, die Augen hatte er geschlossen, als wartete er auf den tödlichen Schuss.
Sie spürte das Mitleid, ehe ihr gewahr wurde, was es verursachte: Der Mann war alt, bestimmt über sechzig. Schmutz hatte sich tief in seine Gesichtsfalten gegraben. Die welken Lippen ließen erkennen, dass sich hinter ihnen keine Zähne mehr befanden. Was er an Kleidung trug – und das war deutlich zu wenig, denn es war anzunehmen, dass er damit auch die Nächte unter freiem Himmel verbrachte, die im März noch empfindlich kalt waren –, sah aus, wie einer Vogelscheuche vom Leib gestohlen. Ein langer Lumpenmantel, vielfach geflickte Hosen, zwei unterschiedliche Schuhe.
„Was … was tun Sie hier?“ Es war die Beklemmung, keine Furcht, was ihr das Atmen schwerer machte. Die Pistole in ihrer Hand begann zu beben. Sie zwang sich, den Lauf weiterhin auf den Mann zu richten. Er mochte nur ein alter Landstreicher sein, der Kohlen oder eine Decke aus ihrer Gartenhütte hatte stehlen wollen, aber gerade darum durfte sie nicht unvorsichtig werden. Sie hatte in Portugal gesehen, wie ein Bettler versuchte, für einen Schokoriegel ein Mädchen niederzuschlagen, das auf dem Weg zur Schule gewesen war. Menschen, die nichts zu verlieren hatten und deren Überleben an einem Stück Brot hing, waren unberechenbar.
„Noch mal. Was – tun – Sie – hier?“
„Senhora …“ Die Stimme des Mannes war dünn und brüchig wie altes Papier. „Oh Senhora, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich habe nichts genommen, was Sie noch brauchen. Nur Altes. Nur Reste.“
„Meinen Müll? Du … Sie haben …?“
„Oh Senhora, ich bitte um Verzeihung. Ich lege alles zurück, nur bitte, lassen Sie mich ziehen.“ Der Mann wandte ihr den Rücken zu und griff nach der Tüte. Joana erkannte, dass es tatsächlich der Müllbeutel war, den sie am Morgen in die Tonne geworfen hatte. Oh Himmel. Der Mann stahl Abfall, um zu überleben, und offensichtlich fürchtete er die Policia mehr als alles andere – oder zitterte er aus Kälte? Ihr zog es den Magen zusammen. Was konnte sie tun?
„Warten Sie“, sagte sie und ließ die Pistole resigniert auf den Tisch sinken. „Lassen Sie meinen Müll liegen, ich habe etwas anderes für Sie.“ Im Kühlschrank befanden sich noch die Reste ihres Mittagsessens, gebratenes Ingwerhuhn mit Gemüse, ausreichend für sicher zwei Mahlzeiten. Sie packte die Frischhaltedose, eine Salami, Käse und einen Laib Brot in einen Beutel und legte eine Flasche Milch und eine Tafel Schokolade dazu. Der Bettler war näher ans Fenster herangetreten und äugte halb misstrauisch, halb neugierig in die Küche.
„Schön haben Sie es.“
„Danke.“ Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Er hatte recht; die Frage war bloß, wie lange noch. Aber angesichts seiner Probleme kamen ihr ihre Ängste plötzlich erstaunlich normal, beinah banal vor. Sie war nicht der einzige Mensch, der nicht wusste, was der nächste Tag bringen würde. Ihr und Nicholas drohte ein Dämonenfürst. Diesem Bettler der Hunger und die Kälte. Gab es einen Unterschied?
„Warten Sie noch einen Moment“, sagte sie und holte ihre Handtasche aus der Diele. Unauffällig ließ sie einen Geldschein zwischen die Lebensmittel gleiten. Es war nicht viel, aber es würde reichen, um ein paar Tage in einer Pension unterzukommen. Ein paar Tage ohne Angst waren manchmal das, was man brauchte, um wieder Kraft zu sammeln.
„Gehen Sie die Straße Richtung Stadtzentrum hoch“, flüsterte sie und reichte ihm die Tasche nach draußen. Dabei fiel ihr Blick auf ein dickes Bund verschiedener Schlüssel, dass er am Gürtel trug. Sie erinnerte sich an eine Geschichte, die ihr eine Portugiesin erzählt hatte: Es brachte angeblich Glück, einem Wanderer den Schlüssel des eigenen Hauses mitzugeben. Das Wasserrauschen aus dem Obergeschoss hatte aufgehört. Wenn der Landstreicher nicht einem leibhaftigen Dämon erklären wollte, was er in seinem Garten tat – und das wollte er nicht, so viel stand fest –, sollte er langsam verschwinden. „Dort liegt eine Pension. Ich kenne die Inhaberin gut, sagen Sie an der Rezeption, dass Joana Ânjâm Sie schickt und Ihre Rechnung begleichen wird.“ Sie nahm ihren Schlüssel aus der Tasche und drehte einen ab. Es war nicht der Schlüssel zu ihrer Haustür, er passte bloß in die Tür des Hauses, das Nicholas in die Luft gesprengt hatte – aber was soll’s.
„Senhora!“ Trotz des Abstands führte das ausgerufene Wort einen Schwall übelster Gerüche nach saurem Atem und Alkohol mit sich. Joana wandte sich nicht ab und unterdrückte anschuldigende Gedanken. Vermutlich war billiger Schnaps der einzige Trost, den der alte Mann noch bekommen konnte.
„Das kann ich nicht annehmen.“
„Doch, das können Sie. Und das hier“, sie reichte ihm den alten Schlüssel, „nehmen Sie im Gegenzug für mich mit.“ Er steckte den Schlüssel an seinen Bund, aber seine traurigen Augen verrieten bereits, dass er dennoch niemals in der Pension ankommen würde. Sie versuchte es trotzdem ein letztes Mal. „Bitte tun Sie es. Schlafen Sie ein paar Tage aus und … nehmen Sie ein Bad.“ Bitte, bitte, versauf das Geld nicht. „Nur gehen Sie jetzt. Schnell! Und kommen Sie nicht wieder. Dieser Ort ist …“
„Gefährlich, ich weiß.“ Der Bettler drückte die Leinentasche an seine Brust wie einen wertvollen Schatz. „Ich spüre so etwas. Hier ist der Tod.“ Er blickte über die Schulter in den Garten und hatte keinerlei Ahnung, dass die Gefahr, von der er sprach, aus der anderen Richtung drohte.
Joana schüttelte den Kopf. „Nur etwas, das nicht lebt wie Sie und ich, sondern auf andere Weise. Gehen Sie! Tragen sie meinen Schlüssel weit, ich kann das Glück gebrauchen.“
„Danke, Senhora.“ Der Bettler machte eine Reihe von kurzen, buckligen Verbeugungen und verschwand hinkend in der Dunkelheit. Er wurde noch einmal sichtbar, als er die beleuchtete Haustür passierte. Seine Schritte knirschten im Kies der Einfahrt. Joana wartete, bis sie nichts mehr sah und hörte, dann schloss sie das Fenster und senkte die Stirn in die Handflächen. Armer, alter Mann. Die Welt war voll von ihnen.
Im Obergeschoss klapperte eine Tür. Sie versuchte, die trübseligen Gedanken abzuschütteln und spürte erst jetzt, wie kalt ihr vor dem offenen Fenster geworden war.
Auf dem Weg nach oben kam ihr Nicholas entgegen, zu ihrem Erstaunen zwar mit nassem Haar, aber komplett angekleidet. Selbst die Schuhe hatte er wieder angezogen und die Jacke trug er über dem Arm
„Hast du heute noch was vor?“
„Ja“, antwortete er gedehnt und versperrte ihr mit seinem Körper den Weg. „Ich dachte, ich verschleppe meine Frau für heute Nacht in die nächstbeste Höhle und …“ Doch dann stutzte er. „Ist alles in Ordnung, Jo? Du bist ganz blass.“
„Es ist nichts.“ Nein, nur eine Schwangerschaft, die nicht sein dürfte, und ein Landstreicher im Garten. Nicht der Rede wert. „Das Training war anstrengend und ich habe heute Abend noch nichts gegessen.“
Nicholas musterte sie skeptisch, gab sich mit der Erklärung aber zufrieden. Er kannte sie, wusste gut, dass sie so manche Frage erst mit sich selbst klären musste, eh sie bereit war, mit jemand anderem zu sprechen, einschließlich mit ihm. Ebenso gut wusste er, dass sie früher oder später mit ihm über alles sprach – normalerweise früher, wenn er sie nicht drängte. Darum zuckte er mit den Schultern und sagte bloß: „Das trifft sich gut, der Zimmerservice soll in diesen Höhlen recht annehmbar sein. Oder bist du müde?“
Der Schreck, den der Landstreicher ihr eingejagt hatte, hatte jede Müdigkeit vertrieben und zu ihrer Irritation musste sie sich eingestehen, dass sie inzwischen tatsächlich ziemlich hungrig war. Ein Schwindel weniger, der ihre Lügenbilanz aber nicht wirklich bereinigte. Sie schüttelte den Kopf. „Gib mir zehn Minuten zum Haare föhnen, dann können wir los.“
~*~
Joana versank während der Fahrt Richtung Westen in Gedanken. Was mochte sie beschäftigen? Nicholas gab vor, nichts zu bemerken, aber in seinem Inneren brodelte es. Sie hatte sich ohne Kommentar auf den Beifahrersitz gesetzt, anstatt wie üblich darauf zu bestehen, den BMW selbst zu fahren.