Edda ist ganz und gar nicht begeistert, als Audorns Bruder Leander die Familie auf seinen gruseligen Landsitz Mönchshut einlädt – ausgerechnet zur Weihnachtszeit!
Dort angekommen, merkt Edda sogleich, dass in diesem Haus nichts mit rechten Dingen zugeht.
Wieso sind Stimmen in den Wänden zu hören? Was hat es mit den sonderbaren Ölgemälden auf sich, mit denen Leander des nachts beliefert wird? Und weswegen versucht Audorns Bruder, Edda und René in seine Gewalt zu bringen?
Als im Bromedornhaus ein gestohlenes Kunstwerk auftaucht, ist die Verwirrung perfekt.
Und neben all diesen Verwicklungen ist da immer noch diese knisternde Sache mit Tewes …
Alexandra Haber wurde 1990 geboren und studierte an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie lebt mit ihrer Familie im Sauerland. Neben ihrer beliebten Debütreihe Die Betonys ist auch ihr Nachkriegsdrama Flanders Fluch im Buchhandel erhältlich.
Weiterhin erschienen:
Ira – Zorn des Taaffeits (Die Betonys, Bd. I)
Gula – Gierige Flammen (Die Betonys, Bd. II)
Superbia – Erbe des Hochmuts (Die Betonys, Bd. III)
Luxuria – Verhängnisvolles Begehren (Die Betonys, Bd. IV)
Invidia – Ewiger Neid (Die Betonys, Bd. V)
Flanders Fluch
Banale Liebesgeschichten
Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2020 Alexandra Haber
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7526-9622-6
Für
meinen lieben Mann
und
meine zauberhaften Kinder!
An diesem Ort ist es nur selten still.
Hunderte von Studenten tummeln sich auf den Gehwegen, in den Eingängen der Gebäude oder auf den Stufen unzähliger Treppen. Sie lesen dicke Wälzer, machen in letzter Minute ihre Aufgaben oder beeilen sich, um in ihre Vorlesungen zu kommen.
Nirgends ist er glücklicher als hier.
Das Labor ist sein Refugium, diese Universität fühlt sich für ihn an, als gehöre sie ihm persönlich. Hier hat er die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht. Dabei sind es durchaus harte Jahre gewesen.
Alles, was er heute ist, hat er sich selbst mühselig erarbeitet. Darauf ist er sehr stolz.
Wehmütig denkt er an die liebevolle Unterstützung, die er durch seine Mutter erfahren durfte. Sie ist erst vor wenigen Jahren von ihm gegangen. Sämtliche Härten und mageren Zeiten haben sie gemeinsam durchgestanden.
Diese zärtlichen Erinnerungen bleiben ihm. Auch er kann sie ihm nicht mehr nehmen.
Apropos er.
Da ist er auch schon wieder!
Ständig lungert er hier herum und schnüffelt in seinen Unterlagen, begutachtet die Apparaturen oder rückt ihm schlichtweg auf den Pelz.
»Ausgezeichnete Arbeit! Sie kommen ja wirklich eifrig voran, Edo«, dringt die Stimme des Sponsors an sein Ohr und dem Angesprochenen sträuben sich sämtliche Haare.
Er reagiert nicht.
»Ich darf doch Edo sagen?« Eher eine Feststellung als eine Frage.
»Das tun Sie ja schon«, gibt er knapp zurück und widmet sich seinen Aufräumarbeiten, denn er will nach Hause. Es war ein langer Tag, außerdem ist er ungern in der Nähe ihres Finanziers.
Schlimm genug, dass sein Schwager sich ausgerechnet den angelacht hat!
Von allen Snobs dieser Welt musste es doch nicht ausgerechnet dieser hier sein? Der Mann kommt ihm näher als er es in Wahrheit aushalten kann und er hasst ihn dafür. Jetzt legt er ihm die Hand auf die Schulter, als sei dies sein angestammtes Recht. Seit Wochen schon versucht er, sich ihm anzunähern, ein Teil seiner Forschung und sogar seines Lebens zu werden.
Aber die Gelegenheit hätte er vor langer Zeit gehabt …
»Du kannst mich ruhig duzen, mein Junge.« Seine Stimme ist wie Benzin, über dem ein brennendes Streichholz zuckt. »Diese Förmlichkeiten sind doch eher peinlich.«
Jetzt schaut er sein Gegenüber denn doch an.
»Ich habe vor, alles so zu belassen wie es ist«, entgegnet er spitz. »Sonst müsste ich mich ja auch noch mit Ihnen unterhalten. Dabei habe ich Ihnen nicht sonderlich viel zu sagen.«
Die gelben Adleraugen funkeln herausfordernd, das mittelblonde Haar ist an den Schläfen grau und unter dem gestutzten rötlichen Bart zeichnet sich ein dünnes Lächeln ab. Der Kerl genießt es in Wahrheit; denn er weiß, wie tief er ihn damals verletzt hat.
»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagt der Mann. »Wollen wir nicht lieber nach vorn blicken?«
»Tun wir doch«, lächelt er eisig. »Ich habe meine Pläne und Sie haben Ihre. Und Sie kommen in meinen Plänen nicht vor.«
Der reiche Stifter lächelt unbeeindruckt. Er hat die Herausforderung angenommen.
Lässig schiebt er die Hände in die Hosentaschen und gibt selbstzufrieden zurück: »Wir haben noch viel Zeit. Niemand weiß, was die Zukunft bringt. Ich bekomme immer, was ich will, Edo. Ob du willst oder nicht, wir zwei sind miteinander verbunden.«
»Auf einmal?«, grunzt er kopfschüttelnd und ertappt sich dabei, dass er die gleiche Haltung eingenommen hat wie sein Gegenüber. Schnell nimmt er die Hände aus den Hosentaschen. »Als Sie mich hätten haben können, wollten Sie nicht. Und jetzt, da Sie sehen, was aus mir geworden ist und dass ich Ihnen nützlich sein könnte, rühren sich auf einmal irgendwelche väterlichen Gefühle? Nicht mit mir! Der Weg bis hierher war beschwerlich und ich bin ihn gern gegangen. Allerdings nicht für Sie.«
Während er spricht, gleitet sein Blick zum Fenster. Unten an der Straße kommt eine grüne Ente zum Stehen und eine kleine blonde Frau steigt aus. Der laue Spätsommerwind bläst ihr die langen Strähnen in das helle Gesicht, rötet ihre weichgeschwungenen Lippen und lässt die blauen Augen glänzen, als sie suchend zu dem Fenster aufblicken, hinter dem er steht.
Als sie winkt, bläht der Wind ihre Jeansjacke auf und das dünne Hemd darunter wird eng an ihren nachgiebigen Busen gepresst, bei dessen Anblick es ihm jetzt schon in den Fingern kribbelt. Sie ist eine Augenweide und ein zärtliches Lächeln geht um seinen Mund, was ihn den Zweiten im Raum eine Sekunde lang völlig vergessen lässt.
Der Stifter ist seinem Blick jedoch gefolgt, stützt sich mit der Hand am Fensterbrett ab und schaut seinerseits hinaus.
Fröhlich fragt er: »Sieh einer an, das ist also deine Frau? Du hast einen ausgezeichneten Geschmack, mein Junge; sie ist wirklich ein hübsches Ding. Bring sie doch einmal mit herauf, am besten gleich! Ich würde meine Schwiegertochter gern kennenlernen.«
Ein wenig nervös schaut er den Mann an, ignoriert ihn jedoch und schlüpft in sein Jackett.
Sein Gegner lacht amüsiert. »Wieso wirst du denn blass? Ich tue deiner Süßen schon nichts.«
Jetzt wird er langsam wütend.
»Wie großzügig!«, faucht er und seine Gletscheraugen beginnen zu glühen. »Erwarten Sie jetzt noch einen Knicks? Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe! Ich will von Ihnen nichts wissen. Und von meiner Frau halten Sie sich erst recht fern, verstanden!«
Je mehr er sich ärgert, desto größeren Gefallen findet der Kerl daran. Zufrieden darüber, ihn aus der Fassung gebracht zu haben, legt er einen Arm um ihn und ignoriert seinen ärgerlichen Versuch, ihn abzuschütteln.
»Na hör mal, du bist doch im besten Alter, mein Sohn; mitten im Saft! Mit so einem Leckerbissen da draußen solltest du dir mal langsam ein Kind machen, was meinst du?«
»Hau ab!«, bellt er und will sich aus der Umarmung lösen, aber der Mistkerl legt es drauf an, greift ihn beim Kinn und fügt knisternd hinzu: »Wenn es soweit ist, sagst du mir doch hoffentlich Bescheid? Ich möchte denselben Fehler ungern zweimal machen und mein erstes Enkelkind liebend gern …«
Jetzt reicht es ihm!
Wüst stößt er ihn von sich, sträubt sein Gefieder und deutet aufgebracht mit dem Finger auf ihn. »Sie haben damals eine Entscheidung getroffen und ich habe sie umgehend respektiert. Nun akzeptieren Sie meine! Lassen Sie bloß die Pfoten von meiner Frau und von … Kehren Sie zu Ihrer Familie zurück, für die Sie sich einst entschieden haben und was auch immer davon übrig sein mag.«
Er wartet die Antwort nicht mehr ab und strebt zur Tür, um eilig das Labor zu verlassen. Ein milder Spätsommerwind begrüßt ihn, als er durch einen Seitenausgang den Gebäudetrakt verlässt.
Ein eigenartiges Gefühl bemächtigt sich seiner. Als streife das Schicksal ihn bloß einmal flüchtig. Unwillkürlich wird er nervös und blickt sich um.
Unzählige Studenten und Professoren, Stimmen und Leben. Er ist überarbeitet, das wird es sein. Niemand kann die Dinge voraussehen, die da kommen werden. Und schon bald wird ihnen ein gutes Leben bevorstehen. Dann können sie vielleicht sogar von hier verschwinden. Das wird wohl das Beste sein …
Am Straßenrand steht die kleine Ente und daran lehnt die Frau, die er mehr liebt als sein Leben. Sie verschränkt ihre weichen Arme in seinem Nacken, um ihn auf den Mund zu küssen. Die Nachgiebigkeit ihrer Lippen erregt ihn und ihr Duft schmeichelt seiner Nase, die er in ihren Haaren vergräbt.
»Lieb, dass du mich abholst«, sagt er und merkt, wie müde er ist.
Sie massiert liebevoll seine unrasierten Wangen zwischen den Händen und schüttelt tadelnd den Kopf.
»Du hast wieder zu viel gearbeitet. Das geht so nicht weiter. Du bringst dich noch einmal um, wenn du nicht auf dich achtgibst.«
Er lächelt schuldbewusst und da hört er auch schon die kleine Faust gegen die hintere Scheibe des Wagens trommeln. Freudig geht er auf die Autotür zu und will seinen geliebten kleinen Wildfang herausholen, da spürt er ein Prickeln im Genick und blickt über die Schulter.
Da oben am Fenster kann er ihn sehen!
Den Mann, den er verachtet und der wie eine Wanze an ihm klebt, seitdem sie sich das erste Mal vor einigen Monaten gegenübergestanden haben.
»Was hast du, mein Lieber?«, fragt seine Frau und er schiebt sich vor das Fenster, hinter dem das Kind ungeduldig wartet. »Willst du die Kleine nicht herauslassen? Sie hat sich die ganze Fahrt lang schon auf dich gefreut.« »Nein, nicht hier. Lass uns bitte fahren«, knurrt er angespannt und schaut dem Mann über sich feindselig in die Augen. »Ich will nicht, dass er sie sieht. Er soll niemals erfahren, dass es sie überhaupt gibt. Ich würde mein Leben geben, um sie von ihm fernzuhalten …«
Mit angewinkelten Beinen lümmelt Edda in ihrem abgenutzten, gemütlichen Sessel, eine Zigarette haltend und ihr altes Schnurtelefon zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt. Ihre lilafarbenen Zotteln sind nass und werden von einem Handtuchturban umwickelt.
Eddas Blick gleitet zum Fenster hinaus, während sie dem alten Mann am anderen Ende der Leitung zuhört. Ein Meer aus weichen Flocken hüllt Straßen, Häuser und Menschen in Puderzucker; bunte Lichterketten spenden farbenfrohes Licht in dieser finsteren, aber besinnlichen Zeit des Jahres.
»Ich fahre nicht mit dorthin«, sagt Edda entschieden.
»Der Mensch ist mir vom ersten Augenblick an unsympathisch gewesen. Was soll ich denn da?«
»Wir müssen eine wichtige Angelegenheit miteinander besprechen«, erklärt Leonard Audorn am anderen Ende. Edda schnippt Asche in ihren randvollen Aschenbecher. »Wofür braucht ihr mich dann noch? Als Possenreißer zu eurer Belustigung? Der neuentdeckte Bastard als Sensation des Jahres?«
Ihr Großvater knurrt ärgerlich. »Du bist manchmal echt unmöglich, weißt du das?«
»Es ist das erste Adventwochenende und das will ich in der Nähe meiner Familie verbringen.«
»Wir sind deine Familie«, erklärt Audorn, als sei es schon immer so gewesen und es gäbe keine andere.
Edda seufzt, um ein wenig Leutseligkeit bemüht.
»Das seid ihr; aber nicht allein. Ich kenne diesen Mann doch gar nicht und du selbst kannst ihn nicht einmal leiden.«
»Ich will ja auch nicht zu ihm, weil ich Sehnsucht hätte. Außerdem hat Leander ausdrücklich betont, dass er uns alle drei willkommen heißen wird. Ich dulde keine Widerrede, du kommst mit, hörst du!«
Edda zieht sich die Wolldecke, in die sie sich gehüllt hat, über die Ohren und macht Pffft ins Telefon.
»Wir stehen morgen früh um halb neun an der Straße und du bist dann bitte fertig. Wenn nicht, komme ich selbst und hole dich!«
Sie legen auf.
Edda dreht ihre Halskette zwischen den Fingern.
Weihnachten ist für sie die schönste Zeit im Jahr; bis vor zwei Jahren jedenfalls. Als sie noch die Frau war, die sie kannte. Jetzt weiß sie nicht mehr so recht, wohin sie gehört. Sie fühlt sich mitten in zwei geteilt.
Manchmal fragt Edda sich, was aus ihr geworden wäre, wenn ihr Großvater sie vor mehr als fünfundzwanzig Jahren durch einen Zufall entdeckt hätte. Wie wäre ihr Leben verlaufen? Sie denkt zärtlich an ihre wundervolle Kindheit im Bromedornhaus zurück und ist dankbar dafür. Ein anderes Szenario will Edda sich gar nicht ausmalen!
Auf den Fensterbänken türmen sich kleine Schneewehen. In ein weites Sport-T-Shirt gehüllt, das vor Ewigkeiten einmal Tewes gehört hat, lehnt Edda in der Tür ihres Balkons und raucht ihre erste Zigarette. Es ist ein traumhafter Ausblick über die Dächer der Stadt, die friedlich unter der Decke aus Eis und Schnee schlummert und wie aus dem Märchen von Frau Holle entsprungen zu sein scheint.
Trotz ihrer dicken Socken, werden Eddas Füße bald kalt und sie raucht schnell auf, schließt die Balkontür. Sie geht ins Bad und beginnt, sich die Zähne zu putzen. Ihr Spiegelbild sieht müde und verschlafen aus, die lilafarbenen Zotteln stehen wild in alle Richtungen und als es klingelt, läuft ihr die Zahnpasta am Kinn herunter. Mit der Zahnbürste im Mund taumelt Edda zur Wohnungstür und drückt auf den Knopf der Gegensprechanlage.
»Hä?«, nuschelt sie an der Zahnbürste vorbei, aber es kommt keine Antwort. Stattdessen klopft es an der Wohnungstür und Edda stöhnt leise, öffnet resigniert die Tür. Missmutig hält sie im Zähneputzen inne.
Audorn sieht aus, als sei er einem alten Stummfilm entwischt. In seinen dunklen Mantel gehüllt und mit seinem vermaledeiten Gehstock in der Hand, den er gar nicht braucht, dazu die edlen schwarzen Handschuhe und sein weißer Bart, schaut er aus wie ein Graf.
Ein Wolf im Schafspelz, trifft es dagegen eher!
Die gelben Adleraugen wandern amüsiert an Edda herauf und herunter und Audorn schüttelt gespielt tadelnd den Kopf.
»Tz tz tz! Du könntest wenigstens schon angezogen sein. Gepackt hast du vermutlich auch noch nicht, stimmt’s?« Edda knurrt irgendeine Verwünschung und wankt wieder ins Innere ihrer Wohnung, wobei sie die Tür offenstehen lässt. Sie geht ins Bad und gurgelt Wasser, bis ihr Mund wieder frei ist.
In ihrer kleinen Wohnung hört sie den Stock von A nach B klappern. Als sie aus dem Bad tritt, schnüffelt der alte Mann neugierig in allen Ecken herum, steckt den Kopf durch die wenigen Türen und bahnt sich mit seinem Stock einen Weg durch Eddas wild verteilte Klamottenberge.
Der geräumige Wohnraum mit offener Küche macht den Großteil der Wohnung aus. In der Spüle türmen sich einige Teller und Tassen, die Spülmaschine ist voll; auf dem Herd steht ein Topf mit kalten Nudeln und auf dem hohen Küchentisch mit den Barhockern ist noch das krümelige Schlachtfeld von Eddas Frühstück zu bewundern.
Ein kleines Ecksofa und Eddas durchgesessener Sessel liegen der Küchenzeile gegenüber, genau in Blickrichtung auf einen kleinen Flachbildfernseher und ein vollgestopftes Bücherregal. Auf dem Couchtisch türmen sich Illustrierte und abgelaufene Kalender, ein Laptop lugt unter dem Gebirge hervor.
Zwei Türen führen zum einen in Eddas kleines Schlafzimmer mit einem breiten Bett, das unter Millionen Kissen und Decken verschwindet, und in ein helles, freundliches Badezimmer mit blauweißen Fliesen. Die Dachfenster in allen Räumen tauchen die Wohnung in behagliches Licht.
Eddas Zuhause.
»Kind, das ist ja eine Briefmarke«, meint Audorn spöttisch. »So schlecht ist dein Gehalt doch nun wirklich nicht und wenn man Edos Taaffeite und die Honorare seiner Forschung noch dazu nimmt, die du bekommst, kannst du dir eine geräumige Eigentumswohnung … «
Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnt Edda in der Tür ihres kleinen Bades und gibt schmunzelnd zurück: »Wo ist denn schon wieder dein Problem? Das hier ist mein Zuhause. Es ist klein, genau wie ich. Ist es dir zu popelig, Herr Graf?«
»Du kannst ein anderes Leben haben«, konstatiert ihr Großvater entschieden und Edda mag seinen Tonfall gerade überhaupt nicht.
»Ich mag mein Leben und fühle mich hier sehr wohl«, sagt sie nachdrücklich. »Ich wohne bald sieben Jahre hier und höre heute bestimmt nicht damit auf und schon gar nicht, weil du es willst.«
Demonstrativ lässt Audorn den Blick durch die chaotische, aber sehr gemütliche Wohnung schweifen. Die Wände sind grün und gelb getüncht, der helle Teppichboden gibt einen freundlichen Akzent und die bunten kleinen Möbel runden das Bild von solidem Glück ab. Audorns Augen bleiben an dem überfüllten Aschenbecher auf der Fensterbank haften, gleiten zu dem Sessel, in dem noch immer die zerknüllte Wolldecke und ein paar Socken vom Vorabend liegen, streifen den Wäscheständer neben der Heizung und finden in dem Bücherregal auch eine von mehreren gerahmten Fotografien. Er nimmt sie in die Hand und sieht sie mit einem gönnerhaften Lächeln an.
Es ist eine Aufnahme von Edda und ihren Cousins.
Edda und Tewes liegen nebeneinander mit verschränkten Armen auf dem Bauch, während Gunnar, der Große, sich über ihnen mit den Händen auf dem Boden abstützt und die beiden auf diese Weise zwischen sich hat. Edda ist auf dem Bild etwa acht Jahre alt und bleckt eine stolze Zahnlücke neben den oberen Schneidezähnen, während ihre damals noch blonden Haare keck zu einem hohen Zopf gebunden sind. Tewes ist dort etwa vierzehn und Gunnar knapp zwanzig.
»Ein sehr schönes Bild, Edda«, bemerkt Audorn und Edda fröstelt unwillkürlich. »In letzter Zeit muss ich oft daran denken, dass es genauso gut meine Söhne hätten sein können, die dich so im Arm halten.«
Mit der Zunge gleitet Edda über die winzige Spalte zwischen ihren Schneidezähnen und erwidert den provozierenden Blick ihres Großvaters.
»Es sollte wohl nicht sein«, gibt sie nachdrücklich zurück. »Wurmt dich das oft?«
Audorn lächelt schattig, stellt das Bild sorgsam zurück und betrachtet die anderen Fotos eine Weile, auf denen Edda mit Freundinnen abgebildet ist, bevor er antwortet: »Nun, du bist mir ja ohnehin schon sehr ähnlich. Was hätte ich nicht noch alles in den letzten dreißig Jahren Hübsches aus dir machen können, frage ich mich?“
Sich vorzustellen, Audorns persönliches kleines Geschöpf geworden zu sein, empfindet Edda nicht als sehr erstrebenswert.
»Und ich frage mich,«, ergänzt sie nüchtern. »hättest du mir dann jemals die Wahrheit über Edos Tod gesagt?«
Das lässt seine Miene kurz einfrieren, aber er bleibt trotzdem gelassen und schenkt ihr ein tiefgekühltes Lächeln.
»Nein, ich hätte es dir nicht gesagt.«
Immerhin ist er ehrlich.
Audorn legt den Kopf ein wenig schräg und mustert Edda bedächtig, wobei er mit dem Finger ihr Gesicht anhebt. Sie lässt sich diese Prüfung gefallen und wartet ab, zu welchem Resultat er kommen wird.
Es sind immer nur kurze Augenblicke, in denen die scharfen Adleraugen ein zärtlicher Ausdruck durchhuscht.
»Wie viel hätte uns beiden offen gestanden, wenn du es niemals erfahren hättest«, stellt er mit sachlicher Wehmut fest. »Ist das die Wahrheit wert gewesen?«
Er nimmt die Hand herunter und streift dabei versehentlich ihre Wange, wobei es Edda jedoch fast wie eine versteckte Liebkosung erscheint.
Edda schluckt einen Kloß aus Bitterkeit und Bedauern gleichermaßen herunter.
»Du hast dir von unserer ersten Begegnung an alle Mühe gegeben, es mir so schwer wie möglich zu machen. Die Wahrheit war nur noch der Höhepunkt.«
Audorn schmunzelt. »Was ich haben will, hole ich mir nun einmal – so war das schon immer. Sogar dein eigener Schlaukopf von Vater wusste das. Als du mir aus heiterem Himmel in die Arme gelaufen bist, wieso hätte ich dich da noch einmal loslassen sollen, hm?«
Er kann so widerlich sein!
»Das hatte damit schwerlich etwas zu tun«, sagt Edda gereizt. »Du hast mich nicht etwa angerufen und zu dir eingeladen, falls du dich richtig erinnerst. Stattdessen hast du mich entführen und auf deiner Jacht festgeschnallt und geknebelt aufwachen lassen, ohne mir auch nur einen einzigen Hinweis für den Grund zu geben. Findest du das als Start sehr geschmackvoll?«
»Geschmackvoll sicher nicht, rein zweckmäßig«, antwortet Audorn schamlos. »Immerhin wollte ich dich mir erst einmal in Ruhe anschauen und der Rest ergab sich von ganz allein. Man könnte es eine glückliche Fügung nennen, meinst du nicht? Außerdem haben wir zwei doch seitdem eine interessante Zeit miteinander erlebt.« »Das trifft es wohl ganz gut.«
Mit einem Kichern streicht ihr Großvater Edda sanft eine Haarsträhne aus der Stirn und säuselt: »Auch wenn uns beiden fast dreißig Jahre fehlen mögen, ist es ja noch längst nicht zu spät. Ich werde dich schon noch ein wenig nach meinem Geschmack formen, mein Taubenäuglein.«
Wofür hält er sich eigentlich?
Mit feurigen Augen erwidert Edda das Grinsen und knurrt: »Träum weiter, Großvater! Verpasste Gelegenheiten kann man nicht nachholen.«
Sie blinzeln einander zu.
Edda schiebt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und will an die Balkontür treten, aber Audorn fasst sie an der Armbeuge und macht eine wedelnde Handbewegung.
»Also, was ist? Zieh dich endlich an und pack deine Wäsche zusammen! Wir wollen nicht erst heute Abend aufbrechen. Bis Hamburg müssen wir fahren. René wartet im Auto auf uns.«
»Schick mir eine Postkarte«, brummt Edda und fährt sich mit einer Hand durch ihre zerwühlten Zotteln. »Mit einer hübschen Briefmarke.«
Wenngleich nicht ohne Humor, so versichert Audorn dennoch mit Nachdruck: »Ich habe dir gesagt, ich hole dich. Und notfalls nehme ich dich auch in diesem Aufzug mit; das versichere ich dir!«
*
Wäre es nicht ohnehin schon eisig kalt draußen, würde Edda spätestens jetzt zu frösteln beginnen, da sie das gewaltige Gebäude von Nahem sieht. Mönchshut ist groß und einschüchternd gleichermaßen. Hier wollte sie nicht einmal den Sommer verbringen, geschweige denn ein Adventwochenende.
»Du bist hier doch nicht ernsthaft aufgewachsen?«, fragt Edda, beinahe mitleidig. »Wenn meine urige Wohnung eine Briefmarke ist, dann ist dies hier ein Kerker.«
Audorn lacht leise. »Nein, wir wuchsen auf Robinie auf, Leander und ich. Nach dem Tod unserer Eltern ging Robinie an mich und Mönchshut an ihn.«
»Da bist du ja noch einmal mit dem Schrecken davongekommen«, konstatiert Edda trocken und vergräbt die Hände in ihren Manteltaschen, als sie aussteigen und von einer eisigen Brise begrüßt werden. »Haben wir eine Gewähr, dass wir darin keine Horde Vampire antreffen?«
»Nein, die haben wir nicht«, versetzt René spöttisch und lässt seine Blicke an dem Gebäude hinaufwandern. »Ich war zuletzt als Kind hier. Es hat sich gar nicht verändert.«
Sie brauchen nicht zu klingeln, denn die Tür steht schon offen. Als sie eintreten, empfängt sie eine in warmen Farben gehaltene Eingangshalle, die Edda sich bei dem äußeren Anblick von Mönchshut nicht so angenehm vorgestellt hat. Dezente Weihnachtsdekoration erinnert sie daran, dass die Vorweihnachtszeit auch an diesem Ort existent ist. Mönchshut liegt in einem überschaubaren Städtchen namens Tübeli, in der Nähe der Hansestadt Hamburg.
Ein etwa vierzigjähriger Mann begrüßt sie. Er ist mittelgroß und hat, wie alle Audorns – einschließlich Edda –, blondes Haar. Seine Augen haben verschiedene Farben, eines ist blau, das andere braun. Wangen und Kinn sind glattrasiert und sein Blick ist höflich arrogant, weshalb Edda beschließt, ihn nicht zu mögen, noch bevor er ein Wort gesagt hat.
»Das ist wahrlich lange her«, sagt der Mann artig und gibt ihnen allen die Hand. Seine Stimme ist ruhig und etwas näselnd. René und er schauen einander in einem Gemisch gleichgültiger Neugierde an.
»René oder …?«, setzt der Mann an und René fährt ihm mit ruhigem Frost über den Mund: »Ganz recht. Du bist gewachsen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, Philipp.«
Philipp lächelt schmal. »Tja, jetzt lasse ich mich nicht mehr so leicht an Handtuchhaken aufhängen, was?«
»Das war Oskar«, gibt René mit Spott zurück. »Ich habe dich in der Regel wieder heruntergelassen.«
Die verschiedenfarbigen Augen finden Edda und ein hungriges Lächeln geht um Philipps schmalen Mund. Galant nimmt er ihre Hand in seine und atmet einen Kuss darauf. Edda verfolgt den Vorgang mit kühlen Augen.
»Und wen haben wir hier?«, fragt Philipp weich.
»Edda Betony, deine Großcousine«, erklärt Audorn und Edda ist über dessen missfallenden Ton erstaunt. Wollte ihr Großvater sie nicht immer verkuppeln, damit sie ihm schnellstmöglich fünf Urenkel auf den Schoß setzt?
»Sehr erfreut, Edda.« Philipp lässt ihre Hand sichtlich ungern wieder los.
Edda beobachtet, dass René und Philipp Blicke tauschen und es erscheint ihr fast, als liege in Renés Augen eine Warnung; die Philipp mit einem Lächeln zur Kenntnis nimmt.
»Wie unhöflich von mir«, entrüstet sich dieser nun. »Legt erst einmal ab. Die Treppe hinauf und dann in den linken Korridor; dort sind eure Gästezimmer. Papa wird jeden Augenblick zurück sein. Er musste noch etwas erledigen.«
»Ich weiß«, bemerkt Audorn trocken und sieht Philipp dabei geradeheraus an, was diesen kurz verstört.
Sie begeben sich in Richtung Treppe und Philipp schickt sich an, Eddas Reisetasche zu nehmen, aber René kommt ihm zuvor und sagt kein Wort.
»Das Doppelzimmer ist für euch beide«, sagt Philipp rasch und deutet auf Audorn und René.
Vater und Sohn verständigen sich wortlos und René flötet: »Wieso sollten Edda und ich nicht etwa in einem Raum schlafen?«
Dass es Edda sonst wo vorbeigeht, ob sie allein oder mit jemandem gemeinsam in einem Raum liegt, solange es nicht ausgerechnet ihr Großvater ist, behält diese für sich. Sie gehen die Treppen hinauf und Edda fühlt Philipps Blick auf ihrem Hintern.
Als sie in ihrem Zimmer auspacken und Edda bereits binnen Sekunden ihre Wäsche auf dem Boden verteilt hat, legt René ihr mit einem Male die Hand auf die Schulter. Sie schaut ihn an; er wirkt etwas unruhig.
»Hör mal, Süße, hier weiß niemand darüber Bescheid, dass ich die Gesellschaft von Männern in einer speziellen Weise bevorzuge. Ich hätte gern, dass das auch so bleibt.«
Zustimmend zuckt Edda mit den Achseln und nickt. René zögert kurz, dann fügt er hinzu: »Ich nehme an, dass man hier die Zeitungsartikel und den Klatsch über dich und mich kennt. Wir sollten ihnen diese Illusionen besser nicht nehmen.«
Ein breites Grinsen geht Edda von einem Ohr bis zum anderen. »Herr Doktor, Sie sind doch nicht etwa eifersüchtig?«
Als René ernst bleibt, welkt Eddas Grinsen.
»Das hat damit nichts zu tun, Liebes. Es gibt einen Grund dafür, dass mein Onkel uns alle eingeladen hat. Leander und Papa haben fast ein Leben lang keinen Kontakt mehr gehabt, weil … Jedenfalls sind wir hier in einem Hornissennest, lass dir das gesagt sein.«
»Er gefällt mir doch gar nicht, René, keine Angst«, zwitschert Edda und wischt sich eine lila Zottel aus der Stirn. »Du weißt ja, dass ich mich von Damwild nicht so leicht beeindrucken lasse.«