Umschlaggestaltung: Nicolas C. Hammann
Alle Rechte © 2017 Joachim Hammann
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7460-0401-3
Für
Małgorzata Marciniak
Veniet tempus, quo ista, quae nunc latent, in lucem dies extrahat. Es wird eine Zeit kommen, wo das, was jetzt noch verborgen ist, ans Licht des Tages gezerrt werden wird.
Seneca: Naturales quaestiones. Buch VII, 25
Als die kleine Joanna in Szczecin in die erste Klasse kam, überraschte sie ihre Lehrerin mit sehr guten Deutschkenntnissen — das hatte sie von ihrer deutschstämmigen Mutter — und überragenden Lesefähigkeiten. In der Zeit, in der ihre Mitschülerinnen und Mitschüler noch an einem einzigen Wort herumbuchstabierten, las sie flüssig und mühelos einen ganzen Satz. Später durfte sie, als ausgesuchte, förderungswürdige Begabte, das Gymnasium in Löcknitz, in Deutschland, besuchen.
Joanna brauchte nicht die DDR, um zu begreifen, dass aus ihr was werden sollte. »Ich will einen Prinzen heiraten«, sagte sie, »einen wie aus dem Märchen.« Später erklärte sie, sie wolle mehr aus ihrem Leben machen als ihre arme Mutter, die mit irgendwelchen schlecht bezahlten Putz- und Hilfsarbeiten in der Stadtverwaltung Szczecin nur knapp überlebte, und deswegen fuhr sie brav jeden Tag mit dem Bus ins Gymnasium, von Szczecin über den Grenzübergang Linken nach Löcknitz.
Bis zu dem Zeitpunkt, als es in Polen unruhig wurde.
Ihre Mutter hatte anscheinend immer gut mit irgendwelchen Parteigrößen in Szczecin gestanden; mit einem von ihnen, Karol Szeniek, einem älteren Funktionär, waren sie und ihre Mutter in den Sommerferien am Meer bei Świnoujście gewesen — Swinemünde, wie ihre Mutter es störrisch mit seinem alten deutschen Namen nannte.
Joanna konnte sich nicht erinnern, dass sie sich irgendwann noch einmal hatten leisten können, in Urlaub zu fahren.
Ein anderer Freund der Mutter, Filip Radomski, hatte wochenlang an Gesprächen der kommunistischen Führung mit der zwar verbotenen, aber immer mehr erstarkenden Untergrunds-Solidarność in Magdalenka bei Warszawa teilgenommen. Als früheres Vorstandsmitglied der Woiwodschaft Gdańsk kannte er die Anfänge von Solidarność und galt als Experte und als Verhandler, den Solidarność akzeptierte.
Filip Radomski tauchte eines Abends im April 1989 recht atemlos bei Joanna zuhause auf und bevor er Guten Abend! sagte, sagte er, »Wir müssen abhauen. Schnellstens.«
»Was redest du da?« fragte die Mutter.
»Ich dürfte dir das alles nicht sagen, aber…«
Er warf einen seltsamen Blick auf Joanna.
Joanna fühlte sich sehr unwohl, als wenn ihre Mutter mit Filip bereits entschieden hätte, sie zurückzulassen.
»…wenn Joanna...«, Filip machte eine Pause, »...und du eine Zukunft haben sollen, müssen wir in den Westen. Hier bricht alles zusammen. Entweder können wir bald zu Fuß hinübergehen, weil die Mauer fällt…«
»Oder…?«
»…uns auf ganz schlimme Zeiten gefasst machen. Vielleicht sogar Bürgerkrieg.«
»Wann müssen wir weg?«
»Am besten sofort. Wir brauchen aber richtig gute Dokumente.«
»Das heißt?«
»Dokumente für uns drei, die unsere Ausreise reibungslos machen. Und die garantieren, dass wir zusammen hinüberkommen. Und man uns nicht trennt. Euch von mir. Und dich von Joanna.«
Die Mutter warf einen Blick auf Joanna. Ihr einziges Kind. Ihre geliebte Tochter. Ihr schönes Mädchen. Ihr begabtes Kind. Nein, es musste einfach klappen, aber wenn...
»Aber wenn das zu lange dauert... mit den Papieren, meine ich, und inzwischen...«
»Es wird alles gut gehen.«
Die Mutter sah traurig und müde aus, als wisse sie, wie das Leben nun einmal ist — als gebe es niemals erfüllte Hoffnung und Glück. Immer geschah etwas, immer kam etwas dazwischen und immer waren es schwere Unglücksfälle und Katastrophen.
Joanna und ihre Mutter waren zu arm, um mehr als Nötigste zu besitzen und deswegen waren sie schnell mit dem Packen des Nötigsten fertig.
Es dauerte aber vier Wochen, bis es endlich soweit war.
»Du bist meine Lebensgefährtin, Joanna ist unsere Tochter, ich muss nach Bremen, zu Gesprächen mit dem dortigen Koordinationsbüro von Solidarność, und ihr begleitet mich«, erklärte Filip und gab Mutter und Joanna irgendwelche Papiere.
Bremen, Koordinationsbüro — anders ging es nicht, obwohl sie eigentlich nach West-Berlin wollten, wo Verwandte von Filip lebten.
Bei Zarentum fuhren sie über die Grenze der Deutschen Demokratischen Republik nach Westdeutschland.
Als sie wenig später in Hamburg angekommen waren, wunderte sich Joanna, wie reibungslos alles geklappt hatte.
»Es gibt an den Grenzübergängen sogenannte Schleusen«, erklärte Filip.
»Schleusen? Nie gehört.«
»Nun«, schmunzelte Filip, sichtlich erleichtert über die gelungene Flucht, »deren Existenz wird auch streng geheim gehalten. Nur für die Leute der KPD und der SED, wenn sie rein- und rauswollen.«
»Wer war der Mann in Zarrentin?« wollte Joanna noch wissen. »Der so freundlich zu dir war?«
»Ach, sei doch still«, sagte ihre Mutter. »Das alles haben wir hinter uns.«
»Ein Mitarbeiter der Abteilung Verkehr beim Komitet Centralny der SED.«
»Kanntest du den Mann?« fragte Joanna.
»Nein. Der Rest ist geheim. Zu unserer aller Sicherheit.«
»Ah, ihr dürft das wissen, aber ich nicht?«
»Ich weiß auch nichts«, sagte die Mutter sanft, »beruhige dich.«
»Doch, doch, du weißt was. Ihr zwei habt Geheimnisse vor mir, das spüre ich schon lange, irgend was verbindet euch, aber ihr erklärt mir nie was. Wann werdet ihr mich endlich einweihen? Ich bin inzwischen alt genug.«
Filip sah Mutter wieder mit dem seltsamen Blick an.
»Was soll dieser blöde Blick immer?« regte sich Joanna auf.
Die Mutter sagte nichts. Auch Filip blickte stumm zurück.
Sie hasste ihn.
Am 8. Mai überschritten sie die Grenze nach Westdeutschland. Fast auf den Tag genau ein halbes Jahr später hätten sie, wie Filip Radomski das vorhergesehen hatte, über ein paar Mauerreste hinüberklettern und zu Fuß nach West-Berlin gehen können.
In der zweiten Woche nach ihrer Flucht flogen sie von Hamburg nach West-Berlin. Noch einmal mit dem Auto durch die DDR zu fahren, wagte Filip, trotz seiner guten Beziehungen, nicht. Filips Verwandte streckten die Flugkosten vor.
Mutter, immer bemüht, ihre Tochter und sich durchzubringen, fand für kurze Zeit Arbeit als Reinmachefrau in einem Großbüro, dann als Kellnerin in einem Tanzlokal für ältere Herrschaften. Wenn andere Menschen Feierabend hatten, verließ sie das Haus.
Filip Radomski war todunglücklich und hatte schreckliches Heimweh; Ende des Jahres kehrte er nach Szczecin zurück und half beim Wiederaufbau des neuen Polen.
Das letzte, was sie von ihm sahen oder lasen, war ein Brief, in dem er mitteilte, dass es ihm gut ginge, aber dass der gute alte Genosse Karol Szeniek sich angeblich in üble finanzielle Machenschaften bei der Übernahme des Vermögens der ehemaligen PVAP verstrickt hatte, verhaftet worden war und sich in seiner Zelle erhängt hatte.
Filip Radomski schrieb, Karol hat geschwiegen und keinen seiner Freunde verraten.
Die Mutter weinte und nickte dazu.
Joanna wusste nicht, ob ihre Mutter anerkennend nickte, weil Karol Szeniek ein anständiger Mann gewesen war, der seine Freunde nicht verriet — oder ob sie glücklich weinte und dankbar nickte, weil Filip Radomski ihnen geholfen hatte und er jetzt selber in Sicherheit und wieder glücklich zurück in seinem Heimatland war.
»Warum nickst du?« fragte sie ihre Mutter.
»Sei still jetzt, es ist alles vorbei. Wir haben das alles hinter uns gelassen.«
»Was haben wir hinter uns gelassen?« wollte Joanna wissen.
Die Mutter gab ihr keine Antwort
»Was? Was? Was? Was?«
»Halt jetzt die Klappe«, fuhr die Mutter sie mit ungewohnter Schärfe an.
»Was?« Joanna gab nicht auf.
»Das wirst du nie erfahren, weil wir nie darüber reden werden.«
»Was?« schrie sie.
Da hatte sich die Mutter nicht mehr in der Gewalt. Sie beugte sich über den Tisch und schlug Joanna mit der flachen Hand ins Gesicht.
Es brannte wie Feuer, und Joanna musste schlucken, um nicht zu weinen. Sie hasste ihre Mutter.
»Was ist vorbei?« schrie sie. »Was? Was?«
»Hallo, Joachim«, sagte eine Frau.
Er hatte diese Stimme vier Jahre nicht mehr gehört, wusste aber sofort, wer am Telefon war — dazu bedurfte es nur zweier Worte, die andere Frauen, was Timbre und A-Prosodie betraf, ähnlich sagten, aber eben nur ähnlich —, und sein armes, abgestorbenes Herz begann wieder vorsichtig zu schlagen.
»Guten Morgen«, sagte er.
»Das heißt, hallo, Jessica!« verbesserte sie.
»Hallo, Jessica«, sagte er schwach.
»Das klingt aber nicht gerade begeistert!«
Doch! dachte er, sollte es jedenfalls. Aber wie begeistert konnte ein Mann mit der Frau reden, in die er sich, Hals über Kopf und mit völlig vergeblichem Widerstand, verliebt hatte? Welche die erste Frau war, in die er, Joachim, sich — drei Jahrzehnte nach dem Tod seiner ersten Frau — wieder verliebt hatte. Und die dann einfach aus seinem Leben verschwunden war und sich anscheinend wenig Gedanken darüber gemacht hatte, was sie ihm damit antat.
»Ich bin wieder in der Stadt«, sagte sie.
Wie redete ein Mann mit seiner Traumfrau, die gleichzeitig die Frau war, die er nie — das war das wirklich Schmerzliche: dass er das mit absoluter Sicherheit wusste — bekommen würde? Nur eins würde noch quälender als die totale Aussichtslosigkeit seiner Liebe sein: das Gefühl zu haben, dass eine winzige Chance bestand, dass es eines Tages doch noch klappen könnte. Es gab Hoffnungen, die waren tausendmal unerträglicher als Enttäuschung und Entsagung.
»Wie schön. In der Stadt Düsseldorf?«
Wie redete ein einfacher Kriminalhauptkommissar mit einer Frau, die die Freundin von Multimillionären und Milliardären war und für die das Straßenbild von Paris, Manhattan, St. Moritz und Beverly Hills so vertraut war wie das von Lindenthal, Pempelfort oder Karlstadt für Joachim?
Wie redete man mit einer Frau, deren quasi offizielle Berufsbezeichnung wohl mit »Luxus-Callgirl« — besser noch, noch eine Stufe höher: mit »Freundin einiger enorm reicher Männer« — angegeben werden musste? Die eine wie die andere Bezeichnung, fand er, klang gerade bei ihr herabwürdigend, da sie unschuldig und sauber wie ein Engel wirkte. Seiner Meinung nach vermochte sie nicht nur, diesen Eindruck hervorzurufen, sondern war tatsächlich ein Engel.
»Na, klar in Düsseldorf. Was dachten Sie denn?«
Ich weiß nicht, was ich denken sollte, sprach er mit sich selber, du hast Unruhe in mein Leben gebracht, du hast erweckt, was totgeglaubt war, was ich vor der Welt schützen und keiner Frauen mehr schenken wollte.
»Willkommen daheim«, sagte er mit all dem Schwung, den ein sechsundfünfzig Jahre alter Mann aufbringen konnte, der mit einer über dreißig Jahre jüngeren, vibrierend lebendigen Beauty sprach und ihr zu verstehen geben wollte, dass noch etwas in ihm lebte.
Wie redete man mit einer Frau, die als Frau all das bedeutete — er versagte es sich, »verkörperte« zu denken, denn das hatte einen zu schmierigen Unterton —, was sich Männer in ihren schönsten Träumen vorstellten und in ihren beglückendsten Sehnsüchten ausmalten?
»Wann sehen wir uns?« fragte sie, und sie ließ es klingen, als gäbe es für sie kaum etwas Dringlicheres.
Was will sie jetzt von mir? dachte er. Sie hat vier Jahre nicht angerufen. Früher, damals, hatte sie, wenn sie ihn anrief, immer etwas von ihm gewollt, hatte es aber immer so dargestellt, dass sie ihn als interessanten Mann sehen wollte und nicht als Ermittler und Kommissar, der ihr irgendwie helfen könnte.
Kommissar Marc Peletier, Joachims junger Teamkollege, kam ins Dienstzimmer, spürte sofort die Spannung, die den Raum bog, ahnte, wer am Telefon war, ging, keinen Blick vom wie erschlagen wirkenden Joachim wendend, zu seinem Schreibtisch und setzte sich, so leise er konnte, hin.
Er versuchte so zu tun, als mache er sich an die Arbeit und sehe Berichte durch, aber es war für Joachim, der hinüberschaute, deutlich zu sehen, dass Marc sich bemühte, jedes Wort des Gesprächs mitzukriegen.
Joachim fragte sich, wo Jessica die ganzen Jahre gewesen war und warum sie sich jetzt wieder bei ihm meldete.
»Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt?« fragte er sie.
»Haben Sie mich vermisst?«
Schmerzlich, dachte er, es war schrecklich, all die Jahre nichts von dir zu hören und dich nicht zu sehen, das war mehr, als ich noch im Leben vorhatte auszuhalten.
Vor vier Jahren hatte sie sich ohne großes Getue von ihm verabschiedet und gewohnt lieb, aber doch sachlich, mitgeteilt, dass sie mit ihrem Sohn nach Los Angeles ziehen würde.
»Ich freue mich, dass Sie wieder da sind«, sagte er, »wirklich.«
»Vor vier Jahren waren Sie weniger förmlich.«
Vor vier Jahren! Da hoffte ich noch, dass ich dir unbefangen entgegentreten könnte. Aber dann habe ich sehr schnell gemerkt, dass du mich mit einem einzigen Blick aus deinen meerblauen Augen verunsichern konntest.
»Ich glaube, ich bin ein bisschen überrascht«, sagte er.
»Ein bisschen überrascht. Das hat noch nie ein Mann zu mir gesagt.«
»Wirklich nicht?«
Er musste zugeben, dass die Konversation von seiner Seite ziemlich holprig und steif war.
Nach Selbstauskunft (»Ich bin Rheinländer, vom linken Niederrhein, noch dazu Kölner. Das ist ne dreifache Steigerung! Unsereins liebt das Gespräch!«) und auch nach Meinung seiner Kollegen war Joachim ein Mann, der den Mund nicht zukriegte; nach Meinung anderer Kollegen war Joachim ein Mann, der sich gerne reden hörte. Die freundlichen Kollegen sagten Joachim nach, dass er eloquent war, dass er rhetorisch brillant sein konnte und in der Lage war, ausnahmslos jeden verbal fertigzumachen; dass er ein gebildeter Mann war, wie es unter ihnen sonst keinen gab, das schloss sämtliche Vorgesetzte ein, dass er ein Mann war, der sich nie verhaspelte, der nie nach Ausdrücken suchen musste und der nie ein »äh« zwischen seine Worte schob, weil ihm alle möglichen komplizierten Fremdworte so geläufig waren wie kölsche Saft- und Kraftausdrücke, echt rheinische Redewendungen und lateinische Sentenzen, auch längere, die er ab und zu, zur Verblüffung aller Anwesenden, zum Besten gab — nicht, weil er mit seiner humanistischen Bildung angeben wollte, sondern weil es ihm gelegentlich Spaß machte, seine Mitmenschen ein bisschen zu verunsichern. Kurzum: Joachim war ein Original. Oder wie es sein Vorgesetzter Vierkötter einmal richtig schön auf Platt formuliert hatte, »Nää, nää, dä Joachim, datt iss mich einen.«
»Ich bin überrascht, hat noch nie ein Mann zu mir gesagt«, erklärte Jessica, »alle Männer, ausnahmslos, haben gesagt: ich bin hingerissen. Oder es hat ihnen gleich die Sprache verschlagen.«
Sie musste lachen.
Sie konnte auf äußerst sympathische Weise in ironische Distanz zu sich selber gehen und über ihre unglaubliche Wirkung auf Männer lachen. Ihr Lachen war ohne Zynismus und ohne Freude an der eigenen Siegesgewissheit, ohne die geringste Spur von Belustigung über die strampelnd verzweifelte Gegenwehr oder die, noch öfter, kampflose Paralyse ihrer Opfer.
Wenn Engel lachten — darüber wusste man so gut wie nichts, nur, dass sie sangen und musizierten —, müssten sie, dachte Joachim, so lachen wie Jessica.
Jessicas Lachen ließ ihn an das Schellengeläut eines Pferdeschlittens denken, mit dem man unter dem Vollmond durch einen verschneiten Wald fuhr, so dass von den vom Winterweiß schwer herabhängenden und vom vorbeiziehenden Gefährt berührten Tannenzweigen kleine kristalline Kunstwerke stäubten, welche die Gesichter der Insassen wie Tupfer von den Zauberstäben zarter Elfen berührten und die im Aufprall auf die Haut eines Menschen ihr Leben aushauchten wie die Nymphen und Engel, die sich in Sterbliche verlieben.
»Sind Sie noch da?« fragte Jessica.
Um Himmels willen! ertappte sich Joachim, was bin ich in diese Frau verliebt! Die Erkenntnis machte ihn schwindlig und zwang ihn, sich hinzusetzen.
»Was sagten Sie gerade?«
»Warum duzen wir uns eigentlich nicht?« fragte sie zurück.
Weil ich damit eine Nähe zu dir herstellen würde, die mir Angst macht, sagte er zu sich.
»Vielleicht bin ich tatsächlich zu förmlich«, sagte er zu ihr.
»Weil ich Sie dann mit ihrem Vornamen anreden müsste?«
Den hatte er irgendwann einmal abgelegt, wie den Spitznamen, den man als Kind bekommt und der zu einem Lebensabschnitt gehört, den man, samt dem Namen, eines Tages zurücklässt. Selbst der Personalchef musste in den Unterlagen nachsehen, ob Joachim nun Joachim mit Vornamen oder mit Nachnamen hieß.
Alle, die ihn gut kannten, riefen ihn »Joachim!« Alle anderen sprachen ihn als Herr Joachim, Kommissar Joachim oder als Hauptkommissar Joachim an — wie es eigentlich richtig war, denn er war in der Tat Hauptkommissar, sprach aber von sich selber immer nur als Kommissar Joachim und stellte sich auch bescheiden überall so vor. Kein Zweifel, Joachim, ganz einfach nur Joachim, war mit den Jahren zu einem Markenzeichen geworden. Manchmal sprach man ihn auch als »ScheißBullenSchwein« an. Aber »Arschloch!« die beliebte Grußformel, mit der ein Autofahrer sich einem anderen als Seinesgleichen zu erkennen gibt, hörte Joachim so gut wie nie, da er keinen Führerschein besaß und höchstens als Fußgänger oder U-Bahnfahrer am Straßenverkehr teilnahm. Auch abschließende Würdigungen wie »Du bist genau so ein feiger Flachwichser wie alle anderen Männer!« kamen nicht zu seinen Ohren, weil er keine Ehefrau oder Lebensgefährtin hatte. Und genau aus diesem Grund, eben weil er keine Partnerin hatte, hörte Joachim manchmal »seltsamer alter Kauz«, »armes Schwein, immer so allein«, »Das mit seiner Frau hat der nie überwunden«, und bekam mit, wie hinter seinem Rücken jemand mit Marc redete und sagte, »Samma, dein Kollege iss schon ein bissken eigen, oder?«
Das alles war Jessica bekannt, sie nahm Rücksicht darauf und führte deswegen das Gespräch an diesem Punkt auch nicht weiter.
Statt dessen schlug sie vor, »Wie wäre es mit einem Du, und dann einfach Joachim, ohne Herr oder Kommissar davor, wie Ihre Freunde mit Ihnen reden? Und ich denke, Joachim, ich bin inzwischen eine gute Freundin von Ihnen. Sollen wir uns mal wieder bei Jupp treffen? Gibt’s den noch?«
»Ja«, sagte er. Zu mehr schaffte er es nicht.
»Ich hatte drei Fragen gestellt.«
»Bei Jupp, also ich weiß nicht, aber wenn Sie wollen«, antwortete er ausweichend.
Er war ein einziges Mal, vor Jahren, mit ihr im Altstadt-Schnellimbiss seines Freundes Jupp gewesen; sie hatten Geld in die Jukebox geworfen und miteinander getanzt, erst Rock ’n’ Roll, dann zu einem langsamen Song, und da waren, als er sie in seine Arme nahm, gewaltige Gefühle, fast vergessen und kaum noch gekannt, kalt und heiß, wie eine Lawine über ihn hereingebrochen, und er hatte binnen weniger Sekunden das Gefühl gehabt, in Flammen zu stehen und musste sich von ihr lösen. Die Flammen waren trotzdem nicht zu löschen gewesen, nicht bis zum heutigen Tag.
»Bitte die erste Frage beantworten.«
»Bleiben wir lieber beim Sie.«
»Wie Sie wollen.«
Das klang ihm zu förmlich, »Vorläufig.«
»Schon besser. Aller guten Dinge sind drei.«
»Ja, Jupp gibt es noch.«
»Sie? Der Engel?« fragte Marc zwischendurch mit wilden Gesten und Augenrollen.
Joachim nickte sanft.
»Alte Liebe rostet nicht«, flüsterte Marc.
Was Wahreres und Unpassenderes hätte er nicht sagen können.
»Wann?« fragte Jessica.
»Wie bitte?« fragte Joachim zurück.
»Welchen Abend wir uns bei Jupp treffen wollen?«
»Ich muss mal nachkucken, wann es bei mir zeitlich passt…«
»Sie wollen doch auch? Oder etwa nicht?«
»Ja, gerne«, meinte er und sagte er, aber es klang gequält.
»Ich weiß, dass Sie jeden Abend Zeit haben, weil Sie keine Freundin oder Lebensgefährtin haben, und regelrecht ausgehen tun Sie eigentlich nur Samstags nachmittags, um in der nächsten Eckkneipe Fußballbundesliga auf Premiere zu kucken...«
Was sie alles wusste! staunte Joachim. Aber bei dieser Frau kam er aus dem Staunen sowieso nie heraus.
»Also sage ich, heute Abend, zwanzig Uhr bei Jupp.«
Und er gehorchte der Herrin Liebe, »Einverstanden.«
»Holy shit!« staunte Marc. »Das war wirklich sie! War der langweilig oder wie, dass die mal wieder angerufen hat? Oder wollte die was von dir?«
Er sah Joachims leidenden Gesichtsausdruck und ärgerte sich im nächsten Moment schon darüber, dass er einen so flapsigen Ton angeschlagen hatte — und dann auch wieder nicht, weil er sicher war, dass Joachim nie im Leben eine Chance bei Jessica hatte. Deswegen versuchte er, das alles zu ironisieren und herunterzuspielen, bevor sein Kollege in Flammen stand, die unvermeidliche Enttäuschung erlitt und vermutlich nicht mehr zu retten war.
Bestimmt würde er wieder das Trinken anfangen, wie er das nach dem Verlust von Malu, seiner jungen Ehefrau, getan hatte. Damals, vor über einen Vierteljahrhundert, hatte sich Joachim, schon am Rande des Todes, im letzten Moment noch aus dem Sumpf befreien können. Ein zweites Mal, dreißig Jahre älter, müder, trauriger und schwächer, würde Joachim das nicht mehr schaffen. Wenn er Jessica, seine zweite große Liebe, eines Tages verlor, und wenn es auch noch so harmlos war, wie dass sie heiratete und aus Düsseldorf wegzog, würde Joachim — da war Marc ganz sicher — kaputt gehen.
Nachdem sie so lange nichts mehr von der schönen Jessica gehört hatten, war Marc überzeugt gewesen, dass alles ohne irgendeine Art von Katastrophe vorübergegangen und sein älterer Kollege von lebensgefährlichen Erschütterungen verschont geblieben war.
Als Marc jetzt Joachims Gesichtsausdruck sah, wurde ihm erschreckend klar, dass nichts vorbei war. Und dass der Engel nicht vorübergegangen war. Joachim war noch immer verliebt, und wenn er Jessica traf, würde alles wieder von vorne beginnen.
»Um Gottes willen!« brach es mitfühlend aus Marc heraus. »Tu dir ma wegen der bloß nix an eines Tages!«
Der erste Schlag traf ihn völlig unvorbereitet. Genau so überraschend und unvorbereitet, wie er diesen Mann plötzlich vor sich hatte stehen sehen. Ganz lautlos musste er hereingekommen sein. War er vielleicht ein Dieb?
Jetzt stand der Mann vor ihm, und bevor er sich recht darüber klar werden konnte, dass ein Einbrecher in seine Wohnung eingedrungen war und er überfallen wurde, traf ihn schon dieser Schlag. Man hatte ihn noch nie mit einer solchen Wucht ins Gesicht geschlagen, nie mit dieser brutalen Gewalt, und er war auch nie mehr ins Gesicht geschlagen worden, seit er das letzte Mal, sich mit zehn, zwölf Jahren, mit anderen Jungen geprügelt hatte. Der Schlag hatte die Wucht eines Hammerschlags oder eines Keulenschlags, so dass ihm gleich das Wasser aus den Augen sprang. Dabei hatte der Mann nur mit der bloßen Faust zugeschlagen, aber die war anscheinend aus Eisen.
Er hatte das Gefühl, dass ihm dieser erste Schlag schon die Sicht genommen hatte, aus Gründen, die er sich medizinisch oder physiologisch nicht erklären konnte. Der Schlag betäubte ihn, schien seine Sehnerven getroffen zu haben, und alles, was jetzt noch folgte, nahm er wie durch einen dünnen Vorhang gesehen wahr. Verschwommen, silhouettenhaft, unwirklich, wie entrückt.
»Christian Harrath?« fragte der Mann.
Er überlegte, ob er die Frage mit Ja! beantworten sollte, oder ob er sich vielleicht retten konnte, wenn er verneinte und sich für einen anderen ausgab.
Da traf ihn der zweite Schlag. Wieder zwischen die Augen.
Er wollte dem Einbrecher noch sagen, ‚Schlagen Sie mich nicht noch einmal, ich kann Sie sowieso schon nicht mehr sehen, also keine Angst, dass ich Sie eines Tages wiedererkennen werde.’ Aber der Mann ließ ihm keine Zeit, weder für einen langen, gut formulierten Satz, der ihr beider Verhältnis vernünftig hätte regeln sollen, noch für ein einziges Wort.
Ein weiterer Keulenschlag, der von oben auf seinen Kopf herunterdonnerte, ließ ihn zu Boden gehen. Er hoffte, dass es damit vorbei war, und er blieb liegen und rührte sich nicht mehr. Nach Gegenwehr war ihm sowieso nicht zumute, er bezweifelte auch, dass er dazu in der Lage gewesen wäre, sowieso nicht gegen einen solchen Gegner.
Im nächsten Augenblick riss ihn der Mann wieder mit seinem starken linken Arm hoch und schlug ihm mit der rechten Faust ins Gesicht. Viermal, fünfmal, sechsmal. Irgend etwas krachte, brach. Dann noch etwas. Auch ein Laie wie er vermochte zu diagnostizieren, was das war. Das Nasenbein, das Jochbein. Auf jeden Fall Knochen im Gesicht.
Weitere Fausthiebe, ein siebter, achter und neunter Schlag, ließ das, was gebrochen war, endgültig zersplittern.
Unheilbar zersplittern, kam ihm zu Bewusstsein. Da hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass der Mann nicht in seine Wohnung gedrungen war, um ihn zu bestehlen und auszurauben, sondern um ihn zu töten.
Aber er tat es nicht gleich, stieß ihm kein Messer ins Herz und setzte ihm keinen Pistolenlauf an die Schläfe. Er machte es langsam.
Der Mann zog ihn wieder hoch, rammte sein rechtes Knie in seinen Unterleib, noch einmal und noch einmal. Und noch einmal. Und dann noch einmal. Es tat höllisch weh, aber nur beim ersten und zweiten Mal. Eigentlich tat es beim sechsten Mal nicht weniger weh als beim ersten Mal, aber der Körper registrierte den Angriff als schon bekannt und in seinen Eigenschaften als begriffen, und das milderte...
Da traf ein Stiefeltritt seinen Bauch, nahm ihm die Luft und warf ihn nach hinten. Er knallte mit dem Hinterkopf auf den Boden, wurde sofort ausgeknockt und war für lange Sekunden weg.
Als er wieder zu sich kam, spürte er, wie der Mann mit dem Stiefelabsatz auf seinen Brustkorb trat — so lange, bis man die Rippen brechen hörte. Dann ging der Mann ein paar Mal im Kreis um ihn herum und trat ihn dabei immer wieder — ins Gesicht, gegen den Hals, gegen die Ohren, gegen den Brustkorb, in den Bauch, in die Seiten, in den Unterleib.
Die letzten Geräusche, die er noch hörte, bevor alles um ihn herum schwarz wurde, klangen wie dicke Regentropfen, die auf ein Samttuch fielen, wie das Pochen einer behandschuhten Faust gegen eine gepolsterte Tür — gedämpfte Laute, vage, dumpf und unbestimmt. Er überlegte angestrengt, ob er dieses Geräusch, das sich jeder Definition entzog, genau zu lokalisieren und zu identifizieren vermochte; irgendwie hatte er das Gefühl, er müsse das tun, um sein Leben zu retten. Zum Schluss kam er auf zwei Möglichkeiten: Entweder waren es weitere Boxschläge des Mannes gegen seinen vom Adrenalin prall gefüllten und unempfindlich gemachten Körper. Oder es waren Herzschläge, die er jetzt so deutlich wahrnahm, weil er die Außenwelt komplett ausgeblendet hatte.
Die letzten dumpfen Schläge verhallten, verloren sich in den unendlichen Weiten des Universums. Und es klang wie die letzten dicken Regentropfen eines gewaltigen Maigewitters. Plopp, plopp, kleine Pause, plopp, etwas längere Pause, plopp, lange Pause, plopp, ganz lange Pause... Es war keine Pause, es war das Ende.
Der Sturm war weitergezogen, der Donner war nicht mehr zu hören, die Blitze, die seine Knoche zerschmetterten und seine Organe zerfetzt hatten, schlugen nicht mehr ein, und die Hiebe prasselten nicht mehr auf ihn herunter wie ein Platzregen. Jetzt war da nur noch Stille. Frieden. Ruhe. Leere. Nichts.
Er hatte sein Leben lang Musik geliebt, Rockmusik in seiner Jugend, dann Jazz und später klassische Musik. Ihm fiel der Titel des 5. Satzes von Beethovens 6. Sinfonie, der berühmten Pastorale, ein: Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm. Ja, das drückte es aus. Er war dankbar. Dankbar, dass es vorbei war.
Aber es war noch nicht vorbei. Nach ein paar Sekunden oder einer Ewigkeit wachte er noch einmal auf, wie aus schwerem Schlaf und dunklem Traum.
Trotz der vielen Schläge in sein Gesicht und auf seine Augen glaubte er noch erkennen zu können, dass der Mann über ihm stand, seelenruhig eine Zigarette rauchte und auf ihn herunter sah.
Dann bewegte sich der Mann, beugte sich nach unten, griff nach ihm, fasste sein Augenlid mit Daumen und Zeigefinger, riss es auf oder riss es gleich ganz ab, zielte mit der Glut seiner Zigarette in sein linkes Auge und drückte die Zigarette darin aus.
Es tat nicht weh, weil er es nicht spürte. Er spürte gar nichts mehr.
Er war tot.
»Nee, nee, nee, datt schöne Kind!« staunte Jupp. »Datt jibt et doch jaa nit!«
»Doch«, freute sich Jessica, »das schöne Kind gibt es. Mich gibt es.«
»Jott sei Dank, datt der dich jemacht hat, Mädchen!« sandte Jupp ein Dankesgebet gen Himmel.
»En Himmelserscheinung!« fand auch Jupps gleichgute Hälfte Uschi.
Zeit und Ort des Geschehens: Mittwoch, eine Minute nach acht. »Bei Jupp«.
Joachim wunderte sich zum wiederholen Male, dass Jessica auf die Minute pünktlich gewesen war. Sie war die einzige Frau, die er kannte — das schloss seine erste und einzige Frau Malu ein — die nicht ewige Zeiten zum »Fertigmachen« brauchte. Vermutlich, weil sie so überirdisch schön war und keiner kosmetischen Korrektur bedurfte. Jessica hielt es auch nicht für nötig zu beweisen, dass sie sich als schöne Frau erlauben durfte, zu spät zu kommen und dass ein Mann bei einer Frau wie ihr auch einstündige Verspätungen klaglos zu akzeptieren hatte. Sie war immer auf die Minute pünktlich. Frauen gab es, die gab es gar nicht.
»Komm, schönes Kind«, sagte Jupp zu Jessica, »lass dich abbützen! Watt hab ich deine Küsse lange entbehren müssen!«
»Wisch dir vorher dä Mund ab!« mahnte Uschi.
»Bei Jupp« war eine Institution in der Düsseldorfer Altstadt.
Zunächst einmal, weil es da seit drei Jahrzehnten die leckerste Curry-Wurst gab, eine Legende, die auch schon in Düsseldorf-Führern empfohlen worden war und in kulinarischen Zeitschriften von jungen, coolen Restaurant-Kritikern — die sich den gehässigen Seitenhieb auf die ältere Generation, dass nämlich die achtziger Jahre vorbei und teure Sechs-Gänge-Menus out seien, nicht verkneifen konnten — immer mal wieder lobend erwähnt wurde. Dann, weil die Fleischwaren vom besten Bio-Metzger kamen; der schlaue Jupp hatte nämlich die Zeichen der Zeit erkannt und mühelos die jüngeren, ernährungs- und umweltbewussten Generationen für sich gewinnen können.
Last but not least, weil es da die berühmte Uschi gab, Jupps angetrautes Weib (»meine ehemalige Verlobte», wie Jupp sie nannte), eine schon leicht betagte blonde Sexbombe mit zwei riesigen Brüsten, die, vermutlich wegen allerlei Wunderwerken der Büstenhalter-Technik, allen Schwerkraftgesetzen widersprachen und wie ein Balkon vorm Haus nach vorne abstanden. Da gingen die jungen Männer und die alten Säcke nicht nur hin, um die legendäre »Jupp-Currywurst mit extra viel Curry und Pommes rot-weiß« zu essen, sondern auch um zu staunen und zu träumen. Mehr durften sie nicht. ‚Kucken ja, aber nit anpacken, sonz...’, hatte Jupp einmal einen Besoffenen belehrt. ‚Sonst watt?’ hatte der frech zurückgefragt. Mit einer lässigen Geste wies Jupp auf die Pokale und die gerahmten Fotos, Siegerurkunden und Zeitungsauschnitte hin, die den Imbiss schmückten und Jupp als ehemaligen Profi-Boxer »Eisenfaust« Blumenhofen auswiesen. Da fiel dem besoffenen Mann die Kinnlade herunter und er verabschiedete sich so schnell, dass es noch nicht einmal zu einem »Tschö!« reichte.
Joachim und Jupp kannten sich seit den sprichwörtlichen »ewigen Zeiten«, seit ihrer Kindheit, als sie in Köln aufgewachsen waren. Beide hatten irgendwann ihre Heimatstadt verlassen und sich aus den Augen verloren. Und dann trafen sie sich nach zig Jahren wieder. Zwei Kölner. Ausgerechnet in Düsseldorf. Im »Feindesland«, wie Jupp das nannte.
»Wo hasse denn die janze Zeit jesteckt?« wollte Jupp von Jessica wissen.
»In Amerika. Aber jetzt bin ich wieder da!«
»Heimweh jehabt?« stellte Jupp eine geschickte Frage.
Joachim begann die Konversation unangenehm zu werden.
»Ja, ein bisschen«, antwortete Jessica arglos.
»Oder Sehnsucht?«
»Jetzt hör bloß auf!« ermahnte Uschi ihren Jupp. »Man fragt erst ma, wie jeht et denn so und wo die neue Wohnung is und du siehs juut aus, hass dich jaa nit verändert…«
»Lass du mich bloß in Ruh!« maulte Jupp. »Watt solle mir denn um dä heiße Brei herum reden? Ich wollt doch nur wissen, ob nur einer all die Jahre Sehnsucht jehabt hat. Oder ob datt auf Jejenseitigkeit beruht!«
»Datt jeht dich doch jaa nix an!« schimpfte Uschi.
»Hatten Sie Sehnsucht nach mir?« wandte sich Jessica in ihrer unnachahmlichen Mischung aus Charme, Direktheit, Liebenswürdigkeit, leichter Ironie, Belustigung, Mitgefühl und Frechheit an Joachim.
Joachim schämte sich, vor Zeugen, auch wenn es wohlgesonnene beste Freunde waren, mit einem ehrlichen »Ja!« zu antworten. Aber dreist lügen und »Nein. Kein bisschen!« behaupten, konnte er auch nicht, weil ihm das niemand der hier Versammelten abgenommen hätte. Er spürte, dass er dabei war, rot zu werden.
Das Klingeln seines Handys rettete Joachim ihn einmal aus der Situation. Er klappte es auf, sah die Nummer auf dem Display und ging ein paar Meter beiseite.
Dieter Sterz, der Dienstgruppenleiter der K-Wache, ein Kollege, den Joachim seit Jahren kannte, war am Telefon. Ein Mann war von seiner Nachbarin tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Anscheinend sah er übel zugerichtet aus, musste also wohl überfallen und zusammengeschlagen worden sein.
Düsseldorf — Landeshauptstadt des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, neben Dresden die einzige schuldenfreie Großstadt Deutschlands, vom Stadtbild her nichts besonderes, aber sehr, sehr schön am Rhein gelegen — hatte einen neuen Mord und Joachim, Hauptkommissar im Kriminalkommissariat für Todesermittlungen, schwere Verletzungs- und Gefährdungsdelikte der Düsseldorfer Polizei, kurz KK 11 genannt, hatte einen neuen Fall.
»Louis-Kolitz-Straße wie viel noch mal? Bin schon auf dem Weg«, sprach Joachim ins Handy.
Er ging mit ernstem Gesicht zurück zu Jessica, Uschi und Jupp.
»Wenn dä Joachim mitten in de Nacht sacht, ich muss noch ens fott, wat Dienstliches, dann iss klar, datt dä nit sein Ehefrau verhohnepiepeln tut und seine Jeliebte besuchen jeht, weil dä Joachim weder en Ehefrau noch en Freundin hat«, erklärte Jupp.
»Samma!« brauste Uschi auf und ihr Busen wallte mächtig auf und nieder wie die Wasser zweier Ozeane am Kap Horn bei Windstärke zwölf, »biss du nit mehr janz richtig im Kopp?«
Jupp war ungerührt, »Wenn dä Joachim datt sacht, dann iss ne Mord passiert. Stimmt et oder hab ich recht?«
»Weiß ich noch nicht, aber ich muss jetzt sofort weg«, sagte Joachim in ruhigem Ton.
»Dabei hat dä Abend so schön anjefangen«, bemerkte Jupp zu Jessica hin.
»Ja, tut mir leid um den verpatzten Abend«, sagte Joachim zu Jessica.
»Und ich dachte, Sie stehen vierundzwanzig Stunden Gewehr bei Fuß, wenn ich nur mit dem Finger schnippe«, neckte Jessica.
»Tut dä doch auch«, meldete sich Jupp noch einmal, »also, ich verrat hier in dieser Runde kein Jeheimnis, wenn ich sach, dä Joachim iss janz jeck nach dir, Mädchen…«
Uschi reichte es. »Du. Hältst. Jetzt. Ab sofort. Dein vorlautes Maul!«
»Tu ihm nix«, versuchte Joachim zu schlichten.
»…aber dä Molli lässt dä nit mit sich machen«, beendete Jupp seinen Satz.
»Das hatte ich auch gar nicht vor«, beteuerte Jessica.
»Weiß ich doch alles, Kind! Ich mach doch nur Spässkes, aber mein ehemalije Verlobte versteht leider keinen Spaß.«
»Pah!« machte Uschi.
»Lass et mich so saren: vielleicht bin ich nur super juut jelaunt, weil… weil du heut Abend hier bist«, sagte Jupp zu Jessica.
Uschi staunte, »Jetzt fängt dä hässliche alte Kerl auch noch dat Flirten an!»
»Weisse, holdes Eheweib, ich finde, datt Jott wie Jupp und Jott wie Jessica doch viel besser zusammenpasst, als wie, saren wir mal, nur als Beispiel, Jupp und Uschi.«
»Wer heißt denn hier Jupp? Ich kenne niemanden mit Namen Jupp«, formulierte Uschi gehässig, »nur einen gewissen Heinz-Josef Blumenhofen, dä sich dä Künstlername Jupp jejeben hat.«
Jupp fiel nicht gleich eine freche Antwort ein und sein Gesicht zeigte angestrengtes Nachdenken, wie er seiner ehemaligen Verlobten eins auswischen konnte.
»Jetzt muss ich aber endgültig weg«, erinnerte Joachim die drei an sich.
»Watt stehs du denn hier noch rum?« maulte Jupp. »Wollze abwarten und zukucken, ob ich et schaffe, dir deine Flamme auszuspannen? Jejen mich hasse doch sowieso kein Chance! Also, tschö! Abmarsch!«
»Ich ruf Sie an«, rief Joachim im Hinausgehen Jessica zu.
»Versprochen?« rief sie zurück, aber Joachim war schon zur Tür hinaus.
»Ich hab nit jehört, datt dä ‚Ja, versprochen!’ jesacht hat«, fing Jupp wieder an. »Hass du, holdes Eheweib?«
Uschi schmollte und sagte nichts.
Jupp war heute Abend vor lauter Energie nicht zu halten. Er sah Jessica eindringlich an.
»Lass ihn laufen, Mädchen, der iss nix für dich!« sagte er.
Uschi fühlte sich schon den ganzen Abend von der Unterhaltung ausgeschlossen, als hätte sie, seit Jessica aufgetreten war, keinerlei Bedeutung im Leben ihres Ehemannes mehr, und sie dachte, dass es vielleicht ganz gut wäre, einen giftigen Pfeil in Richtung ihres Jupp abzuschießen, um ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Jupp war nämlich kleinwüchsig und bediente seine Kundschaft, indem er hinter der Theke auf einem eigens gezimmerten Podest herumlief, der sein Gesicht in etwa auf die Höhe des Gesichts seiner Gegenüber auf der anderen Seite der Theke brachte.
»Heinz-Josef Blumenhofen, samma, wie groß bist du eijentlich?« fragte Uschi.
»Im erregten Zustand«, antwortete Jupp, und bei diesen Worten sah er Jessica frech in die Augen, »ein Meter einundsexisch.«
Es dauerte nur eine halbe Sekunde, da platzte Jessica mit lautem Lachen. Wenn Heinz-Josef Blumenhofen in Form war, war er nicht zu schlagen.
Die Louis-Kolitz-Straße lag am Zoopark, am Rande des sogenannten »Zoo-Viertels«, einem Maler-Viertel, wie andere Städte Dichter-Viertel hatten, das offiziell als Stadtteil Düsseltal hieß und als gutbürgerliches Wohngebiet seit Jahrzehnten einen sehr guten Ruf genoss. Im Westen wurde das Zoo-Viertel von der Bahnlinie und der, auch seit Jahrzehnten, wegen ihrer Puffs bekannt gewordenen Rethelstraße, im Osten vom Flüsschen Düssel, das der großen Stadt Düsseldorf ihren Namen gegeben hatte, begrenzt und in der Mitte, nicht sehr attraktiv, von der Lindemann– und der Brehmstraße zerschnitten. Im Süden machte die breite, verkehrsreiche Grafenberger Allee dem teuren Wohnviertel einen Strich durch die Mietdauerrechnung, oben, um den Zoopark herum, zerfranste sich Düsseltal infrastrukturell.
Joachim war von »Jupp« zum Burgplatz hinübergelaufen und hatte sich dort ein Taxi genommen.
Jetzt stand er vor dem Haus Louis-Kolitz-Straße 11, einem Altbau aus der Gründerzeit, einem Prachtexemplar in der altmodischen, aber höchst repräsentativen Art, die ein anderes Düsseldorfer Viertel, Oberkassel, zu einem der schönsten Stadtteile Deutschlands gemacht hatte. Und vielleicht hatte Louis Kolitz ja auch schöne Bilder gemalt.
Joachim zählte fünf Streifenwagen. Mehrere Polizisten riegelten den Tatort ab und versuchten, Passanten zum Weitergehen zu bewegen, was nicht so leicht war, da ein Rettungswagen der Feuerwehr halb auf dem Bürgersteig stand und den Neugierigen allerlei Anlass zum Nachdenken über Art und Größe der Katastrophe gab.
Joachim kannte keinen der meist jüngeren Beamten, sagte, »N’Abend! Joachim. KK elf.« in die Runde, bekam ein paar »N’Abend« zu hören und die Meldung, »Immer die Treppe rauf in den dritten Stock. PHM Imbach erwartet Sie schon.«
»Aufzug ist kaputt!« rief einer.
»Was macht ihr da?« fragte Joachim in hörbar erstauntem und schon vorwurfsvollem Ton, als er sah, dass zwei Polizisten ein rotweißes Flatterband aufspannen wollten, um den Tatort abzuriegeln.
Ein junger Polizist blickte kurz auf, mit sichtbar gelangweiltem Blick, machte aber ruhig weiter.
»Wer hat das angeordnet?« hakte Joachim nach.
Als er keine Antwort bekam, riss er dem Jungen das Flatterband aus der Hand und knuddelte es zusammen.
Jetzt antwortete der andere, »Wir dachten…«
»Hier ist nix passiert!« unterbrach Joachim in jetzt deutlich hörbaren autoritären Ton, der dem Jungen nicht gefiel. »Wollt ihr die ganze Welt anlocken?«
»Sie haben uns nix zu sagen«, spielte sich der Junge auf.
»Und du hältst die Klappe«, sagte Joachim.
»Ich werde mich über Sie beschweren! Das muss ich mir nicht...“
Ein scharfes Psssst! aus der Schar der Kollegen stoppte ihn.
Joachim hob seine Stimme und wandte sich an alle, »Ihr steht hier nur rum, weil ein Promi mit Personenschutz, sagen wir, unser Herr Innenminister, sein altes Mütterchen besucht.«
Keine Reaktion.
Joachim wurde noch lauter und knapper, »Klar?«
»Klar«, brummten, murmelten und murrten die Polizisten.
Vor der Tür im 3. Stock standen zwei weitere junge Polizisten.
Joachim zeigte seine Dienstmarke, grüßte mit »N’Abend!« und erhielt einmal ein schlaffes »Hallo!« und einmal gar nichts zurück.
Keine Einbruchsspuren, konstatierte er, als er sich die Wohnungseingangstür und das Türschloss ansah. Hatte der Mörder oder die Mörderin einen Schlüssel zur Wohnung? Kannte das Opfer seinen Mörder und hatte er ihn (oder sie?) arglos in die Wohnung gelassen?
C. H., las Joachim auf dem Türschild.
»Joachim!« stellte sich Lothar Imbach nicht vor, sondern so begrüßte er Joachim.
»Na, altes Haus! Wie geht et?«
»Am liebsten juut!«
»Und sonst?«
»Et muss.«
Polizeihauptmeister Imbach war ein Mann in Joachims Alter, mit auffälligen, wie jugendfrisch wirkenden roten Bäckchen, die auf ausgiebigen Alkoholkonsum schließen lassen konnten, aber bei dem Ruf, den Imbach genoss, Joachim kannte ihn (Imbach, aber auch den Ruf), durfte man auch Bindegewebsschwäche diagnostizieren. Wenn es letztlich doch der Alkohol sein sollte, dann musste man fairerweise sagen, dass der in seinen Auswirkungen nie bis in den Dienst hineingereicht hatte, nicht einmal an einem der sprichwörtlichen blauen Montage oder am Aschermittwoch. Imbach war ein guter Polizist.
»Kennze den Kollegen Wille?«, stellte Imbach seinen Kollegen Wille vor.
»Nee«, sagte Joachim, »angenehm.«
»Freut mich«, meinte Wille.
Joachim sah am Stern auf der Schulterklappe, dass Wille ein PHM wie Imbach war. Also hatte man schon höhere Dienstgrade zusammengezogen, und Joachim fragte sich, wie prominent der Tote war.
Es fiel ihm auf, dass Wille eine erschreckend ungesunde, von Aschgrau ins Olivgrüne spielende Gesichtsfarbe hatte, was auf lustvolle Lebensgewohnheiten, insbesondere in Form von Zigaretten, aber vielleicht auch Alkohol, schließen ließ und im weiteren dem Verdacht Nahrung geben konnte, dass Wille mehr mit Imbach gemein hatte als nur den Dienstgrad, aber es konnte auch — Joachim war immer bereit, seinen Mitmenschen einen Bonus zu geben und nie gehässig über sie zu reden — ein Hinweis auf eine schwere Zuckererkrankung sein. Joachim hatte über die Jahre so allerhand in der Richtung von seinem Freund, dem Rechtsmediziner Dr. Lambert Messing gelernt.
»Womit wir zum gemütlichen Teil des Abends kämen«, meinte Imbach in der milde abgebrühten Art eines Mannes, der in vielen Dienstjahren schon einiges gesehen hatte.
Joachim fand es überflüssig, das dahingehend zu korrigieren, dass der gemütliche Teil seines Abends vor einer geschlagenen Viertelstunde abrupt zu Ende gegangen war.
»Dann lasst mal kucken«, forderte er statt dessen die beiden auf.
Bis jetzt hatten sie in der geräumigen, rechteckigen Diele gestanden, die, hochherrschaftlich, mit Stuckdecke, Ölgemälden, Antiquitäten und schönem altem Eichenparkett im Fischgrätmuster, sich mühelos die Bezeichnung Entrée oder Vestibule verdiente.
Imbach ging voraus und machte gerade für Joachim und Wille die Tür zum Wohnzimmer auf, als jemand »Bin ich zu früh?« rief.
Joachim sah den Eintretenden, seinen jungen Kollegen und Spannmann Marc Peletier, befremdet an und wunderte sich zum wiederholen Male, dass dessen Haare immer länger wurden und immer unordentlicher aussahen.
»Bist du gerade aufgestanden?« fragte Joachim gar nicht freundlich.
»Man trägt das Haar jetzt messy, wenn du darauf anspielen willst.«
»Schon mal was von Kamm oder Gel gehört?«
»Vergiss es, Papi«, sagte Marc.
»Kennt ihr euch?« wechselte Joachim das Thema.
»Nää«, antworteten alle drei.
»Macht das nachher«, meinte Joachim.
»Peletier. Kommissar«, stellte sich Marc den beiden altgedienten Polizeihauptmeistern vor.
»Interessiert keine Sau«, moserte Joachim.
Joachim wollte gerade das Wohnzimmer betreten, als schon wieder Unruhe entstand, weil mehrere Leute zur Wohnungstür hereindrängten.
»Guten Abend, die Herren!« kam es etwas zu laut und zu forsch von einer hochgewachsenen Blondine, die, je nach Laune des Beobachters, als herbe Schönheit (wobei die Betonung, wie man so sagt, auf herb lag) oder dürre Lange (ja, ja, geschenkt) durchgehen mochte.
»Junghans.«
Kriminalhauptkommissarin Dr. Birgit Junghans war die beruflich bestens beleumundete — und privat, wegen unglücklicher Männergeschichten, übelst gebeutelte — Leiterin des KK 43, des Erkennungsdienstes, der Kriminaltechnischen Untersuchung, der Daktyloskopie und der Spurensicherung.
Sie wies nach hinten, ohne sich umzudrehen, »Meine Leute.«
Hinter ihr standen zwei Joachim bekannte Männer der Spurensicherung, Böttgers und Rehbein; letzterer wurde, weil er sehr groß und sehr dick war und an den sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen erinnerte, »Rehlein« gerufen. Irgendwie vermittelte er allen Kollegen das Gefühl, dass er stinkfaul und völlig unfähig war, aber beweisen konnte man ihm das nicht.
Sein Kollege Sven Böttgers hatte etwas sehr Frisches und Sympathisches in seinem Gesicht, so dass eigentlich jeder ihn auf Anhieb mochte; auf den zweiten Blick konnte man Freches und Spöttisches in seinen Augen entdecken, und da begann dann das Nachdenken.
»Kommt alle rein«, meinte Imbach.
Und dann betrat das Fähnlein der sieben Aufrechten das Wohnzimmer, von dem aus ein breiter Durchbruch in eine sehr große Bibliothek führte, in der, vor seinem Schreibtisch, ein Mann auf dem Boden lag.
Imbach und Wille erklärten erst mal nichts, und die beiden Kriminalkommissare und die drei Leute von der Spurensicherung hatten Zeit, sich den Tatort in Ruhe anzusehen und sich die ersten Gedanken zu machen.
Das Wohnzimmer war, wie das Entrée, hochherrschaftlich eingerichtet, mit einer schweren Polstergarnitur und ausgesucht schönen Möbeln, Kommoden und Beisetztischen, die Joachim als Art Déco identifizierte. Und es gab viele Ölgemälde. Joachim glaubte zu erkennen, dass einige der Bilder von Beckmann waren, Macke und Klee. Da hingen Millionen an den Wänden.
Reiche Leute. Reicher toter armer Mann.
Die Bibliothek überraschte mit der vielleicht größten privaten Büchersammlung, die Joachim je gesehen hatte.
Er war hier nicht auf Besuch, aber bevor er begann, seine Arbeit zu tun, erfreute sich Joachim, selber ein Plattensammler oder Vinyl-Fan, wie das heute hieß, erst einmal an den langen Reihen von Schallplatten und er las, auf die ganz Schnelle — er hatte ja hier anderes zu tun, als das Interieur zu inspizieren, musste es als Tatort