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Das Buch

Es ist der mysteriöseste Mordfall, über den der Journalist Jan Römer je für die Rubrik »Ungelöste Kriminalfälle« berichtet hat: 1997 wurde ein junges Pärchen im Grenzgebiet zwischen Eifel und Ardennen ermordet, ein zweites verschwand spurlos. Nach der Veröffentlichung erhält Römer einen anonymen Anruf: Der Mann bietet Römer neue Informationen über den Doppelmord an. Kennt er den Mörder, und weiß er, was mit dem zweiten Pärchen geschah?

Doch bei einem Treffen wird der Informant vor Römers Augen aus dem Hinterhalt erschossen. Römer, den die Kugeln nur knapp verfehlt haben, weiß, dass weitere Recherchen lebensgefährlich sind. Trotzdem macht er sich gemeinsam mit seiner besten Freundin Stefanie »Mütze« Schneider auf in die Ardennen, um dort nach alten und neuen Spuren zu suchen – und herauszufinden, was in jener Nacht wirklich geschah.

Der Autor

Linus Geschke, geboren 1970, arbeitet als freier Journalist für führende deutsche Magazine und Tageszeitungen, darunter Spiegel Online, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Manager Magazin. Als begeisterter Taucher verfasst er zudem Tauch- und Reisereportagen, für die er bereits mehrere Journalistenpreise gewonnen hat. Linus Geschke lebt in Köln.

Von Linus Geschke ist in unserem Hause außerdem erschienen:

Die Lichtung

LINUS
GESCHKE

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KRIMINALROMAN

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1192-0


Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage März 2016

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © getty images/image source (Wald);
© plainpicture / KuS (Fuchs); © FinePic®

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für meine Mutter, Ariane und Emma.

Und für alle anderen Menschen, die wissen, dass man ohne Rückgrat nicht aufrecht gehen kann.

Wir alle tragen das Gute in uns. Ebenso das Böse. Doch während wir das eine nach außen kehren, um unsere Mitmenschen daran teilhaben zu lassen, halten wir das andere in den dunkelsten Winkeln unserer Seele verborgen. Haben es dort in Ketten gelegt, die aus Moral, Empathie und Toleranz geschmiedet sind.

Den meisten Menschen gelingt dies zeit ihres Lebens ganz gut.

Anderen weniger.

Und einigen gar nicht.

In den Medien werden diese Menschen dann häufig als Verkörperung des Bösen bezeichnet. Sie sind es, weil die dunkle Seite in ihnen übermächtig ist. Vielleicht auch, weil sie selbst zu schwach sind. Sie haben die Finsternis wie einen Parasiten in sich getragen und ungestört groß werden lassen, bis dieser nach Nahrung schreiend an die Oberfläche drang, die Herrschaft über seinen Wirtskörper übernahm und menschliche Monster schuf.

Einige dieser Monster sind zu Mythen geworden, bei denen es schwerfällt, zwischen Wahrheit und Legende zu unterscheiden. Jack the Ripper. Theodore »Ted« Bundy. Charles Manson. Jeder kennt ihre Geschichten, über ihre Taten gibt es unzählige Dokumentationen, und dennoch bleibt das dahintersteckende Warum meist ungeklärt.

Viele dieser berühmt-berüchtigten Monster sind mittlerweile gestorben. Andere vegetieren dahin, abgeschirmt in Hochsicherheitsanstalten. Aber am meisten Angst macht uns das Böse, das unerkannt unter uns lebt. In derselben Gemeinde, dem gepflegten Reihenhaus gegenüber. Vielleicht haben sie Frauen und Kinder; vielleicht beziehen sie Ökostrom aus erneuerbaren Energiequellen oder achten im Supermarkt darauf, dass der Kaffee fair gehandelt wurde. Oft sind es unauffällige und adrett gekleidete Menschen, die samstagmorgens den Nachbarn grüßen, wenn man sich beim Rasenmähen sieht. Sie sind groß oder klein, älter oder jünger, und es gibt nur ein Merkmal, das sie verbindet. Das Gute stellt bei ihnen nicht mehr als eine hauchdünne Fassade dar; ähnlich wie die glitzernde Oberfläche des Meeres, die verbirgt, was sich in den Tiefen darunter befindet. Sie sind nicht wie andere.

Weil die Werte der Gesellschaft ihnen nichts bedeuten.

Weil sie glauben, über ihnen zu stehen.

Weil sie böse sind.

OKTOBER 1997

Kalte Luft strömte durch ihre Lungen und ließ sie schlagartig wach werden. Eine Sekunde lang glaubte sie, in der Nähe ein Motorengeräusch zu hören, aber das konnte nicht sein. Nicht hier, in dieser abgeschiedenen Gegend, mitten im Wald.

Langsam kroch Britta aus ihrem Schlafsack und richtete sich auf. Lauschte. Neben ihr schnarchte ihr Freund Christian leise. Sie hörte, wie der kalte Eifelwind seufzend um die dünne Plane des Zeltes strich. Sonst nichts.

Beruhigt lehnte sie sich zurück und drückte auf den kleinen Knopf, der seitlich aus ihrer Armbanduhr ragte. Die Beleuchtung des Zifferblatts ging an. Vier Uhr siebenunddreißig. Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang.

Dann war es plötzlich wieder da.

Es klang nach winzigen Steinchen, die unter schweren Schuhsohlen knirschten. Die Geräusche mussten von dem Forstweg kommen, der keine zehn Meter von ihrem Zeltplatz entfernt durch den Wald führte. Ungefähr von dort, wo das kleine Fleckchen Wiese lag, auf dem ihre Freunde campierten. Kurz überlegte sie, Christian zu wecken, dann verwarf sie den Gedanken wieder. Er würde sie sowieso nur auslachen und irgendwelche blöden Sprüche von sich geben – außerdem kam ihr die Situation bislang nicht bedrohlich vor.

Obwohl …

Sie versuchte, einen Blick durch die fensterähnliche Öffnung des Zeltes zu werfen, die der Durchlüftung diente. Der hinter den Wolken stehende Mond spendete nur ein fahles, eisiges Licht, in dem sie lediglich die Konturen der umliegenden Bäume, die Umrisse der Büsche erahnen konnte. Hatte sie sich die Schritte ebenso wie das Motorengeräusch vielleicht nur eingebildet? Sie beugte sich weiter zur Seite, konnte aus ihrem Blickwinkel heraus jedoch nichts Außergewöhnliches erkennen. Alles, was blieb, war dieses sonderbare Gefühl im Bauch.

Sie drehte sich um, und ihre Finger tasteten suchend nach dem Rucksack, den sie neben die Luftmatratze gestellt hatte. Das Pfefferspray, das sie für bedrohliche Situationen angeschafft hatte, lag im vordersten Fach. Sie griff danach und war dankbar, dass sie es trotz Christians Sticheleien eingepackt hatte, der sie gefragt hatte, gegen wen sie das Spray eigentlich einsetzen wollte – gegen den bösen schwarzen Mann oder gegen ihn, wenn er Sex haben wollte?

Draußen knirschte es erneut. Kein Zweifel diesmal, da war jemand. Zu ihrer Erleichterung entfernten sich die Schritte kurz darauf jedoch in Richtung des Parkplatzes, der ein paar hundert Meter entfernt an der Bundesstraße lag, und Britta stieß die angehaltene Luft erleichtert aus. Fast hätte sie sogar gelacht – wahrscheinlich waren es nur nächtliche Wanderer gewesen, die der Zufall an diesen gottverlassenen Ort in der Eifel geführt hatte.

Dann kamen die Schritte zurück. Sie klangen anders diesmal, fester und energischer.

Ein anderer Mann.

Erneut versuchte sie, durch die Öffnung etwas zu erkennen, aber ihr Blick reichte nicht weiter als bis zu den Stämmen der Tannen, die das Zelt umschlossen und die noch dunkler waren als die Nacht dahinter. Und nun, wo sie noch angestrengter lauschte, hörte sie auch jemanden atmen.

Tief.

Angestrengt.

Und irgendwie auch … hechelnd.

Einen Sekundenbruchteil spielte sie mit dem Gedanken, sich laut zu räuspern, um ihn wissen zu lassen, dass hier jemand zeltete. Dann verwarf sie den Gedanken wieder – sie wollte gar nicht, dass er das wusste. Wollte lieber unter den Bäumen und hinter dem Dickicht verborgen bleiben, wo ihr Zelt mit der Dunkelheit des Waldes verschmolz und ihr ein Gefühl der Unsichtbarkeit verlieh.

Schlagartig fühlte sie sich in diesem Moment an ihre Kindheit erinnert. An die Zeit, als sie fünf oder sechs Jahre alt gewesen war. Sie war damals nicht gerne die Kellertreppe heruntergegangen, weil sie sich eingebildet hatte, dass in der Dunkelheit etwas auf sie lauern könnte. Schon der Moment, in dem sie die Tür geöffnet und die Hand ausgestreckt hatte, um das Licht einzuschalten, war ihr zuwider gewesen. Was, wenn da unten etwas lebte und nach ihr griff … eine Klaue mit Fingernägeln vielleicht, scharf wie Krallen … und sie in die Dunkelheit zog?

Damals war die Angst lediglich ihrer kindlichen Phantasie geschuldet gewesen. Monster, die unter dem Bett lauerten, irgendwelche dämonischen Kreaturen, die in finsteren Kellern hausten – Alpträume einer Sechsjährigen, die in der Dunkelheit geboren wurden. Jetzt war es wieder dunkel. Stockfinster sogar. Und Britta fühlte sich, als ob sie wieder sechs wäre.

Dann hörte sie, wie das Atmen draußen lauter wurde und die Füße sich bewegten. Würde der Unbekannte vor ihrem Zelt stehen bleiben? Er tat es nicht. Langsam ging er vorbei, und sie glaubte, dass sich die Schritte im Weitergehen abwandten und wieder leiser wurden. Wer auch immer da draußen sein mochte – er bewegte sich jetzt in Richtung des Zeltes ihrer Freunde, das Susanne und Thomas ein ganzes Stück entfernt aufgeschlagen hatten, damit beide Paare, nun ja … ein wenig Privatsphäre hatten.

Vorsichtig drehte Britta sich um und rüttelte Christian wach. Sein Murren unterband sie, indem sie ihm kurz die Hand auf den Mund presste. Dann flüsterte sie: »Da draußen ist jemand.«

»Wer soll denn da …«, murmelte er schlaftrunken.

»Psst!«

Sie hatte sich schon wieder abgewendet und den Blick auf die Zeltöffnung gerichtet. Langsam erhob sich auch Christian und kam zu ihr gekrabbelt. Dicht an die Plane gekauert, warteten sie ab.

Alles blieb still.

Zögerlich stand Britta auf und zog den Reißverschluss des Zeltes im Zeitlupentempo nach oben, bis es zur Hälfte offen stand. Draußen war immer noch nichts zu sehen, nur Finsternis. Sie atmete tief ein. Ihre Knie zitterten. Als irgendwo ein Käuzchen schrie, setzte ihr Herz kurz aus. Ihre Hände spielten mit der Dose Pfefferspray, während sie fieberhaft überlegte, was sie jetzt tun sollte.

Die Polizei rufen? Das wäre eine Möglichkeit. Allerdings hatte ihr Handy gestern in dem abgelegenen Waldgebiet gar nicht funktioniert. Und selbst wenn sie Empfang hatte – was sollte sie der Polizei sagen? Die Schritte konnten auch von zwei Wanderern stammen, die unschlüssig waren. Von einem Förster und seinem Gehilfen. Von irgendwelchen bescheuerten Ornithologen, die nachts Vögel beobachteten.

Sie blickte nervös durch den Spalt, den der offenstehende Reißverschluss erzeugte, und spürte dabei, wie Christian seine Hand auf ihre Schulter legte. Ihre Augen versuchten immer noch, das Dickicht zu durchdringen. War dort, zwischen den Bäumen, eine Bewegung zu sehen? Verbarg sich dort jemand und wartete auf sie? Ihr Herz raste. Ihr Puls klopfte gegen den Hals, als sei er ein lebendiges Wesen, welches dem Gefängnis ihres Körpers entfliehen wollte. »Bitte, lieber Gott«, flehte sie stumm. »Lass ihn gehen … lass ihn bitte, bitte gehen.«

Die Spannung zehrte an ihren Nerven. Lange würde sie das nicht mehr aushalten. Irgendwann musste sie etwas tun, musste handeln. Es gab nichts Schlimmeres als Ungewissheit. Sie legte ihre Finger vorsichtig um den Schlitten des Reißverschlusses und versuchte, ihn möglichst lautlos ganz nach oben zu schieben. Millimeter um Millimeter öffnete sich das Zelt.

»Bleib hier«, flehte Christian leise und griff nach ihrem Arm. Sie schüttelte ihn ab. Steckte den Kopf ins Freie und wagte kaum zu atmen. Aus der Dunkelheit drangen jetzt zwei Stimmen zu ihr. Die männliche kam ihr fremd und dominant vor, die andere klang unterwürfig, verängstigt und vertraut.

Sie gehörte Susanne.

Ihrer Freundin.

Britta bekam nur ein paar Worte mit, deren Sinn sie nicht verstand. Ebenso wenig wie den Schrei, der kurz darauf folgte und der so hoch, schrill und durchdringend war, dass er irgendetwas in ihr zerriss. Ihre Gefühle in zwei Hälften teilte, die fortan gegeneinander ankämpften.

Als der Wind auffrischte und rauschend durch die Tannen fuhr, traf Britta eine Entscheidung. Obwohl ihr Herz bis zum Hals schlug, erhob sie sich, verließ das Zelt und schlich langsam auf den Forstweg zu. Nur unbewusst nahm sie wahr, wie Christian ihr folgte. Schritt für Schritt tastete sie sich mit ihm im Schlepptau durch das Unterholz, bis sie nur noch wenige Meter von dem Pfad entfernt war. Plötzlich hörte sie zwei Männer lachen. Sie ging in die Hocke und versteckte sich hinter einem Busch. Dann ging alles sehr schnell.

Ein harter Aufprall, dann das Geräusch von Stoff, der ruckartig zerrissen wurde. Anschließend ein Sekundenbruchteil der Stille, der noch unerträglicher war als alles andere und durch einen Schrei beendet wurde, der nichts Menschliches mehr hatte.

Britta hätte später nicht mehr sagen können, wie lange sie dort gekauert hatte. Irgendwann hörten die Schreie endlich auf. Sie traute sich, den Busch vorsichtig zur Seite zu biegen und einen Blick auf die Wiese zu werfen.

Das Zelt ihrer Freunde glänzte silbern im Mondlicht. Aber es war nicht der unwirkliche Schimmer, der alles auslöschte, was bislang ihr Leben gewesen war. Auch nicht Susanne, deren regloser Körper mit dunklen Flecken übersät auf der Wiese lag. Es waren die beiden Männer, die danebenstanden und dafür sorgten, dass die Alpträume ihrer Kindheit in diesem Moment Wirklichkeit wurden.