Dorothea Weinberg

Traumatherapie mit Kindern

Strukturierte Trauma-Intervention und traumabezogene Spieltherapie

Impressum

Klett-Cotta

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89195-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10523-0

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20301-1

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Inhalt

Vorwort: Warum noch eine Veröffentlichung zum Thema »Traumatherapie«?

I. Der Traumabegriff

1. Traumapsychologie in der Wissenschaftsgeschichte

2. »Trauma« ist kein einheitlicher Begriff

2.1 Trauma-Ereignis

Fallbeispiel Judith

Fallbeispiel aus einer Fortbildungsgruppe

2.2 Trauma-Reaktion

2.2.1 Kampf

Fallbeispiel Thomas

2.2.2 Flucht

2.2.3 Täuschung

Fallbeispiel Ronja

Fallbeispiel Maja

2.2.4 Erstarrung

Fallbeispiel Boris und Jakob

2.2.5 Schutzsuche

2.3 Trauma-Erfahrung

2.4 Trauma-Folgen

2.4.1 Die Stärke der Trauma-Folgen

2.4.2 Persönliche und soziale Ressourcen

Fallbeispiel Thorsten

2.4.3 Bindung

3. Einmalig, anhaltend oder früh traumatisiert

Fallbeispiel Kiki

Fallbeispiel Petra

Fallbeispiel Jonas

Fallbeispiel Marianne

Fallbeispiel Sara

II. Traumatisierende Kindheiten

1. Typische Kindheitstraumata

1.1 Tod der Mutter

Fallbeispiel Samuel

1.2 Misshandlung

1.3 Verelendung

1.4 Verwahrlosung

Fallbeispiel Sebastian

1.5 Verlusterfahrungen

Fallbeispiel Marta

1.6 Sexueller Missbrauch

III. Traumafolgen in der Kindheit

1. Neurophysiologische Aspekte

1.1 Traumaspezifische kortikale Erregung

1.1.1 Erster Kreislauf: Erregung führt zu Wachheit und hoher Lösungsorientiertheit

1.1.2 Zweiter Kreislauf: Chronische Übererregung führt zu Hemmung und Degeneration

1.2 Traumaspezifische Mechanismen des Speicherns und Erinnerns

1.3 Eine neue Chance

2. Kindliche Entwicklung in Lebenskrisen

2.1 Kindliche Symptomatik

2.1.1 Übererregung

2.1.2 Wiedererleben

Fallbeispiel Susanne

Fallbeispiel Patrick

2.1.3 Vermeidung

2.1.4 Zusammenfassung

2.2 Seelenblindheit

2.2.1 Verhaltensunauffälligkeit beim Kind

2.2.2 Seelenblindheit bei der Familie

Fallbeispiel Andi und Leo

2.2.3 Seelenblindheit bei den gesellschaftlichen Institutionen

2.2.4 Seelenblindheit bei den Fachleuten

IV. Diagnostik und Differentialdiagnostik

V. Traumatherapie für bewusste und
abgrenzbare Trauma-Erfahrungen

1. Strukturierte Trauma-Intervention (STI)

1.1 Ablauf der STI

0: Sicherer Ausgangs- und Endpunkt

1: Visueller Sinn in Schwarz-Weiß

2: Visueller Sinn in Farbe

3: Auditiver Sinn

4: Körpersinne

5: Gefühle und Gedanken

Die Tresorübung

Motorische Abfuhr

Nach der STI

1.2 Stil der Durchführung

2. Die Prinzipien der STI

2.1 Sicherheitserleben aufbauen

2.1.1 Die Methode des Zeichnens

2.1.2 Der 0-Durchgang

2.1.3 Ton, Tempo und therapeutische Haltung

2.2 Von der künstlichen Desintegration zur Integration voranschreiten

2.3 Konfrontation

3. Rahmenbedingungen der STI

3.1 Vorbereitung der Intervention

3.2 Die Nacharbeit

3.3 Das Phasenmodell der STI

VI. Spieltherapie

1. Der Begriff

2. Das spieltherapeutische Konzept

2.1 Kinder spielen Seele

2.2 Die »zweite Realität«

Fallbeispiel Michael

2.3 Intervention und freies Spiel auf der Ebene der »zweiten Realität«

Fallbeispiel Selma

Spieltherapeutische Intervention

Die heilende Kraft des freien Spiels

2.4 Aggression und Täter-Opfer-Umkehrung

2.5 Regression und Fürsorglichkeit

Fallbeispiel Susi

2.6 Spieltherapeutische Interventionen zur Überprüfung und Verbesserung des Sicherheitserlebens

Fallbeispiel Kilian

VII. Spieltherapeutische Prozessdiagnostik

1. Anamnese und das Phänomen der Täuschung

2. Exploration und erste Interventionen

Fallbeispiel Emanuel

3. Erwartungen von außen an Exploration oder Therapie

4. Exploration und Fehlinformation durch Kind oder Mutter

Fallbeispiel Paula

Fallbeispiel Sara

5. Diagnostische Verfahren und mögliche Hinweise auf traumatisches Erleben

Fallbeispiel Selma

VIII. Traumabezogene Spieltherapie

1. Der misslungene Aufbau guter innerer Instanzen

Fallbeispiel Petra

2. Der therapeutische Aufbau guter innerer Instanzen

Fallbeispiel Susi

Fallbeispiel Cindy

3. Die Arbeit mit nicht endenden aggressiven Spielen und die Würdigung der totalen Hilflosigkeit

Fallbeispiel aus einer Fortbildungsgruppe

Fallbeispiel Thorsten

4. Die gezielte Arbeit mit Spaltungen

Fallbeispiel Petra

Fallbeispiel Kiki

Fallbeispiel Sebastian

5. Der therapeutische Aufbau von Grenzen

»Nein-Sagen«

Verteidigen und Erobern einer Insel

6. Bindung, Regression und therapeutische Beziehung

IX. Arbeit mit den Bezugspersonen

1. Prinzipien für die Arbeit mit Bezugspersonen

2. Ist die Therapeutin die bessere Mutter?

3. Ein Modell für die Familienarbeit bei stationär aufgenommenen Kindern in der Jugendhilfe

4. Kulturabhängige Beziehungsaufnahme

5. Bezugspersonen in der Therapie

Fallbeispiel Jaqueline

X. Wir, die TherapeutInnen

1. Eigene Betroffenheit

2. Eigenes Geschlecht

3. Wir sind uns selbst die Nächsten

4. Fortbildung, Supervision, Fachlichkeit

Anhang: Die Reise zum sicheren Ort

Literatur

Vorwort

Warum noch eine Veröffentlichung zum Thema »Traumatherapie«?

Extreme Erlebnisse und ihre Auswirkungen auf die seelische Entwicklung der Beteiligten sind seit gut zehn Jahren Gegenstand einer lebhaften Diskussion zwischen Fachleuten in Deutschland. Vor allem die Kriegsereignisse im ehemaligen Jugoslawien trugen dazu bei, dieses Thema auch einer breiten Öffentlichkeit bewusst zu machen. Interessierte Laien und Fachleute waren gleichermaßen entsetzt über das Ausmaß an Unmenschlichkeit und Gefühlskälte, das in einer der beliebtesten Ferienregionen der Deutschen um sich griff. Und sie fragten sich, wie diese Gesellschaften aus dem Wahn von blindem Hass, Missachtung und Rachebedürfnis wieder herausfinden sollten. In diesem Zusammenhang wurde vereinzelt auch die Rolle der Kinder in den traumatisierenden Ereignissen wie Vertreibung, Verstecken in Wäldern, Opfer oder Zeugen von Gewalttaten zu werden, schmerzlichen Verlusterlebnissen usw. in den Medien thematisiert. So widmete das GEO-Magazin 7/1993 einen langen Artikel der psychologischen Behandlung kriegstraumatisierter Kinder in Kroatien durch UNICEF-Mitarbeiter. Unter der Leitung von Prof. Irina Besic wurde ein »Enttraumatisierungsprogramm« für alle Grundschulen Kroatiens entwickelt und durchgeführt. Damit war ein Meilenstein in der psychologischen Behandlung kriegstraumatisierter Kinder errichtet worden – leider hat dies in der Fachöffentlichkeit Deutschlands keine große Aufmerksamkeit hervorgerufen1.

Für mich war dieser Geo-Artikel ein »Aha-Erlebnis« erster Güte: Da traute sich diese Irena Besic, Kinder in die Konfrontation mit dem Schrecklichsten hineinzuführen, ihre entsetzlichen, um alles in der Welt gemiedenen Erinnerungen wiederzubeleben! Dies passte nun gar nicht zu unseren Therapietheorien und praktischen Anwendungen! Jahrelang hatte ich in einem großen Kinderheim mit schwer bindungstraumatisierten Kindern gearbeitet, die obendrein oft noch Misshandlung und Missbrauch erlebt hatten. Auf die Idee, sie offensiv mit ihrem Schicksal zu konfrontieren, wären wir wohl nicht gekommen.

Sicherlich hatte von den USA ausgehend die Diskussion um Traumatherapie zwischenzeitlich auch bei uns angefangen. Aber erstens bezogen sich die darauf folgenden Veröffentlichungen fast ausschließlich auf Erwachsene. Nur die EMDR-Methode bietet inzwischen eine Ableitung für Kinder an.

Und zweitens: Wer von uns hätte damals den Mut gehabt zur Konfrontation?

Die Angst, einen Menschen, insbesondere ein Kind, das einem anvertraut wurde, durch ein solches Vorgehen nachhaltig zu schädigen, war groß – und berechtigt!

Das kroatische Modell wäre auch nicht auf uns übertragbar gewesen, denn es war für die Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer kriegstraumatisierten Gesellschaft konzipiert. In unserer Gesellschaft spielen aber kriegsbedingte Traumatisierungen (inzwischen) nur noch eine kleine Rolle. Dennoch erleben bei uns Kinder zuweilen Schreckliches:

Sexueller Missbrauch, schwere Misshandlungen und Vernachlässigung sind schwer wiegende Trauma-Ereignisse. Sie werden überwiegend von den nächsten Bezugspersonen ausgeübt und erstrecken sich meist über Jahre. Sie gehören zu den für die seelische Entwicklung gefährlichsten Lebenserfahrungen von Kindern! Denn hier werden die Identität des Individuums, seine Lebensberechtigung und Liebenswertheit durch seine nächsten Bezugspersonen so massiv in Frage gestellt, dass es regelmäßig zu einer erheblichen Störung in der Bindungs- und Identitätsentwicklung kommt.

Die Erfahrung von schweren Verkehrsunfällen, Naturkatastrophen und Verbrechen ist bei uns zwar schon viel seltener. Kinder können aber auch solche Erlebnisse nur selten gut verkraften.

Ebenso ist das plötzliche und seelisch unvorbereitete und unbegleitete Erleben des Sterbens von Mutter oder Vater oder anderer nahe stehender Menschen zwar nur noch ein seltenes, aber, wenn es eintritt, ein zutiefst verstörendes Ereignis in der Welt eines Kindes.

Wir haben also genug Anlass, kinderspezifische Traumatherapien zu entwickeln. Aber wie sollen sie aussehen?

Die Angst, einem Kind durch Konfrontation Schaden zuzufügen, ist keineswegs ein versteckter Ausdruck für Drückebergerei seitens der Therapeuten: Konfrontation birgt immer das Risiko einer Retraumatisierung. Und Kinder sind noch leichter zu traumatisieren als Erwachsene – das gilt auch für die Retraumatisierung.

Heute wissen wir, dass die Behandlung akut traumatisierter Menschen grundsätzlich das Angebot zur Konfrontation umfassen sollte2. Genauso aber müssen wir als Therapeuten dafür sorgen, dass diese äußerst schonend und dennoch konsequent durchgeführt wird. Davon zu unterscheiden ist die Gruppe der früh und anhaltend traumatisierten Menschen. Bei ihr wird oftmals eine Konfrontation gar nicht möglich oder sinnvoll sein. Aber auch für diese Personengruppe brauchen wir ein Repertoire an traumaspezifischen Interventionen ohne Konfrontation innerhalb eines geschlossenen therapeutischen Konzeptes.

Die Behandlung von ganz jungen traumatisierten Kindern stellt eine methodische Herausforderung dar, auf die wir noch keine schlüssigen Antworten gefunden haben. Auch meine Erfahrungen sind begrenzt, aber:

Infolge des besagten GEO-Artikels gründete sich unter meiner Beteiligung in Nürnberg eine kleine Non-Government-Organization für sozial-psychologische Projekte im ehemaligen Jugoslawien. Seit dem Kriegsende konzentrieren wir uns auf die psychologische Betreuung und fachliche Schulung eines kleinen Säuglings- und Kleinkinderheimes im Nordwesten Bosniens. Am Anfang hatten wir es in »Dom Duga« reihenweise mit hospitalisierten Babys zu tun, die nach der Geburt von ihren Müttern im Kreiskrankenhaus zurückgelassen worden waren und dort Monate verblieben. Die Entdeckung der schwerst hospitalisierten Babys und Kleinkinder im Krankenhaus im Zuge der ersten privat organisierten Hilfslieferungen nach Bihac war es auch, die einige Männer aus Mittelfranken veranlasste, dort, in einem völlig vom Krieg zerstörten und verminten Tal, ein kleines Kinderheim zu bauen. Dieses Heim wurde von Anfang an komplett mit Spendengeldern (ganz überwiegend deutschen, aber auch zunehmend bosnischen) gebaut und betrieben. Es arbeiten dort nur Laien. Aber inzwischen sind alle nach der Methode der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler angeleitet worden und leisten eine phantastische Arbeit. Immer wieder werden dort Babys aufgenommen3, die im Krankenhaus zurückgelassen wurden oder deren Mutter bei der Geburt starb; oder Kleinkinder, die extrem vernachlässigt und verwahrlost wurden, und auch einige, die schreckliche Bluttaten miterleben mussten: Drei dieser Kinder waren z. B. im Elternhaus anwesend, als der Vater eine Bombe zündete und sich und seine Frau in den Tod riss – treffen wollte er wohl alle. Zwei weitere Kleine erlebten, wie der Vater die Mutter erstach. Ein Vierjähriger musste zusehen, wie seine Mutter nach jahrelangen Misshandlungen durch seinen Vater diesen erstach …

Über zehn Prozent der in Dom Duga aufgenommenen Kleinkinder haben ausgesprochene Blut- und Gewalttaten unmittelbar miterlebt und leiden zusätzlich unter dem daraus resultierenden Totalverlust aller bisherigen Bindungen. Man kann nicht umhin zu vermuten, dass sich hier auf einer individuellen Ebene noch Jahre nach Kriegsende das seelische Erbe einer traumatisierten Gesellschaft manifestiert. Neben der Freude, die gute Arbeit in Dom Duga ein Stück begleiten zu dürfen, bietet sich mir dort auch die Chance, die Entwicklung von traumatisierten Kleinkindern beobachten zu können. Die Möglichkeiten zu therapeutischen Interventionen ist über fast 1000 Kilometer hinweg natürlich sehr begrenzt. Aber ich erlebe die heilende Wirkung einer guten pädagogischen Struktur auf bindungstraumatisierte Kinder. Und natürlich auch die Grenzen ihrer Wirkung.

In meiner Praxis setzt sich diese Erfahrung so um, dass ich seit einigen Jahren schon mit dreijährigen traumatisierten Kindern Psychotherapie mache und beobachte, dass dies unter ganz bestimmten Bedingungen auch sehr gut gelingt.

Dennoch ist die Zeit noch nicht reif, mich schon über die psychologische Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern konzeptionell zu äußern.

Das hier vorliegende Buch ist weniger ein theoretisches, sondern mehr ein konzeptionelles und praktisches Buch. Gute Veröffentlichungen zur Traumapsychologie gibt es inzwischen viele – allerdings mangelt es bisher an der Beleuchtung kindspezifischer Aspekte der Traumatisierung und ihrer Behandlung. Diese Lücke soll das vorliegende Buch schließen helfen.

Es wird hier um einzelne Kinder gehen, deren Schicksale und Therapieverläufe beispielhaft für Theorie und Methodik sind. Deswegen werden einige der Fallbeispiele immer wieder unter anderen Gesichtspunkten auftauchen und uns durch das Buch begleiten.

Das erste Kapitel nimmt eine Begriffsklärung und -differenzierung vor, die notwendig ist, um dem gegenwärtigen begrifflichen Wirrwarr um »Trauma« und »Traumatisierung« und deren inflationärem Gebrauch etwas Klarheit entgegenzusetzen.

Das zweite Kapitel stellt typische Fälle von traumatisierten Kindern vor, um eine genauere Vorstellung von Wesensart und Unterscheidungsmöglichkeiten von traumatisierenden Lebensbedingungen und Reaktionsformen in der Kindheit zu vermitteln.

Das dritte Kapitel geht auf die neurophysiologischen Auswirkungen und die Besonderheiten kindlicher Reaktionsformen nach Trauma-Erfahrungen ein.

Das vierte Kapitel ist eine kurze Einführung in diagnostische Verfahren, die nach meiner Erfahrung hilfreich für die Erfassung von psychischen Störungen infolge von Trauma-Erfahrungen sind. Die Kürze dieses Kapitels ist der Tatsache geschuldet, dass es auch in diesem Sektor in Deutschland noch wenig zielführende Verfahren und Standardisierungen gibt.

Das fünfte Kapitel stellt die Methode der »Strukturierten Trauma-Intervention« (STI) vor. Sie wurde von mir speziell für Kinder entwickelt und dient der Behandlung von dem Kind bewussten Trauma-Erfahrungen. Sie richtet sich an eine Altersgruppe ab etwa sieben Jahren, lässt sich aber auch effektiv bei Erwachsenen einsetzen. Das sechste Kapitel führt in Grundlagen der Spieltherapie ein, die für die Behandlung traumatisierter Kinder von großer Bedeutung sind. Das siebte Kapitel befasst sich mit den prozessdiagnostischen Möglichkeiten in der spieltherapeutischen Behandlung von früh und anhaltend traumatisierten Kindern.

Das achte Kapitel stellt ein spieltherapeutisches Konzept vor, das von mir speziell für die Belange früh und anhaltend traumatisierter Kinder entwickelt wurde. Die traumabezogene Spieltherapie richtet sich an eine Altersgruppe ab drei Jahren und lässt sich in veränderter Form auch bei vielen Jugendlichen einsetzen, wenn sie erst einmal Vertrauen gefasst haben. Dieses Konzept eignet sich gerade für Kinder und Jugendliche, die kaum einen bewussten Zugang zu ihren Trauma-Erfahrungen haben. Darüber hinaus setze ich es zur Vorbereitung und Stabilisierung der Kinder ein, mit denen im Anschluss die STI durchgeführt werden soll.

Das neunte und zehnte Kapitel runden dieses Buch zwar ab, beziehen sich aber auf Themen, die nicht mehr im Zentrum dieser Veröffentlichung stehen, nämlich auf die Arbeit mit den Bezugspersonen und den Umgang der Behandler mit sich selbst.

Zum Entstehen dieser Veröffentlichung haben viele Kolleginnen und Kollegen beigetragen, die mich in den Fortbildungsveranstaltungen der letzten fünf Jahre immer wieder konzeptionell gefordert und herausgefordert haben. In meinem persönlichen Umfeld haben viele mit mir einzelne Aspekte dieses Buches diskutiert. Ihnen allen gebühren meine Anerkennung und mein herzlicher Dank. Ganz besonders aber haben mich mein Ehemann Harald Weinberg und meine Freundin und geschätzte Kollegin Anja Kaiser kontinuierlich und kritisch begleitet und unterstützt, sodass das Beste herausgekommen ist, was ich zu geben in der Lage bin. DANKE!

Zu meinem persönlichen Hintergrund möchte ich erwähnen, dass ich Mutter zweier Töchter bin. Wenn ich zu mir ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich mich als Mutter häufig genug unpädagogisch und manches Mal auch falsch verhalte. Perfektion sollte nicht unser Anspruch sein. Aber wenn schon jemand wie ich, in sozial abgesicherter Position und in stabiler und erfüllender Partnerschaft mit dem Vater meiner Kinder, zu Fehlern neige – wie viel mehr muss ich das bei Eltern in stressgeladenen Lebensumständen akzeptieren. Daher neige ich nicht zur Verurteilung von Müttern und Vätern. Und dennoch verurteile ich manche elterlichen Verhaltensweisen, um die es hier auch gehen wird, auf das Schärfste.

Obwohl meine fachliche und gedankliche Heimat in der personzentrierten Richtung liegt, habe ich schon in meiner ersten Berufsphase wesentliche Modifikationen durchgeführt. Ich habe zehn Jahre in einem Kinderheim gearbeitet und dort sehr schnell gemerkt, wie wichtig in der Behandlung schwer gestörter Kinder zusätzlich zu dem einfühlenden Mitgehen ein strukturierender, leitender Umgang ist. So hat mir die Weiterbildung in Kinderpsychodrama hervorragende konzeptionelle und handwerkliche Mittel an die Hand gegeben. Jeder, der in diese Ausbildung4 einmal hineingeschnuppert hat, wird ihre Auswirkungen auf meine Arbeit ab dem sechsten Kapitel mit (hoffentlich) viel Vergnügen wiedererkennen können.

In der traumatherapeutischen Konfrontation darf es aber nicht psychodramatisch zugehen. Das Kinderpsychodrama setzt immer eine solch produktive und sprudelnde seelische und zwischenmenschliche Dynamik in Gang, dass ich diese Methode nur zulasse, wenn ich mir sicher bin, dass keine tief greifende Traumatisierung zur Bearbeitung kommen soll. In der Anfangsphase der Entwicklung meiner eigenen Traumatherapie legte mir einmal ein schwer lernbehindertes neunjähriges Mädchen aus eigenem Antrieb die Darstellung ihrer jahrelangen Vergewaltigungen in ihrer Pflegefamilie im Rollenspiel hin: Ich stand fassungslos daneben und konnte sie nicht stoppen, sie wechselte ständig die Rollen der Beteiligten und setzte komplett ohne meine Hilfe das schreckliche Rollenspiel in Szene. Ich konnte eigentlich nur durchsetzen, dass es strikt bei dem »So-tun-als-ob«-Prinzip blieb (also z. B. angezogen bleiben) und sie in den Vergewaltigungsphasen nicht in die Opferrolle, also die Eigenidentifikation, ging. Es war ein grausiges und erschütterndes Geschehen, was sich da vor meinen Augen abspielte – und ich war mir sicher, dass das Kind davon Schaden nehmen würde. Aber als sie von mir Abschied nahm, drehte sie sich noch einmal zu mir zurück, lachte mich zum ersten Mal offen und frei an und rief »Danke!« Gegen meine Erwartungen hat diese Stunde unsere therapeutische Beziehung nachhaltig vertieft und einen starken seelischen Entwicklungsschub bei dem Mädchen freigesetzt. Aber es hätte auch furchtbar schief gehen können! Heute weiß ich zwar, dass meine beiden spontanen Interventionen (So-tun-als-ob-Regel und keine Opferidentifikation zulassen) wichtige Schutzmechanismen darstellen, um Retraumatisierung vorzubeugen. Aber diese beiden reichen nicht aus. Das Kind hätte ohne weiteres in einen Angst- oder Dissoziationszustand geraten können – und das hätte ich dann verantworten müssen.

Was ich aus dieser aufrüttelnden Erfahrung gelernt habe war, dass ich weiter auf dem Weg der Konfrontation gehen wollte, aber Mittel und Wege zu finden versuchte, um Schutzmechanismen und haltgebende Strukturen einzuführen. Um den Schutz des Kindes zu gewährleisten und nicht zuletzt um meiner selbst willen.

I. Der Traumabegriff

Das Wort »Trauma« (Pl.: Traumata) stammt aus dem Altgriechischen und bezeichnet Wunden im umfassenden Sinne. In der Medizin wird es als Fachwort für körperliche Verletzungen benutzt. Parallel hat sich die Anwendung auf seelische Verletzungen durchgesetzt. So wie im medizinischen Sinne eine äußerliche Kraft auf und durch die Körperoberfläche hindurch schädigend gewirkt hat, so ähnlich lässt sich das auch im psychologischen Sinn verstehen:

Das seelische Gleichgewicht eines Menschen wird durch ein äußeres Ereignis erschüttert, die zentrale sensorische Verarbeitung wird durch die Reizüberflutung überfordert, Angst und Erregung steigen ins Unerträgliche; das Grundvertrauen, durch seine nächsten Bezugspersonen beschützt und in seinen eigenen körperlichen und seelischen Abgrenzungen zur Umwelt unantastbar und sicher zu sein, wird beschädigt.

Die Symptombilder einer Akuten Belastungsstörung und einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) werden in der ICD-10 definiert. Sie können hier vorausgesetzt werden. Leider geht man dort – wie so oft – nicht auf die Besonderheiten des Kindes- und Jugendalters ein. Diese werden in diesem Buch im zweiten und dritten Kapitel ausgeführt.

1. Traumapsychologie in der Wissenschaftsgeschichte

Man könnte aufgrund der aktuellen Diskussionen und der regen Entwicklung im Fach der Psychotraumatologie denken, dass es sich erstens um ein junges Fach5 handelt und es sich zweitens – zumindest hinsichtlich der kulturübergreifend weit verbreiteten sexuellen Traumata in Abgrenzung und Konfrontation zur Psychoanalyse entwickelt.

Es ist aber so, dass am Beginn der Psychopathologie als Wissenschaft die Erforschung der Hysterie stand. Dabei ging es ganz wesentlich um ein aufklärerisches Anliegen6: Im Paris des 19. Jahrhunderts gab es starke aufklärerische Kräfte, die der katholischen Kirche das Monopol entreißen wollten, dem »einfachen Volk« die Welt zu erklären. Der »Teufel« wurde noch als reales Wesen hingestellt und erlebt. Mit der Angst vor dem leibhaftig Bösen und der Strafandrohung von ewiger Verdammnis verfügte die katholische Kirche nach wie vor über eine starke Bindungsmacht. Charles Darwin hatte zwar seine Thesen zur Evolution schon veröffentlicht, aber sie wurden nur langsam einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Eine Schöpfungsgeschichte ohne Gott war damals nur für einen kleinen Kreis Intellektueller vorstellbar. Der Wunsch, der katholischen Kirche die Definitionsmacht über Gut und Böse, Recht und Unrecht zu entreißen, bewegte einige Ärzte um den Pariser Psychiater Charcot7 dazu, das Herzstück des Teufelsglaubens zu entzaubern: die Besessenheit.

Vom Bösen besessen galten überwiegend Frauen. Bei einigen war dies auch ganz sinnfällig: Plötzlich fuhr der Teufel in sie hinein. Gerade schien sie noch ganz normal, jetzt zuckt sie in schrecklichen Konvulsionen, wobei oftmals unanständige Gebärden der Hüften und Brüste kaum zu übersehen war. Ganz offensichtlich also Teufelsbuhlinnen. Andere wurden plötzlich von Lähmungen heimgesucht. Manche stießen gar schreckliche Flüche und Lästerungen aus. Andere gerieten in Absencen. Wieder andere schienen sich vor den Augen des Betrachters in eine andere Person zu verwandeln … Klare Zeichen von Besessenheit und somit Beweise für die Existenz des Teufels.

Im Pariser Armenkrankenhaus, der Salpetriere, begann Charcot diese Verhaltensweisen als Symptome einer hysterischen Erkrankung exakt zu beobachten, sie gezielt auszulösen8 und zu kategorisieren. Er schaffte den Durchbruch: Hysterikerinnen wurden in der Folge als neurologisch kranke Menschen angesehen. Bis dahin hatte die Medizin sie als Simulantinnen betrachtet, deren Gebaren mit der weiblichen Sexualität im Zusammenhang stehen müsse. Deswegen auch der Name »Hysterie« (von griech. Hystera, Gebärmutter).

Erst seine Schüler Janet und Freud begannen, mit diesen Frauen zu reden. Überdies experimentierten sie mit der neu entwickelten Hypnose. Sie konnten nachweisen, dass in der Anamnese dieser Frauen sehr häufig Hinweise auf sexuelle Übergriffe im Kindesalter auftauchten. Weiterhin stellte sich heraus, dass Frauen unter Hypnose gerade diese Erlebnisse mit ihrem ganzen Schrecken wiedererlebten und danach nicht mehr besessen waren. Damit brach ein starker Pfeiler in der katholischen Welterklärung: Die Idee der Besessenheit verlor in den folgenden Jahrzehnten an Glaubwürdigkeit, und die betroffenen Menschen wurden zunehmend als seelisch krank angesehen.

Das Wissen um die Ursachen dieser Erkrankungen aber verschwand sehr schnell wieder aus dem Bewusstsein. Und dabei spielte nun Freud tatsächlich eine tragische Rolle. Er hatte bei Charcot in Paris gelernt, und die Theorie der traumabedingten Neurose ist auch immer ein Bestandteil seiner Psychopathologie geblieben. Zur Hysterie schrieb er 1896: »Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich … ein oder mehrere Erlebnisse von frühzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören.«9 Diese Erklärung bekam aber bald darauf Konkurrenz durch den von ihm formulierten Ödipuskomplex, der die Ursache für die hysterische Neurose in den verdrängten psychosexuellen Trieben des Kindes sieht. Diese Theorie, die die Ursache für das Leiden in den Patienten – also meistens in die als Kind sexuell missbrauchte Frau – zurückverlegt, fand natürlich großen Anklang: Sowohl im Bürgertum des damaligen Wien – was nicht verwundert, da es in deren Familien auch viele Hysterikerinnen gab – als auch bei Freuds Schülern. Die Pädosexualität verschwand, kaum dass sie im Zuge des Krieges der Weltanschauungen öffentlich benannt worden war, wieder aus dem Bewusstsein. Ab da beteiligten sich Psychiatrie und Psychotherapie leider an dem alten Mechanismus, das Opfer zum Täter umzudefinieren und damit die bestehende Gesellschaft und ihr Machtgefüge zu stabilisieren.

Diese Umdefinition führte wiederum zu einer moralischen Abwertung des Begriffes der Hysterie. Da nun auch nicht mehr die Metapher der Besessenheit zur Eigenidentifikation taugte, begannen die betroffenen Frauen in der Folge ihre Symptomatik mehr und mehr zu unterdrücken. Die Hysterie in ihrer ursprünglichen, nämlich ausagierenden Form gibt es in der westlichen Welt kaum mehr. Sie ist abgelöst worden durch schwere, unerträgliche innere Spannungsgefühle und Dissoziationen.

Tatsächlich ging und geht es um Unterdrückung von Frauen und Mädchen. Aber eben nicht nur, denn sexueller Missbrauch betrifft nicht nur heute, sondern betraf auch damals kleine Jungen.

Aber nicht nur kleine Jungen, sondern auch ausgewachsene Männer wurden massenhaft demselben Mechanismus der machterhaltenden Umdefinition unterworfen: Aus dem Ersten Weltkrieg haben wir zum ersten Mal wissenschaftliche Beschreibungen der von der Fronterfahrung traumatisierten Soldaten. Mit Filmkameras wurden ihre konvulsiven Anfälle, ihr exzessives Schütteln und Bibbern, ihr unkoordiniertes Zappeln und Grimassieren unbarmherzig festgehalten. Was passierte mit ihnen? Auch sie verschwanden von der Bildfläche: Ihr Leiden wurde zunächst als Kriegsneurose definiert. Der Kriegsneurose entzog man aber sehr schnell die Anerkennung als traumabedingte seelische Folgeerkrankung. Als man nämlich merkte, wie negativ sich diese Anerkennung auf die Wehrtüchtigkeit der jungen Männer und die Wiedereinsetzbarkeit der betroffenen Soldaten auswirkte, unterzog man die Kriegsneurose einer Umdefinition: Hier appellierten einige Schwächlinge an Mitleid und wollten sich nur ihrer vaterländischen Pflicht entziehen.

Während meiner Universitätsausbildung in den 80er-Jahren stand die Kriegsneurose noch genau in diesem Ruch!

Tatsächlich war der Erfolg dieser Umdefinition umwerfend: Das Schütteln, Bibbern, Brüllen … es verschwand. Der Soldat blieb mannhaft und verschwand in der Folgezeit in der trostlosen Sucht. Diese, erst durch die Vietnamveteranen endlich dokumentierte Tragik der traumatisierten Soldaten wurde bis dahin ignoriert, weil sie in der isolierten Privatheit als individuelles Versagen erschien.

Hysterie und Kriegsneurose nahmen also einen ähnlichen Verlauf in der Wissenschaftsgeschichte. Man muss wohl den Schluss ziehen, dass es sich um ein hoch politisches Feld handelt, mit dem wir uns in diesem Buch beschäftigen wollen.

2. »Trauma« ist kein einheitlicher Begriff

Die Begriffe »Trauma« und »traumatisiert« werden in der gegenwärtigen Diskussion vielschichtig und inflationär benutzt, was immer wieder zu Missverständnissen in der Kommunikation führt10. Ich selbst ziehe es vor, begrifflich zwischen

a) Trauma-Ereignis, b) Trauma-Reaktion, c) Trauma-Erfahrung und d) Trauma-Folgen zu unterscheiden.

2.1 Trauma-Ereignis

Einen Überblick über mögliche Trauma-Ereignisse und ihre Gewichtung für psychische Folgewirkungen gibt das folgende Diagramm. Im Unterschied zu anderen traumapsychologischen Veröffentlichungen differenziert dieses Diagramm die Kategorie des »Man-made-Desaster« in zwei Untergruppen, um dem extrem unterschiedlichen traumatisierenden Potenzial gerecht zu werden:

Dieses Diagramm ist so zu verstehen, dass von oben nach unten und von links nach rechts die die Seele zerstörende Potenz des Trauma-Ereignisses zunimmt. Dabei muss die Stärke der Verletzungen, Todesangst und Verluste als ungefähr gleich vorgestellt werden:

D. h., Opfer einer Überschwemmung mit Überlebensangst, Erleben von Sterben anderer und Verlust von Familienangehörigen (Feld 1) haben trotz der schweren seelischen, sozialen und materiellen Folgen für ihr Leben bessere Chancen, dies auf die Dauer seelisch zu verarbeiten als Opfer einer Familientragödie mit Überlebensangst, Erleben von Sterben und Verlust von Familienangehörigen, die der vorläufige Schlusspunkt einer langen Eskalation von innerfamiliären Gewalt ist (Feld 6).

Es gibt drei Prinzipien, die sich in langen Jahren klinischer Erfahrung herauskristallisiert haben:

  1. Je mehr die Ursache des Trauma-Ereignisses in den Identifikationsprozess des Opfers eingreift, desto gravierender sind die Folgen. Darum sind sog. »Man-made-Desaster« schlimmer als Naturkatastrophen, aber wiederum Folter durch Mutter oder Vater seelisch schlimmer als gleichartige Folter durch fremde Personen.
  2. Je mehr sich diese Trauma-Ereignisse häufen, je chronifizierter ihre Schädigungen auf das Individuum einwirken, umso gravierender sind die seelischen Folgen. Die Zeitdimension stellt auch einen Faktor bei der z. B. von Luise Reddemann oder Willi Butollo benutzten Unterscheidung von »einfachen« und »komplexen« Traumatisierungen dar11. Das Problem der anhaltenden Trauma-Ereignisse durch Bezugspersonen ist in der Forschung noch keineswegs genügend erfasst, was sich auch in der dafür nicht vorhandenen Kategorie im DSM III ausdrückt. In meiner Begrifflichkeit handelt es sich um »einmalige« und »anhaltende« Traumatisierung, wobei es sich dabei um die beiden Enden eines Kontinuums handelt.
  3. Je früher die Traumatisierung einsetzte, umso tief greifender sind die Beschädigungen im Aufbau der Persönlichkeitsstruktur. Besonders bei den früh Traumatisierten werden wir es mit der so genannten Persönlichkeitsveränderung zu tun bekommen.

Fachleute wissen, dass es innerhalb der Familie kaum den Fall eines einmaligen Missbrauchs gibt, sicherlich aber den der einmaligen schweren Misshandlung. Entscheidend für die Traumafolgen ist wie immer der Aspekt der individuellen und sozialen Ressourcen. Gelänge es dem Vater z. B., seinen sexuellen Missbrauch an der Tochter gegenüber Mutter und Tochter zu thematisieren, sodass sie gemeinsam nach Möglichkeiten der Wiedergutmachung und des Schutzes für das Kind suchen könnten, wäre ein solcher Fall vorstellbar. Aber gibt es das? Ich habe auf jeden Fall noch nie davon gehört.

Für den Fall der einmaligen schweren Misshandlung sind aber genau diese innerfamiliären Umgangsweisen deutlich vorstellbarer.

Fallbeispiel Judith

Das zwölfjährige Mädchen wird von seinen Eltern bei mir vorgestellt: Seit einem Jahr gehen ihre Leistungen in der Schule rapide zurück, sie habe massive Schlafprobleme und äußere viel Angst. Auslöser sei eine Vergewaltigung durch ihren Patenonkel gewesen, der in der Nähe wohne und bei dem sie bis dahin viel Zeit in den Ferien verbracht habe. Da dieser Patenonkel der Bruder des Vaters sei und die Großeltern väterlicherseits sich mit ihm gegen die Vorwürfe solidarisierten, sei ein tiefer Riss in der Großfamilie entstanden. Im Endeffekt habe das Kind nicht nur den vertrauten Onkel, sondern auch die sehr geliebten Großeltern verloren, worunter es sehr leide.

Judiths Eltern glaubten ihr vorbehaltlos und stellten sich schützend hinter sie. Sie konfrontierten den Bruder des Vaters mit den Vorwürfen und brachen den Kontakt zu ihm ab, als dieser und seine Frau alles abstritten.

Das Mädchen selbst war bei unserem Erstgespräch anwesend, hörte der Darstellung der Eltern zu, bestätigte sie, blieb aber ansonsten passiv. Sie wies die für viele Traumatisierte typische starre Mimik auf.

In der ersten Sitzung berichtete sie von ständigen intrusiven Erinnerungen, nächtlichem Ausreißen und Umherstreifen, um dem Einschlafen entgehen zu können. Es stellte sich heraus, dass sie im Tiefschlaf vergewaltigt worden war. Dennoch brachte sie in ihren Zeichnungen und Gestaltungen im Therapieraum mehrere Sicherheit bietende »Innere Instanzen« (s. Kapitel VI und VII) zum Ausdruck. In der zweiten Sitzung bot ich ihr die Phantasiereise »Reise zum sicheren Ort« (s. Anhang) an, die für sie zu einem intensiven positiven Erlebnis wurde. Darauf führte ich mit ihr in der dritten und vierten Sitzung die »Strukturierte Trauma-Intervention« (STI, s. Kapitel IV) durch. Die fünfte Sitzung diente der Kontrolle ihres Erlebens und der Effekte der STI: Das Kind zeigte eine lebhafte Mimik, einen wachen Blick, hatte keine Schlafprobleme mehr, hatte sich wieder ans Lernen gemacht und konnte seine Trauer um die einst so vertraute und heimelige Großfamilie zum Ausdruck bringen. Ihr war so durchgreifend geholfen, dass Eltern, Kind und ich in der sechsten Sitzung gemeinsam beschlossen, vorerst keinen Therapieantrag zu stellen. Durch spätere katamnestische Telefonate ergab sich, dass der gute Start der Beginn einer erfolgreichen Neuorientierung und Reifung geworden war.

Warum habe ich diesen Fall so ausführlich beschrieben?

Einmal handelt es sich eindeutig um ein durch eine Bezugsperson verursachtes Trauma, das einmalig blieb, weil die Eltern sofort drastische Maßnahmen ergriffen.

Und zum Zweiten glaube ich, dass durch die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte eine menschheitsgeschichtlich neue Chance entstanden ist: Nicht mehr das Schweigen, Isolieren oder gar halbbewusste Opfern eines Kindes zum Wohle des (in früheren Zeiten überlebensnotwendigen) Familienzusammenhaltes muss den Umgang miteinander bestimmen. Erstmals besteht eine reale Chance zum Offenlegen durch das Kind und zu dessen Schutz. Durch die Offenheit und den Schutz ergeben sich Chancen, die Chronifizierung (Feld 6) zu vermeiden, indem das einmalige innerfamiliäre Trauma-Ereignis seelisch integriert wird und die damit verbundenen Verluste betrauert werden können.

Eine weitere Konstellation für Feld 5 ergibt sich aus plötzlichen gewalttätigen Durchbrüchen einer Bezugsperson, z. B. im Zuge einer psychotischen Dekompensation.

Fallbeispiel aus einer Fortbildungsgruppe

Eine vierköpfige junge Familie liegt miteinander im Elternbett, das vierjährige Mädchen wacht mitten in der Nacht auf und erblickt den Vater mit einem Säbel in der erhobenen Hand am Bett stehen. Es schreit auf und weckt die Mutter. Diese wacht auf und versucht den Hieb mit den bloßen Händen abzuwehren. Sofort ist alles voller Blut: Mutter, Kinder, Bett, Teppich. Trotzdem schnappt sich die Mutter Baby und Tochter und kann mit ihnen zu den Nachbarn fliehen, die von dem Gebrüll aufgewacht sind. Im Hinauslaufen sieht das Kind im Augenwinkel, wie der Vater sich den Säbel an den Bauch setzt.

Die Anamnese ergab für das Kind keine Vorschädigung. Direkt nach dem Trauma-Ereignis wurde der Vater lebend geborgen und ins Krankenhaus, später in die Psychiatrie gebracht.

Das Kind wurde in dieser Zeit wegen schwerer Schlafstörungen und Angstanfälle zur Behandlung der Kollegin gebracht.

Auch hier gilt, dass nicht der Mantel des Schweigens über den Wahnsinn gebreitet werden darf, sondern das blutige Ereignis in das Leben des Kindes und seiner Familie integriert werden muss. Dies gilt unbedingt, wenn bei dem Kind – wie im vorliegenden Fall – Schlafstörungen, Angstanfälle und Erinnerungsbilder auftreten.

In beiden Fällen geht die Integration aber nur auf der Grundlage bestmöglichen Schutzes vor weiteren Übergriffen durch den Verursacher.

2.2 Trauma-Reaktion

Die Trauma-Reaktion ist in meiner Begrifflichkeit die überwiegend biologisch determinierte unmittelbare Reaktion des Individuums auf das Trauma-Ereignis. Dabei scheint die unmittelbare Stressreaktion des Kreislaufschocks nicht so entscheidend für die Pathogenese zu sein. Sie dient der Überlebenssicherung auf niedrigem Niveau. Danach folgt die Gegenschockphase, die der organismischen Aktivierung dient und die Energie für die motorischen Anpassungsreaktionen auf das Trauma-Ereignis zur Verfügung stellt.

Heinerth hat aufgrund seiner verhaltensbiologischen Kenntnisse bei Tieren die direkte Abstammung unserer menschlichen Notfallreaktionen aus der Evolution und damit ihre genetisch-biologische Determiniertheit herausgearbeitet. Aus seiner Arbeit lässt sich viel Hilfreiches für die Diagnostik und Therapie traumatisierter Menschen ableiten. Heinerth ergänzt die allseits bekannten Stressreaktionen

2.2.1 Kampf

Ist die unmittelbare Aktivierung des Organismus in einem Notfall auf Kampf gerichtet, richtet er seine Kraft darauf aus, die Gefahr zu beseitigen, ihr entgegenzutreten, sich im weitesten Sinne mit ihr aktiv auseinander zu setzen. Im Tierreich führt(e) diese Aktivierung zur tätlichen Aggression mit dem Ziel verjagen oder vernichten. In den menschlichen Sozialverbänden gibt es darüber hinaus noch viele andere Möglichkeiten, z. B. einschüchtern, gefangen nehmen, Rettungsdienste aktivieren …

Der wesentliche Grundzug ist, dass sich das bedrohte Individuum kompetent und kraftvoll fühlt.

Hat seine Kompetenz und Kraft tatsächlich den Notfall gelindert oder gar beendet, kann es gut sein, dass ihm die Bilder des Grauens noch längere Zeit nachgehen werden. Aber es hat die vergleichsweise besten Chancen, das traumatisierende Ereignis mit der Zeit in seine Persönlichkeit zu integrieren. Einen Beleg dafür finden wir in Jakob, der im Zusammenhang mit seinem Bruder Boris einige Seiten später vorgestellt werden wird.

Diese Kampfaktivierung finden wir aber auch bei Menschen, die keinerlei Kompetenz haben, der Bedrohung entgegenzutreten. Ich erlebe dies immer wieder bei kleinen Kindern. Einige zeigten in der Notfallsituation tatsächlich mehr oder weniger Kampfverhalten, das vergeblich blieb, andere spürten nur den Impuls (»Ich wollte doch die Mama beschützen!«), waren jedoch aufgrund der instinktiven Chancenabwägung blockiert – aber in beiden Fällen zeigt sich in den Wochen, Monaten und Jahren darauf ein erhebliches Aggressionspotenzial. Eine schier unerschöpfliche Wut- und Hass-Quelle scheint entstanden zu sein, aus der sich der Umwelt völlig unverständliche Verhaltensweisen des Kindes speisen.

Fallbeispiel Thomas

Thomas erlebte mit vier Jahren, wie der mehrjährige Lebenspartner der Mutter, den er »Papa« genannt hatte, unter Alkoholeinfluss die Mutter zunehmend beschimpfte und demütigte. Dieser steigerte sich so in seine Wut, dass er schließlich einen Metallkoffer packte und ihn gegen die Frau schleuderte. Da sie eng mit ihrem Sohn zusammengekauert auf dem Sofa hockte, warf sie sich vor ihn, um ihn zu beschützen. Der Koffer zischte so gerade an beiden vorbei, aber gleich darauf packte der Mann die Frau und schleuderte sie in eine Glastür, an der sie sich schwere Schnittwunden zuzog und das Bewusstsein verlor. Thomas floh aus der Wohnung zu den Nachbarn, die die Notdienste schon alarmiert hatten.

Nach einigen Wochen begann Thomas zunehmend aggressiv zu werden, er schlug im Kindergarten ohne ersichtlichen Grund heftig auf andere Kinder ein und ließ sich von seiner Mutter nichts mehr sagen. Er erzählte ihr zuweilen völlig realitätsfremde Geschichten darüber, wie er den Papa damals fertig gemacht habe; auch wie er andere Jungs oder Männer verprügelt habe. Drei Jahre später begann die Therapie (Symptomatik: Aggressives Sozialverhalten, Unfolgsamkeit, Omnipotenzgehabe bei gleichzeitiger ausgeprägter Ängstlichkeit und Ungeschicklichkeit, weiterhin Schlafstörungen), bei der genau diese Phantasie- und Wunschgeschichten wieder auftauchten, die Thomas zunächst hartnäckig als real bezeichnete. Für ihn war es hochgradig beängstigend, sich selbst gegenüber zugeben zu müssen, damals völlig hilflos gewesen zu sein und seine Mutter nicht beschützt haben zu können. Er berichtete schließlich, dass er damals den Kerl unbedingt umbringen wollte.

Aus dieser Darstellung könnte man den Umkehrschluss ziehen, wenn ein Kind sehr erregt, hyperaktiv und aggressiv ist, es dann immer ein traumatisches Erlebnis mit instinktiver Kampfaktivierung nicht verarbeiten konnte. Dieser Umkehrschluss ist aus mehreren Gründen nicht zulässig. Zum einen könnte es sich bei dieser Symptomatik um eine primär hirnphysiologische Verursachung handeln. Zum anderen kann aber genau dieses Verhalten Ausfluss eines natürlichen kindlichen (und männlichen!) Schutzmechanismus gegen Trauer, Verlust- oder Hilflosigkeitsgefühlen sein. Ein Beispiel dafür wird später in diesem Kapitel mit dem Fall des kleinen Jonas gegeben.

2.2.2 Flucht

Auch der Notfallinstinkt, der zur Flucht treibt, ermöglicht eine körperlich hoch aktive Reaktion. Im günstigen Fall wird die gesamte physiologische Aktivierung zur Selbstrettung genutzt und umgesetzt und somit abgebaut. Wenn der Notfall durch Flucht beendet werden konnte, stehen die Chancen einer erfolgreichen psychischen Verarbeitung des Trauma-Ereignisses relativ gut. Aber Vorsicht: Im menschlichen Lebensraum gibt es selten eine wirkliche Beendigung der Krise durch Flucht. Hat man z. B. andere Menschen in der Bedrohung zurücklassen müssen? Oder kann man nicht mehr in seine Heimat zurückkehren? Oder ist man alltäglich dem Täter aufs Neue ausgesetzt? Oder kehrt man zurück und muss sich mit einem schlimmen Verlust auseinander setzen? In solchen und ähnlichen Fällen wird es trotz erfolgreicher Flucht zu einem chronischen Dauerstress kommen.

Zudem besteht die positive Verarbeitungschance vor allem, wenn die Flucht schon bei Eintreten des Notfalls gelang. Je später sie gelang, desto stärker wird die Trauma-Erfahrung ausfallen.

Und schließlich scheint diese Notfallreaktion, auch wenn sie erfolgreich ist, in der Frage der Verarbeitung hinter der erfolgreichen Kampfaktivierung zurückzustehen. Dies dürfte auch daran liegen, dass bei der Fluchtaktivierung das Individuum die Bedrohung im Zuge der instinktiven Chancenabwägung als größer und erschreckender erlebt als bei der Kampfaktivierung.

Ein Beispiel für die erfolglose Fluchtaktivierung, die an sich zu einem traumatischen Erlebnis wurde, bietet der Fall Martha (Kapitel II).

Die beiden bisherigen Instinkthandlungen setzen Kompetenz und Kraft voraus. Und damit ist klar, dass sie im Allgemeinen nur für herangewachsene Lebewesen zur Krisenlösung geeignet sind.

Für schwache und unreife Lebewesen bedeuten sie unweigerlich Niederlage und womöglich physische Zerstörung. Für sie bietet die Natur zwei weitere Chancen, wovon die folgende in der gängigen traumapsychologischen Literatur kaum beachtet wird, aber für unser Thema von fundamentaler Bedeutung ist.

2.2.3 Täuschung

Die Fähigkeit zu täuschen ist im Tierreich entweder eine beständige Eigenschaft, um Bedrohung vorzubeugen. Dies kann man z. B. in der ständig wechselnden Tarnung eines Chamäleons erkennen oder in der Maskerade einer Schwebfliege als Wespe, um Fressfeinde zu täuschen. Oder es ist eine instinktgesteuerte Reaktion im Moment der Bedrohung, wie wir es bei der Eidechse kennen, die im Augenblick, in dem der Schatten eines Raubvogels über sie fällt, die zuckende Spitze ihres Schwanzes abstößt. Dieses zurückbleibende zuckende Etwas zieht die Aufmerksamkeit des Angreifers auf sich, während sich die Eidechse in Sicherheit bringen kann. Ein ganz anders geartetes Beispiel für die Fähigkeit des Täuschens kann man bei jungen Welpen beobachten, die sich, wenn sie sich von einem ausgewachsenen Hund bedroht erleben, reflexhaft auf den Rücken schmeißen, fiepsen und sich dem Angreifer vollkommen ausliefern. Mit diesem, für einen Laien widersinnigen und verspielt wirkenden Verhalten lösen sie eine Beißhemmung aus und sichern sich so – ähnlich wie die Eidechse – mit großer Wahrscheinlichkeit das Überleben.

Man glaubt nicht, wie grundsätzlich unser menschlicher Umgang von der Fähigkeit der Täuschung geprägt ist: Höflichkeit, Charme und Lächeln – wesentliche Ingredienzien eines erfreulichen Miteinanders – speisen sich zu einem erheblichen Teil aus der Fähigkeit des Menschen, durch Täuschung bedrohliche Situationen zu vermeiden oder zu entschärfen.

Im Zusammenhang der Psychopathologie finden wir z. B. das weit überdurchschnittlich häufige Lächeln bei Angstpatienten, wie sie erst kürzlich in einer Gemeinschaftsstudie der Universitäten Bremens und des Saarlandes nachgewiesen wurde: Das Zeigen von »happiness« und »social smile« sei ein Grundzug im Verhalten von Panikpatientinnen. Und es habe sich bestätigt, dass »ein allzu freudvolles Interaktionsverhalten der Abwehr konflikthafter Spannung dient« (Benecke & Krause, S. 16)12.

In vielen Fallberichten beschrieb Streeck-Fischer ausführlich die »Mimikry«13 vieler jugendlicher traumatisierter Patienten, die sich und der Welt nur noch in der Haltung »alles bestens« begegnen. Und nicht zuletzt trägt die Lolita-Persönlichkeit früh sexuell traumatisierter Mädchen die Züge der Täuschung: Sieh her, ich will es von mir aus – du brauchst mich gar nicht zu zwingen – ich habe alles unter Kontrolle.