Mechthild Grossmann Dorothea Wagner
Besser spät als nie
Eine Liebeserklärung an das Alter
Insel Verlag
Über die Frage, ob einem das Alter Angstmachen muss
Ich arbeite ehrenamtlich in einem kleinen Laden. Vor kurzem wollte ich im Lager gründlich Staub wischen und stieg auf eine kleine Leiter. Ein anderer Mitarbeiter rannte auf mich zu: »Frau Grossmann, Achtung, Sie könnten stürzen.« Ich weiß, wie man schauen muss, um junge Menschen einzuschüchtern. Ich habe drei Kinder, sechs Enkel und einen Urenkel. Also fixierte ich den Mann mit genau diesem Blick und sagte betont langsam: »Danke auch. Ich bin noch keine 100 Jahre alt.«
Der Arme wird es nicht böse gemeint haben. Aber ich muss mich sogar mit meinen fast 80 Jahren daran gewöhnen, dass andere Leute mich anschauen und denken: Das ist eine alte, gebrechliche Frau. Denn ich selbst vergesse ständig, dass ich alt geworden bin. Außer wenn ich in der Nähe eines Spiegels bin. Dann sehe ich die Falten.
Ich habe immer damit gerechnet, mich bald alt zu fühlen. Als ich eine junge Frau war, dachte ich: Erwachsensein fühlt sich bestimmt ganz anders an. Als ich erwachsen war, dachte ich: Seniorin zu sein fühlt sich bestimmt ganz anders an. Jetzt kann ich sagen: Nein, tut es nicht.
Wenn ich die Augen schließe, fühle ich mich jung. Ich frage mich, ob der Geist, die Seele, oder wie auch immer man das nennen möchte, überhaupt altern kann. Wenn ich denke, redet in meinem Kopf eine Stimme. Sie hat sich nicht mehr verändert, seit ich eine junge Erwachsene war.
Aber mein Leben hat sich natürlich sehr verändert. Alles hat sich verschoben. Ich bin nicht mehr verheiratet, sondern Witwe. Ich bin keine Mutter mit kleinen Kindern mehr, sondern Uromi. Ich habe keinen festen Tagesplan. Ich könnte jeden Vormittag länger im Bett bleiben. Meine Freunde erzählen mir plötzlich nicht mehr normal von ihrem Alltag und von Büchern, die sie gerade gelesen haben, sondern fast nur von Arztbesuchen und Krankheiten. Und ich muss mir ständig, wirklich ständig, die Welt von Jüngeren erklären lassen, wenn ich nicht den Anschluss verlieren will.
Aber das ist nur der eine Teil des Altwerdens. Es hat auch all die schönen kleinen Momente. Zu spüren, dass mein Körper für mein Alter sehr gesund ist, dass ich morgens schwimmen gehen kann zum Beispiel. Und zu erleben, wie herrlich befreiend das Alter sein kann. Ich genieße es sehr, mich nach niemandem mehr richten zu müssen, sondern danach entscheiden zu können, was mir gerade guttut. Her mit der Sahnetorte. Her mit dem Riesling. Her mit dem guten Leben.
Es verlangt Mut, sich nicht vor der Welt zu verschließen, wenn man älter wird. Aber dieser Mut lohnt sich so sehr. Denn jedes Mal, wenn ich meine Angst vor dem Alter und den vermeintlichen Folgen überwinde, merke ich, wie sehr sich die Welt über mich freut, wenn ich mich nur auf sie einlasse.
Als meine Enkelin anrief und fragte, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihr über das Älterwerden zu reden, darüber, was das wirklich bedeutet, in den großen und kleinen Momenten, dachte ich genau darüber nach. Dass ich mich in meinem Kopf doch gar nicht alt fühle. Aber wie viel sich verändert hat, und ja, dass ich Lust habe, darüber viel genauer nachzudenken, weil ich mit meiner Enkelin über all diese Gedanken sprechen könnte. Ich sagte zu.
Ich will die Gedanken über mein Leben entwirren und ordnen. Ich will über die Einsamkeit nachdenken, die manchmal in meinen Kopf schwappt, und darüber, was mir dagegen geholfen hat. Ich will über das Gefühl sprechen, mit hängender Haut im Badeanzug durchs Freibad zu laufen. (Spoiler: Auch das ist super, wenn man es mit der richtigen Einstellung macht. Und ich gehe nun mal gerne ins Freibad.) Ich möchte mit Vorurteilen abrechnen und erklären, warum früher genau genommen alles schlechter war (Stichworte: Waschmaschinen, Mode und Erziehung). Und ich möchte über die Liebe sprechen. Über die Frage, ob ich Sex vermisse und warum viele Männer in meinem Alter gerne Bratkartoffel-Affären hätten. Und darüber, wie ich mir meine neue Liebe vorstelle – mit einem Partner, der weiß, wie man Spülmaschinen einräumt, der meine baumelnde Haut streichelt und mit dem ich über meinen neuen Lieblingsroman diskutieren kann.
Ich weiß, dass das Alter vielen Menschen Angst macht. Sie fürchten sich vor den grauen Haaren, schmerzenden Gelenken und den gähnend leeren Tagen der Rente. Aber wenn ich eine Sache gelernt habe, dann ist es diese: Die beste Phase des Lebens ist im Alter garantiert nicht vorbei. Vielleicht fängt sie da sogar erst an. Denn egal, ob das Knie mal drückt oder nicht: Ich freue mich jeden Morgen nach dem Aufstehen auf den Tag und auf diese große, bunte, schnelle Welt.
Über Anschaffungen im Alter
Ich träume schon lange von einem dunkelroten Mantel. Es gibt eigentlich eine Faustregel: Wenn man nach einem bestimmten Kleidungsstück sucht, findet man es in keinem Geschäft. Aber in diesem Fall war das anders. Vor kurzem habe ich meine Enkelin in München besucht, da hing er plötzlich. Schnitt, Farbe, alles wie in meinem Kopf. Ein angenehmer Wollstoff, zu kalt für klirrende Minustemperaturen, aber gerade richtig für die ersten Frühlingstage.
Früher hätte ich den Mantel genommen, wäre zur Kasse gelaufen und hätte gezahlt, was immer sie hätten haben wollen. Wie man sich eben verhalten sollte, wenn man seinen Traummantel findet. Heute zögere ich in solchen Momenten. Denn eine Frage beißt sich in meinem Kopf fest: Lohnt sich das?
Ich weiß nicht, an wie vielen warmen Frühlingstagen ich den Mantel tragen kann. Denn das hängt ziemlich eng mit der Frage zusammen, wie viele warme Frühlingstage ich noch erleben werde. Früher kam mir das Leben endlos vor. Jetzt nicht mehr. Die Jahre, die vor mir liegen, schnurren auf eine recht überschaubare Anzahl zusammen.
In einem Buch von François Lelord habe ich einmal einen schönen Vergleich gelesen: Ein Hund lebt etwa 15 Jahre. Wenn man jung ist, kann man den Eindruck haben, sein Leben noch mit vielen Hunden teilen zu können. Aber je älter man wird, desto kleiner und überschaubarer wird auch die Zahl der Hunde, die man bis zu seinem Tod noch besitzen könnte. Bei mir ist vielleicht ein Hundeleben übrig, mehr nicht. Und das muss ich auf die Frage anwenden, wie viele rote Mäntel ich mir kaufen kann. Oder sollte.
Ich ringe besonders mit mir, wenn es um Dinge geht, die nach meinem Tod offensichtlich in einen Müllcontainer oder in die Altkleidersammlung wandern werden. Bei anderen Sachen mache ich mir keine Gedanken. Mein iPad wird nach meinem Tod schon einen Abnehmer finden. Ich habe extra die neuere Version gekauft, sonst ist es veraltet, bis meine Enkel es erben. Handtaschen: freut sich schon jemand drüber. Schmuck: sowieso. Aber Kleidung? Ich bin viel kleiner als die anderen Frauen in meiner Familie, meinen Töchtern würde der rote Mantel vielleicht gerade über die Hüfte reichen.
Das Schlimme ist: Ich stolpere ständig über die Rote-Mantel-Problematik. Ich bin vor dem Tod meines Mannes in eine kleine Wohnung gezogen. Als ich neulich im Wohnzimmer gesaugt habe, fiel mir auf, dass einer der Teppiche viele Fransen zieht. Er ist handgeknüpft und hat eigentlich eine gute Qualität. Aber ich kann ihm die Fransen nicht verübeln, er ist fast so alt wie ich.
Wäre ich jung, wären mir die Fransen egal. Dann bekäme ich Besuch von anderen jungen Menschen, die nicht darauf achten, ob Teppiche Fäden verlieren. Meine Gäste sind aber meistens etwas älter und achten auf den Zustand von Auslegeware.
Ich hatte mein Schicksal fast akzeptiert: Dann muss ich eben für eine schnöde Sache wie einen Teppich noch mal Geld ausgeben. Aber mir kam eine viel bessere Idee. Ich drehte den Teppich einfach um. Die Seite mit den Fransen liegt jetzt unter dem Sofa, wo sie selbst der genaueste Besuch nicht findet. Und die andere Seite des Teppichs, die in den Raum ragt, sieht ordentlich aus.
Die Möbel und den Teppich zu verrücken, war anstrengend. Danach hatte ich eine Pause an der frischen Luft dringend notwendig. Ich lief in den Flur und schlüpfte in den roten Mantel, der dort auf mich wartete.
Ich habe beschlossen, dass in meinem Leben noch etwas Frühling da zu sein hat.
Über moderne Partnersuche
An meinem Esstisch saßen schon viele junge Männer. Erst die Freunde meiner Töchter, dann die meiner Enkelinnen. Sie waren alle nervös. Ich verstehe das. Vorstellungsbesuch bei der Familie, da wird die Stimme etwas brüchig. Ich habe ihnen immer Rote Grütze zum Nachtisch gemacht. Meine Art zu sagen: Ich beiße nicht.
Ich finde es gut, wie einfach man heute das Leben mit verschiedenen Partnern ausprobieren kann. Und dass es leichter ist, sich wieder zu trennen, falls es nicht passt.
Eine Sache befremdet mich aber an der modernen Partnersuche: Wieso geht es ständig um das Äußere? Eine meiner Enkelinnen lebt in München. Als ich sie das letzte Mal besuchte, zeigte sie mir auf ihrem Handy ein Programm namens »Tinder«, bei dem Bilder von Singles angezeigt werden. Wenn man den Mann mag, schiebt man ihn nach rechts, wenn nicht, nach links. Nur aufgrund des Äußeren.
Wenn ich in meinem doch recht langen Beziehungsleben eine Sache gelernt habe, dann: Es geht wirklich nicht ums Aussehen. Viele Menschen sind in jungen Jahren schön. Aber alle bekommen Falten und dritte Zähne. Anders ist es mit dem Humor: Wenn jemand als Teenager gute Witze erzählen kann, dann kann er das auch als Rentner. Selbst wenn man nur nach einem Partner für eine Nacht sucht: Auch die ist schöner, wenn man zusammen lachen kann. Sich auszuziehen hat ja ein gewisses Humorpotenzial.
Meine Enkelin meinte, dass es bei Tinder allerdings sehr schnell darum gehe, sich im echten Leben kennenzulernen und dann zu schauen, ob der Charakter passt. Da kann man dann probieren, ob man gemeinsam lachen kann – oder der Abend öde wird.
Ich lebte als Studentin Ende der fünfziger Jahre in einem winzigen Zimmer zur Untermiete in München-Schwabing. Und teilte es mir sogar mit einer Freundin. Herrenbesuch setzte also gute Absprachen voraus. Außerdem konnte man mit einem sicheren Auftritt unserer Vermieterin rechnen. Es gab damals den »Kuppel-Paragraphen«. Hätte meine Vermieterin erlaubt, dass wir als unverheiratete Frauen in ihrer Wohnung mit einem Mann intim geworden wären, hätte sie sich strafbar machen können. Muss man sich mal vorstellen. Hatte eine von uns einen Gast, hämmerte sie also pünktlich um 22 Uhr mit der Faust gegen die Tür und brüllte: »Tun Sie Ihren Herren raus.«
Mich mit Ulli, meinem späteren Ehemann, in privatem Rahmen zu treffen, war nicht leicht. Seine Vermieter waren ein wenig entspannter als meine, er durfte mich einige Male zum Essen nach Hause einladen. Er hatte nur eine einzige Kochplatte, machte darauf aber wundervolle Spaghetti bolognese, mit fein geschnittenen Karotten in der Sauce. Das hat mich nachhaltig beeindruckt. Ein guter Koch bleibt sein Leben lang ein guter Koch, das ist wie mit dem Humor.
Trotzdem hätte ich es schöner gefunden, das Liebesleben ungezwungener ausprobieren zu können. Ich bin so froh, dass sich die Zeiten geändert haben und Vermieter nicht mehr gegen die Tür hämmern. Denn auch wenn Filme wie »Casablanca« das suggerieren mögen: Dieses große, wilde Verliebtsein war in meiner Jugend einfach nicht möglich.
Und auch wenn ich noch viele Portionen Rote Grütze kochen muss: Ich schaue meinen Enkeln gerne dabei zu, wie sie nach dem Glück streben. Ich bin für mehr Casablanca im echten Leben.
Über die Schönheit von Falten
Ich kenne meine Falten sehr gut. Ich schaue sie jeden Morgen an, wenn ich ins Bad laufe. Wir haben eine gemeinsame Geschichte. Bei den meisten von ihnen kann ich sogar noch sagen, wann sie tiefer wurden und sich in meine Haut gegraben haben. Wie die Falten, die sich zwischen Augenwinkeln und Schläfen spannen. Die kamen mit Anfang 50. Eine für jede schlaflose Nacht, in der ich auf ein Enkelkind aufgepasst habe.
Älter zu werden, stellt einen auf die Probe. Es ist nicht so, dass man in den Spiegel schaut und schlagartig erkennt, dass man alt geworden ist. Aber die Müdigkeit schleicht sich in das Gesicht. Da kann man cremen und cremen – nichts wird dagegen helfen.
Früher haben mir Männer beim Vorbeigehen in die Augen geschaut und mit einem dünnen Lächeln angedeutet, dass ich ihnen aufgefallen bin. Heute bleibt kein Blick mehr an mir haften. Ich denke, für die meisten Menschen lande ich in der Schublade »alt«. Und in dieser Schublade gibt es keine Unterteilung wie »alt, gibt sich aber echt viel Mühe und ist ziemlich elegant«.
Ich bin eitel und war es immer. Als Schülerin fror ich lieber in Feinstrumpfhosen, als in kratzigen Wollstrümpfen zur Schule zu gehen. Für das Mittagessen gaben mir meine Eltern ein paar Münzen mit. Ich bestellte nur eine kleine Portion und sparte das Wechselgeld so lange, bis ich mir in der Drogerie einen roten Lippenstift kaufen konnte. Dass ich den niemals in der Schule hätte tragen dürfen, war mir egal. Es ging mir um das Lebensgefühl, einen roten Lippenstift zu besitzen.
Ich vermisse diese Gefühle. Morgens in den Spiegel zu schauen und von innen zu leuchten. Ein schönes Kleid zu tragen, durch die Straßen zu laufen und mich gut zu fühlen. Als junger Mensch ist es so leicht, zu strahlen.
Wenn ich morgens eine nüchterne Bestandsaufnahme mache, weiß ich: Die Haut hängt. Ich habe etwas, das man liebevoll als »Chicken Wings« bezeichnen kann. Das bedeutet, dass die Haut an meinen Armen schlaff von den Muskeln baumelt. Wie kleine Flügelchen. Selbst an meinem Hals ist die Haut ganz weich und faltig. Sagen wir so: Die Mode, große Schals zu tragen, kommt alten Frauen wirklich zugute. Und ich trage keine Oberteile mit kurzen Ärmeln mehr.
Abgesehen davon versuche ich, mich nicht gegen die Folgen des Alters zu stemmen, sondern sie mit Würde zu ertragen. Was ist denn auch die Alternative? Ich glaube nicht an Anti-Aging-Produkte. Das fängt schon damit an, dass sich diese Cremes an viel jüngere Frauen richten, die noch nicht zu viele Falten haben. Was soll ich denn da sagen? Verdampft diese Creme, wenn ich sie auf meine fast 80 Jahre alten Wangen schmiere?
Leichter wäre es gewesen, bei den Haaren nachzuhelfen und die ersten grauen Strähnen wegzufärben. Aber ich denke mir: Bei alten Menschen kapiert das doch jeder sofort. Das ist dann genauso unauffällig, wie wenn Männer Haarausfall vertuschen wollen und sich die verbliebenen Haare seitlich über die kahle Platte kämmen. In meinem Schwimmbad ist so einer. Wenn er ins Wasser springt, hat er plötzlich wieder eine Glatze und das Büschel Resthaare treibt neben ihm her.
Die einzig richtige Antwort auf den körperlichen Verfall ist also eine stoisch würdevolle Haltung. Und Dingen nicht zu entsagen, nur weil man sich unwohl fühlt. Ich gehe gerne schwimmen. Also ziehe ich mir auch weiterhin einen Badeanzug an. Chicken Wings hin oder her.
Und wenn ich morgens in den Spiegel schaue, habe ich einen Trick. Die meisten Falten habe ich, wenn ich unzufrieden schaue. Ich nenne diese Falten meine Angela-Merkel-Falten. Es gibt ein einfaches Gegenmittel: lächeln.
Über das Gefühl, wenn einem andere plötzlich die Welt erklären
Mein Mann kümmerte sich immer darum, wie unser Geld angelegt wurde. Nach seinem Tod musste ich zum ersten Mal zum Beratungstermin. Der Bankberater witterte wohl seine große Stunde. Er zog Kontoübersichten heraus, malte dramatische Pfeile darauf, klebte neonfarbene Post-its auf die Auszüge und erklärte mir, dass ich mein Geld ganz anders anlegen müsse. Ich kannte seinen Blick: Mit der armen, hilflosen Frau wird man gute Geschäfte machen können.
Ich habe eine Taktik für solche Situationen. Einfach nur nicken und lieb tun. Keine Entscheidung treffen. Sich alles ganz genau merken. Und dann im Nachhinein einen Bekannten um Rat fragen, der sich auskennt. In diesem Fall eine befreundete Finanzberaterin. Ich bin kein Mütterchen, das sich über den Tisch ziehen lässt.
Schlimm ist, dass ich in wirklich vielen Situationen auf Hilfe angewiesen bin. Als Mutter und Omi konnte ich lange Zeit anderen die Welt erklären. Warum der Himmel blau ist (Farbspektrum, Physik). Was man gegen Liebeskummer macht (klingt banal, hilft aber: ein rotes Kleid kaufen). Wie man das schlechte Gefühl vor Prüfungen bekämpft (heiße Schokolade).
Mein Mann und ich hatten in Erklärdingen eine gute Arbeitsteilung. Ich war für Gefühle und allgemeine Lebenstipps die bessere Ansprechpartnerin, er übernahm Bürokratie und Technik. Dann bekam mein Mann Alzheimer. Und ich saß auf dem Sofa und realisierte, dass ich verdammt noch mal nicht wusste, wie man eine Glühbirne wechselt. Und wo man überhaupt Glühbirnen kauft. Und wie man erkennt, wie groß die Fassung sein muss. Es war kein gutes Gefühl.
Ich will nicht hilflos sein. Ich will mich in der Welt auskennen. Auch weil ich das Gefühl habe, dass alles andere nur ein schleichender Tod ist.
Also versuchte ich, mir so schnell wie möglich zu erarbeiten, was bisher mein Mann abgedeckt hat. Ich kaufte mir ein iPad. Ich fuhr mit meiner Tochter in den Baumarkt. Nur in die Steuerunterlagen wollte ich mich nicht einarbeiten, die gab ich an einen Berater. Ich mag keine Zahlen. Und so viel Lebenszeit habe ich auch nicht mehr.
Damit ich all meine Wissenslücken stopfen konnte, musste ich aber viele Fragen stellen. Und es erzählt viel über die Menschen, wie sie darauf reagieren.
Wenn ich Fremde um Hilfe bitte, werde ich manchmal ernst genommen und bekomme einfach nur die Info, nach der ich gefragt habe. Oder die Leute schauen mich an, sehen meine Falten und verlangsamen ihr Sprechtempo. Dabei könnte man meinen, dass es keine Wissenschaft ist, mir zu sagen, ob sie die Wolle in der gesuchten Farbe im Laden vorrätig haben. Sonst bitte ich meine Tochter, sie mir im Internet zu bestellen.
Es fällt mir aber tatsächlich schwerer, Familie und Freunde um Hilfe zu bitten. Wenn ich auf dem Sofa sitze und über eine Sache grüble, gehe ich im Kopf durch, wen ich anrufen und fragen könnte. Bei den meisten Menschen fällt mir ein, dass sie sowieso schon ganz schön viel zu tun haben. Dann ihre Nummer zu wählen und die alte Frau zu sein, die anruft und sich Dinge erklären lassen muss, gefällt mir gar nicht gut. Ich will die alte Frau sein, die anruft und mit der man sich dann nett unterhält.
Deswegen bin ich der Technik dankbar. Für die meisten Fragen finde ich bei Google die Lösung. Und wenn ich eine Lösung gefunden habe, schreibe ich sie mir auf. So habe ich mir auch mein iPad erarbeitet: Ich habe mir die kleinen Symbole in ein Heft gemalt und jeweils dazu notiert, was sie können. Dann die Feinheiten: Wie man eine Mail verschickt. Wie man ein Foto aus dem Anhang einer Mail speichert. Dank meiner selbstgeschriebenen Anleitung weiß ich auch, wie ich meine Enkel mit Facetime anrufen kann, wenn ich sie vermisse. Es wird.
Über Bewegung im Alter
Ich schiebe meinen Hintern in die Luft und mache meine Beine lang. Ich merke, wie es leicht in meinen Waden zieht, genau, wie es sein soll. Ich konzentriere mich auf diese Stellen, spüre, wie sich mein Muskel langsam dehnt, und senke und hebe meine Fersen auf der Yogamatte, um den Effekt zu verstärken. Morgen werden sich die Muskeln in meinen Waden butterweich anfühlen. Eine herrliche Übung, dieser herabschauende Hund.
Ich mache seit mehr als 30 Jahren Yoga. Bei uns in der Region war ich eine der Ersten, die Yoga für sich entdeckten. Ich lebte damals mit meinem Mann auf dem Land und war neugierig, als ich hörte, dass es einen Kurs mit diesen indischen Übungen geben soll. Es war damals noch wahnsinnig exotisch, ein paar Leute fanden es sogar befremdlich. Aber meine Güte bin ich froh darüber, zu dem Kurs gegangen zu sein. Ich kann mir nichts vorstellen, was meinen Geist zuverlässiger entspannt. Und meinen Körper so stabilisiert.
Ich glaube nämlich, dass ich mich auch im Alltag besser bewege, weil ich Yoga mache. Denn ich bewege mich bewusster. Wenn ich mich bücken muss, achte ich beim Aufstehen darauf, meine Wirbel langsam aufzurichten – wie beim Yoga. Wenn ich in die Hocke gehe, um zum Beispiel die Handtücher in meine Kommode zu legen, strecke ich meinen Rücken gerade in die Höhe. Und wenn ich sitze sowieso, nichts läge mir ferner, als einen Buckel zu machen und meinen Rücken in Bananenform durchhängen zu lassen.
Überhaupt bin ich überzeugt, dass es im Alter zu einem großen Vorteil wird, wenn man sich in seinem Leben immer sportlich betätigt hat. Damit meine ich nicht, abgemagert zu sein und sich jeden Tag mit Sport an seine Grenzen zu bringen, sondern eine gemächliche, aber zähe Ausdauer. Dass man zeit seines Lebens größere Spaziergänge unternimmt, mal schwimmen geht, sich einfach immer bewegt und nicht an seinem Sofa festwächst. Weil diese Ausdauer und die Fähigkeit, seine Gemütlichkeit auch einmal zu überwinden, sich im Alter dann auszahlt, wenn selbst der Spaziergang in die Innenstadt etwas anstrengender wird.
Trotzdem spreche ich mich klar gegen eine Genussfeindlichkeit aus. Das Lebensglück hängt auch sehr davon ab, dass man sich selbst mit Liebe behandelt und sich Kuchen und Käse und Torte und sowieso alles gönnt, auf das man Lust hat. Und ich habe in meinem Leben schon so viele Sport- und Diättrends mitbekommen, dass ich mir sicher bin, dass Selbstliebe doch immer das Beste ist.
Dabei ging es in Deutschland zunächst langsam los mit den Fitnesstrends. Sport trieben lange Zeit vor allem die Schulkinder im Unterricht. In meiner Jugend auf dem Land kam niemand auf die Idee, in seiner Freizeit bewusst joggen zu gehen. Ich glaube, wenn jemand durch unser Dorf gerannt wäre, hätten immer wieder Dorfbewohner mit ihrem Auto angehalten und gefragt, ob sie die Person irgendwo hinfahren sollten. Später boomten bei uns in der Region erst die Tennis-, dann die Golfclubs, aber da ging es stärker um das soziale Miteinander, um die Feste und Treffen in den Clubs, als um körperliche Ertüchtigung. Sonst ging meine Familie wandern und fuhr im Winter zum Skifahren, viel mehr war da nicht. Der eigentliche Sportwahnsinn mit Aerobic-Kursen, Fitnessstudiomitgliedschaften und dem Ideal eines Körpers, bei dem einzelne Muskeln definiert sind, kam erst so richtig Anfang der achtziger Jahre in Schwung.
Trotzdem glaube ich, dass Frauen schon vor dem Fitnessboom in Deutschland genauso unter dem gesellschaftlich vorgeschriebenem Körperideal litten wie heute. Weil sie keinen oder wenig Sport trieben, hungerten sie noch mehr, um dem Schönheitsideal der klapperdürren Twiggy zu entsprechen, die als Swinging-Sixties-Ikone in Miniröcken in Illustrierten auftauchte. Selbst in meinem Freundeskreis auf dem Land hielten sich Frauen an die absurdesten Diäten. Die Frau eines Freundes aß tagelang nichts anderes als hartgekochte Eier zum Beispiel.
Ich mag Yoga gerade deswegen so gerne: Weil es genau das Gegenteil von solchen Methoden ist. Man achtet genau auf seinen Körper, behandelt ihn vorsichtig und behutsam wie einen guten Freund, nicht wie seinen ärgsten Feind, wie es manche Sport- oder Diätverbissene tun. Und diese Selbstliebe und Achtsamkeit, die Yoga in den Vordergrund stellt, unterstreicht den guten Effekt, den Sport im Alter insgesamt haben kann: Seinen Körper nicht verfallen zu lassen, sich selbst nicht aufzugeben, sondern zu spüren, wie viele kleine Bewegungen eigentlich noch funktionieren. Egal, ob es der herabschauende Hund oder ein kleiner Spaziergang ist.
Über Kondolenzbriefe
Ich mag es, die Geschichten von Bildern zu kennen. Denn häufig kann man die Bilder erst dann überhaupt verstehen. Im Museum Brandhorst in München hängt ein Bild des Malers Cy Twombly, das mir wegen seiner Geschichte sehr gut gefällt. Es heißt »Nini’s Painting« und gehört zu einer Reihe von Bildern, die Twombly malte, nachdem die Partnerin seines guten Freundes gestorben war.
Das Bild ist riesig und voller Schleifen, die eine Handschrift andeuten. Wirr durcheinander, in vielen Schichten. Wer die Geschichte des Bildes nicht kennt, sieht nur Gekrakel. Aber in meinen Augen beschreibt Twombly die Unmöglichkeit, bei Trauer die richtigen Worte zu finden. Das Bild ist wie ein Brief, eine Essenz all der Worte, die man erst auf einem Bogen Papier aufschreibt und dann wieder zerknüllt und wegschmeißt, weil Worte manchmal einfach nicht reichen. Ich glaube, es gibt kaum andere Werke, die die Sprachlosigkeit der Trauer für mich besser ausdrücken.
»Das hier ist kein guter Brief. Aber ich bin zu traurig, um einen guten Brief zu schreiben«, schrieb Ernest Hemingway einmal in einem Kondolenzbrief. Ich weiß genau, was er meint. Ich musste schon viele schreiben, aber zufrieden war ich nie damit. Dabei war die Trauer so groß. Wer älter wird, verliert auf dem Weg geliebte Menschen, gute Freunde und herzliche Bekannte. Der Verlust macht stumm. Er fühlt sich ungerecht und willkürlich an.
Aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man als Angehöriger in der Trauer so dankbar für ehrliche Worte der Anteilnahme ist. Ich fühlte mich wie in einem schwarzen Strudel, als ich meinen Mann Ulli verlor. Aber jeder Mensch, der mir glaubhaft machen konnte, wie sehr er Ulli geschätzt hatte, wie wichtig Ulli in seinem Leben gewesen war, wie gern er Ulli zugehört hatte, tröstete mich. Weil ich wusste, dass ich mit meiner Trauer nicht alleine war und Ulli viele Menschen berührt hatte. Dass er nicht vergessen wird, verschluckt von einer Welt, die sich immer weiterdreht, egal, was passiert.
Zu wissen, wie viel Worte bedeuten können, führt dazu, dass ich fast immer versuche, einen Kondolenzbrief zu verfassen. Aber es ist so schwierig, wie das Bild von Twombly andeutet. Wer es sich einfach machen will, könnte auf Phrasen ausweichen, aber das Problem ist: Diese Phrasen haben keine Wirkung. Sätze mit Bausteinen wie »Ich nehme Anteil«, »mein Beileid« oder dem noch schlimmeren »Melde dich, wenn du etwas brauchst« sind so beliebig, dass sie keinen Unterschied machen.
Also suche ich nach Worten, die ansatzweise ausdrücken, was mir der Verstorbene bedeutet hat. Bis ich mich bereit fühle, den Brief zu schreiben, entwerfe ich immer wieder einzelne Sätze auf Notizzetteln. Ich lege sie in ein Fach meines Sekretärs, bis mir die nächste gute Zeile einfällt. Briefe auf Schmierzetteln vorzubereiten, ist eine alte Tradition von mir. Weil mein Mann eine so elegante Schönschrift hatte, machten wir früher immer die Arbeitsteilung, dass ich Notizzettel mit passenden Worten anlieferte, die er dann in Schönschrift auf die Karten schrieb. Wie sehr ich ihn selbst in den kleinen Dingen vermisse.
Aber all die Satzentwürfe, die ich in meinem Sekretär sammle, zeigen auch, wie sprachlos Kummer macht. Umso dankbarer bin ich für all die Zeilen, die mir Menschen nach Ullis Tod geschickt haben. Ich habe sie damals gelesen, als die Trauer noch wie eine Wand zwischen mir und der Welt stand und alles dumpf und grau war. Ich habe die Karten und Briefe aufgehoben. Sie liegen mit den Friedhofsunterlagen in einer Schublade in einem Schrank im Gästezimmer. Ich habe sie zwar in der Nähe, muss sie aber nicht jeden Tag sehen. Ich glaube, das täte mir nicht gut.
Aber ich habe durch meine eigene Trauer noch etwas Wichtiges gelernt: Wenn man einmal wirklich keine Worte findet, weil der Schmerz zu groß ist, ist das nicht schlimm. Denn es gibt noch andere Faktoren, die einen nach dem Tod eines Angehörigen trösten. Ich war unendlich gerührt davon, wie viele Menschen zu Ullis Trauerfeier kamen. Allein ihre Anzahl zu sehen war Beleg dafür, dass ich nicht alleine war.
Deswegen gehe ich, wenn es irgendwie möglich ist, lieber zu der Beerdigung, als nur einen Kondolenzbrief zu schicken. Weil ich dann die Angehörigen umarmen kann und ihnen durch meine Anwesenheit zu verstehen gebe, dass wir in der Trauer vereint sind.
Ich kann mich noch genau an die Umarmungen nach Ullis Tod erinnern. Wie manche mich festhielten, ihr Brustkorb bebte und sie nur herausbrachten: »Ich vermisse ihn.« Drei Wörter. Aber sie sagen alles.
Über die Frage, welche Erziehungsregeln bei Enkeln gelten