Eine Familie will Meer
Delius Klasing Verlag
1.Auflage
© Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld
Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:
ISBN 978-3-667-10159-4 (Print)
ISBN 978-3-667-10217-1 (E-Book)
ISBN 978-3-667-10218-8 (E-Pub)
Lektorat: Birgit Radebold, Monika Hoheneck
Schutzumschlagsgestaltung: Buchholz.Graphiker, Hamburg
Fotos: Nathalie Müller und Michael Wnuk
Karten: inch3, Bielefeld
Satz: Axel Gerber
Datenkonventierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für
Verlagsservice, München
Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis
des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,
nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.
www.delius-klasing.de
Für unsere Familien
Prolog
Kapitel 1: Hitze, Großstadt und gemischte Gefühle
Kapitel 2: Die Wiedergewinnung der seglerischen Kraft
Kapitel 3: Weihnachten mit Pinguinen
Kapitel 4: Wildwasserbahn und Albatrosse
Kapitel 5: Wir runden Kap Hoorn
Kapitel 6: Altweibersommer im Beagle-Kanal
Kapitel 7: In die Wildnis
Kapitel 8: Ein schwerer Abschied
Kapitel 9: Eine neue Liebe
Kapitel 10: Karibische Träume
Kapitel 11: Schwein gehabt
Kapitel 12: Bushaltestellen für Langusten
Kapitel 13: In den Fängen des Nordatlantiks
Epilog
Danke
Es ist ein hartnäckiges Virus, diese chronische Sehnsucht nach dem Meer, nach der Weite, die Sehnsucht nicht alles genau planen zu können und jeden Tag in der Ungewissheit zu leben, was das Leben für uns bereithalten wird. In Deutschland war es für uns manchmal schwierig, diese Spontaneität zu erhalten, Verrücktes zu tun, auszubrechen. Man klingelt eben nicht einfach auf der zweiten Etage der Hausnummer 17 und sagt: »Hey, du, ich hab’ deine tolle Fensterdeko gesehen, ich habe Kuchen mitgebracht, hast du Kaffee?«
Fahrtensegler tun so was, sie bewaffnen sich mit einem Lächeln und klopfen an ein fremdes Boot, weil ihnen das Schiff gefällt oder weil der Käpt’n am Vorabend so schön Gitarre gespielt hat. Ein Grund findet sich immer. Zu Hause mussten wir nicht kanisterweise Trinkwasser herbeischleppen, aber dafür saßen wir in den fremden Ländern mit ein paar Frauen an einem kleinen Bach, um gemeinsam die Wäsche zu waschen, während wir lachend versuchten, uns mit Händen und Füßen zu verständigen.
Nichts ist für uns wohltuender als die geruhsame Langsamkeit eines segelnden Schiffes mit einem Ziel, das weit hinter dem Horizont liegt. Wir hatten schon einmal Blut geleckt: Die 39-Fuß-Stahlyacht IRON LADY war mehr als sechs Jahre lang unser Zuhause auf einer Reise von Holland über den Atlantik, durch den Panamakanal, über den Pazifik, den Indischen Ozean bis nach Südafrika. Unsere Kinder sind in Malaysia und Südafrika zur Welt gekommen. Doch mit dem zweiten Kind wurde es Zeit für eine Pause vom Vagabundenleben. Ich kehrte zurück in meinen Beruf als Ärztin, zurück in den OP. Michael widmete sich Lunatronic, seiner Firma für den Verkauf und die Installation von Kommunikationselektronik für Yachten. Wir schrieben ein Buch »Meer als ein Traum«, um die Erinnerung festzuhalten, und lebten vier Jahre lang ein relativ normales Leben in Düsseldorf. Doch immer war uns klar, wir wollen wieder los, wollen unsere Töchter mitnehmen auf eine zweite Reise, sobald sie alt genug sind, diese Erfahrung in ihrer Erinnerung speichern zu können. Vor allem Micha wurde der graue Alltag oft zu viel, immer wieder brach er aus, reiste nach Südafrika, um die IRON LADY vorzubereiten, segelte sie nach Südamerika, damit sie nicht festwuchs im Hafen. Wir sparten jeden Cent und setzten einen Stichtag, 6. September 2011, um erneut die Leinen zu lösen, unser Leben in ein paar Koffer zu packen und dem Alltag den Rücken zu kehren.
»Micha, ich glaube, wir haben ein Problem!«, stellt Nathalie mit leichter Panik in der Stimme fest, während ich ächzend den zweiten Koffer im Flughafen von Buenos Aires auf den Gepäckwagen wuchte.
»Welches denn, Schatz?«
»Die restlichen Koffer sind weg!«
»Ach Quatsch, warte mal ab, die kommen sicher noch. Was hast du eigentlich hier drin? Das Ding wiegt locker 50 Kilo.«
»Weiß ich nicht, vermutlich die Schulbücher, aber wir haben jetzt echt andere Sorgen. Das Band dreht sich bestimmt zum zehnten Mal mit demselben Gepäck, außer uns stehen nur noch drei Passagiere am Band. Das war’s. Da kommt nichts mehr. Fängt ja gut an.«
Ich sehe, wie es in Nathalies Gedanken rattert. Ich habe natürlich keine Ahnung, welche Koffer fehlen, geschweige denn, was der Inhalt dieser Koffer ist, aber Nathalies Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sind es existenziell notwendige Dinge. Wie verrückt muss man eigentlich sein, um sein gesamtes Hab und Gut in sieben Koffer zu packen und dann zu erwarten, dass Kind und Kegel, Ausrüstung und Klamotten gleichzeitig in Buenos Aires landen werden?
»Also, ich hab’ mal kurz nachgedacht«, reißt Nathalie mich aus meinen Gedanken. »In den Koffern, die durchgekommen sind, sind unsere Winterklamotten, das Ölzeug, die Schulbücher, der Adventskalender und die Ostereierfarben.«
»Ostereierfarben? Nathalie, du hast definitiv nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wir haben September!«
»Lach du nur, und irgendwann wirst du mir dankbar sein, dass ich an alles gedacht habe.«
»Können wir jetzt keine Ostereier färben?«, mischt sich Maya beunruhigt ein.
»Haben wir keine Klamotten? Was sollen wir denn anziehen?«, will Lena wissen.
»Genau da liegt das Problem. Kommt, wir gehen zum Lost-Luggage-Schalter!«
»Ich will aber auf die LADY.«
»Ich auch, ich bin müde. Haben wir auch unsere Zahnbürsten verloren, Mama?«
»Nein, da muss ich euch leider enttäuschen, in der schwarzen Tasche sind sogar acht Tuben Kinderzahnpasta!«
Meine Frau! Augenrollend schiebe ich den Wagen mit den beiden Koffern Richtung Serviceschalter, 13 Stunden Flug sind auch an mir nicht spurlos vorübergegangen. Nathalie diskutiert, beschreibt Koffer, kramt in ihrem Gedächtnis nach spanischem Wortschatz. Lange lag er brach. Irgendwann wedelt sie mit drei Plastikkarten mit VISA-Logo vor meinen Augen und zieht die Familie Richtung Ausgang.
»Unser Gepäck ist in London, kommt morgen, sagen sie, oder übermorgen, mañana eben. Wird alles direkt zum Schiff gebracht. Für den Übergang haben wir drei Gutscheine à 35 Euro bekommen, nicht schlecht oder?«
»Weißt du, was mir gerade klar geworden ist? Dass wir jetzt nicht mit Auswanderungsgepäck durch den Zoll müssen. Du kennst doch die Bestimmungen hier, die ganze Elektronik ist in den fehlenden Koffern, oder?«, freue ich mich.
»Recht hast du«, lacht Nathalie, »womit sich mal wieder bestätigt, dass alles Elend auch zu etwas gut ist.«
Unsere IRON LADY wartet im Segelclub C.U.B.A. auf uns: Club Universitarío de Buenos Aires. Sehr privat, gehobenes Publikum. Vor einigen Wochen hatte ich in Uruguay durch Zufall ein paar Mitglieder kennengelernt, die mich eingeladen haben, unser Schiff in diesem Club sicher liegen zu lassen, bis ich mit der ganzen Familie wieder an Bord zurückgekehrt bin. In Südamerika ist es eben immer wichtig, jemanden zu kennen oder mit jemandem verwandt zu sein oder jemanden zu kennen, der mit jemandem verwandt ist. Aldo, Oscar und Guillermo gehören in irgendeine dieser Kategorien und haben mir die Tore zu Romiras Herz geöffnet. Denn Romira ist die gute Seele des Clubs. Sie hat Haare auf den Zähnen, wenn es darum geht, ungeladene Gäste wegzuschicken, und ist ein Engel, wenn man das Passwort kennt. Der Yachtclub in der Nähe des Fußballstadions El Monumental des Clubs River Plate beherbergt etwa 600 Yachten argentinischer Eigner. Fußball gespielt wird dort derzeit nicht mit Publikum, man munkelt, es sei zu häufig zu Ausschreitungen gekommen. Aber bei entsprechender Windrichtung kann man Ricky Martin, Madonna und andere Stars hören, die hier ihre Open-Air-Konzerte veranstalten.
Die Yachtbesitzer kommen alle nur am Wochenende. Einen super Travellift gibt es, einen Kinderspielplatz und viel Grün, es ist außerdem der optimale Ort, um der LADY mal wieder giftige Farbe auf den Bauch zu streichen und sie für den Trip nach Süden vorzubereiten. Für all diese Annehmlichkeiten zeigte ich den Zettel mit dem Zauberwort vor: den Namen der Yachten meiner Freunde. Romira schwenkte vom förmlichen Sie zum Du, sie lächelte sogar, und ich durfte meinen Antrag auf Gastfreundschaft zu Papier bringen. Der Preis war zufriedenstellend, und so begann sie hier, unsere Reise um Südamerika, in C.U.B.A.
Erschlagen von Großstadtlärm, Transport und langer Reise lassen wir unsere beiden Koffer in die Seekoje fallen, die Kinder okkupieren ihre Kabine, räumen unter lautem Gekreische mit unverhohlener Wiedersehensfreude längst vergessene Schätze aus den Schränken.
Die LADY liegt friedlich an ihrem Platz, aber sie zupft schon an den Festmachern: »Hey, wollen wir los? Wo soll es hingehen? Schön, dass ihr nun alle wieder an Bord seid!«
Doch so schnell wird es leider nicht gehen. Statt Leinen los heißt es zunächst: Travellift in Betrieb setzen. Das Antifouling muss erneuert werden, ein paar Reparaturen sind zu machen. Im Stadtteil Belgrano, in der Nähe des Yachtclubs, suchen wir uns ein Apartment. Was soll ich sagen? Die Miete hatten wir uns etwas günstiger vorgestellt. Doch bei Temperaturen um die 30 °C auf der engen LADY zu leben und gleichzeitig am Boot zu arbeiten, das ging nur früher, als wir noch keine Kinder hatten. Heute muss zusätzlich am Morgen der Unterricht laufen, und das alles zusammen ist unmöglich. Für die Mädchen ist das Leben an Bord wie Neuland. Maya kann sich an ihre Zeit auf der LADY nicht mehr erinnern, Lena hat nur als Säugling auf dem Segelboot gelebt. Die sorgenvolle Mutter will ihre Kinder vor den giftigen Ausdünstungen der Epoxy- und Unterwasserfarben schützen, die Leitern sind zu hoch, die Kabel auf der Werft zu schlampig verlegt. Hier ist es wunderschön, aber auch sehr südamerikanisch. Die Straßen in Buenos Aires mit den Kindern zu passieren ist beschwerlich, das holprige Pflaster nicht für Roller geeignet. Viel zu oft müssen wir den Weg von der Marina zur Wohnung mit dem Taxi zurücklegen, unser Erspartes rinnt zu Beginn unserer Reise nur so durch die Finger. Die Marina selbst ist nett, aber die Lage wirklich schlimm. Nathalie ist komplett genervt, und ich ahne, am liebsten würde sie sich in den Flieger setzen und wieder nach Deutschland zurückfliegen. Ohne Kinder wäre alles einfacher, und das wissen Nathalie und ich ganz genau. Wir würden tagsüber am Boot arbeiten und jeden Abend unterwegs sein, eine Milonga, ein Tango-Lokal, nach der anderen kennenlernen und tanzen, was das Zeug hält. Nun sind wir aber jeden Abend zu Hause und hüten unsere Kleinen, tanzen Tango nur im sechs Quadratmeter großen Wohnzimmer. Nicht gerade romantisch. Tagsüber trägt meine Capitana ihren weißen Arztkittel nicht mehr, operiert nicht hoch gelobt und belohnt mit einem anständigen Gehalt, sondern sitzt in dieser kleinen Wohnung in einer fremden Stadt mit zwei Kindern, ohne ein Schwein zu kennen. Die endlosen Weiten des südatlantischen Ozeans sind noch so weit weg wie die heimatliche Sicherheit. Ich mache mir Sorgen. Ob das gut gehen wird?
Den Bauch der LADY bearbeitet Luis. Luis ist ein erfahrener Maler aus Bolivien, der schon seit Ewigkeiten auf der Werft des C.U.B.A.-Yachtclubs arbeitet. Er ist freier Unternehmer. Luis nimmt seinen Job sehr ernst und gewissenhaft wahr. Doch nach einem Tag sehe ich schon, dass wir, wie sollte es anders sein, bestimmt nicht mit einer Woche in der Werft auskommen werden. Für mich bleibt trotzdem genug zu tun. Da ist ein wirklich minimales Rostproblemchen am Heck, ich muss endlich die erneuerten Fallen einziehen, den Bugspriet reparieren und jede Menge organisieren.
Nathalie fängt mit den Mädchen zusammen an, die Achterkabine auf der LADY zu renovieren. Sie hat die bunten Farben mit den Kindern ausgesucht. Maya und Lena bekommen Schleifpapier in die Hand gedrückt und lernen, die lange Leiter aufs Schiff hoch- und runterzuklettern. Langsam kehren Routine und Vertrauen ein. Nur unser Abtransport am Abend funktioniert noch nicht so richtig. Eine gute Stunde warten wir auf ein Remis, eine Art privates Taxi. Im »River Plate« ist ein Fußballspiel: Chaos. Diese Stadt ist der Wahnsinn. Ich fange an, Nathalie wieder richtig zu lieben und zu bewundern. Sie hat bereits ihre unvergleichbare Gelassenheit wiedergefunden, die unsere Segelei über Jahre so angenehm machte. Und so sitzt sie jetzt auf dem Grünstreifen am Eingang zum Yachtclub und regt sich kein Stück darüber auf, dass kein Taxi kommt. In den ersten Tagen ist sie noch kurz vorm Nervenzusammenbruch gewesen, wenn alles mal wieder südamerikanisch danebenging. Dann war sie plötzlich von einem auf den anderen Tag tiefenentschleunigter als ich. Love you!
Mitten in die aufreibende Anfangszeit fällt Mayas erster Schultag. Schultüte, Fotos an Deck, dann werden die Unbeteiligten, sprich: Micha und Lena, von Bord gejagt. Am ersten Tag wollen wir unter uns sein. Wir beschriften Hefte und Ordner, machen ein paar Sprachübungen zum Thema Silben, malen die 1 mit Wachsmalstiften und sprechen ganz ernsthaft über unsere pädagogischen Erwartungen an den Unterricht an Bord. Ich will ja alles richtig machen. Habe mich im Vorfeld schlau gemacht, in Grundschulen hospitiert, in Lehrerforen gelesen und zu jedem Buch den Lehrerband gleich dazu bestellt. Mit Sinn und Verstand will ich den Unterricht gestalten und mit System. Meine Eltern waren beide Lehrer, meine Schwester ist Erzieherin, bei so viel familiärer Profipädagogik kann ja auch ich nicht zu kurz gekommen sein.
Maya unterbricht meine Ausführungen mit einer simplen Frage: »Mama, gibt es eigentlich auch Pausen wie in der echten Schule?«
Da muss ich wohl noch an meinem System arbeiten, trotzdem überleben wir beide den ersten Schultag gut gelaunt und ohne Streit, kein Wunder, denn zur Feier des Tages winkt ein fürstliches Mahl. Ein Steak soll es sein, wünscht das frisch gebackene Schulkind. Kein Problem, schließlich sind wir in Argentinien, dem Land der Gauchos und Rinder. Endlich kommen wir mal raus aus unserem Marina-Ghetto. Vor der Uni steigen wir in den Bus, bald sehen wir den Río de la Plata, den Silberfluss. Vom Meer sind wir einen ganzen Tagestörn entfernt, doch der Fluss ist so breit und an manchen Tagen so blau, dass man die Weite ahnen kann. Zehn Minuten später sind wir am Retiro, dem zentralen Busbahnhof von Buenos Aires. Armut und Reichtum liegen hier dicht beieinander. Hinter dem Bahnhof liegt eine villa miseria, eines der vielen Elendsviertel, die dadurch entstehen, dass brachliegende Grundstücke besiedelt werden, erst mit Wellblechhütten und Zelten, dann wird gebaut, ein Stockwerk notdürftig über das andere gesetzt, Türen und Fenster werden improvisiert, chaotische Stromleitungen versorgen die Einwohner mit Elektrizität. In der anderen Richtung beginnen die Einkaufsstraßen, weiter unten am Flussufer in Puerto Madero befinden sich die Marina, die schicken Restaurants und Cafés. Man kann über weitläufige Promenaden mit gepflegten Grünflächen flanieren. Die Porteños in Maßanzügen schlürfen an ihrem coffee to go. Ich könnte ewig durch die Straßen laufen, um all die Kontraste zwischen Arm und Reich, Alt und Neu, Licht und Dunkel zu entdecken, doch verständlicherweise meutert ein nicht unerheblicher Teil der Familie und zieht es vor, nach dem Steakgenuss das Museumsschiff URUGUAY zu entern.
Die Arbeiten an der LADY sind natürlich nicht in einer Woche fertig, es werden zwei Wochen daraus. Die untere Messingbuchse des Ruders muss ersetzt werden. Das Unterwasserschiff wird mit neuem Primer und Antifouling gestrichen. An Deck sind diverse Lackarbeiten vorzunehmen, und die Achterkoje ist für die Kinder herzurichten. Eine Maßnahme zur Optimierung der LADY für die südlichen Breiten aber ist so unsäglich, dass ich mich kaum traue, davon zu erzählen. An die 50.000 Seemeilen hat die alte Dame abgesegelt, 25 Jahre hat sie auf dem Buckel. Da bleibt der Rost nicht aus. In Südafrika habe ich vor drei Jahren großflächig Platten aus dem Bug ausgeschnitten und neue einschweißen lassen. Für eine solche Maßnahme haben wir jetzt weder Zeit noch Handwerker. Ich befürchte die schlimmste Meuterei, sollte ich jetzt dem Rost mit der Flex zu Leibe rücken wollen.
»An eurer Stelle würde ich einfach Zement reingießen, dann habt ihr erst mal Ruhe, bis ihr die Arbeiten professionell erledigen lassen könnt«, hatte ich Siggi und Jürgen von der PETIT PRINCE vor Jahren geraten, als diese ein Leck im Bereich ihres Cockpits hatten. Dass sie viele Jahre später mit ihrem Schiff wieder in Deutschland an der Eider angekommen sind, spricht für das Funktionieren des Plans.
Warum also nicht auch die LADY so präparieren? Ein bisschen mulmig ist mir zwar, aber nachdem der Zement in unserer vorher angeschliffenen Bilge ausgehärtet und mit Zweikomponentenfarbe überstrichen ist, fühle ich mich schon viel wohler. Zwischen Farbtöpfen und Schleifpapier führe ich meine Firma Lunatronic in Düsseldorf via Internet und E-Mail weiter, den Umsatz brauchen wir. Wir haben zwar die Erlöse unseres ersten Buches »Meer als ein Traum« für diese Reise gespart, trotzdem ist unsere Reise ohne die Einkünfte der Firma gar nicht vorstellbar. Während ich Luis das Unterwasserschiff abkratzen lasse, kann ich am Computer sitzen und ungleich mehr Geld verdienen, als ich ausgebe. Eine einfache Rechnung. Spätabends, wenn die Kinder im Bett sind, trinken Nathalie und ich meist noch eine Flasche Rotwein und besprechen, was am Tag passiert ist, unsere Sorgen, unsere Ängste.
»Hast du eigentlich Schiss vor dem Trip nach Feuerland, Nathalie?«
»Na klar und ob. Du nicht?«, kommt die ehrliche Antwort.
»Hättest du ein Problem damit, von Fidschi nach Neuseeland zu segeln?«, frage ich.
»Nein, natürlich nicht. Die Strecke sind wir doch schon gesegelt.«
Genau so ist es. Vor uns aber liegt auch Neuland, neues Wasser, neues Meer. Eine See, die wir nicht kennen.
Am Wochenende ist Arbeitsstopp. Luis ist katholisch und geht in die Kirche. Wir fahren nach San Isidro, einen wohlhabenden Vorort von Buenos Aires. Im Yachtclub haben wir den einflussreichen und deutschstämmigen Segler Jens oder Juan Diego, wie ihn die Argentinier nennen, kennengelernt. Als Vater von vier Kindern und Opa von fünf Enkeln weiß er genau, was wir als Erholung von unserem Werftchaos brauchen.
Bei den Kindern macht er sich mit Kuchen und Geschenken beliebt, wir werden durch die Gegend kutschiert, dürfen unsere Wäsche abladen und werden am Wochenende ganz selbstverständlich in die deutschsprachige Familie aufgenommen. Der ehemalige Wirtschaftsprüfer hat seinen Ruhestand der Deutschen Wohltätigkeitsgesellschaft gewidmet. Unermüdlich nutzt er seine Kontakte, um Projekte wie Altenheime und Waisenhäuser zu unterstützen. Im Yachtclub liegt sein Schiff MORROCOY, und wenn er einmal im Jahr mit seiner Ehefrau Thea über den Río de la Plata nach Uruguay segelt, träumt er immer ein kleines bisschen davon, eines Tages weiterzufahren, raus aus dem Fluss und rein in die große Welt. Der Familienvater weiß, dass es ein Traum bleiben wird, dass sein selbst gewählter Platz in Buenos Aires bei seiner Großfamilie ist. Da in seinem Haus sowieso schon so viel Trubel herrscht, kommt es auf uns wohl auch nicht an.
»Ich höre so gern eure Geschichten, jeden Tag lesen Thea und ich in eurem Blog zusammen von euren Erlebnissen. Für uns ist das fast genauso schön, wie selber zu reisen«, erklärt er uns, während die Mate-Tasse die Runde macht.
Mate gehört zum argentinischen Leben wie Schwarzbrot oder Bier zu Deutschland. Doch Mate zu trinken ist nicht nur eine Gewohnheit wie Kaffee oder Tee zu trinken. Es ist ein Ritual. Das fängt an mit der Mate, dem Gefäß, aus dem das Getränk genossen wird. Ursprünglich aus einer Kürbisfrucht geschnitzt, wird es heutzutage aus Holz oder Metall hergestellt. Vor der Erstbenutzung sollte man seine Mate mit gutem Whisky ausspülen, das zumindest ist Jens Meinung. Dann wird die Tasse halb mit klein gehäkselter und getrockneter Yerba-Mate, einem Kraut aus der Familie der Stechpalmen, gefüllt und leicht geneigt. In die so entstehende Mulde hält man die Bombilla, eine Art Strohhalm aus Metall mit Sieb am Ende, welches das Ansaugen von Teepartikeln verhindert. Vorsichtig wird anschließend Wasser, nicht heißer als 85 °C, nicht kälter als 70 °C eingefüllt. Der Cebador, der Zubereiter des Aufgusses, trinkt als Erster. Dann geht die Tasse reihum. Wasser nachgießen, trinken, zurückgeben, nachgießen, trinken, zurückgeben. Immer wieder, bis die Blätter ausgelaugt sind. Die Methoden, wie die Bombilla in der Mate-Tasse gedreht, gedrückt und bewegt wird, sodass auch das letzte Körnchen Tee genutzt werden kann, sind höchst kompliziert und für Europäer kaum in wenigen Wochen zu erlernen. Die Argentinier sind verrückt nach Mate, selten wird man unter Freunden eine Tasse Kaffee angeboten bekommen. Und da die Argentinier auch zu jedem Ausflug ihr Set aus Thermoskanne, Tasse, Bombilla und Yerba mitnehmen, gibt es überall in der Stadt Automaten, aus denen heißes Wasser zu haben ist. Exakt temperiert versteht sich. Bei Jens aber gibt es außer Mate auch Kaffee zum Kuchen am Nachmittag, was mir sehr entgegenkommt. Ich mag Mate, Micha auch, aber mit dem Mate ist es wie mit dem Landwein aus der Bodega in Spanien oder dem landestypischen Eintopf auf den Kapverden: Er schmeckt nur dort, wo er zu Hause ist, richtig gut.
In den nächsten Tagen hält der Frühling Einzug in Buenos Aires. Zum ersten Mal seit unserer Abreise aus Deutschland wird uns bewusst, dass wir mit dem Sprung auf die Südhalbkugel unsere ganze Zeitrechnung auf den Kopf gestellt haben. Es fühlt sich an, als habe jemand unseren Reset-Knopf gedrückt. Fastbackward und zurück auf Anfang. Gerade sind wir dem Herbst entkommen, und nun blühen in den Straßen die Bäume in den prächtigsten Farben, im Yachtclub sitzen die Mitglieder in karierte Decken eingemummelt auf der Veranda, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen, und der ein oder andere wagt sich gar ohne Schal und Mütze aus dem Haus. Wir laufen schon seit unserer Ankunft im T-Shirt herum, Theo dagegen trägt noch Wintermontur. Theo ist auch ein Bootskind und lebt zusammen mit seinen Eltern Jutta und Osvaldo auf der SY POLARWIND, die im Club Barlovento liegt. Dieser Club ist in Buenos Aires der einzige, der ausländische Yachten für längere Zeit zu bezahlbaren Preisen aufnimmt. Jens sagt, das läge an ungeklärten Besitzverhältnissen, der Damm zwischen dem Club und dem Río de la Plata wäre heiß umkämpft, denn sowohl der Club als auch die Stadt beanspruchten jeder den schmalen Streifen Land für sich. Die Clubmitglieder, die ihre Liegeplätze kaufen müssen, investieren natürlich nicht, wenn ihnen alles eventuell in absehbarer Zeit wieder aberkannt werden könnte, und so macht der Club das Beste aus der Situation und lädt die internationalen Gäste mit Yacht zu sich ein. Jutta und Osvaldo haben hier überwintert; sie sind auf dem Weg nach Patagonien, um dort mithilfe der POLARWIND ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Theo geht in den Kindergarten und spricht Spanisch, sehr zum Leidwesen seines chilenischen Vaters mit argentinischem Akzent. Er mag Asados, Schiffe, seine Kapitänsmütze und Maya und Lena. Das beruht auf Gegenseitigkeit, auch wenn Theo mit seinen drei Jahren eher als kleiner Bruder, denn als gleichrangiger Spielkamerad rangiert. Doch auf Booten zählen solche Unterschiede nicht viel, wichtiger sind die Gemeinsamkeiten als Grundlage jener Freundschaften, die das Fahrtenseglerleben so reizvoll machen. Unser Heimweh und alle Unsicherheit, die in den letzten Tagen vorherrschten, sind wie weggeblasen, Hier treffen wir Menschen, die genauso sind wie wir. Die nicht fragen, ob wir alles schaffen werden, was wir uns vorgenommen haben, und wie wir das hinkriegen können. Theo klettert ganz selbstverständlich den Niedergang runter und vergisst nie, dass das Cockpit der sicherste Platz im Boot ist. Sein Kinderzimmer ist klein, seine Spielzeugauswahl begrenzt.
Auf dem Nachhauseweg bekommen wir die Quittung für unseren Sonntagsausflug: »Mama, warum liegen wir nicht in Barlovento?«
»Ich will auch lieber dort liegen«, fällt Maya ein. »Sind die Lancias nicht toll, Papa? Da musst du gar nicht das Dinghi ins Wasser lassen, sondern kannst dich immer von den Wassertaxis abholen lassen. Bitte, da ist es viel schöner.«
Ich brauche gar nichts zu sagen, Maya weiß, dass ich am liebsten morgen den Liegeplatz wechseln würde, raus aus unserer einsamen Marina in der Einflugschneise des nationalen Flughafens.
»Wir verlegen bald, aber noch hat die Sache einen kleinen Haken, oder?«
Maya kichert: »Ja, erst muss die LADY ins Wasser zurück, sonst geht das nicht.«
Jeder Werftaufenthalt hat ein Ende, und kaum hat der Kiel der LADY das Wasser berührt, scharren wir mit den Hufen, um endlich loszusegeln. Die To-do-Liste ist lange noch nicht abgearbeitet, aber zur Hebung der allgemeinen Stimmung an Bord ist Tapetenwechsel angezeigt. Unser Ziel ist das malerische Colonia del Sacramento in Uruguay auf der anderen Seite des Río de la Plata, kaum einen Tagestörn entfernt. Mehr motorend als segelnd schiebt sich die LADY durch das graue Wasser. Ganz unrecht ist uns die Flaute nicht, denn schließlich ist es der erste Törn für die Kinder, da darf es gern etwas ruhiger zugehen. Maya fühlt sich pudelwohl, der Lese-Rechnen-Unterricht ist ausgefallen, dafür lernt sie Navigation, Seezeichen, Logbuch schreiben, Gastlandflagge hissen und Vorfahrtsregeln auf hoher See. Lena beschäftigt sich schon bald mit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens und schreibt, nein, malt ihren Wunschzettel für den Nikolaus. Am späten Nachmittag erreichen wir das kleine Hafenbecken und nehmen eine der Murings auf.
»Papa, ich will jetzt angeln. Dort auf der Mole angeln die auch!«
In der Hoffnung, dass sie für Stunden beschäftigt sein werden, bastele ich zwei Angeln aus Stöcken, Schnur und einem Haken.
Doch kaum bin ich wieder unter Deck, tönt es von oben: »Papa. Ich hab einen. Hilf mir, ich schaff’ es nicht, den rauszuziehen.«
»Papa, ich hab‘ auch einen, guck mal, wie der zieht!«
Innerhalb von 20 Minuten fangen Maya und Lena drei Catfishs, eine gut schmeckende Welsart, und sichern so das Abendessen. In der Nacht erleben wir unseren ersten Sturm mit 30 Knoten Wind.
»Gut, dass wir nicht vor Anker gegangen sind«, bemerke ich erleichtert.
Die LADY tanzt an der Muring, ein anderes Boot reißt sich los und landet an der Pier. Erst am nächsten Morgen sehen wir das Ausmaß der Schäden. Das ganze Heck des GFK-Bootes ist zerfetzt. Das hätte auch uns treffen können. In Colonia ist uns das Wetter noch nicht wieder ruhig genug, daher verlegen wir ein paar Meilen östlich in den kleinen Fluss Riachuelo. Ein Steg, ein paar nette Beamte und während der Woche ein kleines Paradies. Am Wochenende, insbesondere im Hochsommer, fallen hier die Segler aus Buenos Aires ein, liegen päckchenweise vor dem Ufer, sodass man das Wasser vor lauter Booten kaum sieht. Doch heute sind wir alleine hier, es ist noch früh im Jahr. Die Hafenmeisterin ist gerade nicht da, Mate-Pause. Das kann dauern, das wissen wir mittlerweile. In Uruguay läuft das Leben extrem entspannt ab. Niemand scheint es eilig zu haben, der richtige Moment für einen Mate ist eigentlich immer. Daher tragen auch alle Uruguayer ständig eine Thermoskanne mit heißem Wasser mit sich herum. Jung und Alt, Männer, Frauen, Anwälte, Handwerker, Studenten.
»Ach komm, lass uns noch einen Matecito trinken.«
Nach den anstrengenden Wochen ist das genau die Atmosphäre, die wir brauchen, um zu uns selbst zu finden, um als Familie an Bord einen Rhythmus zu entwickeln. Das Gelände erinnert an Spanien mit seinen Fincas. Ein glasklarer See, umfasst von pittoresken Felsen lädt zum Schwimmen im eiskalten Wasser ein, mit den Kindern wandern wir stundenlang durch menschenleere und verwunschene Wege bis zum einsamen Sandstrand am Río de la Plata, begleitet vom Hund der Capitana, den die Mädchen am liebsten mit an Bord nehmen würden. Wir bleiben nicht lange allein. Ein deutsches Boot kommt eines Morgens den Riachuelo hinaufgetuckert. Eine Bavaria.
»Ob die mit ihrem Schiff auch nach Patagonien wollen?«, wundert sich Nathalie.
»Kann ich mir kaum vorstellen. Ich würde mich das nicht trauen, habe ja schon mit unserer IRON LADY genug Respekt vor dem Revier.«
Es stellt sich heraus, dass Charly und Lisa Bohnen von der BOMIKA tatsächlich denselben Weg haben wie wir. Chile ist Lisas Traumland.
Viele Jahre lang konnte die Schreibwarenfachverkäuferin sich nur über die Fotodrucke in den Kalendern in die Ferne träumen, seit ein paar Jahren sind sie unterwegs, Bohnen mit Katzen, denn zwei Pelztiger sind immer mit von der Partie.
Wir könnten ewig hier im Fluss bleiben und das Leben in Zeitlupe an uns vorbeiziehen lassen. Doch wir sind ein paar Meilen weiter flussaufwärts in Carmelo mit Marcia verabredet. Die 26-jährige Brasilianerin wollte eigentlich im letzten Jahr als Au-pair zu uns nach Düsseldorf kommen, aber es gab Probleme mit ihrem deutschen Pass. Deutscher Pass? Ja, genau: deutscher Pass. Denn Marcia spricht zwar kein Deutsch, hat aber einen deutschen Vater. Da sie jetzt gerade auf ihre Ausbildungsstelle zur Flugbegleiterin wartet und schon als Kind mit ihrem Vater gerne auf dessen Boot war, hat sie beschlossen, ein Stück auf der LADY mitzusegeln. Au-pair auf dem Schiff.
»Aber, Marcia, wir können dir nichts zahlen, die Zeiten mit festem Job sind vorbei. Mehr als Kost und Logis können wir dir nicht anbieten«, hatten wir sie gewarnt.
»Ich habe Geld, keine Sorge. Ich nehme den nächsten Bus! Es gibt eine gute Verbindung von meiner Heimatstadt Puerto Alegre nach Uruguay«, erwiderte sie entschlossen.
Zwischen Carmelo und uns liegen 60 Seemeilen. Von Windstille in den nächsten Tagen keine Spur, Zeit für unseren ersten echten Segeltörn als Familie. Um als segelbegeisterter Skipper mit Frau und kleinen Kindern auf Langfahrt zu gehen, muss man einen unendlichen Ehrgeiz an den Tag legen. Ich glaube, das Schwierigste für jeden segelnden Mann ist, die richtige Gefährtin zu finden.
Vorbereitung ist alles, das gilt umso mehr, wenn Kinder an Bord sind. Wenn es erst ordentlich schaukelt und das erste Kind auf dem Schoß sitzt, ist keine Zeit mehr, sich um klapperndes Geschirr und fliegende Telefone zu kümmern. Bisher hat alles gut geklappt, die Kinder hatten Spaß am Motoren, am Ankern, an den Manövern, am Damenbrisesegeln, und sogar der Starkwind an der Muring hat sie nicht nachhaltig beeindruckt. So soll es bleiben. Penibel klaren wir die LADY auf, stecken die Kinder in Segelklamotten, Schwimmwesten und Sorgleinen. Dann heißt es Anker auf. Kaum haben wir die schützende Einfahrt vom Riachuelo verlassen, baut sich die Welle auf, der Wind kommt genau von hinten, die ersten Meilen bis zur Landspitze laufen wir unter Topp und Takel. Maya macht auf »alte Häsin«, Lena kriegt Schiss, ich kann’s verstehen. Von hinten rollen die Zwei-Meter-Wellen heran, schieben das Heck in die Höhe, lassen die LADY wieder in ein Tal schlingern. Alles nichts Wildes, perfektes Raumschotsegelwetter für uns. Dennoch. Lena sitzt auf meinem Schoß, klammert sich fest und beobachtet ängstlich jede Welle. Wir spielen Waschmaschine, Schaukel, Kirmes. Auch Maya unternimmt jeden möglichen Versuch, Lena die Angst zu nehmen, und es geht auf. Meile um Meile verschwindet die Angst, wird vom Vertrauen in uns und das Schiff verdrängt.
Die LADY rauscht mittlerweile unter einem Fetzen Genua mit sechs Knoten durchs Wasser, wovon leider aufgrund der Strömung nur vier übrig bleiben. Ich schmeiße eine Runde Gummibärchen, von deren Anwesenheit an Bord weder Micha noch die Kinder gewusst haben, und erzeuge damit strahlende Gesichter. Kurz vor Colonia stehen Maya und Lena im Cockpit, üben Geradestehen bei Seegang und grölen aus vollem Halse Piratenlieder.
Uns fällt ein Stein vom Herzen. Wieder eine Hürde geschafft und eine Lektion bestätigt: Vorbereitung ist alles, vom Frühstück bis zur Kleidung. Das könnten wir uns glatt aufs Kopfkissen sticken.
Für mich war dieser erste Segeltag mit gemischten Gefühlen belegt. Wie schnell hätte Lena für immer und ewig mit Seekrankheit geschlagen sein können. Ich hatte Angst davor, denn ich weiß, wenn es den Kindern nicht gut geht, wird Nathalie bei der Reise, die wir vorhaben, nicht mitmachen. Das normale Leben in Deutschland mit Kindergarten, Grundschule, Au-pair, Kinderspielplatz, Oma und Opa, Freundschaften mit anderen Kindern im gleichen Alter, Supermarkt, Auto vor der Tür und all den anderen Annehmlichkeiten ist einfacher und angenehmer als so ein umständlicher, schräger und wackeliger Alltag an Bord. Von den Frauen, die bereit sind, auf jeden Komfort zu verzichten und gleichzeitig ihre Kleinen aufzuziehen, gibt es nur eine Handvoll. Eine davon ist Nathalie. Männliche Abenteurer, die auf kleinem Kiel um die Welt segeln wollen, gibt es zuhauf. Einer davon bin ich, Michael.
Das Delta des Río de la Plata ist riesig, sandig, flach und voller Untiefen. Tausende Wracks sind auf den Karten verzeichnet. Wer sich nicht ganz genau an die Betonnung hält, wird über kurz oder lang Grundberührung haben oder, besser gesagt, im Schlick stecken bleiben. Carmelo liegt einige Meilen flussaufwärts Richtung Río Rosario, der weit bis ins Landesinnere, durch Uruguay, Argentinien, Paraguay bis nach Bolivien schiffbar ist. Auf dem Weg fahren wir zunächst im tiefen Fahrwasser des Flusses, das letzte Stück jedoch geht zwei Meilen durch ein Flachwassergebiet. Rechts und links ist es einen Meter tief, der schmale Kanal ist auf zwei Meter ausgebaggert. Aber die Tonnen bilden keine Linie, wie auf der Karte verzeichnet.
»Mist, die Tonnen sind bestimmt durch Starkwind und Tide versetzt. Wo soll ich denn nun langfahren? Rechts vom Tonnenstrich oder links und wo ist der Tonnenstrich?«
Statt roter und grüner Tonnen gibt es nur grüne Tonnen. Die Fahrrinne ist angeblich fünf Meter breit. Aber an welcher Seite der Tonnen? Am Ende soll der Kanal nur noch 1,60 Meter tief sein. Mehrmals schieben wir die LADY mit ihrem dicken Kiel durch den Schlick, und die Fahrt wird sanft gestoppt. Dann, direkt an der Seite an einer Fahrwassertonne, stecken wir endgültig fest. Nichts geht mehr.
»Was nun? Warten bis irgendwann mal wieder Flut kommt?«
Von Flut und Ebbe kann man im Río de la Plata nicht wirklich sprechen. Ob das Wasser steigt oder fällt, wird hier vom Wind entschieden. Drückt eine Sudestada, ein Südostwind, ins Delta, steigt der Wasserspiegel bis zur Überschwemmungsmarke; weht der Wind aus Nord, fallen Gebiete trocken, die auf der Karte mit einem Meter Tiefe verzeichnet sind. Es gibt eine Internetseite der Argentinier, die den Versatz prognostiziert. Aber ganz genau weiß es keiner.
»Volldampf zurück!«
Nichts passiert.
»Volldampf voraus!«
In Dezimeterstücken schlüpfen wir durch Schlick und Wasser, schieben die LADY vorwärts, bis wir die flache Stelle passiert haben.
Den kleinen verschlafenen Ort Carmelo erreichen wir mit dem Dinghi, in dem wir 20 Minuten flussaufwärts tuckern. Es geht noch verschlafener, noch entspannter zu als in Colonia. An der Hafenmauer machen wir unseren kleinen roten Flitzer fest und sind im Nu von einer Kinderschar umzingelt. Im Sommer liegen oben am Kanal die Motorboote aus Buenos Aires und Montevideo, denn sie haben dort alles, was sie brauchen: Grillplätze, Badestrand, Strom und Wasseranschluss. In den Ort kommt selten jemand und schon gar nicht eine Familie mit blonden Kindern. Maya und Lena drücken sich schüchtern hinter unsere Rücken, die gemeinsame Sprache fehlt. Aber das soll bald anders werden. Mit verspiegelter Sonnenbrille auf der Nase und tief in die Stirn gezogenem Baseballcap springt Marcia aus dem Bus in unser Leben. Sie bleibt eine Woche, einen Monat, wir wissen es nicht. Maya und Lena brauchen nicht lange, um sich anzufreunden, noch sprechen sie Englisch mit Marcia, doch das Ziel ist, dass sie Spanisch lernen. Da wir kein Portugiesisch können und Marcia kein Deutsch spricht, wird Spanisch unsere Bordsprache sein. Marcias Spanisch ist sehr gut, grammatikalisch korrekt und leicht verständlich. Damit Marcia sich wohlfühlt, machen wir ein uruguayisches Asado, ein Grillfest. Dazu bringen wir einen leicht schrägen Rost über einer der Feuerstellen an, die wie in jeder südamerikanischen Marina direkt an den Stegen liegen. Die heiße Glut wird je nach Bedarf mit einem Feuerhaken unter den Grill gezogen. Das Gitter besteht aus Winkelprofilen, die V-förmig aufgeschweißt sind, sodass das Fett in eine Rinne ablaufen kann statt ins Feuer, und auf dem schrägen Rost kann man die einzelnen Fleischstücke immer in die richtige Entfernung zur Glut schieben. Das uruguayische Asado ist das weltweit beste Grillsystem, das ich jemals gesehen habe. Aber wichtiger noch als die Technik ist die dazugehörende Muße, denn gut Ding will Weile haben. Und die nehmen wir uns. Über saftigen Rindfleischsteaks, gebackenen Kartoffeln und Rotwein werden wir mit Marcia schnell warm und klären gleich noch die Bettenfrage auf der kleinen IRON LADY. Marcia bekommt die Seekoje im Salon mit einem Vorhang davor. Nathalie und ich schlafen wie gewohnt im Vorschiff.
Marcia ist ein Geschenk des Himmels. Die Kinder nehmen sie sofort in Beschlag, und Nathalie kann mich beim Segeln ablösen und auch die LADY für den anstehenden Trip in den Süden fertig machen. Wir sind deutlich entspannter. Selbst die Enge an Bord ist kein Problem, denn Marcia beherrscht die Kunst, sich quasi unsichtbar zu machen, indem sie sich mit ihrem deutschen Grammatiklehrbuch in die Seekoje zurückzieht.
Wir verdanken unserer neuen Familienstruktur ein paar Tage entspanntes Motoren durch den argentinischen Teil des Deltas des Río Paraná. Hunderte Kanäle, Seitenarme, natürliche und künstliche Verzweigungen bilden eine eigenständige Landschaft, die uns an die Wasserwege in Holland erinnert. Der Río Paraná ist dabei die Hauptader, die in Richtung Buenos Aires führt. Hier fahren große Binnenschiffe und transportieren Waren in die Tiefe des Landes. Eine starke Strömung macht es für uns recht anstrengend, den Fluss hinaufzumotoren. Sobald wir in einen Seitenarm abgebogen sind, wird es ruhig, an den Ufern beginnt der Urwald. Ein Paradies für Wasservögel und anderes Getier. Je weiter wir jedoch in Richtung Buenos Aires kommen, desto mehr Ferienvillen reicher Städter reihen sich aneinander. Anlegen verboten! Privatbesitz! Vorsicht, bissiger Hund! Betreten nicht gestattet! Hausbewohner sieht man zu dieser Jahreszeit keine, nur ein paar Gärtner, die die großen Gartenflächen in Ordnung halten. Für ein, zwei Tage finden wir alles interessant, dann wird uns langweilig, denn selbst die wenigen Anleger mit Restaurants und Bars haben geschlossen.
»Ich dachte, wir bekommen erst im dichten Regenwald in Chile Probleme, an Land zu gehen. Dass wir an der Zivilisation scheitern, hätte ich nicht gedacht!«, meckert Nathalie zum widerholten Mal.
Auch Maya und Lena werden unruhig. Das Land zu sehen und dennoch nicht von Bord zu kommen, das verstehen sie nicht. Ein paar Meilen weiter finden wir eine Marina, einen aufgeschütteten Sandstrand, eine Tankstelle, einen Kinderspielplatz. Wir ankern keine zehn Meter vom Strand entfernt in der Strömung. Das Dinghi ins Wasser! Die Kinder sind heiß auf den Sand und den Spielplatz. Doch der aus dem Nichts auftauchende menschliche Platzhirsch erklärt mir, dass wir die Anlagen nur nutzen dürfen, wenn wir vorher 140 argentinische Pesos abdrücken. Die Tankstelle ist geschlossen, die Bar auch, es gibt keinen Diesel, nicht einmal kaltes Bier. Hier ist nur was los von Dezember bis Ende Januar. Kein Gast ist zu sehen. Maya und Lena schauen mich verständnislos an, als ich ihnen erkläre, dass wir wieder an Bord gehen, weil ich nicht bereit bin, 40 US-Dollar zu bezahlen, damit sie eine Sandburg bauen dürfen.
»Wie viel sind 40 US-Dollar, Papa?«
»Dafür könnt ihr das Playmobil-Puppenhaus kaufen oder ein halbes Jahr lang jede Woche gemeinsam ein Eis essen!«
»Dann nehm’ ich lieber das Playmobil-Haus!«, entscheidet Lena pragmatisch, und auch wenn diese Option nicht wirklich zur Debatte stand, ist den Kindern die Lage bewusst geworden.
Gelangweilt sitzen sie auf dem Vordeck und schauen sehnsüchtig Richtung Ufer. Vom kleinen Paradies bis Gutshofgröße mit eigenem Golfplatz: hier findet jeder mit dem nötigen Kleingeld ein hübsches Häuschen für die Sommerferien.
»Papa, da brauchst du gar nirgends anzuhalten, da dürfen wir eh nicht im Sand spielen«, sagt unsere tapfere Maya.
Es wird Nachmittag, und endlich haben wir die Villen, Fincas und Großgrundbesitze hinter uns, der Anker fällt. Mit dem Dinghi gehen wir auf Erkundungstour. Den Motor lassen wir aus, der Schiffsdiesel hat lange genug gebrummt. Immer tiefer geht es in den Urwald, wir genießen das Quaken der Frösche, die geheimnisvollen Geräusche des Dschungels von Tieren, die man hört, aber nicht zu Gesicht bekommt. Marcia reicht die Mate-Tasse in die Runde, ein Augenblick zum Festhalten für die Erinnerung.
Am nächsten Morgen geht es weiter. Unser Kartenmaterial ist nicht schlecht, doch durch die Strömung und den fallenden und steigenden Wasserspiegel ändert sich der Verlauf der Kanäle ständig. Viele Stellen sind versandet, wir fahren immer ein Auge auf den Tiefenmesser gerichtet. Die wirkliche Gefahr in diesen Kanälen lauert jedoch in den Bäumen. Ohne Verzeichnung in den Karten gibt es viele elektrische Oberleitungen, deren Höhe unmöglich einzuschätzen ist. Zwei Jahre später werden Freunde von uns ihr Boot bei einer Mastberührung mit einer Oberleitung ganz hier in der Nähe verlieren. Ihr Kunststoffboot geht sofort in Flammen auf, die beiden können in letzter Sekunde von Bord springen und verlieren mit ihrem Schiff alles, was sie besitzen. Das ständige Rudergehen strengt mich an, irgendwann träume ich am Steuer, alle anderen sind unten im Bauch der LADY. Sie macht über fünf Knoten, als ich plötzlich eine Oberleitung direkt über mir im blauen Himmel erblicke.
»Scheiße! Vollgas zurück!«
Panisch drücke ich den Gashebel nach hinten, die LADY stoppt im letzten Moment. Nathalie hechtet an Deck, in ihren Augen spiegelt sich mein eigenes Entsetzen. In Schleichfahrt nehmen wir Kurs auf die Mitte des Wassers, tasten uns Meter für Meter unter dem Kabel durch; entspannen können wir erst, als die Leitung achteraus ist. Da reicht es mir.
»Wir fahren auf dem schnellsten Weg in die Marina Barlovento. Ich will Ruhe, eine Dusche, ein kaltes Bier, Zigaretten und einen Kinderspielplatz.«
Gute Entscheidung. Nathalie sagt nichts, aber ich weiß, sie stimmt mir zu. »Ich wollte ja gleich nach Barlovento!«, könnte sie jetzt sagen, verkneift sich aber mit Rücksicht auf meinen Blutdruck den Spruch.
In der Marina Barlovento werden wir stürmisch begrüßt. Der kleine Theo steht mit seiner Kapitänsmütze an Deck der POLARWIND und zeigt aufgeregt auf den freien Platz in der Nachbarbox. Vorsichtig manövrieren wir die LADY zwischen die Dalben und machen die Leinen fest. Die Rümpfe, die hier direkt am Damm zum Río de la Plata liegen, sind genauso farbenfroh wie die Flaggen an ihren Hecks. Ein buntes Fahrtenseglervölkchen mit einem gemeinsamen Ziel: Feuerland. Schweden, Deutsche, Franzosen, Engländer, Schweizer, Italiener und Holländer schrauben, bepinseln, bemalen und reparieren ihre Stahl- und Aluminiumschiffe. Es ist deutlich zu spüren, dass wir die Hauptrouten der Fahrtensegler verlassen haben. Die Hauptrouten, auf denen sich die meisten Fahrtensegler tummeln, haben wohlklingende Namen: Barfußroute, weil man seine Socken getrost in der Heimat lassen kann; Coconut Milk Run, ob der vielen palmenbesetzten Strände; Puddle Jump, weil man, ähnlich den kindlichen Hopser, durch die Regenpfützen, von einer Trauminsel zur nächsten hüpfen kann. Aber wer in Barlovento liegt, braucht bald wieder täglich seine Socken, und die Pfützen auf den Straßen sind in den nächsten Monaten durchaus wörtlich zu nehmen und Gummistiefel auf die Einkaufsliste zu schreiben. Alle in Barlovento bereiten sich auf das ganz große Abenteuer vor und sind vor allem eines – nervös. Gestandene Blauwassersegler mit vielen Tausend Seemeilen Erfahrung im Kielwasser klappern mit den Zähnen, auch wenn sie dies natürlich niemals zugeben würden. Jede Crew hat ihre persönliche To-do-Liste, die es abzuarbeiten gilt. Ganz oben stehen bei den meisten die für die Region obligatorischen Landleinen. Ein Anker allein reicht für das Festmachen in den Buchten Feuerlands nicht, auch wenn man sich in den hintersten Winkel der Bucht verzogen hat, in den Windschatten der Bäume; je enger, je schmaler die Zuflucht, desto besser, mit Landleinen nach vorne und achtern zu den Bäumen oder nach achtern wenigstens mit zusätzlichem Heckanker, so vertäut man sein Schiff. Dreipunkt- oder Vierpunktsystem, wie lang sollen die Leinen sein? Wie verstaue ich sie, wo bekomme ich sie, was dürfen sie kosten? Das beschäftigt alle. Viele Segler, meist die mit den großen Schiffen, haben riesige Trommeln an Deck, auf die sie bis zu hundert Meter Leine aufschießen und bei Bedarf ab- oder aufrollekönnen. Andere haben große Fässer mittschiffs oder befinden sich noch, so wie wir, in der Planung. Der einhelligen Meinung nach braucht man schwimmfähige Polypropylenleinen, denn im Ernstfall muss eine Bucht schnell unter laufender Maschine verlassen werden können, und mit kleiner Crew lässt es sich nur schwer bewerkstelligen, alle Festmacher gleichzeitig einzuholen. Nur eine schwimmende Leine gerät nicht in die Schraube. Das zweite Thema, das alle beschäftigt, ist Kondensation und Heizung. Isoliermaterial wird verklebt, ausgebessert, Dieselöfen werden gekauft und installiert, Fensterrahmen mit Moosgummi umwickelt. Beim abendlichen Asado auf dem Grillplatz des Clubs debattiert man; je später der Abend, desto hitziger die Diskussion. Große Fleischbrocken werden bei Rotwein bis zur Perfektion gegart. Dann und wann macht ein Holzbrett mit aufgeschnittenem Fleisch, Würstchen oder Blutwurst die Runde. Jeder stibitzt sich mit den Fingern ein paar Leckerbissen vom Brett: Picada, argentinisches Fingerfood.
Wirklich entspannt sind nur Osvaldo und Jutta von der POLARWIND. Die beiden sind Anlaufstation für viele Segler hier in Barlovento. Der Chilene hat jahrelang seinen Dienst für die Armada, die Marine, an den entlegensten Posten geschoben und danach etliche Saisons auf einem deutschen Charterschiff geskippert. Die Rundung von Kap Hoorn ist für ihn fast ein Sonntagsspaziergang, und auch seine Frau Jutta hat viele Seemeilen Erfahrung in Feuerland erworben.
»Osvaldo, kannst du mir noch mal die Ankerplätze im Canal Barbara zeigen? Wie mache ich das mit den Behörden? Erklär mir doch noch mal die Wetterverhältnisse. Wie viel Diesel müssen wir einrechnen? Wann sollten wir spätestens losfahren?«
Die Ratsuchenden geben sich bei unseren Nachbarn die Klinke in die Hand. Wir hören aufmerksam zu, besorgen Bücher, Papierkarten, neue Angelköder und im Geheimen die Weihnachtsgeschenke, denn Stück für Stück wird uns klar, dass wir bereit sind. Bereit für das ganz große Abenteuer.
Mitte November ist es endlich so weit, Seekarten und Revierführer sind an Bord, die verrotteten Fensterrahmen restauriert, das Teak im Cockpit ist neu geschliffen, sogar eine Kuchenbude, ein Vorzelt für das Cockpit, besitzen wir.
»Mann, wie spießig ist das denn! Früher haben wir über die Leute gelacht, die sonntags im Regen hinter ihren Plastikscheiben saßen und Kaffee tranken«, jammert Micha beim Abschiedsasado.
»Tja, mit Familie wird aus dir nie ein richtiger Salzbuckel. Du bist schon zu bemitleiden«, ziehe ich Micha auf.
»Ach Quatsch!«, schaltet sich Martin von der NEMO ein, »das Ding hat bei euch in Deutschland einfach nicht den richtigen Namen. In Schweden sagen wir übersetzt Wodkahütte. Klingt doch gleich viel besser, oder?«
»Genau!«, fällt Marcia ein, »und der spanische Begriff Chubasqueros klingt auch nicht nach muffigem Kaffeeklatsch!«
Chubascos hingegen sind heftige Regenschauer mit viel Wind, denen wir in den nächsten Wochen sicher häufig ausgesetzt sein werden.
Unser Ziel heißt Piriápolis in Uruguay. Von Buenos Aires aus ist es der erste richtige Küstenhafen in atlantischen Gewässern, der erste Hafen mit Salz- statt Süßwasser unter dem Kiel. Ein Wetterfenster tut sich auf, doch so schnell kommen wir nicht weg aus Argentinien. Viel Geduld, Sitzfleisch und mindestens ein gutes Buch brauchen wir, um den Wall aus Prefectura, Immigration und Zoll zu überwinden. Man darf nicht mit den Augen rollen, wenn 19-jährige Bübchen mit Militärhaarschnitt beharrlich die Heiratsurkunde verlangen, obwohl man nicht verheiratet ist, oder der Zöllner darauf besteht, er könne erst nach der Prefectura unterschreiben, während die Beamten in der Prefectura das Gegenteil behaupten. Am Ende halten wir sie in den Händen, die kostbaren Papiere, dann heißt es Leinen los, bevor die Genehmigungen wieder ihre Gültigkeit verlieren und der Marathon von vorne beginnt.
In der Abendsonne fahren wir unter lautem Abschiedströten aus dem Club in den Kanal. »Wohin segelt ihr? Süd oder Nord?«, ruft uns ein Schweizer nach.
»Süd! Ja, wir fahren nach Feuerland!«, antworte ich glücklich vom Bug aus.