Bernd Franzinger

Dinotod

Tannenbergs vierter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Lektorat: Isabell Michelberger

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

ISBN 978-3-8392-3166-1

Gedicht

My Brother, my Brother, whatcha gonna do?

My Brother, my Brother, I’m here to help you.

Tell me your sorrows, tell me your fears.

My Brother, my Brother, I’ll always be here.

I know it won’t be easy, but we both have got to try,

To hold onto each other, until the day we die.

Nobody knows you quite the way that I do,

And if you’re in trouble, come to me, come to me.

My Brother, my Brother, whatcha gonna do?

My Brother, my Brother, I’m here to help you.

Tell me your sorrows, tell me your fears.

My Brother, my Brother, I’ll always be here.

Whatcha gonna do?

I’m here to help you.

Tell me.

We got the same blood running through our veins,

my Brother.

Father is the heaven, Mother is the grave.

We gotta look out for each other, my Brother.

Yeah, that’s what we gotta do.

Aaron Neville

1

Mit rudernden Armen kam Johannes auf die Kindergruppe zugestürmt. Sein blauer Rucksack pendelte wild hin und her. Die Baseballmütze flog in weitem Bogen von seinem Kopf. Er stolperte, wäre fast gestürzt.

»Langsam, langsam! Was ist denn los? Ist etwa ein Dino hinter dir her?«, rief ihm Frau Walter verwundert entgegen.

»Der Stegosaurus hat eine Frau aufgespießt«, gab Johannes völlig außer Atem zurück. Dabei warf er seinen rechten Arm mehrmals in Richtung der Dinosaurier-Ausstellung, die seit einigen Jahren im nördlichen Teil des Gartenschaugeländes beheimatet war.

»Du mit deiner blühenden Fantasie«, entgegnete die Leiterin des Mölschbacher Kindergartens lächelnd. Dann wandte sie sich wieder dem vor ihr stehenden, blonden Lockenköpfchen zu, das offensichtlich einige Probleme mit dem Verschluss seiner Jacke hatte.

»Ich bin mal sehr gespannt darauf, wie unser lieber Johannes in der Schule zurechtkommt«, seufzte die andere Erzieherin, während sie dem aufgeregten Sechsjährigen zur Beruhigung sanft über die glatten, kastanienbraunen Haare strich. »Die Lehrer nehmen bestimmt nicht so viel Rücksicht auf dich und deine Spinnereien wie wir beide.«

»Da haben Sie recht«, bestätigte Frau Walter und schickte ein zustimmendes Kopfnicken auf die Reise zu ihrer Kollegin.

»Aber es ist wirklich so: Der Stegosaurus hat mit seinen Stacheln eine Frau aufgespießt«, wiederholte der für sein Alter recht groß gewachsene Junge hechelnd, erntete damit allerdings nur schmunzelndes, stummes Kopfschütteln.

Im Gegensatz zu den abweisenden Erwachsenen reagierten Johannes Spielkameraden jedoch sofort mit regem Interesse auf die spektakuläre Behauptung. Besonders die älteren Jungs scharten sich gleich neugierig um ihren Freund, stellten ihm ein paar kurze Fragen und machten sich anschließend mit ihm gemeinsam auf den Weg zum Dinosaurierpark.

»Bleibt mir aber ja vom Wasser weg!«, mahnte Frau Walter. »Wir kommen gleich nach.«

»Ich will auch mit!«, flehte die blondgelockte Kleine mit weinerlichem Gesichtsausdruck.

»Ja, ja. Nur noch einen winzigen Augenblick, dann klappt das mit deiner Jacke. – So, siehst du, jetzt funktioniert der Reißverschluss wieder«, sagte die Leiterin, erhob sich, nahm das Mädchen an der Hand und folgte der Kindergruppe, die sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.

Noch bevor sie die nächste Wegkehre erreichten, kamen ihnen die vorausgeeilten Jungs schon wieder entgegen. Der vorderste von ihnen rief so laut er nur konnte: »Es stimmt! Da ist eine tote Frau. Sie hat einen großen Stachel im Bauch.«

Neugierig rannten nun alle Kleinen des Mölschbacher Kindergartens los. Auch die beiden Erzieherinnen beschleunigten ihre Schritte.

Nach der nächsten Biegung sahen sie mit ihren eigenen, weit aufgerissenen Augen das wirklich Ungeheuerliche: Zwischen dem Barbarossawoog und dem mächtigen Felsmassiv eines ehemaligen Steinbruchs lag tatsächlich ein bekleideter weiblicher Leichnam – quer über dem Rücken einer etwa acht Meter langen Dinosaurier-Nachbildung.

Auf der ihnen zugewandten Seite des stacheligen, ockerfarbenen Stegosaurus hingen der Kopf und die Arme der toten Frau schlaff zur Wiese hinab. Ihr Mund war von breitem, mehrfach um den unteren Kopfbereich herumgewickeltem Paketband bedeckt. Ein dicker, aus schwarzgefärbten Haaren geflochtener Zopf schwebte frei in der Luft und baumelte im leicht böigen Frühlingswind.

Der oberer Teil des Rumpfes war etwa in Brusthöhe zwischen zwei steil aufgerichteten, circa einen halben Meter hohen Knochenplatten eingeklemmt. Der versetzt dahinter stehende, dreizackige Rückenstachel hatte die Wirbelsäule der Frau durchtrennt. Die schwarze Spitze des fächerartigen Stachels ragte in Höhe des unbedeckten Bauchnabels etwa fünfzehn Zentimeter aus der leblosen Gestalt heraus.

Schockgefrostet starrten die beiden Erzieherinnen einige Sekunden regungslos in dieses bizarre Szenario. Erst das aufgeregte Rufen einiger Kinder riss sie aus ihrer bleiernen Apathie. Geistesgegenwärtig kramte die jüngere der beiden ein Handy aus ihrem schwarzen Sportrucksack und verständigte über die Notrufnummer die Polizei.

Als die diensthabenden Beamten der Kaiserslauterer Mordkommission im Gartenschaugelände eintrafen, hatten ihre Kollegen von der Schutzpolizei den Fundort der Leiche bereits weiträumig abgesperrt und erste Zeugenbefragungen durchgeführt. Die Kriminaltechniker begannen gerade mit ihrer aufwändigen Arbeit. Der ebenfalls schon anwesende Gerichtsmediziner unterhielt sich angeregt mit dem routinemäßig in solchen Fällen herbeigerufenen Notarzt.

Gleich nachdem Dr. Schönthaler die Mitarbeiter des K 1 erspäht hatte, beendete er das medizinische Fachgespräch und eilte den Ankömmlingen mit freundlichem Gesichtsausdruck entgegen.

»Einen wunderschönen guten Morgen, meine Dame, meine Herren!«, begrüßte er die Kriminalbeamten mit der ihm wesenseigenen Theatralik.

»Moin«, brummte Hauptkommissar Wolfram Tannenberg mürrisch seinem alten Freund entgegen, während er über das von Dr. Schönthaler auf den feuchten Wiesenboden hinabgedrückte rotweiße Plastikband der Polizeiabsperrung stapfte. Dann wandte er sich um und wartete geduldig, bis seine Kollegen ebenfalls das Hindernis überwunden hatten. Dabei taxierte er mit abschätzigem Blick die zahlreichen Schaulustigen, die sich bereits hinter der Absperrung eingefunden hatten.

Der Rechtsmediziner schien seine Gedanken erraten zu haben, denn er flüsterte: »Kommt, wir gehen erst mal nach hinten zum Dino. Sonst steht morgen jedes Wort von uns in der Zeitung.«

»Was ist denn das eigentlich für’n ekliges Vieh?«, fragte Tannenberg, als sie noch mindestens zehn Meter von der Stegosaurus-Nachbildung entfernt waren. Nach einer kurzen Pause schob er sichtlich angewidert nach: »Kleiner Schlangenkopf, langer Hals. Pfui Teufel, mit denen hatte ich noch nie was am Hut!«

»Keine Ahnung, wie dieser Dino heißt, Wolf. Ich konnte mit diesen Viechern auch noch nie etwas anfangen«, pflichtete Sabrina Schauß ihrem Vorgesetzten bei.

»Aber, Chef, das ist doch ein Stegosaurus. Der gehört ...«, begann Kriminalhauptmeister Geiger zu dozieren, wurde aber vom Leiter des K 1 sofort brutal abgewürgt. »Halt die Klappe, Geiger. Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest: Wir sind nicht wegen diesem Monster hier, sondern wegen der toten Frau! Du gehörst schließlich zur Mordkommission und nicht zu irgendeinem albernen Dino-Fan-Club.«

»Mensch Wolf, bist du mal wieder gut drauf heute Morgen«, foppte der Gerichtsmediziner, als sie endlich den Leichenfundort erreicht hatten. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Ich für meinen Teil freue mich richtig darüber, dass wir nach einem Jahr kriminologischer Langeweile endlich mal wieder einen etwas kreativeren Mordfall zu bearbeiten haben.«

»Kreativerer Mordfall? Was für’n Ausdruck!« Tannenberg rollte die Augen, zog die Brauen empor. »Den wir zu bearbeiten haben? Komm, halt hier mal keine langen Vorträge über die Freuden eines Hobby-Detektivs. Informier uns besser mal über das, was du als Gerichtsmediziner zu sagen hast.«

»Du wirst tatsächlich von Tag zu Tag humorloser, alter Junge. Nun gut. Wie ich dich kenne, willst du wie immer zuerst den ungefähren Todeszeitpunkt wissen.«

»Du hast es erfasst! Aber verschon mich mit einem Exkurs in die Nebelwelt deiner ominösen Berechnungsmethoden.«

Dr. Schönthaler wiegte nur verständnislos den Kopf hin und her. »Also gut, kurz und knapp, wie es dem Herrn Hauptkommissar beliebt: Der Tod trat gestern Abend zwischen 21 und 24 Uhr ein.«

»Na, das ist ja schon mal was.« Tannenberg rieb sich die Hände. Aber nicht etwa, weil er dadurch den Umstehenden seine Freude über diese Mitteilung kundtun wollte, sondern weil von der leicht sumpfigen Wiese ein unangenehmes Kältegefühl an seinen Beinen emporzukriechen begann. »Wieso hat man denn dann die Tote nicht schon früher entdeckt?«

»Vielleicht weil es ausnahmsweise mal dunkel war heute Nacht, Herr Hauptkommissar! Oder meinst du vielleicht, dass hier nachts einer rumrennt und mit der Taschenlampe nach Leichen sucht?«

Tannenberg ging auf die Äußerung des Rechtsmediziners nicht ein. »Gibt’s denn hier in aller Frühe keine Inspektion oder sowas?«

»Das haben wir vorhin auch schon die Geschäftsführerin der Gartenschau gefragt«, mischte sich Karl Mertel aus der kriminaltechnischen Abteilung ein.

»Und?«

»Ja, sie hat gesagt, dass ein Mitarbeiter jeden Morgen um Punkt 8 Uhr eine Inspektionsfahrt über das gesamte Gartenschaugelände unternimmt. Aber dieser Mann hätte sich heute Morgen überraschend krank gemeldet.«

Tannenberg machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ist ja zunächst auch mal egal!«

»Das ist im Moment wirklich ziemlich belanglos«, stimmte der Rechtsmediziner zu. »Wir haben nämlich ein ganz anderes Problem.«

»Welches?«

»Schau dir doch einfach mal den Leichnam genauer an. Besonders diese Platte, die den Körper der Frau durchdrungen hat.«

Tannenberg warf die Stirn in Falten, bohrte seinen Blick in dieses unwirkliche Bild. »Ja und?«

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«

Nur stummes Kopfschütteln.

»Zum Beispiel die Frage, wie wir die Tote in die Pathologie schaffen sollen?«

»Versteh nicht, was du meinst.«

Dr. Schönthaler ging zwei Schritte näher an den Stegosaurus heran und zeigte mit dem ausgestreckten Arm genau auf das, was ihm Sorgen bereitete. »Der Rückenstachel des Dinos hat, wie du anhand der anderen Stacheln unschwer erkennen kannst, die Form eines Widerhakens. Das heißt, er ...«

»Mann, Rainer, ich weiß schon, wie ein Widerhaken aussieht!«, unterbrach Tannenberg genervt.

»Was meinst du wohl, was das für eine Sauerei gibt, wenn wir den Leichnam hier an Ort und Stelle gewaltsam aus dem Stachel reißen? Schau dich doch mal um: Hinter der Absperrung stehen die Gaffer, viele Kinder darunter. Und die Pressegeier sind bestimmt auch schon da.«

Betroffen blickte sich Tannenberg um, nickte zustimmend. »Und was schlägst du vor?«

»Wir könnten ja den Dino mitsamt der Toten auf einen Tieflader schaffen und ihn ins Klinikum bringen. Durch die ganze Stadt, wie beim Maimarktumzug. Das wäre vielleicht ein Höllenspektakel«, gab Dr. Schönthaler einen erneuten Beweis seines makaberen Gerichtsmediziner-Humors zum Besten.

»Du hast vielleicht irre Ideen!«, bemerkte Tannenberg, während ihm ein dezentes Schmunzeln über die Lippen huschte.

»Schneidet doch einfach den Stachel mit einer Trennscheibe ab!«, mischte sich plötzlich einer der beiden Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmens, die gerade mit einem Zinksarg am Stegosaurus eintrafen, in den Dialog ein.

»Gute Idee«, lobte Mertel und klopfte mit dem Knöchel seines rechten Zeigefingers auf den ockerfarbenen Dinosaurierkorpus. Aus dem dadurch erzeugten helltönenden Geräusch zog er den Schluss, dass er sich bei dem Material um Fiberglas handelte. »Die Figur ist hohl. Das müsste gehen. Ich geh die Flex holen.«

»So, Herr Rechtsmediziner, würden Sie nun endlich die Freundlichkeit besitzen und uns über die Todesursache informieren?«, provozierte Tannenberg seinen alten Freund.

Äußerlich völlig unbeeindruckt begab sich Dr. Schönthaler seitlich neben den Kopf der toten Frau und deutete auf ihren Hals. »Da der Herr Hauptkommissar schon wieder so extrem mies gelaunt ist, machen wir’s kurz und bündig.«

»Wirklich zu gütig.«

»Also: Die Frau hat weder Selbstmord begangen, noch wurde sie von einem wildgewordenen Dinosaurier aufgespießt. Sie ist auch nicht erstickt, wie ein Laie vielleicht vorschnell aus dem Umstand schließen könnte, dass man ihr den Mund verklebt hat. Weit gefehlt, Herr Hauptkommissar, denn die Frau konnte ja noch durch die Nase atmen!«

»Alter Klugscheißer!«

Der berufserfahrene Gerichtsmediziner grinste, dann ergänzte er: »Nein: Sie wurde vielmehr erwürgt. Was sich zum einen aus diesen wunderschönen halbmondförmig im vorderen Halsbereich zu erkennenden Fingernägelabdrücken schließen lässt. Und was zum anderen aus den bilderbuchmäßigen Einblutungen in den Bindehäuten der Toten abzuleiten ist.«

»Aha, erwürgt«, brummelte Wolfram Tannenberg kopfnickend leise vor sich hin.

»Und dann hat sie jemand aller Wahrscheinlichkeit nach von dort oben runtergeworfen«, erklärte der Rechtsmediziner, während er seinen Kopf nach hinten warf und auf die direkt über ihnen, in etwa 25 Metern Höhe auf einem Felsüberhang gelegene Aussichtsplattform deutete, an deren chromfarbenem Metallgeländer die Oberkörper einiger Schaulustiger zu sehen waren.

»Und dieser Sturz ist die Ursache dafür, dass der Stachel den Körper der Frau vollständig durchdringen konnte«, sagte Tannenberg, der seine Augen ebenfalls die senkrechte Felswand emporgeschickt hatte, mehr zu sich selbst.

»Ja, mein lieber Wolf. Wie du übrigens den vor dir liegenden Fakten selbst entnehmen kannst.«

Gleich nachdem der Leiter des K 1 die neugierigen Menschen oben auf dem Felsen entdeckt hatte, schritt er einige Meter rückwärts in Richtung des Tümpels und schimpfte ungehalten los: »Verschwinden Sie sofort! Sie vernichten ja alle Spuren!«

Aber die Voyeure reagierten nicht, lehnten sich vielmehr noch ein wenig weiter über die Brüstung, damit sie auf diese Weise über den Felsvorsprung hinweg auch einen Blick auf den unteren Teil des Körpers der toten Frau werfen konnten.

»Verdammt, Karl, warum ist denn dort oben noch nicht abgesperrt?«, schrie Tannenberg aufgebracht in Richtung des Leiters der Spurensicherung, obwohl dieser gerademal zwei Meter von ihm entfernt auf der anderen Seite des Dinosauriers stand.

»Schrei hier nicht so rum. Was sollen denn die Leute denken!«

»Ist mir doch egal, was diese störrischen Gaffer denken!«

»Komm, reg dich ab, die Kollegen sind schon auf dem Weg dorthin. Aber die müssen doch erst mal außenrum fahren. Und das dauert eben ein paar Minuten.«

»Fahren? Können die denn nicht die paar Meter den Berg hochlaufen?«

»Mein Gott, Wolf!«, antwortete Mertel gedehnt. »Sollen die armen Kerle etwa die ganzen Geräte aus unserem Auto ausbauen und auf den Felsen hochschleppen?«

Aus nahe liegenden Gründen zog es Tannenberg vor, zu diesem gerechtfertigten Einwurf besser zu schweigen.

Er stellte sich direkt vor den Leichnam, ging auf die Zehenspitzen, drehte seinen Körper um 180 Grad und senkte seinen Kopf in einer schnellen, ziemlich grotesken Bewegung so, dass sich sein Gesicht genau gegenüber dem der toten Frau einjustierte. Dann brachte er abrupt seinen Körper wieder zurück in die ursprüngliche Position.

»Obwohl man ihren Mund nicht sehen kann, glaub ich, dass ich diese Frau schon einmal irgendwo gesehen habe.« Gedankenversunken legte er seine linke Hand vor den Mund und begann daran herumzuknabbern. Dann entfernte er sie wieder und fuhr mit lauter Stimme fort: »Verdammt! Irgendwoher kenn ich die. Die kommt mir einfach bekannt vor. Wenn ich nur wüsste, woher. Vielleicht aus der Zeitung?«

»Ich glaub auch, dass ich sie kenne«, rief plötzlich eine sonore Männerstimme oben vom Felsen herunter. »Die sieht genau aus, wie eine Frau, die bei mir in der Gegend wohnt.«

Tannenberg warf seinen Kopf reflexartig in den Nacken. Bereits im selben Moment schoss ihm ein stromschlagartiger, höllischer Schmerz in den hinteren Schädelbereich. Er griff sich sofort ins Genick.

»Au, verflucht, tut das weh!«, stöhnte er auf.

Vorsichtig drehte er seinen Kopf nach beiden Seiten, neigte ihn nach unten zur Wiese hin und nahm ihn dann wieder langsam zurück.

Während er ihn in Zeitlupe erneut, diesmal allerdings bedeutend gemächlicher, nach hinten neigte, rief er den steilen Sandsteinfelsen hinauf: »Was, Sie kennen diese Frau?«

»Ja, ich glaub’s jedenfalls. Ich kann von hier aus ihr Gesicht ja nicht so richtig sehen, nur ein bisschen von der Seite. Aber die schwarzen Haare und der Pferdeschwanz. Und diese Kleider und die Stiefel. Die hat sie oft angehabt. Also, wenn’s die ist, die ich meine, dann wohnt sie in der Benz-Straße. Da wohn ich nämlich auch.«

In eine kurze Pause hinein fragte Tannenberg. »Wissen Sie denn, wie sie heißt?«

Der Mann grübelte angestrengt: »Nein, im Moment fällt’s mir leider nicht ein – irgend so ein Doppelname. Aber die arbeitet hier oben auf dem Kaiserberg im Bildungszentrum. Ich glaub als Frauenbeauftragte.«

»Warten Sie. Ich bin gleich bei Ihnen! Rühren Sie sich ja nicht von der Stelle!«

»Sie sind mir ja vielleicht ein Scherzbold«, entgegnete die dunkle Männerstimme vom Felsen herab. »Vor zwei Minuten haben Sie noch gesagt, dass wir alle sofort verschwinden sollen!«

»Mann, bleiben Sie ja, wo Sie sind!«, gab der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission energisch zurück.

Da der potenzielle Informant mit seinem ketzerischen Einwurf nicht gerade Unrecht hatte, zog Tannenberg es vor, diese Bemerkung besser nicht weiter zu kommentieren und wandte sich zu den Schaulustigen um, die sich in der Zwischenzeit immer zahlreicher vor der Polizeiabsperrung und vor dem Zaun des Gartenschaugeländes eingefunden hatten.

»Kennt von Ihnen jemand die Frau?«, rief er der neugierigen Meute zu. Und als niemand auf seine Frage reagierte, schob er nach: »Wo geht denn von hier aus der Weg hoch auf den Felsen?«

»Rechts!«, antwortete ein vielstimmiger Chor.

Tannenberg setzte sich sogleich in Bewegung.

»Falsch – andere Richtung!«, korrigierten einige der Sensationstouristen.

Umgehend befolgte er das Kommando. Nun schien Tannenberg den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, denn seine Ratgeber bekundeten sogleich lautstark ihre Zustimmung, manche von ihnen klatschten sogar höhnisch Beifall.

»Blöder Mob«, fauchte der Leiter des K 1 wütend vor sich hin. Dann feuerte er seine Kollegen an, die ihm stumm gefolgt waren: »Los, los, beeilt euch, sonst haut uns der Kerl noch ab!«

»Na, so schlimm wär das ja wohl auch nicht!«, bemerkte Kommissar Schauß gelassen. »Schließlich wissen wir ja, dass die Tote als Frauenbeauftragte im Bildungszentrum gearbeitet hat.«

»Ja, wenn’s denn überhaupt stimmt!«, gab Tannenberg zu bedenken. Er atmete tief ein und ließ danach geräuschvoll die Luft aus seinen Lungen entweichen. »Aber wenn’s stimmt, haben wir einen ganz schönen Schlamassel am Hals. Mord an einer Frauenbeauftragten! Mann, Mann, Mann – was das wohl wieder für Schlagzeilen gibt!«

Plötzlich blieb er stehen.

»So ein Schwachsinn! Warum rennen wir jetzt eigentlich alle den Berg rauf?« Ohne ernstlich eine Antwort von seinen verblüfften Mitarbeitern zu erwarten, fuhr er sogleich fort: »Michael, du bleibst mit Geiger unten. Ihr unterstützt die Kollegen bei der Befragung der Leute. Es reicht wohl völlig, wenn Sabrina und ich alleine zu dem Mann hochgehen.«

Schon hatte er sich auf dem betonharten, mit einer Unzahl kleiner hellbrauner Schottersteinchen bestreuten Pfad wieder in Bewegung gesetzte. Ohne ein Wort über seine Anweisung zu verlieren, folgte ihm Sabrina, während die anderen beiden Kriminalbeamten kopfschüttelnd zurück zum Barbarossawoog schlenderten.

Nach etwa fünfzig Metern erreichte der Fußweg eine kleine Zwischenebene, auf der sie von einem, Euopiocephalus genannten, Dinosaurier begrüßt wurden, den Tannenberg allerdings nur eines kurzen, abschätzigen Blickes würdigte. »Schon wieder so’n stacheliges Monster. Ich befürchte, dass ich heute Nacht von diesen hässlichen Viechern träumen werde.«

»Ich garantiert auch«, stimmte Sabrina Schauß seufzend zu.

Während er den von diesem Plateau weiter nach oben führenden, steilen Treppenweg erklomm, ruhten seine Augen für eine Weile auf einer links von ihm hinter ausladendem Buschwerk versteckten Turmruine, die ihn spontan an den Luitpoldturm erinnerte, auf dem er in seiner Jugend einige feuchtfröhliche Gelage zelebriert hatte.

Die steinerne Treppe geleitete die beiden Ermittler unter weit überhängenden, blattlosen Zweigen mächtiger Akazien, an efeuberankten Trockenmauern und spalierstehenden jungen Eichen vorbei, bis endlich die letzte der zartroten Sandsteinstufen erreicht war.

Tannenberg musste zunächst einmal kräftig verschnaufen. Wie ein Langstreckenläufer, der gerade völlig erschöpft im Ziel eingetroffen war, atmete er stoßartig, beugte den Oberkörper nach vorne, stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab, richtete sich wieder auf – und blickte direkt in Sabrinas strahlend blaue Augen.

»Na, mein lieber Wolf, solltest du nicht mal etwas für deine Kondition tun?«, bemerkte sie trocken, ohne dass man ihr selbst die körperliche Anstrengung sonderlich angemerkt hätte.

»Was?«

»Du jappst ganz schön nach Luft! – Das hängt wohl am Zahn.«

»An welchem ... Zahn denn?«

»Na, am Zahn der Zeit, der an dir nagt.«

»Der nagt ... an jedem ... auch an dir!«, gab er schnippisch zurück und trottete mit verkniffenem Gesichtsausdruck los.

Der zum Aussichtsplateau hinführende breite Fahrweg war linker Hand von einem grünen Maschendrahtzaun begrenzt, auf der rechten, nicht eingefriedeten Seite dagegen von hölzernen Kinderspielgeräten und von als Sitzgelegenheiten konzipierten Sandsteinskulpturen besäumt.

Bereits nach der ersten Wegkehre entdeckte Tannenberg die Schaulustigen, die sich an dem silbernen Metallzaun versammelt hatten. Ein Mann und eine Frau, etwa gleichen Alters, saßen auf einer breiten, stark vergrauten und mit ungleichmäßigen schwarzgrauen Flecken übersäten Hartholzbank und frühstückten in aller Ruhe. Zwei Besucherinnen hingen fast mit dem ganzen Oberkörper über dem Zaun, reckten ihre Hälse nach unten und machten dabei Fotos. Die anderen Personen standen in einem kleinen, zum Tal hin geöffneten Halbkreis und debattierten heftig miteinander.

Als Tannenberg mit lauter Stimme »Wer von Ihnen hat vorhin behauptet, dass er die tote Frau kennt?« rief, drehten sich die Menschen sogleich zu ihm um und ein älterer Mann trat aus der schlagartig verstummten Menge heraus einen Schritt auf den Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission zu.

»Ich«, antwortete er selbstbewusst mit kräftiger Stimme.

»Gut. Dann gehen Sie mal bitte hierüber zu meiner Kollegin.«

»Und Sie, meine Damen und Herren, beantworten mir jetzt zuerst einmal folgende einfache Frage: Kennt noch jemand von Ihnen die Frau oder hat jemand irgendwelche konkreten Beobachtungen in dieser Sache gemacht?«

Da sich niemand meldete, einige nur leise ›nein‹ sagten, andere dagegen lediglich wortlos den Kopf schüttelten, wies er die sensationslüsternen Menschen an, sich von der Brüstung zu entfernen und sich zu ihm zu begeben.

Als die verwundert dreinblickenden Leute bei ihm eintrafen, empfing er sie mit den Worten: »So, und nun bleiben Sie genau hier stehen. Gleich kommen meine Kollegen und nehmen ihre Personalien auf.«

Währenddessen hatte Sabrina ihren Notizblock gezückt und bereits mit der Befragung des älteren Herrn begonnen.

Da ihr Vorgesetzter nur allzu gut wusste, wie ungehalten die Kollegen von der Kriminaltechnik stets reagierten, wenn sie ihn inmitten eines von ihnen zu bearbeitenden Terrains entdeckten, begab sich Tannenberg schnellen Schrittes zur Panoramaplattform, die einen prächtigen Rundblick über das Gartenschaugelände bot.

Von seinem Standort hinter dem etwa 1,3 m hohen verzinkten Metallzaun sah er zwar den großflächig mit einem hellgrünen Wasserlinsenteppich bedeckten Barbarossawoog, dessen zum Felsen hin gelegene Ausbuchtung mit hohem Schilfgras bewachsen war, aber er konnte aus dieser Position den Stegosaurus nicht erspähen.

Erst als er seine Beobachtungsperspektive dadurch veränderte, indem er seinen Oberkörper weit über den abgewetzten schmalen Handlauf schob, konnte er über den Felsvorsprung hinwegblicken und schaute nun direkt auf den von einem nahezu senkrecht emporstehenden Dinosaurierstachel aufgespießten weiblichen Leichnam, von dessen rechter Gesichtshälfte man tatsächlich nur einen kleinen Teil erkennen konnte.

Ein kurzer abschließender Blick zu den sich im Südwesten hinter der Stadt auftürmenden bewaldeten Bergrücken beendete seinen visuellen Erkundungstrip. Tannenberg wandte sich wieder der Gruppe der Schaulustigen zu, von denen ein ganz tollkühner nun auch noch damit anfing, den Leiter des K 1 auf Zelluloid abzulichten und ihn somit für die Nachwelt festzuhalten.

»Hören Sie sofort auf mit diesem Schwachsinn«, herrschte er den athletischen jüngeren Mann an, dessen Blitzlicht ihn ziemlich erschreckt hatte. An die Menge gewandt ergänzte er: »Wenn meine Kollegen da sind, müssen Sie sowieso alle ihre Fotoapparate und Videokameras abgeben.«

Kaum hatten diese Sätze Tannenbergs Mund verlassen, bogen auch schon ein Streifenwagen und der Kleintransporter der Spurensicherung um die Ecke.

Tannenberg begrüßte seine Kollegen mit einem kurzen Handzeichen. Dann begab er sich zu Sabrina. Die junge Kommissarin teilte ihm schulterzuckend mit, dass der von ihr befragte ältere Mann zwar ungefähr zu wissen glaube, in welchem Teil der Benz-Straße die Tote gewohnt habe, er aber trotz intensivster Bemühungen nicht in der Lage gewesen war, nähere Angaben zum Namen oder zur genauen Adresse der Frau zu machen.

Während Sabrina ihren Vorgesetzten, Trauzeugen und väterlichen Freund über ihren aktuellen Erkenntnisstand ins Bild setzte, ruhten Tannenbergs Augen auf einer in etwa fünf Metern Entfernung in ein Rasenstück eingelassenen Sandsteinskulptur, die eine kniende, den Oberkörper nach vorn gebeugte männliche Gestalt darstellte, von deren Kopf man nur die in Stein gemeißelte Haarfläche erkennen konnte. Auf ihrem flachen Rücken lastete ein schwerer Sandsteinquader, der die geknechtete Figur zu erdrücken schien.

Genauso fühle ich mich im Moment, dachte Tannenberg, mahnte sich aber sogleich zur Selbstdisziplin.

»Na gut, dann fahren wir jetzt einfach mal gemeinsam dorthin«, entschied er spontan und wies sogleich den Fahrer des Streifenwagens an, sie umgehend zur vermeintlichen Wohngegend der Toten zu chauffieren.

Zuvor scharte er jedoch noch kurz seine gerade eingetroffenen Kollegen um sich und bat sie eindringlich, sich im Zuge der nun beginnenden Ermittlungsarbeit auch um die ihn brennend interessierende Frage zu kümmern, auf welchem Wege der Leichnam wohl hierher transportiert worden war.

Aufgrund der hervorragenden Ortskenntnis des jungen Polizeibeamten wurde das gesuchte Wohngebiet schnell gefunden. Tannenberg hielt mit hektischen Blicken nach einem Passanten oder Anwohner Ausschau, der ihm womöglich einen entscheidenden Tipp geben konnte. Kurz nach der Einmündung in die Benz-Straße erspähte er eine modisch gekleidete Endvierzigerin, die auf der rechten Straßenseite gerade ihr Auto entlud.

»Wo wohnt denn hier die Frauenbeauftragte des Bildungszentrums auf ...?«

Er hatte den Satz noch gar nicht beendet, da kam auch schon wie aus der Pistole geschossen die Antwort: »Gleich da hinten: Das letzte Haus vor der Einstein-Straße.«

Noch bevor das Polizeiauto völlig zum Stillstand gekommen war, riss Tannenberg die Tür auf und hechtete aus dem Einsatzfahrzeug. Suchend blickte er sich um und entdeckte ziemlich schnell die an einem dunkelbraunen Palisadenzaun angebrachte Klingelanlage, auf der lediglich zwei Namen verzeichnet waren: H. Bender-Bergmann und G. Wackernagel.

»Bender-Bergmann. Könnte das der Name der Frau sein?«, rief er in den Wagen hinein, aus dem sich Sabrina gerade graziös herausschälte.

»Ja, so heißt sie! Jetzt erinnere ich mich genau daran«, bestätigte der Mann.

»Gut! Kollege, dann fahren Sie mal bitte den Herrn nach Hause.«

»Brauchen Sie doch nicht. Ich geh die paar Meter gerne zu Fuß.«

Tannenberg wollte unbedingt vermeiden, dass dieser neugierige Zeitgenosse sich nun vor dem Haus der Toten postierte und damit Aufsehen erregte. Deshalb befahl er unmissverständlich: »Doch, doch, der Kollege fährt Sie jetzt direkt nach Hause. Keine Widerrede! Und Sie lassen sich auch heute hier nicht mehr blicken! Ist das klar?«

»Ja, von mir aus«, brummte eine tiefe, bärige Stimme aus dem Wageninnern heraus.

»Und was ist mit Ihnen und Ihrer Kollegin, Herr Hauptkommissar?«, fragte der junge Polizist freundlich. »Wann soll ich Sie beide denn hier abholen?«

»Gar nicht! Wir gehen per pedes zurück zum Kaiserberg und von dort aus dann ins Kommissariat. Ist ja alles nur ein Katzensprung. Ein bisschen körperliche Bewegung tut uns beiden ganz gut«, entgegnete Tannenberg resolut, schlug mit einem kräftigen Schwung die Beifahrertür zu und begab sich erneut zur Klingelanlage. »Bender-Bergmann – das könnte die Frau sein. Aber G. Wackernagel? Wer ist denn das? Gabi oder Gerlinde Wackernagel – ihre Freundin?«, sagte Tannenberg mit nachdenklicher Miene eher zu sich selbst.

Sabrina jedoch sah sich spontan dazu veranlasst, diese möglicherweise etwas unbedacht formulierte Hypothese umgehend zu kommentieren: »Ihr Männer seid doch irgendwie alle gleich. Dieser Spruch könnte genauso gut von Michael oder Geiger oder Albert oder ...«

»Welcher Spruch?«

»Ihre Freundin? Ihr habt doch immer nur Klischees im Kopf, wenn’s um uns Frauen geht!«

Tannenberg war sichtlich irritiert. »Wieso? Auf was willst du denn überhaupt hinaus?«

»Nach eurer Meinung muss eine Frauenbeauftragte entweder psychisch krank oder lesbisch sein.«

»Wie kommst du denn auf so etwas? Ich würde doch sowas nie denken, geschweige denn behaupten. – Ach, jetzt versteh ich endlich: Weil ich gesagt habe, dass G. Wackernagel vielleicht die Freundin der Toten ist. – Was für’n Quatsch! Das kann doch genauso gut ein Untermieter sein ...«

»Eben!«, entgegnete Sabrina, die beiden Silben sekundenlang in die Länge ziehend. »Aber das hast du ja nicht gesagt, wahrscheinlich noch nicht mal in Erwägung gezogen! – Ich bin mal sehr gespannt darauf, wie ihr Machos reagieren werdet, wenn wirklich diese Frau aus den neuen Bundesländern unsere neue Polizeipräsidentin wird.«

Entsetzt drehte Tannenberg den Kopf zu seiner Mitarbeiterin. Wieder fuhr ihm ein höllischer Schmerz ins Genick, der ihn sofort aufstöhnen ließ. »Mensch, Sabrina, mal ja nicht den Teufel an die Wand!«

»Wieso? Was gibt’s denn eigentlich an objektiven Fakten gegen diese hoch qualifizierte Bewerberin einzuwenden?«

Tannenberg musste plötzlich an einen Satz Ludwig Wittgensteins denken, den er irgendwo einmal gelesen hatte oder den Dr. Schönthaler irgendwann einmal verlauten ließ: ›Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen‹, leuchtete dieser Schriftzug in hellroter Farbe auf seiner inneren Leinwand auf. Spontan beschloss er, sich an diesem berühmten Philosophen-Spruch zu orientieren und sich fortan zu diesem extrem kontroversen Thema nicht mehr zu äußern. Folgerichtig wandte er sich nun der Beschäftigung mit unverfänglicheren Dingen zu, nämlich dem Betätigen der Klingeltaste.

Schon nach wenigen Augenblicken öffnete sich die schwere Haustür des älteren Einfamilienhauses und ein Mann in einem langen, beigefarbenen Bademantel erschien im Türrahmen.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Wackernagel«, rief Sabrina Schauß mit einem kurzen triumphalen Seitenblick zu ihrem Vorgesetzen dem untersetzten, graumelierten Herrn entgegen. »Wir sind Polizeibeamte und hätten ein paar Fragen an Sie. Dürften wir zu Ihnen hereinkommen?«

Ohne zu antworten entriegelte der schätzungsweise sechzigjährige Mann elektronisch das Türschloss und gewährte dadurch den unerwarteten Besuchern Zutritt in den mit einem hohen Zaun eingefriedeten und von alten Koniferengewächsen dominierten Vorgarten.

Da sich der ältere Herr gegen Sabrinas spekulative Anrede nicht zur Wehr gesetzt hatte, sprach nun auch der Leiter des K 1 den Mann mit dessen vermeintlichem Familiennamen an: »Guten Morgen, Herr Wackernagel. Ich bin Hauptkommissar Tannenberg und das ist meine Mitarbeiterin Kommissarin Schauß.«

Dann legte er eine kleine Sprechpause ein, in der er und seine junge Kollegin nahezu synchron ihre beiden Dienstausweise zückten, die der Mann aber nur eines flüchtigen Blickes würdigte. »Könnten wir bitte ins Haus gehen?«

»Ja, natürlich. Aber machen Sie’s bitte kurz. Ich arbeite nämlich in der Wetterstation auf dem Weinbiet und habe gerade meine Nachtschicht hinter mir. Und jetzt bin ich hundemüde«, sagte der Mann gähnend. »Außerdem wüsste ich beim besten Willen nicht, was ich denn Schlimmes verbrochen haben sollte.«

Gleich im Flur fiel Tannenberg mit der sprichwörtlichen Tür ins Haus, indem er die zentrale Frage ohne Umschweife schonungslos in den Raum warf: »Wohnt hier bei Ihnen die Frauenbeauftragte des Bildungszentrums auf dem Kaiserberg?«

»Ja. Aber ich wohne eher bei Helene, als ...«

»Wann haben Sie Frau Bender-Bergmann zum letzten Mal gesehen?«, schnitt Tannenberg ihm das Wort ab.

»Ähm ... Gestern Abend, als ich zu meiner Nachtschicht weggefahren bin.«

»Um wieviel Uhr war das?«

»Ja, wie immer: um 19 Uhr. Aber was ist denn eigentlich passiert?«

»Könnten Sie uns bitte ein Foto von Frau Bender-Bergmann zeigen?«, bat Sabrina ohne auf die Frage des völlig übermüdet wirkenden Mannes einzugehen.

»Ein Foto?« Hilflos blickte sich Gustav Wackernagel im Korridor um. »Ein Foto von Helene? – Ach, da liegt ja ihre Handtasche. Die hat sie wahrscheinlich vergessen, als sie heute Morgen zur Arbeit gegangen ist.« Verwundert krauste er die Stirn, schüttelte den Kopf.

Sabrina begab sich umgehend zu einer Weichholzkommode, auf der neben einem altmodischen Telefon auch eine braune Lederhandtasche stand. Ohne bei dem älteren Herrn um Erlaubnis nachzufragen, zog sie den Reißverschluss auf, kramte darin herum, entnahm ihr eine schwarze Brieftasche, klappte diese auf und überreichte sie ihrem Vorgesetzten, der nach einem kurzen Blick auf das Passbild kopfnickend bestätigte, dass es sich bei der im Dinopark aufgefundenen Toten eindeutig um die Frau auf dem Foto handelte.

»Herr Wackernagel, wir müssen Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen: Frau Bender-Bergmann ist tot«, sagte Sabrina Schauß mit leiser, einfühlsamer Stimme.

»Was? ... Wieso? ...«, stammelte der untersetzte Mann.

»Möchten Sie sich nicht besser irgendwo hinsetzen?«

Der Meteorologe, dessen merkwürdiger Seemannsbart Tannenberg an irgendeinen bekannten Politiker oder Funktionär erinnerte, war verständlicherweise sichtlich geschockt und antwortete zunächst nicht. Daraufhin hakte ihn Sabrina unter und führte ihn wie einen Demenzkranken in die Küche. Dort ließ er sich gleich auf dem erstbesten Stuhl kraftlos niedersinken.

Tannenberg folgte. »Mein Beileid, Herr Wackernagel. Ich weiß, wie Sie sich jetzt fühlen. Aber haben Sie bitte Verständnis dafür, dass wir so schnell wie möglich mit unserer Ermittlungsarbeit beginnen müssen. Darf ich Ihnen deshalb ein paar für uns sehr wichtige Fragen stellen?«

Gustav Wackernagel schniefte und nickte.

»Danke. In welchem Verhältnis standen Sie zu Frau Bender-Bergmann?«

»Wir leben ... seit ... einigen Jahren ... zusammen«, kam es ihm nur stockend über die Lippen.

»War Ihre Lebensgefährtin gestern Abend, als Sie sie verlassen haben, irgendwie anders als sonst?«

»Wieso? ... Nein.«

»Hatte sie gestern Abend noch irgendwas vor? Ich meine: Wollte sie noch ausgehen? Erwartete sie noch Besuch?«

»Nein ... sie wollte nur noch mal ... kurz ins Bildungszentrum.«

»Um diese Zeit? Warum?«, fragte Sabrina verwundert dazwischen.

»Dort ist am ... Wochenende ein Kongress. Und den ... organisiert sie.«

»Wurde Frau Bender-Bergmann in letzter Zeit von irgendjemandem bedroht? Hatte sie Feinde?«, wollte Tannenberg wissen.

Die ganze Zeit über hatte der Mann wie ein Häuflein Elend mit gesenktem Kopf in sich zusammengesunken die Fragen beantwortet. Nun richtete er den Oberkörper auf, legte seine Arme auf den Tisch, hob den Kopf und schaute Tannenberg mit verklärtem Blick direkt in die Augen.

»Feinde?«, wiederholte er mit gekrauster Stirn.

»Na, ich denke, dass sie sich mit ihrem Job wohl nicht nur Freunde gemacht hat.«

Gustav Wackernagel schüttelte monoton den Kopf.

»Soll ich jemanden verständigen, der zu Ihnen kommen soll?«, fragte Sabrina in die Stille hinein.

Der Kopf arretierte sich, ein trauriger Blick wanderte zur jungen Kommissarin. »Was? ... Ja, meine Schwester.«

»Sagen Sie mir bitte ihre Nummer, dann ruf ich sie gleich an.«

»Das mach ich ... nachher lieber selbst. Ich möchte jetzt erst mal ein paar Minuten für mich alleine sein.«

»Verstehen wir, Herr Wackernagel. Wir lassen Sie jetzt auch in Ruhe«, beendete der Leiter des K 1 die Befragung des langjährigen Lebensgefährten der Toten.

Nach einem höchstens zehn Minuten dauernden Spaziergang durch die belebende kühle Frühlingsluft trafen die beiden Kriminalbeamten im Bildungszentrum auf dem Kaiserberg ein. Zunächst irrten sie orientierungslos in den tristen Fluren des Zentralgebäudes herum, bis Tannenberg zufällig auf einen alten Bekannten aus seiner Schulzeit traf.

»Da kommt ja der gute alte Wolfgang Vautz. Dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Was machst du denn hier?«

»Arbeiten, Tanne, immer nur arbeiten!«, antwortete der große, kräftige Mann freundlich.

»Und was arbeitest Du hier, wenn ich fragen darf?«

»Ich bin Lehrer am Technischen Gymnasium.«

»Aha, ein Lehrer«, entgegnete Tannenberg und wollte gerade zu einem seiner berühmt-berüchtigten Anti-Lehrersprüche ansetzen, als der hünenhafte Mann, der seine rotblonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebündelt hatte, sich fliegenden Schrittes entfernte.

»Bin in Eile, Tanne. Man sieht sich!«

»Wolfgang, warte doch mal! Wo ist denn das Zimmer eurer Frauenbeauftragten?«

Wie vom Blitz getroffen blieb der Gymnasiallehrer plötzlich stehen, drehte sich zu Tannenberg um, lachte schallend auf und rief: »Tanne, was willst denn ausgerechnet du bei ner Frauenbeauftragten?«

»Dienstlich, rein dienstlich!«

»Dienstlich? Gott sei Dank! Ich dachte schon, ich müsste mir ernsthaft Sorgen um dich machen. Na, dann geh mal eine Etage höher zum Rudolf Becker.«

»Rudolf Becker?«

»Klar, den kennst du doch sicher auch noch. Der war doch mit uns in Mathe in der Oberstufe.«

»Ach, der Rudi. Natürlich kenn ich den Rudi noch!«

»Dann geh mal hoch zu ihm. Der ist nämlich hier so was wie der Kanzler einer Uni. Der muss ja schließlich wissen, wo die ihr Zimmer hat. Die Tanne geht zur Frauenbeauftragten. Ich fass es einfach nicht!«

Erneut lachte der Mann aus vollem Halse und nahm dabei kopfschüttelnd seinen Sturmschritt wieder auf.

Der leitende Verwaltungsbeamte reagierte sichtlich geschockt, als ihm sein alter Schulkamerad eröffnete, dass Helene Bender-Bergmann einem grausamen Verbrechen zum Opfer gefallen war. Tannenberg fragte, ob die Frauenbeauftragte aufgrund ihrer Tätigkeit in der Vergangenheit möglicherweise irgendwelchen Anfeindungen ausgesetzt gewesen sei.

Becker verneinte dies, wobei er ausdrücklich betonte, dass Helene Bender-Bergmann zwar eine sehr streitwillige und in der Sache oft unerbittlich Fraueninteressen vertretende Mitarbeiterin gewesen sei. Aus diesen kleinen Scharmützeln mit ihren männlichen Kollegen allerdings ein Motiv für einen brutalen Mord abzuleiten, war für ihn jedoch absolut unvorstellbar.

Nach diesem kurzen Dialog führte der Verwaltungsleiter des Bildungszentrums die beiden Kriminalbeamten zum Dienstzimmer der getöteten Frau, das sie zu ihrer Überraschung unverschlossen vorfanden.

Als Tannenberg den Büroraum betrat, war ihm sofort klar, dass hier ein Kampf stattgefunden haben musste. Zu eindeutig waren die eine solche Vermutung stützenden Indizien: Vor dem gläsernen Schreibtisch lag in einem Wust von wild über dem Teppichboden verteilten Papieren ein blauer Telefonapparat sowie mehrere verschiedenfarbige Stifte und Textmarker. Der Laptop befand sich ebenfalls nicht mehr an seiner ursprünglichen Stelle, sondern war gedreht worden und stand nun so, dass der aufgeklappte Bildschirm mit seinem Rücken direkt auf den ledernen Bürostuhl zeigte. Eine buschige Zimmerpflanze war von der Fensterbank herabgefallen und lag nun schräg auf der Seite, mitten in einer Unzahl kleiner brauner Tonkügelchen, von denen einige sogar fast bis an die Eingangstür gerollt waren.

»Na, dann haben wir ja mit hoher Wahrscheinlichkeit wenigstens schon mal den Tatort«, stellte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission zufrieden fest und gab seinem alten Schulkameraden einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.

»Es gibt wohl kaum einen Mann in deiner Altersklasse hier in unserer Stadt, den du nicht kennst, oder?«, fragte Sabrina Schauß, als die beiden Kriminalbeamten gerade die hohen stacheldrahtbesetzten Mauern der ehemaligen Justizvollzugsanstalt in der Morlauterer Straße erreichten.

»Na ja, das ist schließlich auch kein Wunder, wenn man an einer reinen Jungenschule war«, entgegnete Tannenberg, während sie den direkt daneben befindlichen, bis vor einigen Jahren als Amtsgericht genutzten Gebäudekomplex passierten.

»Gab’s da wirklich nur Jungs an eurer Schule?«

»Ja, klar!« Tannenberg blieb stehen und zeigte mit seinem ausgestreckten Arm auf das Rittersberggymnasium, das sich just in diesem Augenblick in sein Blickfeld geschoben hatte. »Da hinten sind wir zur Schule gegangen. Stell dir mal vor: 50 Jungs waren wir in der Sexta! Da würden sich heutzutage solche Weicheier-Pädagogen wie mein Bruder oder meine liebe Schwägerin sofort erschießen, wenn sie vor solch einen wilden Haufen müssten.«

»Und wo waren die Mädchen früher?«, fragte Sabrina erstaunt.

»Die durften damals doch noch gar kein Abitur machen.«

»Ha – ha – ha!«

»Scherz beiseite, liebes Sabrinalein.« Er legte zärtlich seinen Arm auf ihre Schulter. »Es gab zu unserer Zeit zwei Gymnasien, die ausschließlich Mädchen aufgenommen haben. Das eine war die HWB – Abkürzung für ›Höhere weibliche Bildungsanstalt‹. Und das andere war der Nonnenbunker – der heißt heute übrigens immer noch so.«

»Das ist wirklich ausgesprochen interessant! Aber mit den Mädels hattet ihr keinen näheren Kontakt, nicht wahr?«

»Wieso?« Tannenberg blieb stehen. »Aber natürlich! Es gab doch die legendären Klassenfeten, die wir sofort in irgendwelchen kirchlichen Kellerräumen veranstaltet haben, sobald einer von uns mal eine von denen kennengelernt hat. Ist aber leider nicht so oft vorgekommen!«

»Das erklärt einiges, wenn nicht sogar alles!«

»Wie? – Was erklärt was?«

»Na ja, jetzt weiß ich endlich, warum du dich Frauen gegenüber oft so komisch verhältst – irgendwie so verklemmt bist!«