Fährentod auf Norderney

Ostfrieslandkrimi

Rolf Uliczka


ISBN: 978-3-96586-269-2
1. Auflage 2020, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2020 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag mit einem Foto von abobe stock.

Es handelt sich bei dem Ostfrieslandkrimi »Fährentod auf Norderney« um eine frei erfundene Geschichte. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen, Firmen, Gesellschaften, Behörden, Vereinen oder Örtlichkeiten sind daher grundsätzlich rein zufälliger Natur. Dennoch sind einige Orte der Handlungen wie zum Beispiel die Polizeiinspektion Aurich und andere konkret benannte Behörden sowie konkret beschriebene öffentliche Sehenswürdigkeiten real, aber im Zusammenhang mit der frei erfundenen Geschichte ausschließlich fiktiv eingebunden.

Inhalt

Prolog

 

Die Dreizehn-Uhr-Fähre aus Norddeich war pünktlich kurz vor vierzehn Uhr im Fährhafen von Norderney eingelaufen. Nachdem die Fähre angelegt hatte und vertäut war, fuhren die ersten Autos der linken Fahrzeugreihe über die aufgeklappte Rampe von Bord. Auf einmal begann im hinteren Teil der Fähre ein Hupkonzert. Unmittelbar unter der Brücke stand ein Mercedes SUV GLS und die nachfolgenden Autos konnten nicht an diesem Fahrzeug vorbei, weil an dieser Stelle eine Verengung von vier auf drei Spuren erfolgte.

Zu dem Hupkonzert gesellte sich auf einmal von dort die Alarmsirene einer Autodiebstahlsicherung. Zwei Leute des Bordpersonals spurteten sofort dorthin. Ein Mann versuchte mit Gewalt die Tür des SUV aufzureißen. Da die Fahrertür des dahinterstehenden kleinen Lieferwagens offen stand, handelte es sich offensichtlich um dessen erbosten Fahrer. Dabei hatte das Schaukeln des Fahrzeugs wohl die Alarmanlage ausgelöst.

»Was machen Sie denn da?!«, rief einer der Bordleute schon von Weitem.

»Verdammt, ich hab gleich einen Termin und dieser Penner kriegt wohl seine Scheißkiste nicht ans Fahren!«, brüllte der erregte Mann zurück. »Wo ist der überhaupt? Der Idiot kann doch nicht einfach seine Karre hier im Weg stehen lassen!«

Inzwischen hatten die Decksmänner den SUV erreicht und zogen den Mann weg, der gerade voller Wut mit der Faust gegen die Scheibe des Fahrzeugs hämmerte. »Nun beruhigen Sie sich doch mal! Sie sehen doch, dass da niemand auf dem Fahrersitz sitzt. Vielleicht ist dem auf der Toilette schlecht geworden«, sagte der eine. »Wir ziehen schon die mittlere Fahrspur bei der Ausfahrt vor und dann können Sie gleich um den Wagen hier herumfahren. Unsere Kollegen vorne kümmern sich bereits darum.«

Während der Fahrer des Lieferwagens wieder in sein Fahrzeug stieg, informierte einer der Bordleute seinen Kapitän über Funk, dass da ein abgeschlossener leerer Wagen im Weg stand. Der Kapitän ließ daraufhin mehrfach den Fahrer mit seinem Kennzeichen über Lautsprecher ausrufen und auffordern, sich sofort zu seinem Auto zu begeben.

Doch niemand meldete sich. Inzwischen hatte der Kapitän auch auf dem Personendeck und in den Toiletten nachschauen lassen, ob der SUV-Fahrer dort zu finden war. Es hätte ja sein können, dass es ihm nicht gut ging und er Hilfe brauchte.

Während die letzten Fahrzeuge die Fähre verließen, kam der erste Offizier zu dem SUV, um ihn sich näher anzuschauen. »Da liegt doch hinten einer drin«, sagte er zu seinen beiden Leuten, die bei dem Wagen geblieben waren. Dem Mariner war im Fond des Wagens etwas aufgefallen, das wie eine Hand aussah, die an der Sitzkante herunterhing. Die musste zu jemandem gehören, der nur als großer dunkler Haufen auf den Rücksitzen wahrnehmbar war.

»Hilft nichts, wir müssen die Scheibe einschlagen«, stellte der Offizier fest.

Einer der Decksmänner rannte los und holte eine Feueraxt. Damit schlug er die Scheibe der Fahrertür ein. Die Alarmsirene hatte sich inzwischen selbst abgeschaltet. Nachdem die Wagentüren offen waren, nahm der Offizier eine große dunkle Decke hoch. Darunter lag zusammengekrümmt ein älterer Mann. Er fühlte am Hals des Mannes nach dem Puls.

»Kein Puls, auch kein sonstiges Lebenszeichen«, stellte er fest. »Der Mann hat sich erbrochen. Ich frage mich, warum liegt der Mann auf dem Rücksitz? Irgendwer muss ihn abgedeckt und ihm die Decke über den Kopf gezogen haben. Aber bestimmt nicht, um ihn vor Kälte zu schützen. Wohl eher, damit nicht so schnell auffällt, dass jemand sich – entgegen unseren Anweisungen – noch im Wagen befindet. Stellt sich die Frage, wer hat den Wagen auf die Fähre gefahren? Aber das werden wir sicher gleich aus den Aufzeichnungen der Überwachungskameras herausfinden. Aber irgendwie sieht das hier nicht nach einem natürlichen Tod aus!«


 

1. Kapitel

 

Norderney, die zweitgrößte der Ostfriesischen Inseln, konnte auf eine bis auf das Jahr 1800 zurückreichende Tradition als offizielles Seebad der Nordsee zurückblicken, wie unzählige Baudenkmäler und Dokumentationen belegten. Die Ernennung zur Sommerresidenz für fast dreißig Jahre durch den hannoverschen Kronprinz Georg und späteren König Georg V von Hannover wirkte dabei fast wie ein Ritterschlag. In der Folge gaben sich gekrönte Häupter, die hohe Diplomatie, namhafte Künstler und Gelehrte ein Stelldichein und sorgten für ein mondänes Flair und die Bezeichnung als »Königlich-Preußische Seebadeanstalt«.

Natürlich gingen auch die Kriegswirren nicht spurlos an der Insel vorbei, unterbrachen den Badebetrieb aber jeweils nur relativ kurz. Dafür blieben zum Beispiel Siedlungshäuser, die vor dem Zweiten Weltkrieg in der Nordhelmsiedlung entstanden waren, bis heute erhalten. Da Norderney von größeren Luftangriffen verschont blieb, prägten viele Baudenkmäler und Sehenswürdigkeiten nach wie vor das Bild der Insel, wie zum Beispiel der Leuchtturm, das Kap Norderney, das Kaiserliche Postamt, die Norderneyer Windmühle, das Conversationshaus und einige prachtvolle Hotelbauten der Gründerzeit. Abgesehen von manchen als Bausünden bezeichneten Hochhausbauten der sechziger Jahre konnte sich Norderney dadurch weitgehend den etwas mondänen Charme der Gründerzeit erhalten.

Ein touristisch und logistisch bedeutender Vorteil war die tideunabhängige Erreichbarkeit der Insel. Da wunderte es auch nicht, dass sich Norderney von einem kleinen Fischerdörfchen im Mittelalter mit noch nicht einmal einhundert Bewohnern zu einem der meistfrequentierten Badeorte der ostfriesischen Nordseeküste entwickelte. So wurden schon eine halbe Million Gästeankünfte und mehr als drei Millionen Übernachtungen in einem Jahr verzeichnet.

Ein beliebtes Urlaubsziel für Hunderttausende Erholungssuchende jedes Jahr, doch diese Beliebtheit hatte auch ihre Tücken. Immer mehr Wohnraum der Einheimischen wurde zu Feriendomizilen umgewandelt. Für die Verantwortlichen der Stadt eine zunehmende Herausforderung.

Da kam der Vorschlag einer Immobilienentwicklungsgesellschaft aus Aurich wie gerufen. Lasse Grundmann, der Chef der Grundmann Real Estate GmbH & Co. KG, hatte mit seinem Seniorpartner die Idee, Investoren zu suchen, die bereit waren – rein aus Renditegesichtspunkten – ausschließlich in dauervermieteten Wohnraum zu investieren. Die Bewirtschaftung sollte dann eine Vermietungsgesellschaft der Insel übernehmen.

Lasse war gebürtiger Ostfriese mit einer hochgewachsenen, kräftigen Figur. Seinen Blondschopf trug er in einer modern gestylten Kurzhaarfrisur. An Kleidung und Auftreten war unschwer zu erkennen, dass es sich bei ihm um einen erfolgreichen Angehörigen der Finanzdienstleistungsbranche handelte. Sein Vater – Seniorpartner in der Firma – kleidete sich in gleichem Stil, wobei Günter Grundmann, bereits leicht ergraut, noch die Aura eines erfahrenen Experten und erfolgsverwöhnten Grandseigneurs umgab.

Man hatte sich im Norderneyer Stadtrat – mit Zustimmung des Landkreises – darauf geeinigt, zur Entschärfung des Problems ein Grundstück an der östlichen Stadtrandgrenze bereitzustellen. Eine erste Tranche von achtzig Wohnungen sollte in zweieinhalbgeschossiger Bauweise erstellt werden, um nicht die Bausünden der sechziger Jahre zu wiederholen. Die Projektentwicklung dafür übernahm die Grundmann Real Estate GmbH & Co. KG.

Günter Grundmann, Seniorpartner und Vertriebsprofi, der in der Firma nur »GG« genannt wurde, hatte es tatsächlich geschafft, dass fast einhundert Personen auf der Gästeliste für ein erstes Interessententreffen auf der Insel standen. Zwar waren über die Hälfte der Interessenten mit Partnerin oder Partner angereist, aber dennoch belief sich die Anzahl der potenziellen Investoren immerhin noch auf über sechzig. Dabei war es gar nicht so einfach gewesen, überhaupt Investoren zu finden, die bereit waren, auf eine Eigennutzung als Zweitwohnsitz und/oder Vermietung als Ferienwohnung zu verzichten. Wobei die Eigennutzung als Erstwohnsitz ausdrücklich erlaubt sein sollte. GG war es auch gewesen, über dessen langjährige Verbindungen zu einer renommierten Anwaltskanzlei mit Notariat ein juristisches Konzept für diese Konstellation ausgearbeitet worden war.

Auf jeden Fall war es ein beachtlicher Erfolg, schon im ersten Anlauf über sechzig ernsthafte Interessenten zu finden. Dafür waren überwiegend zwei Faktoren ausschlaggebend gewesen. Ein günstiger Quadratmeterpreis, deutlich unter dem derzeit gehandelten Wert, der für Investoren noch einigen Spielraum für eine gute Rendite bei Wiederverkauf zuließ. Daneben aber vor allem das Verkaufstalent von Günter Grundmann, der als eine Vermarktungskoryphäe im Kapitalanlagenbereich galt. Er war zudem ein als Speaker gern gebuchter Experte für Renditeinvestitionen.

 

Es war der erste Samstag im Oktober. Die Hauptsaison war zwar längst vorüber, aber in über der Hälfte der Bundesländer hatten zu diesem Wochenende die Herbstferien begonnen. Die meisten Feriengäste waren bereits am Freitag angereist. Dies galt auch für Teilnehmer an dem Investorentreffen, die einen weiten Anfahrtsweg hatten. Interessenten aus der hiesigen Region hatten am Samstag eine der Frühfähren genommen.

Lasse Grundmann, seine Frau Jenny und sein Projektentwickler Thilo Schepers hatten pünktlich um zehn Uhr die Gäste im Conversationshaus von Norderney begrüßt. Auf dem Programm stand heute nach einem Einführungsvortrag zunächst eine Inselbesichtigung, wozu drei Busse gechartert worden waren. Dazu wurden nach der Begrüßung und Einführung in Projektdetails die Teilnehmer in drei Gruppen aufgeteilt. Um elf Uhr dreißig gingen die Gruppen jeweils gemeinsam zum Lunch in eines der umliegenden Lokale, in denen der Veranstalter bereits entsprechende Plätze reserviert hatte.

Lasse wollte mit seiner Gruppe einen Teil der Besichtigungen zu Fuß machen, während seine Frau und Thilo Schepers mit ihren überwiegend älteren Teilnehmern die gesamte Tour mit den Bussen machen sollten. Bis fünfzehn Uhr dreißig war die Rückkehr zum Conversationshaus vorgesehen. Um sechzehn Uhr sollte das Referat von Günter Grundmann beginnen. Doch es sollte alles anders kommen.

Die Feriengäste der Insel konnten sich an diesem Samstag über einen goldenen Oktobertag freuen. Strahlender Sonnenschein und klare Sicht versprachen einen erlebnisreichen Spaziergang. Lasse war mit seiner Gruppe nach dem Lunch zu Fuß vom Restaurant in der Nähe des Conversationshauses aufgebrochen. Sein erstes Etappenziel war die Marienhöhe am Weststrand.

Die klare Sicht bot den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen romantischen Blick auf die Insel Juist, deren Ostrand wenige Kilometer Luftlinie entfernt gut zu erkennen war. Dazwischen lag das Norderneyer Seegatt, wodurch die Insel von Norddeich aus grundsätzlich tideunabhängig von den Fähren erreicht werden konnte. Im Südwesten stampfte gerade die Dreizehn-Uhr-Fähre in Richtung Norddeich vorbei. Und im Westen zwischen Norderney und Juist zog ein Krabbenkutter einen langen Schwanz unzähliger Möwen hinter sich her. Für die meisten Grund genug, um ihr Smartphone oder den Fotoapparat zum Einsatz zu bringen.

Kurz vorher hatte die Tide gewechselt und das Wasser begonnen, wieder aufzulaufen. In der Ferne nach Südwesten glänzte das Watt mit seinen sich windenden Prielen malerisch in der Mittagssonne.

Von der Marienhöhe führte Lasse seine Gruppe am nördlichen Teil des Weststrandes entlang zur Promenade und Kaiserstraße. Die geschwungenen Wellenbrecher aus gemauertem rotem Ziegel entlang der Promenade waren wiederum ein beliebtes Motiv für Erinnerungsfotos. Einige seiner Gäste zogen den durch die Ebbe freigelegten breiten Sandstrand parallel zur Promenade vor, um ein wenig Strandfeeling mitzunehmen. Ganz Hartgesottene konnten es sich nicht verkneifen und hatten sogar Schuhe und Strümpfe ausgezogen.

In der Nähe der Georgshöhe wartete bereits ihr Bus. Der nächste Halt war beim Kap Norderney, wo sie der zweiten Gruppe mit Lasses Frau Jenny begegneten, die gerade wieder auf dem Weg zu ihrem Bus war.

Lasse nutzte die Gelegenheit, um kurz mit seiner attraktiven, in einem eleganten hellgrauen Businesskostüm gekleideten Frau zu sprechen: »Jenny, ich glaube, es war eine gute Idee, den fitteren Teilnehmern einen Promenaden- und Strandspaziergang anzubieten. Einige haben sogar die Hosenbeine hochgekrempelt und sind am Strand mit den Füßen durchs Wasser gelaufen. Das hättest du sehen müssen.«

»Kann ich mir vorstellen. Da kam bei einigen bestimmt das Kind im Manne heraus«, antwortete Jenny lachend.

»Von wegen Mann. Da waren auch einige Frauen dabei. Aber Petrus meint es heute mit uns auch besonders gut, sogar mit den Temperaturen.«

»Wohl wahr«, bestätigte seine Frau. »Einige in meiner Gruppe haben schon bedauert, nicht bei euch mitgegangen zu sein.«

»Ach, Jenny, bevor ich es vergesse, GG hat mir beim Lunch eine WhatsApp geschickt. Er kommt mit der Dreizehn-Uhr-Fähre und bringt noch jemand mit.«

»Doch nicht etwa Vanessa?! Ich dachte, die ist bei ihm ausgezogen und das hätte sich mit der erledigt. Reicht ja schon, wenn diese dreißig Jahre jüngere Bitch die Ehe deiner Eltern auseinandergebracht hat. Am Ende versucht diese Tussi auch noch, mit dir ins Bett zu hüpfen. Bei euch würde es ja zumindest altersmäßig zusammenpassen. Jedenfalls ist mir nicht entgangen, wie sie immer wieder versucht hat, dir schöne Augen zu machen. Aber für sowas bist du ja Gott sei Dank wohl ziemlich blind«, konnte sich Jenny einen Anflug von Eifersucht nicht verkneifen.

»Vanessa?! Nein, das hätte mir noch gefehlt. Da mach dir mal keine Sorgen. Aber du weißt doch, wer bei meinem Vater nicht schnell genug auf die Bäume kommt …«

»… wird Investor. Typisch dein Vater. Da hat er auf dem Weg nach Norddeich noch schnell einen Interessenten aufgegabelt, oder?«, konnte sich die Schwiegertochter ein wissendes Grinsen nicht verkneifen.

»So ähnlich. Er war für den nächsten Monat als Speaker gebucht worden und hatte sich mit dem Auftraggeber vor seiner Fährabfahrt in Norden in einem Lokal verabredet gehabt, wie in seiner WhatsApp stand. Dabei hat er seinen neuen Kunden zu seinem Referat auf Norderney eingeladen. Aber du hast mit deiner Vermutung sicher recht. Natürlich mit dem Hintergedanken, diesen eventuell als Investor gewinnen zu können«, bestätigte Lasse, ebenfalls grinsend, die Vermutung seiner Frau.

»Heißt das, ich muss für den Auftraggeber deines Vaters noch eine Hotelunterkunft buchen?«

»Nein. GG schrieb dazu, dass der mit der Neunzehn-Uhr-dreißig-Personenfähre nach Norddeich zurückfahren würde.«

Jennys Leute saßen schon im Bus und Lasses Gruppe hatte sich inzwischen bereits am Kap versammelt, als die beiden sich verabschiedeten und ihren Leuten eilenden Schrittes folgten.

Lasse informierte seine Gruppe über die Bedeutung des Kaps für die Seefahrt und darüber, dass diese Landmarke erst vor wenigen Jahren neu restauriert worden war. Danach ging es mit dem Bus weiter zum Norderneyer Leuchtturm. Dort kam ihnen die Gruppe von Thilo Schepers entgegen. Nach einem kurzen Hallo ging es über zweihundertdreiundfünfzig Stufen zu der unter dem Leuchtfeuer umlaufenden Galerie. Von dort wurde man mit einem tollen Rundumblick bis zum Festland und den Nachbarinseln für den Aufstieg belohnt.

Den anschließenden kurzen Halt an der ostwärtigen Stadtgrenze bereitete Lasse im Bus bereits über Lautsprecher vor: »Meine Damen und Herren, wir kommen gleich zu dem Grundstück, auf dem unser wunderschönes Wohnensemble entstehen soll. Ich gebe zu, dass dieses Fleckchen Brachland Ihnen eine gehörige Portion Fantasie abverlangen wird. Aber ich kann Sie beruhigen. Mein Vater wird Ihnen in seinem Referat eine computeranimierte Vorstellung davon geben, wie Ihr Spitzeninvestment nach der Fertigstellung aussehen und in die Landschaft eingepasst sein wird. Dazu ist es sehr hilfreich, wenn Sie vorher die Originalumgebung schon einmal gesehen haben. Am besten machen Sie dazu ein paar Aufnahmen mit Ihren Smartphones. Dann können Sie die Animation, die Sie auf einem Stick erhalten werden, zu Hause noch einmal in Ruhe nachvollziehen.«

Als sie dort ankamen, sagte einer der Teilnehmer: »Jetzt weiß ich, was Sie vorhin meinten. Das ist ja wirklich nur Brachland, aber mit dem in rotgoldenen Herbstfarben leuchtenden Waldstreifen im Hintergrund könnte ich mir das schon ganz reizvoll vorstellen.«

Diese Feststellung eines Interessenten ging Lasse natürlich runter wie Öl. Das war tausendmal wirkungsvoller, als wenn eine solche Formulierung von ihm als Anbieter der Immobilien gekommen wäre. Bevor Lasse aber dem Mann antworten konnte, klingelte sein Handy.

 

***

 

Die Aufregung, die kurz nach dem Anlegen der Dreizehn-Uhr-Fähre aus Norddeich im Fährhafen von Norderney entstanden war, hatte sich gelegt. Alle Autos und Fahrgäste hatten inzwischen die Fähre verlassen. Nur der Mercedes SUV stand immer noch da, wo er den hinter ihm stehenden Fahrzeugen den Weg zur Ausfahrt versperrt hatte. Trotz mehrfacher Aufrufe hatte sich der Fahrer nicht gemeldet. Nachdem die Scheibe der Fahrerseite vom Bordpersonal eingeschlagen worden war, fand man einen älteren Mann, der unter einer Decke im Fond des Wagens gelegen hatte, tot auf. Alles deutete auf eine unnatürliche Todesursache hin.

Der erste Offizier, der auch die gewaltsame Öffnung des Fahrzeugs veranlasst hatte, informierte seinen Kapitän, der sofort den Notarzt, Sanitäter und die Polizeistation Norderney alarmierte. Ein Toter an Bord und Umstände, die zudem doch sehr mysteriös zu sein schienen, ließen den Kapitän schon befürchten, dass es mit einer pünktlichen Rückfahrt nach Norddeich nichts würde. Er informierte daher auch sofort die Reederei, denn der Einsatz einer Ersatzfähre von Norddeich aus müsste zumindest vorbereitet werden.

Es dauerte nur eine kurze Zeit, bis Notarzt, Sanitäter und Polizei fast zeitgleich eintrafen.

Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Allerdings wusste er, wer der Tote war. Es handelte sich um Günter Grundmann von der Auricher Grundmann Real Estate GmbH & Co. KG. Der Arzt hatte selbst von dieser Gesellschaft eine Einladung zu einem Investorentreffen bekommen, welches zurzeit gerade auf Norderney stattfand. Eigentlich hatte er auch zusagen wollen, aber es zu seinem Bedauern terminlich nicht hinbekommen. Jedenfalls kannte der Mediziner den Toten sogar persönlich. Er war schon mal vor längerer Zeit bei einem Vortrag von Grundmann über Renditeimmobilien gewesen, für die er sich als Kapitalanlage interessiert hatte. Im Anschluss daran hatte er sogar ein längeres Gespräch mit ihm geführt.

Der Arzt wunderte sich, dass Jacken- und Hemdsärmel links hochgeschoben waren, und sah sich daher den Arm genauer an. Dabei stellte er mehrere frische Einstichspuren fest, was darauf hindeutete, dass jemand ziemlich dilettantisch versucht hatte, die Vene zu treffen. »Ich fürchte, dass Herr Grundmann keines natürlichen Todes gestorben ist«, bestätigte er die Vermutung des Ersten Offiziers. Einer der beiden Polizeibeamten, die als Erste vor Ort gewesen waren, informierte über Handy seinen Chef. Denn es war Wochenende und die Polizeistation nicht voll besetzt. Der Chef gab Anweisung, sofort auch die Polizeiinspektion in Aurich über den Sachverhalt und die Feststellung des Notarztes zu informieren.

Während der Arzt den Toten untersuchte, nahmen die beiden Beamten Kontakt zur vorgesetzten Dienststelle und der Grundmann Real Estate in Aurich auf, die auch an diesem Samstag wegen der Veranstaltung auf Norderney eine Notbesetzung eingerichtet hatte. Dort bekamen sie die Handynummer von Lasse Grundmann, den sie anschließend anriefen und ihn zur Fähre baten.

Von da an übernahm polizeiliche Routine den Ablauf des Geschehens. Weitere diensthabende Kollegen der Polizeistation Norderney trafen ein. Der Stationschef hatte auch die anderen Beamten seiner Dienststelle alarmiert, die sich im Wochenende befanden. Die Fähre wurde als Tatort sofort stillgelegt und gesichert, wie es der Kapitän bereits befürchtet hatte. Es war nur gut, dass an diesem Samstagnachmittag die Fähre für die Rückfahrt nach Norddeich nur schwach gebucht gewesen war. Die Fahrgäste würden sich also bis zum Eintreffen der Gegenfähre aus Norddeich gedulden müssen.

Auch in Aurich herrschte Alarmmodus. Die zuständigen Polizeibeamten wurden ebenfalls aus dem Wochenende geholt. Bereits eine halbe Stunde danach rief die Erste Kriminalhauptkommissarin Femke Peters, Leiterin der Sonderkommission für Tötungsdelikte der Polizeiinspektion Aurich, beim Chef der Norderneyer Polizeistation an. Sie war wegen einer anderen Angelegenheit zufällig in ihrer Dienststelle gewesen und hatte sofort alle notwendigen Maßnahmen eingeleitet.

Sie teilte ihrem Kollegen auf Norderney mit, dass eine Maschine der Polizeihubschrauberstaffel von Rastede aus unterwegs sei, um den Rechtsmediziner aus Oldenburg abzuholen. Sie selbst und die Leiterin der Spurensicherung, Erste Kriminalhauptkommissarin Maren Wenker, würden ebenfalls mit dem Hubschrauber mitkommen. Dazu sollte beim Fähranleger die Fläche vor dem Terminal geräumt und für die Hubschrauberlandung vorbereitet und abgesperrt werden.


 

2. Kapitel

 

Die Erste Kriminalhauptkommissarin und Fallanalytikerin in der Polizeiinspektion Aurich, Femke Peters, hatte sich für einige Minuten in ihr Dienstzimmer zurückgezogen. Der Polizeihubschrauber aus Rastede mit dem Rechtsmediziner aus Oldenburg, Dr. Klaus Rabe, war im Anflug auf Aurich. Das Team mit Femkes Kollegen, Kriminalhauptkommissar Lars Brodersen, versammelte sich gerade im Meetingraum zur Einweisung.

Die großgewachsene, sportliche Ostfriesin mit ihrem leicht gebräunten Teint und ihrer praktischen blonden Pferdeschwanzfrisur saß an ihrem Schreibtisch und überlegte. Sie kannte den Toten. Sie war ihm vor noch gar nicht langer Zeit bei einer Informationsveranstaltung im Kreishaus des Landkreises Aurich begegnet. Eine honorige Persönlichkeit mit hoher Fachkompetenz und der Aura eines erfolgreichen und lebenserfahrenen Immobilienexperten. So hätte man sich in früheren Jahrhunderten auch einen der ostfriesischen Häuptlinge vorstellen können, hatte sie bei sich gedacht, als sie ihm vorgestellt wurde. Ihr Vater, Olrik Peters, und Günter Grundmann kannten sich vom Sport her. In jungen Jahren hatten beide beim TV Norden sehr erfolgreich Fechtsport betrieben. Über ihren Vater war auch Femke schon in ihrer Jugend zu dieser Sportart gekommen, die sie bis heute noch aktiv betrieb und in der sie schon so manchen Pokal erfochten hatte.

Eigentlich hätte sie mit ihrem Vater bei dem Investorentreffen auf Norderney dabei sein sollen. Aber sie war ja nicht ohne Grund auch an einem Samstag mal wieder in ihrer Dienststelle gewesen. Ihr Vater interessierte sich für eine achtzig Quadratmeter große Wohnung als Kapitalanlage, da das Angebot der Grundmann Real Estate erheblich unter dem marktüblichen Preis lag. Er sah hier vor allem auch für seine Tochter Femke, die mal als einziges Kind ihrer Eltern alles erben würde, eine gute und sichere Renditechance.

Deshalb war Femke auch vor Kurzem mit ihm gemeinsam zu einer diesbezüglichen Informationsveranstaltung im Kreishaus gewesen. Günter Grundmann hatte dort in seinem Vortrag auf die Problematik der meisten Inseln – wahrscheinlich nicht nur an der Nordseeküste – hingewiesen, nämlich dass immer mehr Dauerwohnraum in Feriendomizile für die Touristik oder in Zweitwohnsitze umgewandelt würde. Nicht wenige Erbengemeinschaften machten aus den Elternhäusern Ferienwohnungen. Natürlich sehr zur Freude der Touristikbranche und der im Grunde ja herzlich willkommenen Erholungsgäste aus nah und fern. Haken an der Geschichte war aber, dass für das dringend benötigte Personal auf den Inseln kaum noch bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung stand.

Günter Grundmann war mit einer sehr gut aussehenden jungen Frau zu der Veranstaltung gekommen. Zunächst hatte Femke gedacht, dass es sich um seine Tochter handeln würde. Dann hatte sie von ihrem Vater erfahren, dass GG, wie sie ihn wohl nicht nur in der Firma seines Sohnes nannten, seit zwei Jahren geschieden war und es sich um seine neue Lebenspartnerin handelte. Als erfahrene Kriminalistin war ihr aufgefallen, dass offensichtlich zwischen dem Sohn des Toten und der neuen Partnerin seines Vaters ein gespanntes Verhältnis bestand. Warum ihr das gerade jetzt ins Gedächtnis kam, hätte sie auch nicht sagen können. Ihr Vater hatte das Thema weder bei der Veranstaltung noch später vertieft.

Aber jetzt würde es auf der Insel erst einmal um die Aufklärung der näheren Todesumstände gehen. Die bisherigen Informationen erschienen irgendwie nicht besonders schlüssig und sehr verworren. Sie packte noch einige Sachen in ihre »Alarmtasche«, wie sie das Gepäckstück immer nannte, wenn es überraschend in einen Einsatz mit Übernachtung ging. Und so wie es aussah, stand mindestens eine Übernachtung auf Norderney an. Nur wenn sie Glück hatte, würde sie eventuell morgen im Laufe des Tages mit der Fähre wieder zum Festland übersetzen können. Es wurde Zeit für die Einweisung ihres Teams.

Im Meetingraum hatten sich nicht nur die Kolleginnen und Kollegen ihres Stammteams versammelt, auch die Leiterin der Forensik, Erste Kriminalhauptkommissarin Maren Wenker, war anwesend. Allerdings waren wohl noch einige Beamte auf dem Weg zur Dienststelle. Alle Anwesenden hatten aber bereits ihre »Alarmtaschen« dabei und sich darauf eingestellt, zumindest eine Nacht auf der Insel verbringen zu müssen. Nachdem die Kommissarin die vorliegenden Informationen über den Toten auf der Fähre weitergegeben hatte, ging es darum, einige organisatorische Dinge zu regeln.

»Auch wenn ich weiß, Maren, dass du das Wasser der Luft vorziehst, ist es wichtig, dass wir beide zusammen den Hubschrauber nutzen«, ordnete die Leiterin der hiermit eingerichteten Sonderkommission an. »Damit sind wir dann schneller vor Ort. Für die Sicherung des Tatortes auf der Fähre haben unsere Kollegen aus Norderney schon gesorgt. Daher reicht es, wenn alle anderen Kolleginnen und Kollegen mit den Einsatzfahrzeugen die nächste Fähre nach Norderney nehmen. Lars, du übernimmst bitte die Führung und Koordination, auch für die Leute von der Spurensicherung und der Bereitschaftsgruppe. Der Hubschrauber wird Maren und mich auf dem Sportflugplatz in Brockzetel aufnehmen. Wenn keine Fragen mehr sind, dann Abmarsch.«

Als die beiden Kommissarinnen aus Aurich bei dem etwa zehn Kilometer entfernt liegenden kleinen Sportflugplatz ankamen, war der Hubschrauber gerade gelandet. Kurz darauf waren sie unterwegs in Richtung Küste. Der Pilot war auf über zweitausend Meter hoch gegangen und so hatten sie einen tollen Überblick. Bei dem herrlichen Oktoberwetter konnte man aus der Luft sehr schön die ganze Kette der Ostfriesischen Inseln liegen sehen. Die Segelsaison war ja schon vorbei, daher zogen überwiegend nur einige Fähren und Krabbenkutter im Wasser weithin sichtbare weiße Schaumfahnen hinter sich her.

»Das sind die schönen Seiten unseres Berufes«, stellte Femke fest. »Oder was meinst du, Maren? Man sagt doch nicht umsonst: ›Nur Fliegen ist schöner.‹«

»Bei dem ruhigen und sonnigen Herbstwetter, mit so einer traumhaften Sicht, muss sogar ich das zugeben«, bestätigte die Angesprochene. »Obwohl die Höhe mir schon ein wenig Angst macht und ich sonst wirklich das Segeln im Watt bevorzuge, wie du weißt.«

»Hat beides seinen Reiz«, mischte sich Dr. Rabe in das Gespräch der beiden Polizistinnen ein. »Dabei gilt ebenso für beides: Wenn der blanke Hans auf die ostfriesische Küste drückt, wird es verdammt ungemütlich. Dann bevorzuge ich doch das Stadtflair meiner Heimatstadt Oldenburg. Aber heute ist Kaiserwetter, und gekrönte Häupter sollen sich ja schon in den vorigen Jahrhunderten auf Norderney ein Stelldichein gegeben haben.«

 

***

 

Lasse Grundmann war mit sehr gemischten Gefühlen mit einem Fahrrad zum Fähranleger gefahren. Man hatte ihm am Telefon nur gesagt, dass etwas mit seinem Vater passiert und der Notarzt bereits vor Ort sei. Er hatte seine Frau und seinen Mitarbeiter informiert und sich sofort auf den Weg gemacht. Die Blaulichter der Polizei- und Sanitätsfahrzeuge verhießen nichts Gutes, als er im Hafen ankam. Ein Polizist führte ihn sofort auf die Fähre zum Notarzt.

Dieser begrüßte ihn mit den Worten: »Es tut mir sehr leid, Herr Grundmann, ich habe keine gute Nachricht für Sie. Obwohl wir sehr schnell hier vor Ort waren, konnten wir für Ihren Vater leider nichts mehr tun. Ihnen und Ihren Angehörigen mein aufrichtiges Beileid!«

»Was ist denn passiert? Kann ich meinen Vater sehen?«, wollte Lasse wissen.

»Was genau passiert ist, kann ich Ihnen leider noch nicht sagen. Vieles deutet darauf hin, dass er während der Überfahrt in seinem Wagen verstorben ist. Er saß nicht am Steuer seines Autos, sondern lag abgedeckt auf den Rücksitzen. Deswegen und wegen der extrem abgedunkelten Scheiben im Fond ist dem Bordpersonal auch nicht aufgefallen, dass er sich noch im Fahrzeug befand. Ebenso habe ich Anzeichen dafür gefunden, die vermuten lassen, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist. Wie Sie sehen, ist bereits die Polizei eingeschaltet und der Rechtsmediziner aus Oldenburg im Hubschrauber hierher unterwegs«, informierte ihn der Arzt.

»Kommissar Hülsebus, ich bin der Leiter der hiesigen Polizeistation«, stellte sich ein inzwischen hinzugetretener uniformierter Polizist vor. »Auch von mir mein Beileid, Herr Grundmann. Ich kann Sie leider noch nicht zu Ihrem Vater lassen, bis der Rechtsmediziner ihn sich angeschaut hat. Die Leiterin der Soko aus Aurich, Kommissarin Peters, ist ebenfalls im Hubschrauber unterwegs hierher. Ich bitte um Ihr Verständnis. Es ist aber gut, dass Sie da sind, denn die Kollegin wird nachher sicher noch einige Fragen an Sie haben.«

Lasse war bei seinen Mitarbeitern dafür bekannt, dass er auch in schwierigen Situationen einen klaren Kopf behielt. Wie es drinnen in ihm aussah, wusste höchstens seine Frau Jenny. So standen auch jetzt für ihn die geschäftlichen Interessen über seinen persönlichen Gefühlen.

Das emotionale Verhältnis zu seinem Vater hatte sich seit der Scheidung von Lasses Mutter ohnehin sehr stark abgekühlt. Er und seine Schwester hatten es ihrem Vater nicht verziehen, dass er sich von ihrer Mutter wegen einer Frau getrennt hatte, die vom Alter her ihre Schwester hätte sein können. Im Geschäft allerdings wussten nur ganz wenige Eingeweihte von dieser Abkühlung zwischen Vater und Sohn. Hier verstanden sowohl der Vater als auch der Sohn sehr gut, das Geschäftliche vom Privaten zu trennen.

»Okay, Herr Kommissar. Wie ich sehe, kann ich hier im Moment ohnehin nichts tun, als nur auf die Kommissarin zu warten. Im Conversationshaus führt meine Firma gerade eine sehr wichtige Informationsveranstaltung durch, bei der mein Vater gleich einen Vortrag halten sollte. Da viele Teilnehmer zum Teil von sehr weit her angereist sind, können wir die Tagung nicht einfach abbrechen. Den Informationsvortrag wird jemand aus unserer Firma übernehmen. Das werde ich gleich veranlassen und mich danach hier wieder melden. Ich hoffe, dass das für Sie in Ordnung ist. Außerdem haben Ihre Leute meine Handynummer.«

Als Lasse im Conversationshaus ankam, war es bereits kurz vor sechzehn Uhr und alle Teilnehmer erwartungsvoll im Tagungssaal versammelt. Nachdem Lasse seine Frau und seinen Projektentwickler Thilo Schepers informiert hatte, trat er ans Mikrofon.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, begann er und musste dann doch erst einmal einen Moment innehalten. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, fuhr er fort: »Sie erwarten in wenigen Minuten als brillanten Redner meinen Vater, Günter Grundmann. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ihm auf der Herfahrt etwas zugestoßen und er verstorben ist.«

Wieder hielt er einen Moment inne. Wie auf Kommando erhoben sich alle Teilnehmer im Saal und ein alter Bekannter seines Vaters in der vordersten Reihe sprach das aus, was vielen in diesem Moment auf den Lippen lag: »Lasse, ich glaube, ich spreche hier für alle, wenn ich dir und deinen Familien- und Firmenangehörigen unser aller Mitgefühl ausdrücke. Meinst du nicht, dass es besser wäre, wenn wir an dieser Stelle die Veranstaltung hier abbrechen, damit du dich um deine Lieben kümmern kannst?«

»Vielen Dank, Olrik und Ihnen allen, für Ihr Mitgefühl! Danke, ich weiß das sehr zu schätzen. Olrik, du kennst meinen Vater seit eurer Jugendzeit und den gemeinsamen Fechtturnieren. Daher wirst du sicher wissen: Das wäre mit Sicherheit nicht im Sinne meines Vaters. Für ihn stand das Geschäft immer obenan. Und sehr viele von Ihnen, meine lieben Damen und Herren, sind von sehr weit her angereist. Mein Projektentwickler, Thilo Schepers, wird gleich mit der Präsentation meines Vaters den Vortrag halten. Für Fragen stehen Ihnen dann meine Frau und Herr Schepers gerne zur Verfügung. Ich selbst werde allerdings gleich am Fähranleger zurückerwartet. Insofern werde ich zwar nicht ganz genau das tun, was Olrik Peters vorgeschlagen hat, aber mich zumindest erst einmal um meinen toten Vater kümmern.«

Nachdem er sich verabschiedet und allen eine gute Heimfahrt am nächsten Tag gewünscht hatte, verließ er die Veranstaltung, um wieder zum Fähranleger zu fahren. Als er dort ankam, war der Polizeihubschrauber gerade im Anflug. Dazu hatte die Norderneyer Polizei den Platz vor dem neuen, modernen, einer Düne nachempfundenen Terminal abgesperrt. Vor der Absperrung hatten sich einige Trauben Neugieriger eingefunden, um die Landung des Hubschraubers zu verfolgen. Irgendwie hatte es sich bereits über die Social Media verbreitet, dass es auf der Fähre einen Toten gegeben hatte.

Lasse sprach einen der Beamten an der Absperrung an und sagte ihm, dass sein Leiter, Kommissar Hülsebus, auf ihn warten würde. Nachdem dieser kurz über Funk mit seinem Chef gesprochen hatte, brachte er den Sohn des Toten zu einem der Einsatzfahrzeuge. »Sie sollen hier bitte im Wagen warten. Die Kommissarin kommt nachher zu Ihnen«, informierte ihn der Uniformierte.

Erst jetzt, als er allein im Polizeifahrzeug saß, hatte Lasse Gelegenheit, über die Situation nachzudenken. Er war sich sicher, vor zwei Jahren, noch vor der Trennung seiner Eltern, hätte es ihm wahrscheinlich die Tränen in die Augen getrieben. Dazu war aber seitdem emotional zwischen ihm und seinem Vater zu viel in die Brüche gegangen. Es hätte nur noch gefehlt, dass er mit Vanessa Degenhard, seiner Neuen, nicht nur ins Bett gegangen, sondern auch noch in den Hafen der Ehe geschippert wäre und in seinem Alter noch weitere Kinder gezeugt hätte.

Denn ein Kind hätte Vanessa von GG noch haben wollen, wie sein Vater mal bei einer der hitzigen Diskussionen über dieses Thema rausgelassen hatte. Lasse war mit seiner Schwester Nehle einer Meinung, dass Vanessa es mit viel Raffinesse und ihren weiblichen Reizen geschafft hatte, die Ehe ihrer Eltern auseinanderzubringen. Für ihn und Nehle war die junge Frau eine typische Erbschleicherin, die es nur auf das Geld seines Vaters abgesehen hatte.

Es sprach ja schon Bände, dass diese Frau bei seinem Vater vor ein paar Wochen ausgezogen war, nachdem GG ihr gesagt hatte, dass es wegen seiner Kinder aus erster Ehe weder eine Hochzeit noch eine testamentarische Änderung, geschweige denn ein Kind mit ihr geben werde. Ob sein Vater dabei mit Vanessas Auszug gerechnet hatte, wusste Lasse nicht. Sie hatten seitdem über dieses Thema nicht mehr gesprochen.