Kris Felti

Gerry Christmas

Ein Marienkäfer am Nordpol

Mit Illustrationen von Ishika Sharma

Für Pauline und Tamina

Vorwort

Hoch oben, weit, sehr weit im Norden, wo die kleinen Sternenkinder wie glitzernde Schwaden durch die Lüfte schweben und die Eiszapfen die wundervollsten Melodien spielen, wo das Fell der Hasen und Füchse so weiß ist wie der weiße Schnee, wo Rentierherden in unzähliger Menge umherstreifen und wo der Kodiakbär, das größte Landraubtier der Welt lebt, dort könnte auch er zu Hause sein. Aber wo genau wohnt er wirklich, der Weihnachtsmann? Wohnt er in Lappland? Lappland erstreckt sich über den Norden Norwegens, Schwedens, Finnlands und Teile Russlands. Hier, hauptsächlich nördlich des Polarkreises gelegen, hätte der Weihnachtsmann für seine Rentiere die idealen Temperaturen: minus dreißig Grad Celsius bis plus achtzehn Grad Celsius. Der Weihnachtsmann hätte ganzjährig Schnee, dunkle Polarnächte und viel Ruhe in der Nachbarschaft. Aber es heißt, es sei nicht schneereich genug. Also vermutet manch ein Weihnachtsliebhaber den Weihnachtsmann am Nordpol. Dort jedoch, so entgegnen Skeptiker, dürfte es für Rentiere etwas zu kalt sein, was jedoch aufgrund der globalen Erderwärmung nicht so richtig stimmen kann. Man hat dort schon über zwanzig Grad Celsius gemessen. Wieder andere Leute vermuten den Weihnachts-mann in relativer Nähe zum Nordpol im grönländischen Städtchen Uummannaq. Hier soll er in einer kleinen Hütte am Meer wohnen mit viel Weidefläche für seine Rentiere. Niemand weiß es wirklich genau. Aber es ist auch nicht wichtig. Wir wissen, dass dort, wo die Träume und Wünsche der Kinder in ein großes Buch geschrieben werden, eine wunderbar schöne Welt aus Schnee und Eis ist. Nordlichter zeigen den Bewohnern in der Dunkelheit den Weg nach Hause und funkelnde Punkte nehmen sich tanzend an die Hand, um in Sternbildern dem Himmelszelt eine besondere Magie zu verleihen. An diesem Ort wird der Zauber geboren, der besonders in der Weihnachtszeit bis in unsere Häuser und Herzen strahlt. Genau dort lebt der Weihnachtsmann mit seinen fleißigen Elfen und Wichteln. Und dort ist auch er zu Hause: Gerry Christmas. Bevor ich euch erzählen kann, wer Gerry Christmas ist, müsst ihr Folgendes wissen: Oben im Norden, dort, wo der Weihnachtsmann tatsächlich wohnt, nennen wir es der Einfachheit halber »den Nordpol«, ist nichts so wie anderswo. Es gibt keine fremden Sprachen und keine Unterschiede zwischen den Bewohnern des Städtchens Weihnachtsstadt, die wir Wichtel und Weihnachtselfen nennen. Aus diesem Grund kann man auch gar nicht so genau sagen, warum man manchmal Wichtel und manchmal Weihnachtselfen sagt, denn im Grunde sehen sie gleich aus. Die Wichtel, das müsst ihr wissen, sind die Helfer überall, wo es ihrer Unterstützung bedarf. Im Haushalt, in den Läden, in der Küche der Schule oder der Spielzeugmanufaktur, kurz Manufaktur. Sie besitzen ein so großes handwerkliches Geschick und arbeiten mit so viel Fleiß, dass jede noch so gute Idee zu einem neuen Spielzeug nicht in die Tat umgesetzt werden könnte, gäbe es die Wichtel nicht. Die Weihnachtselfen hingegen sind die Designer, die Künstler und Technologen. Sie entwerfen das Spielzeug auf dem Papier, kennen sich in der Werkstoffkunde aus und entwickeln die geeigneten Maschinen und Geräte für die Herstellung. Sie beaufsichtigen den Produktionsprozess und schulen die Wichtel in der Qualitätskontrolle. Jedoch bleibt das Qualitätsmanagement in den Händen der Wichtel, da erst deren handwerkliches Geschick dem Spielzeug sein Leben einhaucht. Ohne die Weihnachtselfen gäbe es keine Ideen und ohne die Wichtel keine qualitativ hochwertigen Spielsachen. Wir sprechen hier nicht nur von der elektrischen Eisenbahn oder dem Puppenwagen. Heutzutage beherbergt die Manufaktur auch die IT-Abteilung, einen Bereich, der sich mit elektronischem Spielzeug beschäftigt: Kindercomputer, Spielekonsolen, Mobiltelefone für Kinder in allen erdenklichen Farben. Die Herstellung von Spielgegenständen wächst mit den Ansprüchen der Kids. Der Fortschritt macht auch am Nordpol nicht halt. Jeder Einzelne hat Anteil am Erfolg des großen Ganzen. Nun, der Wahrheit halber müssen wir sagen, dass bis zu dem Zeitpunkt, als Gerrys Familie nach Weihnachtsstadt kam, nur Wichtel und Weihnachtselfen beim Weihnachtmann lebten. Aber auch, wenn Gerrys Eltern und sein Großvater weder Wichtel waren noch zu den Elfen gezählt werden konnten, waren sie ganz gewöhnliche Bewohner von Weihnachtsstadt. Ihr müsst außerdem Folgendes wissen: Am Nordpol wird das Alter nicht in Jahren gemessen, sondern am Herzen. Bist du tief in deinem Herzen ein Kind? Dann bewahrst du dir die Kindheit und das Verständnis dafür. Das ist der Grund, weshalb Elfen und Wichtel für eine sehr lange Zeit die Wünsche der Menschenkinder am besten verstehen können. Das bedeutet aber nicht, dass man am Nordpol ewig jung bleibt. Wie an vielen Orten der Welt gehen die Kinder am Nordpol zur Schule, bevor sie sich für einen Beruf entscheiden. Da gibt es viele Möglichkeiten. Sie werden Apotheker oder Apothekerinnen, Ärzte oder Ärztinnen, Köche oder Köchinnen. Sie können Designer oder Designerinnen werden, die Kleidung, Möbel oder Spielzeug entwerfen. Sie werden Computerfachleute und Programmierer oder Programmiererinnen. Sie bedienen die Maschinen zur Herstellung des Spielzeugs oder sie erlernen das Tischlerhandwerk. Für jede Neigung und jedes Interesse gibt es einen Beruf. Dabei fühlt kein Berufsstand sich wichtiger und wertvoller als der andere. Es gibt keine Armen und Reichen. Und noch etwas müsst Ihr wissen: Entgegen dem althergebrachten Wissen, dass sich die Sonne am Nordpol ein halbes Jahr unter ihrer Bettdecke, dem Horizont versteckt, wird Weihnachtsstadt jeden Morgen von ihren hellen Strahlen aufgeweckt und jede Schlafmütze aus den Träumen geholt. Dort gibt es keine lang andauernde Polarnacht. Das Leben findet statt, so wie du es kennst. Beinahe jedenfalls!

Es war einmal in Weihnachtsstadt

»Kinder, Kinder!«, schallte es durch den großen Raum, der mit wohliger Wärme, dem Duft nach Bratapfel und Zimt und allerlei Geplapper erfüllt war. Stimmen von großen und kleinen Kindern, tiefe und hohe Stimmen. Die Piepsigste war eindeutig die von Pekka, dem aufgeweckten blondgelockten Jungen aus der ersten Reihe. Gerry schmunzelte bei dem Gedanken an dessen zuweilen ausbrechenden Jähzorn, der so gar nicht zu seinem engelhaften Aussehen passen wollte. Die Freude dieses Burschen am Lernen war jedoch so unendlich groß, dass Gerry all die kleinen Wutausbrüche als das abtat, was sie waren: der Versuch, mit all den unruhigen Geistern, die in dem Elfenkind tobten und ständig hungrig nach neuem Wissen waren, zurechtzukommen. Diese Art der Organisation dieser inneren Geister war für jedes Kind eine Herausforderung. Meistens waren diese Geister jedoch wie gute kleine Dienstleister, die dem Kind halfen, alles Wissen in die eigens dafür vorgesehenen Schubfächer zu packen. Bei manchen Kindern funktionierte dieser Service jedoch nicht so gut. Die Wissenschaftler waren sich noch nicht einig, woran das hätte liegen können. Entweder hatte das Kind einfach Pech und seine inneren Geister waren noch in der Ausbildung für einen guten Dienst gewesen. Oder aber, das Kind war offen für so viele Eindrücke und Wissen, dass seine Geister die Fülle des Erlernten nicht schnell genug organisieren konnten. Obwohl sich dieser Prozess im Inneren des Kindes abspielte, berührte er sein Verhalten und damit seine Außenwirkung. Es schien, als ob das Kind im Chaos versinken und mit sich und der Welt nicht im Einklang stehen würde. Gerry wusste, dass Pekka zu den Kindern gehörte, dessen innere Geister sich permanent unterbesetzt fühlten. Sie mussten lernen, sich auf die Besonderheit des Jungen einzustellen, um ihn bestmöglich zu unterstützen. Oft sagen die Leute über ein Kind: »Der Knoten ist noch nicht geplatzt.« So war es auch bei Pekka. Sein Knoten brauchte noch ein Weilchen. Bis dahin war es die Aufgabe der liebevollen Eltern und des Lehrers, dem Jungen behutsam die Richtung zu weisen. Gerry ließ sich in den großen Lehnsessel fallen, der direkt am lodernden Kamin hinter einem wuchtigen Schreibtisch stand. Es machte ein merkwürdiges Geräusch. Wie an jedem Tag fing Gerry in diesem Moment die ganze Aufmerksamkeit seiner Klasse ein. Die dreißig Kinder lachten, ordneten ihre Hefte und Bücher auf ihren Schulbänken und richteten ihre Augen auf ihn. Augen hinter Brillengläsern, braune Augen, blaue, grüne, rote Augen. Beinahe alle Farben schmückten die Augen der Kinder. »Wie ein bunter Blumenstrauß«, dachte der Lehrer bei sich. Auf allen kleinen Gesichtern war dieses Lächeln gezeichnet, das sich wie bei einer Urlaubsreise in einen Liegestuhl ihrer Herzen legte und sich nicht wegrührte. Für Gerry war es der wichtigste Augenblick des Tages. Es war wie ein Ritual und sowohl er als auch seine Schüler liebten diesen Moment, wenn sein Sessel pupste und damit signalisierte: Augen und Köpfe aufgepasst!

Am Nachmittag, wenn die Schneeflocken sich zu ihrem alltäglichen Tanz versammelten, verließ das letzte Kind den Klassenraum, nachdem es die grüne Tafel fein säuberlich geputzt und den Schwamm zum Trocknen an den Kamin gelegt hatte. Gerry blickte über seinen Brillenrand lächelnd in das Gesicht der hilfsbereiten Schülerin. Ylva war ein ruhiges Mädchen, sehr intelligent, aber auch sehr ängstlich und verschlossen. »Vielen Dank, Ylva. Was würde ich nur ohne dich tun?«, fragte er. Mit ihren grünen wachen Augen, die den Schein kleiner Sterne eingefangen hatten, blinzelte sie ihn an. »Sie wissen, wie sehr ich die Ruhe im Klassenzimmer mag, wenn im Kamin das Feuer prasselt und ich Ihren Stift auf dem Papier kratzen höre. Es ist die schönste Art, den Schultag ausklingen zu lassen.« Leichtfüßig verließ sie daraufhin das Zimmer. Gerry lauschte dem Knistern der Flammen und dem Schreibgeräusch seines Stiftes. Er liebte sie auch, diese Ruhe nach einem lauten Tag. Nicht, dass er sich beschweren würde. Die tönende Fröhlichkeit seiner Schüler war sein Lebenselixier. Dieses unbeschwerte Lachen tauchte die ganze Welt in einen großen Farbtopf. Glück hatte die Farben des Regenbogens in all seinen Nuancen und der ihm eigenen Leuchtkraft. Gerry nahm seine Stiefel vom Bänkchen neben dem Kamin, zog seine dicke Jacke, Mütze und Handschuhe an und stapfte durch den hohen Schnee.

Nur wenige hundert Schritte entfernt war sein kleines Häuschen. Aus dem Schornstein stieg dunkler Rauch. Der Hausmeister der Schule, der alte Jonte, ging jeden Nachmittag vor Unterrichtsschluss zum Haus des Lehrers, um den Kamin in der Stube und den kleinen Ofen in der Küche anzuheizen, auf den er den Wasserkessel mit frischem Wasser stellte. Gerry sollte es gemütlich warm haben und heißes Wasser für den Tee, wenn er heimkam. Die Hausmeisterfrau, Ragna, gab ihrem Mann jeden Tag einen kleinen Topf von ihrem frisch gekochten Essen für den Lehrer mit. Sie wusste, wie sehr Gerry ihre Suppen liebte. Besonders wenn sie ihre berühmte Kürbisblattsuppe mit Erbsen und Möhren kochte, nahm sie einen sehr großen Topf und stellte den Rest in den Eisschuppen neben ihrem Haus. So blieb das Essen viele Tage frisch und konnte im wahrsten Sinne »Stück für Stück« aufgewärmt und gegessen werden. In ihrem Eisschuppen war allerlei Gemüse säuberlich gelagert. Ragna ließ sich jeden Monat ein großes Paket mit Karotten, Erbsen, Kürbissen, Kürbis- und Weinblättern schicken, das pünktlich, ohne Unterbrechung der Kühlkette, von UPS angeliefert wurde. In dem kleinen Städtchen am Nordpol wurde kein Fleisch gegessen. Woher sollte man es auch nehmen? Die Rentiere waren keine Nutztiere, sondern lebten als Bewohner mit den Elfen zusammen. Sie zogen die