Erinstor
3 Ein breitschultriger Soldat zog ihm den Sack von seinem Kopf, griff die Ketten, die Wiesels Hände gefesselt hielten, und befestigte an ihnen einen Haken, der mit einer schweren Kette über einen Flaschenzug mit einer Winde verbunden war. Während Wiesel noch versuchte zu verstehen, was ihm soeben geschah, drehte der Soldat bereits mit lautem Klackern an der Kurbel, bis Wiesels Füße, noch immer in die schweren Ketten geschlagen, eine Handbreit über dem Boden hingen.
»Wartet«, rief Wiesel und war erschrocken darüber, wie schwer es ihm fiel, auch nur einen Laut herauszubringen. Die Zunge wollte ihm einfach nicht gehorchen. »Ihr könnt misch doch nischt so hier hängen lassen …«
Der Legionär rüttelte an den Ketten, an denen Wiesel hing, und musterte Wiesel übertrieben überrascht.
»Nicht?«, meinte er dann mit einem harten Lächeln und schlug Wiesel hart in den Magen, sodass der schlanke Dieb kaum noch Luft bekam und wie ein Sack hin und her schwankte. »Was hältst du davon, wir probieren es jetzt einfach aus?«
Während Wiesel weiterhin verzweifelt nach Luft schnappte und gegen den Würgereiz kämpfte, den der Schlag in den Magen bei ihm ausgelöst hatte, drehte sich der Soldat um und ging hinaus, ohne Wiesel auch nur die geringste weitere Beachtung zu schenken. Er zog die schwere Kerkertür zu, legte mit lautem metallischem Schlagen die Riegel vor. Durch das kleine Gitter an der soliden Tür und den schmalen Spalt darunter fielen fahle Lichtstreifen. Wiesel konnte erkennen, dass er in seiner Zelle Gesellschaft hatte: Neben ihm, in einer schweren Fessel an der Wand, hing noch ein Handknochen, der Rest der Gebeine lag in einem Haufen ihm zu Füßen.
Doch in dem Moment nahm der Soldat die Laterne auf und ging davon. Mit seinen Schritten entfernte sich auch das wenige an Licht, das die Laterne gespendet hatte. Eine schwere Tür fiel zu, dann war Wiesel in der Dunkelheit allein.
Allein das Hängen war schon eine Tortur, die Kanten der eisernen Manschetten schnitten ihm in die Handgelenke, und je länger er hing, umso mehr schmerzten seine Sehnen. Er hatte schon davon gehört, dass man auch auf diese Art zu Tode kommen konnte, früher oder später wären die Sehnen überdehnt, die Arme würden absterben und … Aber das mussten Ammenmärchen sein, dachte Wiesel und versuchte, sich selbst zu beruhigen. Was ihm nicht ganz gelang. Dazu kam die Dunkelheit, die so absolut war, wie er sie kaum kannte … und das unaufhörliche Rascheln unter seinen Füßen. Sie hatten ihm nicht erlaubt, die Stiefel anzuziehen, also hingen seine nackten Füße knapp über dem Boden. Wenn eine Ratte sich auf die Hinterbeine stellte … kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, spürte er auch schon etwas an seinem Fuß und hätte vor Schreck fast laut geschrien. Götter, fluchte er bei sich, lass es keine Ratten sein, es gab kaum etwas, das er derart hasste wie diese kleinen Viecher. Vor vielen Jahren, als Desina und er noch Kinder gewesen waren, misslang ihm ein Sprung aus einem Fenster, und er war bei dem Sturz so hart mit dem Kopf aufgeschlagen, dass er bewusstlos wurde. Desina war nicht stark genug gewesen, um ihn zurück in ihr Versteck zu tragen, also hatte sie ihn hinter eine alte Kiste gezerrt, notdürftig bedeckt und war davongeeilt, Hilfe zu holen. Doch bevor sie wiederkam, wurde er von einem stechenden Schmerz aufgeweckt, eine Ratte hatte ihm in den Finger gebissen, und als er erwachte, sah er gut ein Dutzend dieser Biester über ihn hinwegrennen. Sie flohen, als er sich bewegte, jedoch nicht weit, nur in den nächsten Schatten. Dort konnte er sie sehen, denn ganz hatten sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ein anderes Mal, in ihrem Versteck, war Desina im Schlaf von ihnen angegriffen worden … Wiesel schüttelte den Kopf, um die bösen Erinnerungen zu vertreiben, und versuchte, sich zu beruhigen. Eines wusste er gewiss, er konnte nicht ewig die Füße hochziehen, früher oder später würden ihn die Kräfte verlassen.
Aber das Dilemma, das ihn jetzt weit mehr beschäftigte, war ein anderes. Noch hatte man die Fesseln nicht erfunden, die ihn halten konnten – nicht nur, dass er ein wahrer Künstler darin war, sich aller Fesseln zu entledigen, die man ihm anlegte, er besaß auch noch ein ganz besonderes Talent dazu.
Doch wenn er floh, kam das einem Schuldgeständnis gleich … auf der anderen Seite wollte er auch nicht hier hängen und von Ratten angefressen werden!
Da Refala als Bardin in der Gilde einen hohen Rang und Ansehen genoss, besaß sie in der Bardenhalle eine Zimmerflucht, in der sie unterkam, wenn sie nicht auf Reisen war. Was genau dort in jener verhängnisvollen Nacht geschehen war, vermochte Wiesel beim besten Willen nicht zu sagen, es gab nur zwei Dinge, die er sicher wusste: Er war es nicht gewesen, der ihr seinen besten Dolch in die Magengrube gestoßen und dann durch den Brustkorb bis hinauf zum Hals aufgeschlitzt hatte. Selbst wenn er es hätte tun wollen, es fehlte ihm die Kraft dafür. Obwohl, dies war sein Lieblingsdolch, den die Prinzessin aus Xiang nach ihm geworfen hatte, als er sie von der Mauer aus beobachtet hatte, ein spezieller Dolch, der magische Runen auf der Klinge eingraviert trug und imstande war, Seelenreiter an der Heilung zu hindern, vielleicht … Götter, dachte Wiesel, was ist denn los mit mir, ich kann meine Gedanken kaum zusammenhalten! Ein wesentlicher Umstand war, dass die Bardenhalle in der Hochstadt lag. Dort hielten die Legionen die Ordnung aufrecht, genauer gesagt: Soldaten der ersten Legion, die traditionell in Askir Wache hielten und auch die Kaisergarde stellten. Alles, was Rang und Namen hatte und sich reich und einflussreich nennen konnte, wohnte in der Hochstadt, und reiche Menschen mochten es, wenn jeden Dochtlang eine Streife durch die Straße ging. Zum größten Teil waren die Soldaten in der Zitadelle kaserniert, doch die Hochstadt besaß eine eigene Garnison, fast zweihundert Mann stark, von der aus die Soldaten auf Streife gingen.
Knapp eine Woche nach der Kronratssitzung hatte er die Wache in der Hochstadt zusammen mit Desina besucht, Orikes hatte darauf bestanden, dass sie Legionen inspizieren sollte und er, neugierig wie immer und weil man nicht wissen konnte, wann man dies Wissen brauchen konnte, war mit ihr gegangen.
Jetzt versuchte er, sich daran zu erinnern, wie die Zellentrakte gelegen waren. Die Wache in der Hochstadt befand sich in einem rechteckigen Gebäude, und wie oft im Falle kaiserlicher Amtsgebäude besaß es einen großen Innenhof und einen unterirdischen Brunnen. Es gab zwei Kellergeschosse, im obersten waren Vorratslager, die Waffenkammer und gut ein Dutzend Zellen untergebracht, die durch einen schmalen Spalt Tageslicht erhielten und in denen man die unterbrachte, die sich leichterer Vergehen schuldig gemacht hatten. Ein Stockwerk tiefer lagen die Kerker für die Schwerverbrecher, ohne jegliches Tageslicht, und auch die Folterkammer, nur dass man diese so nicht nannte, sondern als Raum der Befragung titulierte. Wiesel hatte damals einen Blick hineingeworfen, allerdings schnell wieder weggesehen und inbrünstig dafür gebetet, dass er sie nie wiedersehen würde.
Die Folter war im Kaiserreich für die meisten Verbrechen untersagt, was nicht bedeutete, dass es sie nicht gab. Bei Hochverrat, Nekromantie oder Ketzerei, wenn man also dem Namenlosen folgte, oder bei ganz besonders schweren Verbrechen wurden auch die Gerätschaften im Raum der Befragung noch verwendet.
Der Mord an einer in der ganzen Stadt bekannten und verehrten Bardin mochte ebenso darunterfallen, vor allem, wenn der Delinquent, obwohl auf frischer Tat ertappt, darauf bestand, unschuldig zu sein.
Was Wiesel daraufhin zum Grübeln brachte, wie lange er einer Folter wohl würde widerstehen können. Gestand er, wurde er gehängt, gestand er nicht, war es nur eine Frage der Zeit, bis er sich lieber hängen ließ, als noch weiter befragt zu werden.
Auf der anderen Seite würde Desina es nicht zulassen, dass man ihn hängte, sie würde ihm seine Unschuld glauben, und zur Not konnte man noch einen Priester des Boron rufen lassen, der erkennen konnte, ob er log.
Zellen, rief sich Wiesel zur Ordnung, es ging um die Zellen. Es gab im untersten Kerkerkeller vier Zellentrakte, die von zwei Gängen aus erreichbar waren. Beide Gänge besaßen an den Enden schwere Türen, die zu einem Quergang führten. Dort befand sich auch ein Wachraum, in dem vier Soldaten ihren Dienst versahen, eine weitere schwere Tür führte bei beiden Gängen zu jeweils einem Treppenhaus. Zum Erdgeschoss hin waren diese Treppenhäuser ebenfalls mit einer Tür verschlossen, und damals, als er mit seiner Schwester hier gewesen war, wurden diese Türen von je zwei Soldaten der Legion bewacht. Das Tor zum Innenhof des Wachgebäudes hatte damals offen gestanden, wahrscheinlich hielt man es nie geschlossen, doch es war von vier Soldaten bewacht gewesen. Vier Türen, die Zellentüre mitgerechnet, zwei Wachen im Erdgeschoss, die Wachen in den Wachräumen sollte man umgehen können.
Möglich wäre es, dachte Wiesel. Ich …
Ein plötzlicher Windstoß ließ ihn aus seinen Gedanken schrecken. Er kannte diese Windstöße von Asela, sie hatte oft genug Desinas Papiere durcheinandergewirbelt, wenn sie auf diese Weise erschien. Aber warum brachte sie kein Licht mit sich? Oder brauchte sie es nicht?
»Asela?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Ich fürchte, nein«, hörte er eine erheiterte Stimme. »Ich bezweifle, dass sie sich die Mühe machen würde … und wenn, sie würde dich hier verrotten lassen, ich hörte, ihr wäret euch nicht besonders grün.« Die Stimme war verhältnismäßig hoch, dennoch gehörte sie einem Mann. Einem Mann, der, wie Asela auch, das Imperial in einer gestochen scharfen Art und Weise sprach. Ein Mann, der das notwendige Talent und Wissen besaß, einen magischen Schritt in eine dunkle Zelle zu tun. Eine Eule, dachte Wiesel erschrocken. Nur dass es keine männlichen Eulen gab. Wenn man von Santer absah, der angeblich eine war, doch sein Talent noch nicht gefunden hatte.
Da es sonst keine männlichen Eulen geben konnte, musste dieser Mann aus dem alten Reich stammen, eine der alten Eulen sein und das wiederum bedeutete …
»Feltor! Du warst es«, knirschte Wiesel hervor. »Du hast Refala umgebracht!«
»Feltor, wie kommst darauf, dass ich Feltor bin?«, kam die erheiterte Antwort.
»Ich wusste nicht, dass es noch weitere Eulen gab, die den Kaiser verraten haben.«
»Es gibt vieles, was du nicht weißt.«
»Ich weiß zumindest, dass du sie umgebracht hast, sonst wärest du nicht hier!«
»Es hat sich so ergeben. Also ja, ich habe sie umgebracht. Doch deshalb bin ich nicht hier. Du bist also Wiesel?«
»Ja«, sagte Wiesel. »Der bin ich. Wenn du nicht Feltor bist, wer bist du dann?«
Nicht, dass er sich mit diesem Verfluchten unterhalten wollte, es ging dem schlanken Dieb um mehr. Es mochte dunkel sein in dieser Zelle, aber das bedeutete nicht, dass Wiesels andere Sinne blind sein mussten. Je mehr der Verfluchte sprach, umso mehr konnte Wiesel von ihm »sehen«.
Der Mann stand nahe vor dem aufgehängten Dieb, Wiesel konnte den Atem des Mannes riechen, ein Geruch von Wolle, Zedernöl, das sich manche Stutzer gegen die Flöhe in die Haare schmierten, kaltem Pfeifenrauch und Wein, etwas Schweres, Süßliches wie der Wein, den Refala ihm kredenzt hatte. Reich also, zumindest wohlhabend. So, wie Wiesel den Mann hörte, von etwas unter ihm, und bedachte man, dass Wiesel eine Handbreit über dem Boden hing, war diese verräterische Eule nicht viel größer als Wiesel selbst.
»Warum?«, kam die Frage gleich zurück. »Was soll es dir bringen? Hoffst du, dass sich dein Schicksal ändern wird, wenn du meinen Namen weißt?«
»Es wäre höflich«, meinte Wiesel nur.
»Oh, das. Höflichkeit. Nun denn, ich bin Erinstor. Wenn du dich jetzt verraten fühlst, dann liegt das daran, dass ich einst selbst verraten wurde. Vom Kaiser selbst und von der Schlange, die ich liebte. Der Kaiser versuchte sogar, mir mein Talent zu nehmen. Nur weil diese Schlange Lügen über mich erzählte.« Den Schritten nach zu urteilen, ging der Mann nun unruhig auf und ab. Viel Platz war in der Zelle nicht dafür, dachte Wiesel, er musste also wahrhaftig im Dunkeln sehen können.
»Warum seid Ihr hier?«, fragte Wiesel. »Wollt Ihr krähen wie ein Hahn, seid Ihr so stolz auf Eure Tat?«
»Stolz?«, fragte der Verräter nachdenklich. »Ich glaube nicht. Sie hat mich hereingelegt, musst du wissen, sie sagte, sie hätte die Münze verschluckt, damit sie sicher ist. Eine mutige Frau, diese Bardin, also bin ich nicht stolz darauf, sondern zolle ihr dafür Respekt. Nein, Wiesel, ich bin hier, weil ich unachtsam gewesen bin. Ich wusste, dass ich dich schon irgendwo gesehen habe, nur fiel es mir nicht ein. Ich hätte dich beinahe auch aufgeschlitzt, doch dann dachte ich mir, warum nicht dich für meine Taten hängen lassen?«
Während er gesprochen hatte, war etwas Unheimliches geschehen. Dort, wo Wiesel die Augen des Verräters vermutete, war ein fahles Leuchten entstanden, nicht größer als der Kopf einer Nadel, das heller wurde, als er von dem Mord an der Bardin sprach. Dazu kam, dass sein Atem sich verändert hatte. Götter, dachte Wiesel entsetzt. Der Mord an Refala hat ihn erregt! Nicht nur war er ein Mörder, er hat auch noch Gefallen an ihrem Tod gefunden. In diesem Moment wäre selbst Wiesel einen Handel mit dem Namenlosen eingegangen, wenn dies nur sicherstellen würde, dass dieser Wahnsinnige nicht mit dem Mord an ihr davonkam!
Die Schritte hörten auf, der Mann blieb stehen, als er weitersprach. »Doch dann erinnerte ich mich an dich. Der Ziehbruder der Kaiserin, der Einzige, dem sie jemals vollends vertrauen wird. Sie würde nie zulassen, dass sie dich hängen. Für sie wäre es leicht genug herauszufinden, was in Wahrheit geschehen ist, und das wäre mir nicht recht.« Er ging wieder weiter in der Zelle auf und ab. Wenigstens hielt er damit die Ratten fern, dachte Wiesel. Nur verstand er noch immer nicht, was der Verräter von ihm wollte.
»Also, warum seid Ihr hier?«, fragte Wiesel wieder.
»Um eine Möglichkeit zu nutzen, die ich vorher übersah«, teilte ihm der andere mit. »Schau, du bist Desina wichtig, und sie vertraut dir in allen Dingen. Wenn du verschwunden bist, wird sie sich Sorgen machen. Früher oder später wird sie sich jemanden suchen, dem sie sich anvertrauen kann. Doch dazu musst du verschwinden.«
»Also bist du hier, um mich umzubringen?«, fragte Wiesel und überlegte sich bereits, wie schnell er die Fesseln überwinden konnte. Vielleicht gab es noch die Gelegenheit …
»Nicht doch«, lachte der Mann. »Warum selbst etwas tun, wenn die Arbeit auch ein anderer erledigen kann?«
Wiesel fühlte eine glatte Hand über seine unrasierten Wangen streichen, gefolgt von einem seltsamen Kribbeln, das erst über sein Gesicht, dann über seinen ganzen Körper ging.
»Wenn man dich fragt, wirst du den Mord gestehen. Du wirst sagen, dass du eifersüchtig gewesen bist, weil sie ihre Zuneigung mit einem anderen teilte. Du seist derart von Eifersucht und Zorn erfüllt gewesen, dass du sie vom Bauche bis zum Hals aufgeschnitten hast, und in deinem Zorn hast du sogar ihre Eingeweide auf dem ganzen Bett verteilt. Und als dir gewahr wurde, was du getan hattest, schlug die Verzweiflung und die Reue zu, und du hast dich besinnungslos getrunken. Du wirst niemandem sagen, dass du Wiesel bist, dass du die Kaiserin zur Schwester hast oder jemanden aus ihrem Umfeld kennst. Lass dir einen anderen Namen einfallen, eine andere Geschichte. Wenn man dich nach Wiesel fragt, gestehe den Mord an ihm, du hast ihn aus Eifersucht erschlagen. Sei glaubhaft, du weißt, wie du es machen würdest. Du wirst weder dem Richter hier noch den Wachen von mir erzählen. Sie werden nicht lange fackeln, und niemandem bleibt Zeit, Verdacht zu schöpfen. So …«, sagte er dann und nahm seine Hände von Wiesels Gesicht. »Habe ich etwas vergessen? Vielleicht doch …« Wieder spürte Wiesel die glatten Hände des Mannes an seinen Wangen. »Ich hörte, du wärest gut darin, aus Fesseln zu entfliehen. Aber diesmal nicht. Dieses Mal wirst du es gar nicht erst versuchen.«
»Was … was hast du getan?«, fragte Wiesel entsetzt, als Erinstor erneut seine Hände von ihm nahm.
»Du wirst es bald erfahren.« Der Verfluchte lachte, unmittelbar darauf gab es einen dumpfen Knall, wie Wiesel es von Asela kannte, wenn sie es wieder besonders eilig hatte, dann war er allein in dieser Zelle. Allein, bis auf die Ratten.
Götter, dachte Lanzensergeant Romeras angewidert, als er die Laterne höher hob, um sich das Gesicht des Mörders näher anzusehen, was für ein elendiger Wicht. Noch immer mit getrocknetem Blut besudelt, waren seine Wangen tränennass, und in seinen Augen stand die Verzweiflung und der Wahn. In seiner Angst hatte er sich selbst besudelt, und er brabbelte etwas vor sich hin, das kaum verständlich war. Schwarzes strähniges Haar hing ihm wie fauliges Heu herab, und unter all dem Blut und Dreck befand sich ein Gesicht, das nur eine Mutter lieben konnte. Wulstige Lippen, eine kurze breite Nase, dichte schwarze Augenbrauen, dazu ein fliehendes Kinn und schiefe Zähne … wie hatte dieser Kerl glauben können, eine Sera wie die Bardin könnte Gefühle für ihn hegen?
»Wie lange hängt er hier denn schon?«, fragte er den Korporal, der den Mörder eingebracht hatte.
Der zuckte mit den Schultern. »Nicht ganz zwei Kerzenlängen. Wir haben hier schon andere hängen lassen, die haben ganze Tage besser ausgehalten. Der hier …«, fügte der Korporal verächtlich hinzu, »… ist jetzt schon weggetreten!«
Der Gefangene schien sie noch gar nicht wahrgenommen zu haben, seine Augen irrten vor Angst weit aufgerissen hin und her, und noch immer brabbelte er sinnlos vor sich hin.
»Was sagt er?«, fragte der Sergeant. Der Korporal beugte sich vor, um den Gefangenen besser zu verstehen, und schüttelte dann doch den Kopf. »Irgendetwas von einem Tor, kaum zu verstehen, was er stammelt.« Er rümpfte die Nase. »Er stinkt nach Wein und ist wahrscheinlich immer noch besoffen.«
»Na gut«, seufzte der Sergeant und trat nach einer Ratte, die am linken Fuß des Mörders hing. »Schau mal, ob du ihn wach und nüchtern kriegst.«
Der Korporal holte aus, und die schallende Ohrfeige riss den Gefangenen herum, ließ ihn an der Kette kreiselnd schaukeln. Er zuckte zwei, drei Mal, und jedes Mal wurde das Schaukeln geringer, schließlich hing er still und schaute den Korporal mit schmalen Augen an. »Danke«, sagte er mit rauer Stimme und spuckte Blut zur Seite aus. »Ich war in einem Alb gefangen.« Er sah hinunter zu seinen Füßen und blickte dann zum Sergeant auf. »Ich hasse Ratten«, teilte er Romeras mit. »Ihr seid hier, um mich abzuholen?« Dem Blick aus diesen schmalen Augen würde wohl so schnell nichts entgehen, und die Stimme, obwohl heiser vom vielen Schreien, war ruhig und klar. Von der Angst und Panik, in der er eben noch gefangen gewesen war, blieb kaum etwas zurück; der Mann, der nun ruhig vor ihnen hing, schien entschlossen und gefasst.
Der Sergeant hatte schon viele an diesen Ketten hängen sehen, und den meisten erging es so wie diesem Kerl, nur hatte Romeras es noch nie erlebt, dass sich jemand so schnell fasste.
Aus irgendeinem Grund rief die überraschende Wandlung und dieser direkte Blick bei dem Sergeant ein Unwohlsein hervor. Dieser Mann hatte eben noch an der Klippe der Verzweiflung gestanden, doch jetzt ging eine Bedrohung von ihm aus. Nur hatte der Lanzensergeant das Gefühl, dass diese Bedrohung weder ihm noch Korporal Sintis galt.
Noch immer sah der Gefangene ihn an, auch Sintis schaute zu ihm herüber, dann fiel ihm ein, dass der Mann auf eine Antwort wartete.
»Ja«, sagte Romeras und räusperte sich. »Wir sind hier, um dich zu holen.« Er gab Sintis ein Zeichen, und dieser ließ die Kette ab. Wie erwartet gaben dem Kerl die Beine nach, doch bevor Sintis ihn greifen konnte, fing er sich bereits und sah seltsam gelassen zu, wie der Korporal seine Handfesseln vom Haken nahm. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er die Arme sinken. Der Kerl nickte dankend und schaute wieder zu Romeras hin. Er schüttelte den Kopf, sodass seine Haare nach vorne flogen, und hielt inne.
»Sind meine Haare schwarz?«, fragte er überrascht.
»Grün sind sie jedenfalls mal nicht«, lachte der Korporal auf.
»So also hat er es sich gedacht«, sprach der Gefangene leise zu sich selbst und richtete den Blick auf den Sergeanten. »Was geschieht jetzt?«, fragte er und rollte seine Schultern, die laut knackten.
»Das liegt an Euch«, gab der Sergeant Antwort. Irgendetwas mahnte ihn zur Höflichkeit, vielleicht lag es an der Haltung des Gefangenen, der trotz der Fußfesseln einen guten Stand gefunden hatte, ganz so, als bereitete er sich auf ein Handgemenge vor. Dass er halb nackt war und gefesselt und zwei gewappneten Legionären gegenüberstand, schien ihn wenig zu berühren. Doch noch schien er bereit zu reden, und der Sergeant mochte keinen Ärger, dennoch legte er die Hand an sein Schwert und trat etwas zur Seite weg, um sich Raum zu geben. Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht des Mörders, aber er nickte nur.
»Sprecht weiter.«
»Wir haben Euch auf frischer Tat ertappt …«
»Schlafend im Bett neben einer Toten«, unterbrach ihn scharf der Gefangene, um dann einen Seufzer zu unterdrücken und zu nicken.
»Ihr habt …«, fing der Sergeant erneut an. »Ihr habt nun die Wahl. Entweder gesteht Ihr, oder Ihr werdet zu der Tat befragt.«
»Vermutlich wird die Befragung schmerzhaft werden?«, fragte der Gefangene, und der Korporal lachte. »Nur für dich. Mir ist es ein Vergnügen.«
Der Gefangene warf ihm einen scharfen Blick zu und nickte knapp.
»Gut. Ich gestehe. Was geschieht danach?«
»Ihr werdet dem Richter vorgeführt, ihm tragt Ihr Euer Geständnis vor, er wird das Urteil verkünden. Ein Priester des Boron wird Euch segnen, und bei Sonnenaufgang wird das Urteil an Euch vollstreckt.«
»Wie lange ist es noch bis zum Sonnenaufgang?«
»Etwas mehr als eine Glocke.«
»Der Priester des Boron …«, begann der Mann, doch sogleich stockte er und schüttelte den Kopf. »Vergesst es, er nützt mir nichts. Warum so schnell? Es ist doch gar nicht Boronstag?«
»Neue Weisung von Hochkommandant Keralos«, erklärte der Sergeant. »Die Krönung der Kaiserin steht bevor, und er will nicht, dass Hinrichtungen davon ablenken. Ihr werdet also am Galgen hier im Innenhof hingerichtet werden.«
»Schnell und unauffällig«, nickte der Mann. »Wäre es nicht mein Hals, der langgezogen werden soll, würde ich ihm dafür applaudieren. Gut«, sagte er und trat mit rasselnden Ketten vor. »Gehen wir. Bringen wir den Mummenschanz zu Ende.« Als der Korporal nach ihm greifen wollte, wich der Mann ihm aus. »Danke«, sagte er höflich. »Ihr braucht mich weder festzuhalten noch zu stützen, und ja, ich kenne auch den Weg.«