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Für Charly und Herbert



ISBN 978-3-492-96421-0
Juli 2015
© 2014 Piper Verlag GmbH, München
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Uwe Jarling
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Noch zehn Tage

1  Vier Gotteshäuser standen auf dem Tempelplatz in Askir: Die Häuser von Boron, der für Gerechtigkeit stand, Astarte, die für Weisheit und Liebe zuständig war, und Soltar, der uns nach dem Tod ein neues Leben versprach. Der letzte der Tempel, seit Jahren verschlossen, war dem Gott Nerton, dem Vater der Götter, geweiht. Wofür der Göttervater stand, wusste Wiesel nicht so ganz, er meinte irgendetwas von Gleichgewicht gehört zu haben. Vielleicht sollte er Desina dazu fragen. Schließlich war es ihre Idee gewesen, den Göttervater bei der Krönungsprozession mit einzubeziehen.

Zehn Tage würde es noch bis zur Krönung dauern, doch die Vorbereitungen hatten schon lange angefangen. Ohnehin gab es immer genügend Trubel auf dem Tempelplatz, und dort hinten, inmitten des Platzes, wo die Tribüne stehen sollte, ging zurzeit alles drunter und drüber. Er hatte den Fehler begangen, dort vorbeizuschauen, und kaum dass man ihn erkannt hatte, war er auch sogleich belagert worden, war befragt worden, was Desina wohl zu diesem oder jenem Vorschlag meinen würde.

Da sie gemeinhin für sich selbst entschied, ihm der Trubel schnell zu viel wurde, und Santer etwas im Tempel der Astarte zu besprechen hatte, war Wiesel mit ihm geflohen. Zum Glück war der Abend für ihn bereits angenehm verplant, doch noch war Zeit, und Wiesel sah nicht ein, warum er jetzt in Hektik geraten sollte. Davon gab es dort an der Tribüne bereits genug.

Also saß er auf einer Stufe, mit dem Rücken an eine reich verzierte Säule gelehnt, und ließ sich bis zum Glockenschlag die Sonne ins Gesicht scheinen.

Wie üblich war der schlanke Dieb tadellos gekleidet, wenn man davon absah, dass seine grüne Weste Stickereien trug, die Meerjungfrauen zeigten, die … nun ja … das taten, was man von Meerjungfrauen erwarten konnte.

Von dort, wo Wiesel saß, von den obersten Stufen des Tempels der Astarte, hätte er einen guten Blick auf den Trubel auf dem Tempelplatz gehabt, vor allem auch dorthin, wo zwei Tenets Soldaten, Hundertschaften der ersten Legion, soeben den Platz absperrten. Er hätte zudem die Tribüne erkennen können, die dort hochgezogen wurde, und sogar die Priester der Götter, die dort standen und heftig miteinander diskutierten. All dies hätte er sehen können. Hätte er die Augen offen gehabt.

»Deine Weste ist unanständig«, meinte Santer, der ebenfalls an der gleichen Säule lehnte, nur dass der Stabsleutnant offenbar keine Ruhe finden konnte.

»Ist sie nicht«, widersprach Wiesel, ohne die Augen zu öffnen oder sonst auch nur einen Muskel zu bewegen. »Die Meerjungfrauen schwimmen miteinander, das ist alles.«

»Sie ist aufreizend«, beschwerte sich Santer.

»Bei des Namenlosen Bart«, seufzte Wiesel und öffnete jetzt doch ein Auge, um zu ihm hochzusehen. »Sie haben die Schwänze von Fischen, was soll daran aufreizend sein? Du bist nur ungehalten, weil ich den schönen Tag genieße, während du dich nicht entspannen kannst.«

»Götter«, fluchte Santer und stieß sich fahrig von der Säule ab. »Ich verstehe nicht, wie du so ruhig sein kannst! Siehst du nicht, dass der ganze Platz weit offen ist? Die Prozession wird hier im Tempel der Astarte ihren Anfang nehmen, danach wird sie Borons Haus aufsuchen, dann das von Soltar und ganz zum Schluss zum Nertontempel weitergehen. Das alleine dauert drei Kerzenlängen, doch im Anschluss geht es weiter, vom Tempel des alten Gottes hierher zurück zu diesem Platz in der Mitte der vier Tempel, wo sie vor dem begeisterten Volk niederknien wird und ihr die Priester der drei Götter die Krone aufsetzen werden. Jeder der Priester wird sie dort schon wieder segnen, als ob sie es nicht in den Tempeln bereits getan hätten, und eine lange Rede halten.« Er wies anklagend auf die Tribüne. »Dort werden die Ehrengäste sitzen, alles, was Rang und Namen hat, und die Hälfte von ihnen würde Desina lieber tot als lebendig sehen. Weißt du, wie lang die ganze Angelegenheit dauern wird? Über drei Glocken lang, Wiesel, alleine dadurch ist es schon eine Tortur, und die längste Zeit wird sie offen sichtbar und ohne Deckung sein! Götter, sie wird auf einem offenen Wagen stehen, der langsam gezogen werden wird, viel leichter kann man es einem Attentäter gar nicht machen!«

»Man könnte sie festhalten und ihm mit einem Spalier den Weg zu ihr freihalten«, sagte Wiesel und lachte, als er Santers empörten Blick sah. »Du machst dir zu viele Sorgen«, fügte er hinzu und setzte sich etwas bequemer hin. »Es wird auf dem Platz von Soldaten nur so wimmeln. Ein Attentäter käme gar nicht erst an sie heran, und selbst wenn er es mit einer Armbrust versuchen würde, wäre sie durch Magie geschützt. Asela wird da sein und ebenfalls Elsine. Hinzu kommt, dass sich Desina auch selbst schützen kann.« Jetzt bewegte er doch den Kopf und sah zu Santer hin, der auf den Treppenstufen ruhelos hin und her ging. »Und wenn all das nichts nützt, kannst du dich ja immer noch vor sie werfen und sie unter Einsatz deines Lebens retten. Siehst du, es ist alles nicht so schlimm.«

»Schön, dass du es derart gelassen siehst«, grollte Santer. »Sie ist deine Schwester, Wiesel, hast du keine Angst um sie?«

»Doch«, sagte Wiesel und streckte sich ein wenig. »Aber nicht hier. Nicht während des Umzugs. Sie werden nicht das tun, was so offensichtlich ist.«

Santer hielt inne und sah besorgt zu dem schlanken Dieb hin. »Also erwartest auch du einen Angriff?«

»Ja«, sagte Wiesel gelassen. »Nur nicht auf diesem Platz. Jedenfalls nicht so, wie du denkst.«

»Wie dann?«, fragte Santer aufgebracht. »Was wollen sie denn sonst tun?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Wiesel und zuckte mit den Schultern. »Bei Asela und Elsine, Desina selbst und all den Priestern und den Segen und Gebeten, wird sich der Nekromantenkaiser etwas Mühe geben müssen.«

»Wie würdest du es machen?«, fragte Santer grimmig. Wiesel musterte ihn, wie er da stand, ein Turm, nein, ein Berg von einem Mann, angetan in einer Kettenrüstung, die Desina für ihn im Turm der Eulen fand. Für jeden Attentäter war schon Santer alleine ein Hindernis.

»Fragst du mich gerade ernsthaft, wie ich meine Schwester ermorden würde?«, fragte Wiesel.

»Ja, Götter«, knurrte Santer. »Genau das frage ich dich.«

»Gut«, nickte Wiesel mit einem leichten Lächeln. »Hoffe einfach, dass es nicht an ihre Ohren dringt. Weiß sie, dass du sie ermorden willst?«

»Wiesel«, knurrte Santer entnervt. »Du solltest es nicht auf die Spitze treiben.«

»Schon gut«, gab Wiesel zurück und setzte sich gerader hin. Sein Lächeln schwand. »Mir fallen auf Anhieb ein halbes Dutzend Möglichkeiten ein.«

»Götter, Wiesel«, beschwerte sich der Stabsleutnant betroffen. »Du verstehst es wahrlich, mich aufzumuntern.«

»Deshalb weigere ich mich, mir beständig das Schlimmste auszumalen.« Wiesel blinzelte zur Sonne hoch und stand dann auf. »Es schlägt einem nur auf das Gemüt. Santer, wir haben noch zehn Tage Zeit, herauszufinden, was der Nekromantenkaiser plant. Dass er etwas plant, erscheint mir gewiss. Nur wird es etwas anderes sein, als wir erwarten.«

Santer schluckte. »Was ist, wenn wir ihn nicht hindern können?«

»Du vergisst etwas«, sagte Wiesel gelassen. »Desina selbst ist auch nicht wehrlos. So, und wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich habe von diesen düsteren Gedanken genug. Die Sonne scheint, es ist ein schöner Tag, und ich habe ein Stelldichein mit einer Sera.« Er schaute zu Santer hin. »Du solltest es mir nachtun. Gehe zu Sina, sie wird dich auf andere Gedanken bringen.«

Santer schaute betreten drein. »Wohl kaum. In letzter Zeit ist sie meist abgelenkt, wenn wir uns sehen. Sie zieht sich von mir zurück, Wiesel, ich merke es, doch ich kann nichts dagegen tun.«

Wiesel hob abwehrend die Hände an. »Erwarte von mir keinen Rat, Santer, da halte ich mich raus. Ich kann dir aber sagen, dass du irrst. Sie liebt dich, daran besteht für mich kein Zweifel.«

»Ich bete, dass es so ist«, sagte Santer leise. »Jetzt sage mir, wohin du gehst.«

»Nicht doch«, grinste Wiesel. »Du weißt, ich bin diskret.«

»Was ist, wenn sie dich sprechen will?«

»Was soll dann sein?«, fragte Wiesel und lachte leise. »Sie wird mich sprechen können, wenn mir danach ist.«

»Wiesel, sie ist die Kaiserin.«

»Sie ist auch meine Schwester und von mir nichts anderes gewöhnt. Ich will sie ja nicht in ihren Erwartungen enttäuschen. Und jetzt, Santer, höre auf, dich so zu sorgen und gehe hin zu ihr.« Er wies über den Platz hinweg zu dem Tor, das zur Zitadelle führte. »Ich glaube, sie kommt gerade durch das Tor.«

Santer kniff die Augen zusammen. »Wie willst du das auf die Entfernung sehen?«, fragte er verblüfft.

»Sie sagte, dass sie zur fünften Glocke hier sein wollte, um sich mit der Hohepriesterin zu besprechen. Sie ist meistens pünktlich, und da ich dort die Rüstungen der Kaisergarde in der Sonne glänzen sehe, ist sie auf dem Weg hierher. Übermittele ihr einen Gruß von mir und lass mich meiner Wege ziehen.«

Was Santer sonst noch sagen wollte, wurde von dem Läuten der Tempelglocken übertönt. Wiesel lachte, deutete auf seine Ohren und zum Tempel hin, und bevor der große Stabssoldat noch etwas sagen konnte, war er schon verschwunden.

Refala

2  »So stelle ich mir das gute Leben vor«, seufzte Wiesel, als er sich bequem in der Liege zurücklehnte und die Aussicht über die Stadt genoss, die sich ihm von diesem Balkon aus bot. Die Aussicht auf die Stadt und die blonde Schönheit, die ihm gerade lächelnd den Wein nachfüllte. »Ein schöner Tag und keine Sorgen, außer der einen, dass der Wein zu Ende geht, bevor du in meinen Armen liegst.«

»Wer sagt, dass ich in deinen Armen liegen werde?«, fragte die blonde Sera neckend.

»Nun gut«, lenkte Wiesel großmütig ein. »Ich habe auch nichts dagegen, in deinen Armen zu versinken.«

»Du bist selbstbewusst«, lachte die Sera, und Wiesel nickte bescheiden.

»Ich habe Grund dazu, Refala«, grinste er. »Du hast mich zu dir gerufen und was das bedeutet, wissen wir ja beide. Im Liebesspiel passen wir gut zusammen, du und ich, und ich gestehe, ich habe es vermisst.«

Die blonde Bardin schenkte auch sich selbst nach, setzte sich mit zu ihm auf die Liege und schmiegte sich an ihn. »Sag, Wiesel«, fragte sie dann leise. »Hast du dir nicht ebenfalls manches Mal gewünscht, zwischen dir und mir wäre mehr als nur das Liebesspiel?«

Wiesel sah zu ihr hin, bemerkte ihren ernsten Blick und stellte sein Glas zur Seite, um sich ihr zuzuwenden und sie in seine Arme zu schließen. »Es ist mehr zwischen uns, Refala. Weit mehr. Du bist mir Freundin und Vertraute, du bist mir wichtig und das weißt du. Nur …« Er zuckte mit den Schultern. »Wir passen nicht in allen Dingen zueinander.« Er musterte sie forschend. »Wie kommt es, dass du mir jetzt diese Frage stellst?«

»Ich habe ein Angebot erhalten, Wiesel«, gestand Refala und biss sich auf die Lippen, als hätte sie damit bereits zu viel gesagt.

»Jemand will dich in den Tempel führen?«, fragte Wiesel überrascht, das hatte er nicht kommen sehen. »Ich freue mich für dich, doch warum hast du mich dann zu dir geladen? Es würde deinen Verehrer bestimmt nicht freuen, uns hier so zu sehen.«

»Das ist es ja«, sagte sie bedrückt. »Es würde ihn nicht stören. Ich sprach von einem Angebot, nicht von einem Antrag.« Sie lächelte, wenngleich es für Wiesel etwas gezwungen aussah.

»Ein Angebot? Wie meinst du das?«

»Wie soll ich es schon meinen? Er will, dass ich seine Geliebte werde, dafür hält er mich dann aus. Es kam völlig überraschend, ich glaube noch nicht einmal, dass ich ihn mag. Oder er mich. Es ist im Gegenteil etwas an ihm, das mich frösteln lässt.«

»Du hast nicht etwa vor, darauf einzugehen?«, fragte der schlanke Dieb erschrocken. »Ich weiß ja, dass es für manche feinen Herren üblich ist, doch wenn du ihn nicht magst …«

»Nein, Wiesel«, sagte sie erheitert. »So dumm bin ich nicht. Ich habe schon zu oft gesehen, wohin so etwas führt. Noch bin ich jung und besitze meine Schönheit, und nach Taride bin ich die beste Bardin in der Stadt, ich kann mich selbst versorgen und mir sogar den einen oder anderen Luxus gönnen! Ich brauche keinen Mann, der mich aushält und den ich niemals lieben werde. Es ließ mich nur denken.«

»Was hast du gedacht?«, fragte Wiesel sanft.

»Dass ich dieses Jahr siebenundzwanzig werde. Ich bin eine Bardin, Wiesel, und ich wurde schon von vielen Männern begehrt, und manche schworen mir auch ihre Liebe. Dennoch ist es so, dass ich in meinem Leben die Liebe nicht gefunden habe, und mich jetzt frage, ob es sie tatsächlich gibt. Ich finde es schade, dass wir uns nicht wahrhaftig lieben konnten, und es macht mich traurig, dass wir beide dem am nächsten kamen, wie ich mir vorstelle, wie die Liebe ist. Gut Freund, ja, und Vertrauter und auch etwas mehr, doch leider reichte mir das nicht.« Sie rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Dies ist ein Lob, Wiesel, selbst wenn es sich nicht so anhören mag.«

»Tatsächlich gebe ich dir recht«, sagte Wiesel, als sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte. »Es ist schade. Du weißt, was der Fehler bei uns war?«, fragte er sie sanft.

»Ja«, seufzte sie und schmiegte sich enger an ihn. »Wir sind miteinander Freund geworden. Das hätte nicht geschehen dürfen.« Sie stützte sich an ihm ab und sah ihn an. »Bist du noch immer in diese seltsame Gesandte aus Xiang verliebt?«

»Ich denke nicht«, sagte Wiesel. »Ich dachte, ich wäre es gewesen, doch dann stellte ich fest, dass ich sie nicht verstehen kann. Ich weiß nicht, ob es wahrhaftig das Protokoll war, das verhindert hat, dass wir uns näherkamen, oder ob sie mich damit nur auf Abstand hielt … und auch wenn ich darauf gewartet habe, kam nie ein Wort von ihr zu mir.«

»Doch du liebst.« Es war eine Feststellung und keine Frage.

»Ja«, gestand Wiesel mit einem leisen Seufzer und griff über sie hinweg nach seinem Wein. »Aber nicht glückhaft. Ich kenne sie seit meiner Kindheit, und kürzlich haben wir zusammen ein Abenteuer bestanden, bei dem wir uns sehr nahekamen. Doch kaum waren wir wieder hier, gebot sie mir Abstand von ihr zu halten, seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Kenne ich sie?«, fragte Refala interessiert.

»Ich denke nicht«, sagte Wiesel. »Ihr Name ist Marla, und sie ist eine von Istvans Ziehtöchtern, wir sind zusammen aufgewachsen.«

»Klein, zierlich, bleich, als würde sie die Sonne niemals sehen, Haar so schwarz wie dunkles Ebenholz und Augen, die man nicht ergründen kann?«

»Das ist sie«, nickte Wiesel überrascht. »Woher kennst du sie?«

»Vor Jahren, ich war noch in der Lehre, kam sie mir zu Hilfe. Nach einem Auftritt war ich dumm genug, auf das Angebot eines jungen Stutzers einzugehen, der mich nach Hause geleiten wollte … zu meiner eigenen Sicherheit natürlich.«

»Natürlich«, nickte Wiesel zornig. »Was geschah?«

»Er zog mich in eine Gasse und drückte mich an eine Wand, wollte sich an mir vergehen. Ich wehrte mich und rief um Hilfe, und plötzlich war sie da. Sie stand hinter ihm, mit einem Dolch an seiner Kehle und sagte etwas zu ihm … ich verstand nicht, was sie ihm sagte, doch es war genug, um ihn von uns fliehen zu lassen, als wäre der Namenlose hinter ihm her.« Sie lächelte schwach. »Manchmal laufen wir uns noch über den Weg, er hält jetzt einen Sitz im Handelsrat … und wenn er mich sieht, macht er noch immer einen weiten Bogen.«

»Wer war es?«, fragte Wiesel, und sie schüttelte lachend den Kopf.

»Ich werde dir seinen Namen nicht verraten, Wiesel. Es ist lange her, und er kam nicht dazu, mir etwas anzutun, du brauchst ihn nicht für mich zu erschlagen. Aber Marla habe ich niemals vergessen. Sie war jung, fast noch ein Kind, dennoch erinnere ich mich daran, dass ich froh war, sie nicht zum Feind zu haben.«

»Marla ist genauso alt wie ich«, erinnerte Wiesel die Bardin, und sie lachte.

»Du bist auch jünger, als ich es bin, mein Wiesel, und es ist nichts falsch daran.« Sie schmiegte sich enger an ihn. »Ich weiß jetzt, was dir an mir fehlte.«

»Ja?«, fragte Wiesel interessiert, während er mit einer Hand an der Schnürung ihres Busens spielte.

»Du magst Frauen, die gefährlich sind.« Sie legte ihre Hand auf die seine und hielt sie fest. »Noch nicht, Wiesel. Wir haben Zeit. Ich habe dich auch aus einem anderen Grund zu mir gerufen.«

»Ach ja?«, fragte Wiesel und zog unter ihrer Hand eines ihrer Bänder auf. »Und welcher wäre das?«

»Der Verehrer, von dem ich sprach«, sagte sie ernst, setzte sich aufrecht hin und schnürte das Bändchen wieder zu. »Es ist etwas an ihm, das mir nicht geheuer ist. Zudem fand ich heraus, dass er nach mir suchte, bevor wir uns begegnet sind. Er hat mir nachgestellt, Wiesel, und das gefällt mir nicht. Überhaupt stellt er manche Fragen, die mich wachsam werden lassen.«

»Wieso?«, fragte Wiesel lächelnd. »Trägst du ein großes Geheimnis mit dir herum?«

»Ja«, sagte sie überraschend ernst. »Genau das ist es. Es ist ein Geheimnis, das meine Familie schon seit Generationen hütet. Ich traue diesem Mann nicht mehr, und ich will dich um etwas bitten. Du sollst das Geheimnis für mich aufbewahren.«

»Ein Geheimnis, das ich aufbewahren soll?«, lachte Wiesel. »Ich hoffe, es ist nicht wertvoll, ich bin ein Dieb, hast du das vergessen?«

»Ja«, stimmte sie ihm lächelnd zu. »Du bist ein Dieb. Und es ist unermesslich wertvoll. Doch ich weiß etwas von dir, Wiesel: Von deinen Freunden stiehlst du nicht.« Sie stand von der Liege auf und ging zurück ins Zimmer, das dem Balkon am nächsten war. Sie brauchte nicht lange; das, was sie ihm brachte, war eine kleine Schachtel aus Ebenholz, die neben der Tür zum Balkon auf einer kleinen Anrichte gestanden hatte. Aus ihrem Ausschnitt zog sie eine dünne goldene Kette hervor, an der ein kleiner Schlüssel hing. »Wirst du mein Geheimnis wahren, Wiesel?«

Wiesel zögerte nicht. »Ja«, versprach er. »Sag mir, was soll ich tun?«

Sie führte den Schlüssel in das Schloss ein, und das Kästchen sprang mit einem leisen Klicken auf. Darin lag ein kleiner Lederbeutel, den sie ihm reichte, was auch immer sich darin befand, war überraschend schwer. »Verstecke dies für mich«, bat sie. »Bis ich es von dir wiederhaben will. Nur, bitte, schaue nicht danach, was sich in diesem Beutel befindet, und erzähle niemandem davon. Auch nicht deiner Schwester.«

»Hhm«, sagte Wiesel und wog den kleinen Beutel in der Hand. »Das ist eine Münze.«

»Wiesel«, ermahnte sie ihn. »Du sollst nicht …«

»Nein«, wehrte Wiesel ab. »Ich habe es versprochen. Es ist nur so, dass ich weiß, wo ich eine Münze sicher verstecken kann. Mitsamt dem Lederbeutel.« Er bückte sich und zog einen seiner Stiefel aus.

»Hab es nicht so eilig«, beschwerte sich Refala, doch dann lachte sie leise. »Auf der anderen Seite, warum sollten wir noch warten?«

Wiesel lachte mit ihr und zog auch noch den anderen Stiefel aus. »Ich sehe keinen Grund.«

Sie hat recht, dachte Wiesel später, viel später, als er sanft ihre Haare zur Seite strich und lächelnd zusah, wie sie sich streckte, um sich dann noch enger an ihn zu schmiegen. Es ist schade, dass wir uns nicht so lieben können, wie sie es verdient hätte. Dennoch, dachte er verschlafen und drehte sich zur Seite hin, um die Kerze auszublasen, dies war ein schöner Tag. Er zog sie näher an sich, schloss die Augen und schlief ein.

So fest und tief schlief er, dass er den Schrei nicht hörte, und schlief noch immer wie ein Stein, als ihn harte Hände an den Schultern schüttelten.

»Wa … was?«, fragte Wiesel benommen und blinzelte gegen das Licht der Laterne, mit der man ihn zu blenden versuchte. Die Laterne wurde von einer Hand in einem Panzerhandschuh gehalten, dem folgte ein stahlbewehrter Arm, eine Schulter und dieser ein grimmiges Gesicht. »Was … was sucht Ihr hier?« Es war, als ob seine Gedanken sich in einem Morast befanden, und auch seine Zunge wollte ihm nicht recht gehorchen. »Ihr seid hier falsch«, beschwerte er sich und wollte sich aufrichten, doch eine harte Hand drückte ihn zurück ins Bett.

»Das glaube ich nicht, Bursche«, knurrte der Soldat und hielt die Laterne höher und zur Seite hin. Dort, neben ihm im Bett, lag Refala und schaute ihn mit ihren blauen Augen an. Augen, die starr und schreckgeweitet waren. Ihr Gesicht, ihr langes blondes Haar und auch Wiesels Hände waren rot von ihrem Blut.

So benommen, wie er war, schien es Wiesel, als wäre alles danach sehr schnell gegangen. Man hatte ihm nicht gestattet, sich wieder anzukleiden, vielmehr hatte man ihm einen schweren Sack über den Kopf gestülpt, Hand- und Fußgelenke in schwere Eisen geschlagen und ihn nackt und bloß auf einen Karren geworfen. Wie lange dieser durch Askirs Straßen polterte, wusste Wiesel nicht, nur dass man ihn irgendwann an seinen Fesseln von dem Karren hinunter und in einen Keller zerrte. Dort roch es modrig, nach faulem Stroh und altem Blut.

Erinstor

3  Ein breitschultriger Soldat zog ihm den Sack von seinem Kopf, griff die Ketten, die Wiesels Hände gefesselt hielten, und befestigte an ihnen einen Haken, der mit einer schweren Kette über einen Flaschenzug mit einer Winde verbunden war. Während Wiesel noch versuchte zu verstehen, was ihm soeben geschah, drehte der Soldat bereits mit lautem Klackern an der Kurbel, bis Wiesels Füße, noch immer in die schweren Ketten geschlagen, eine Handbreit über dem Boden hingen.

»Wartet«, rief Wiesel und war erschrocken darüber, wie schwer es ihm fiel, auch nur einen Laut herauszubringen. Die Zunge wollte ihm einfach nicht gehorchen. »Ihr könnt misch doch nischt so hier hängen lassen …«

Der Legionär rüttelte an den Ketten, an denen Wiesel hing, und musterte Wiesel übertrieben überrascht.

»Nicht?«, meinte er dann mit einem harten Lächeln und schlug Wiesel hart in den Magen, sodass der schlanke Dieb kaum noch Luft bekam und wie ein Sack hin und her schwankte. »Was hältst du davon, wir probieren es jetzt einfach aus?«

Während Wiesel weiterhin verzweifelt nach Luft schnappte und gegen den Würgereiz kämpfte, den der Schlag in den Magen bei ihm ausgelöst hatte, drehte sich der Soldat um und ging hinaus, ohne Wiesel auch nur die geringste weitere Beachtung zu schenken. Er zog die schwere Kerkertür zu, legte mit lautem metallischem Schlagen die Riegel vor. Durch das kleine Gitter an der soliden Tür und den schmalen Spalt darunter fielen fahle Lichtstreifen. Wiesel konnte erkennen, dass er in seiner Zelle Gesellschaft hatte: Neben ihm, in einer schweren Fessel an der Wand, hing noch ein Handknochen, der Rest der Gebeine lag in einem Haufen ihm zu Füßen.

Doch in dem Moment nahm der Soldat die Laterne auf und ging davon. Mit seinen Schritten entfernte sich auch das wenige an Licht, das die Laterne gespendet hatte. Eine schwere Tür fiel zu, dann war Wiesel in der Dunkelheit allein.

Allein das Hängen war schon eine Tortur, die Kanten der eisernen Manschetten schnitten ihm in die Handgelenke, und je länger er hing, umso mehr schmerzten seine Sehnen. Er hatte schon davon gehört, dass man auch auf diese Art zu Tode kommen konnte, früher oder später wären die Sehnen überdehnt, die Arme würden absterben und … Aber das mussten Ammenmärchen sein, dachte Wiesel und versuchte, sich selbst zu beruhigen. Was ihm nicht ganz gelang. Dazu kam die Dunkelheit, die so absolut war, wie er sie kaum kannte … und das unaufhörliche Rascheln unter seinen Füßen. Sie hatten ihm nicht erlaubt, die Stiefel anzuziehen, also hingen seine nackten Füße knapp über dem Boden. Wenn eine Ratte sich auf die Hinterbeine stellte … kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, spürte er auch schon etwas an seinem Fuß und hätte vor Schreck fast laut geschrien. Götter, fluchte er bei sich, lass es keine Ratten sein, es gab kaum etwas, das er derart hasste wie diese kleinen Viecher. Vor vielen Jahren, als Desina und er noch Kinder gewesen waren, misslang ihm ein Sprung aus einem Fenster, und er war bei dem Sturz so hart mit dem Kopf aufgeschlagen, dass er bewusstlos wurde. Desina war nicht stark genug gewesen, um ihn zurück in ihr Versteck zu tragen, also hatte sie ihn hinter eine alte Kiste gezerrt, notdürftig bedeckt und war davongeeilt, Hilfe zu holen. Doch bevor sie wiederkam, wurde er von einem stechenden Schmerz aufgeweckt, eine Ratte hatte ihm in den Finger gebissen, und als er erwachte, sah er gut ein Dutzend dieser Biester über ihn hinwegrennen. Sie flohen, als er sich bewegte, jedoch nicht weit, nur in den nächsten Schatten. Dort konnte er sie sehen, denn ganz hatten sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ein anderes Mal, in ihrem Versteck, war Desina im Schlaf von ihnen angegriffen worden … Wiesel schüttelte den Kopf, um die bösen Erinnerungen zu vertreiben, und versuchte, sich zu beruhigen. Eines wusste er gewiss, er konnte nicht ewig die Füße hochziehen, früher oder später würden ihn die Kräfte verlassen.

Aber das Dilemma, das ihn jetzt weit mehr beschäftigte, war ein anderes. Noch hatte man die Fesseln nicht erfunden, die ihn halten konnten – nicht nur, dass er ein wahrer Künstler darin war, sich aller Fesseln zu entledigen, die man ihm anlegte, er besaß auch noch ein ganz besonderes Talent dazu.

Doch wenn er floh, kam das einem Schuldgeständnis gleich … auf der anderen Seite wollte er auch nicht hier hängen und von Ratten angefressen werden!

Da Refala als Bardin in der Gilde einen hohen Rang und Ansehen genoss, besaß sie in der Bardenhalle eine Zimmerflucht, in der sie unterkam, wenn sie nicht auf Reisen war. Was genau dort in jener verhängnisvollen Nacht geschehen war, vermochte Wiesel beim besten Willen nicht zu sagen, es gab nur zwei Dinge, die er sicher wusste: Er war es nicht gewesen, der ihr seinen besten Dolch in die Magengrube gestoßen und dann durch den Brustkorb bis hinauf zum Hals aufgeschlitzt hatte. Selbst wenn er es hätte tun wollen, es fehlte ihm die Kraft dafür. Obwohl, dies war sein Lieblingsdolch, den die Prinzessin aus Xiang nach ihm geworfen hatte, als er sie von der Mauer aus beobachtet hatte, ein spezieller Dolch, der magische Runen auf der Klinge eingraviert trug und imstande war, Seelenreiter an der Heilung zu hindern, vielleicht … Götter, dachte Wiesel, was ist denn los mit mir, ich kann meine Gedanken kaum zusammenhalten! Ein wesentlicher Umstand war, dass die Bardenhalle in der Hochstadt lag. Dort hielten die Legionen die Ordnung aufrecht, genauer gesagt: Soldaten der ersten Legion, die traditionell in Askir Wache hielten und auch die Kaisergarde stellten. Alles, was Rang und Namen hatte und sich reich und einflussreich nennen konnte, wohnte in der Hochstadt, und reiche Menschen mochten es, wenn jeden Dochtlang eine Streife durch die Straße ging. Zum größten Teil waren die Soldaten in der Zitadelle kaserniert, doch die Hochstadt besaß eine eigene Garnison, fast zweihundert Mann stark, von der aus die Soldaten auf Streife gingen.

Knapp eine Woche nach der Kronratssitzung hatte er die Wache in der Hochstadt zusammen mit Desina besucht, Orikes hatte darauf bestanden, dass sie Legionen inspizieren sollte und er, neugierig wie immer und weil man nicht wissen konnte, wann man dies Wissen brauchen konnte, war mit ihr gegangen.

Jetzt versuchte er, sich daran zu erinnern, wie die Zellentrakte gelegen waren. Die Wache in der Hochstadt befand sich in einem rechteckigen Gebäude, und wie oft im Falle kaiserlicher Amtsgebäude besaß es einen großen Innenhof und einen unterirdischen Brunnen. Es gab zwei Kellergeschosse, im obersten waren Vorratslager, die Waffenkammer und gut ein Dutzend Zellen untergebracht, die durch einen schmalen Spalt Tageslicht erhielten und in denen man die unterbrachte, die sich leichterer Vergehen schuldig gemacht hatten. Ein Stockwerk tiefer lagen die Kerker für die Schwerverbrecher, ohne jegliches Tageslicht, und auch die Folterkammer, nur dass man diese so nicht nannte, sondern als Raum der Befragung titulierte. Wiesel hatte damals einen Blick hineingeworfen, allerdings schnell wieder weggesehen und inbrünstig dafür gebetet, dass er sie nie wiedersehen würde.

Die Folter war im Kaiserreich für die meisten Verbrechen untersagt, was nicht bedeutete, dass es sie nicht gab. Bei Hochverrat, Nekromantie oder Ketzerei, wenn man also dem Namenlosen folgte, oder bei ganz besonders schweren Verbrechen wurden auch die Gerätschaften im Raum der Befragung noch verwendet.

Der Mord an einer in der ganzen Stadt bekannten und verehrten Bardin mochte ebenso darunterfallen, vor allem, wenn der Delinquent, obwohl auf frischer Tat ertappt, darauf bestand, unschuldig zu sein.

Was Wiesel daraufhin zum Grübeln brachte, wie lange er einer Folter wohl würde widerstehen können. Gestand er, wurde er gehängt, gestand er nicht, war es nur eine Frage der Zeit, bis er sich lieber hängen ließ, als noch weiter befragt zu werden.

Auf der anderen Seite würde Desina es nicht zulassen, dass man ihn hängte, sie würde ihm seine Unschuld glauben, und zur Not konnte man noch einen Priester des Boron rufen lassen, der erkennen konnte, ob er log.

Zellen, rief sich Wiesel zur Ordnung, es ging um die Zellen. Es gab im untersten Kerkerkeller vier Zellentrakte, die von zwei Gängen aus erreichbar waren. Beide Gänge besaßen an den Enden schwere Türen, die zu einem Quergang führten. Dort befand sich auch ein Wachraum, in dem vier Soldaten ihren Dienst versahen, eine weitere schwere Tür führte bei beiden Gängen zu jeweils einem Treppenhaus. Zum Erdgeschoss hin waren diese Treppenhäuser ebenfalls mit einer Tür verschlossen, und damals, als er mit seiner Schwester hier gewesen war, wurden diese Türen von je zwei Soldaten der Legion bewacht. Das Tor zum Innenhof des Wachgebäudes hatte damals offen gestanden, wahrscheinlich hielt man es nie geschlossen, doch es war von vier Soldaten bewacht gewesen. Vier Türen, die Zellentüre mitgerechnet, zwei Wachen im Erdgeschoss, die Wachen in den Wachräumen sollte man umgehen können.

Möglich wäre es, dachte Wiesel. Ich …

Ein plötzlicher Windstoß ließ ihn aus seinen Gedanken schrecken. Er kannte diese Windstöße von Asela, sie hatte oft genug Desinas Papiere durcheinandergewirbelt, wenn sie auf diese Weise erschien. Aber warum brachte sie kein Licht mit sich? Oder brauchte sie es nicht?

»Asela?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Ich fürchte, nein«, hörte er eine erheiterte Stimme. »Ich bezweifle, dass sie sich die Mühe machen würde … und wenn, sie würde dich hier verrotten lassen, ich hörte, ihr wäret euch nicht besonders grün.« Die Stimme war verhältnismäßig hoch, dennoch gehörte sie einem Mann. Einem Mann, der, wie Asela auch, das Imperial in einer gestochen scharfen Art und Weise sprach. Ein Mann, der das notwendige Talent und Wissen besaß, einen magischen Schritt in eine dunkle Zelle zu tun. Eine Eule, dachte Wiesel erschrocken. Nur dass es keine männlichen Eulen gab. Wenn man von Santer absah, der angeblich eine war, doch sein Talent noch nicht gefunden hatte.

Da es sonst keine männlichen Eulen geben konnte, musste dieser Mann aus dem alten Reich stammen, eine der alten Eulen sein und das wiederum bedeutete …

»Feltor! Du warst es«, knirschte Wiesel hervor. »Du hast Refala umgebracht!«

»Feltor, wie kommst darauf, dass ich Feltor bin?«, kam die erheiterte Antwort.

»Ich wusste nicht, dass es noch weitere Eulen gab, die den Kaiser verraten haben.«

»Es gibt vieles, was du nicht weißt.«

»Ich weiß zumindest, dass du sie umgebracht hast, sonst wärest du nicht hier!«

»Es hat sich so ergeben. Also ja, ich habe sie umgebracht. Doch deshalb bin ich nicht hier. Du bist also Wiesel?«

»Ja«, sagte Wiesel. »Der bin ich. Wenn du nicht Feltor bist, wer bist du dann?«

Nicht, dass er sich mit diesem Verfluchten unterhalten wollte, es ging dem schlanken Dieb um mehr. Es mochte dunkel sein in dieser Zelle, aber das bedeutete nicht, dass Wiesels andere Sinne blind sein mussten. Je mehr der Verfluchte sprach, umso mehr konnte Wiesel von ihm »sehen«.

Der Mann stand nahe vor dem aufgehängten Dieb, Wiesel konnte den Atem des Mannes riechen, ein Geruch von Wolle, Zedernöl, das sich manche Stutzer gegen die Flöhe in die Haare schmierten, kaltem Pfeifenrauch und Wein, etwas Schweres, Süßliches wie der Wein, den Refala ihm kredenzt hatte. Reich also, zumindest wohlhabend. So, wie Wiesel den Mann hörte, von etwas unter ihm, und bedachte man, dass Wiesel eine Handbreit über dem Boden hing, war diese verräterische Eule nicht viel größer als Wiesel selbst.

»Warum?«, kam die Frage gleich zurück. »Was soll es dir bringen? Hoffst du, dass sich dein Schicksal ändern wird, wenn du meinen Namen weißt?«

»Es wäre höflich«, meinte Wiesel nur.

»Oh, das. Höflichkeit. Nun denn, ich bin Erinstor. Wenn du dich jetzt verraten fühlst, dann liegt das daran, dass ich einst selbst verraten wurde. Vom Kaiser selbst und von der Schlange, die ich liebte. Der Kaiser versuchte sogar, mir mein Talent zu nehmen. Nur weil diese Schlange Lügen über mich erzählte.« Den Schritten nach zu urteilen, ging der Mann nun unruhig auf und ab. Viel Platz war in der Zelle nicht dafür, dachte Wiesel, er musste also wahrhaftig im Dunkeln sehen können.

»Warum seid Ihr hier?«, fragte Wiesel. »Wollt Ihr krähen wie ein Hahn, seid Ihr so stolz auf Eure Tat?«

»Stolz?«, fragte der Verräter nachdenklich. »Ich glaube nicht. Sie hat mich hereingelegt, musst du wissen, sie sagte, sie hätte die Münze verschluckt, damit sie sicher ist. Eine mutige Frau, diese Bardin, also bin ich nicht stolz darauf, sondern zolle ihr dafür Respekt. Nein, Wiesel, ich bin hier, weil ich unachtsam gewesen bin. Ich wusste, dass ich dich schon irgendwo gesehen habe, nur fiel es mir nicht ein. Ich hätte dich beinahe auch aufgeschlitzt, doch dann dachte ich mir, warum nicht dich für meine Taten hängen lassen?«

Während er gesprochen hatte, war etwas Unheimliches geschehen. Dort, wo Wiesel die Augen des Verräters vermutete, war ein fahles Leuchten entstanden, nicht größer als der Kopf einer Nadel, das heller wurde, als er von dem Mord an der Bardin sprach. Dazu kam, dass sein Atem sich verändert hatte. Götter, dachte Wiesel entsetzt. Der Mord an Refala hat ihn erregt! Nicht nur war er ein Mörder, er hat auch noch Gefallen an ihrem Tod gefunden. In diesem Moment wäre selbst Wiesel einen Handel mit dem Namenlosen eingegangen, wenn dies nur sicherstellen würde, dass dieser Wahnsinnige nicht mit dem Mord an ihr davonkam!

Die Schritte hörten auf, der Mann blieb stehen, als er weitersprach. »Doch dann erinnerte ich mich an dich. Der Ziehbruder der Kaiserin, der Einzige, dem sie jemals vollends vertrauen wird. Sie würde nie zulassen, dass sie dich hängen. Für sie wäre es leicht genug herauszufinden, was in Wahrheit geschehen ist, und das wäre mir nicht recht.« Er ging wieder weiter in der Zelle auf und ab. Wenigstens hielt er damit die Ratten fern, dachte Wiesel. Nur verstand er noch immer nicht, was der Verräter von ihm wollte.

»Also, warum seid Ihr hier?«, fragte Wiesel wieder.

»Um eine Möglichkeit zu nutzen, die ich vorher übersah«, teilte ihm der andere mit. »Schau, du bist Desina wichtig, und sie vertraut dir in allen Dingen. Wenn du verschwunden bist, wird sie sich Sorgen machen. Früher oder später wird sie sich jemanden suchen, dem sie sich anvertrauen kann. Doch dazu musst du verschwinden.«

»Also bist du hier, um mich umzubringen?«, fragte Wiesel und überlegte sich bereits, wie schnell er die Fesseln überwinden konnte. Vielleicht gab es noch die Gelegenheit …

»Nicht doch«, lachte der Mann. »Warum selbst etwas tun, wenn die Arbeit auch ein anderer erledigen kann?«

Wiesel fühlte eine glatte Hand über seine unrasierten Wangen streichen, gefolgt von einem seltsamen Kribbeln, das erst über sein Gesicht, dann über seinen ganzen Körper ging.

»Wenn man dich fragt, wirst du den Mord gestehen. Du wirst sagen, dass du eifersüchtig gewesen bist, weil sie ihre Zuneigung mit einem anderen teilte. Du seist derart von Eifersucht und Zorn erfüllt gewesen, dass du sie vom Bauche bis zum Hals aufgeschnitten hast, und in deinem Zorn hast du sogar ihre Eingeweide auf dem ganzen Bett verteilt. Und als dir gewahr wurde, was du getan hattest, schlug die Verzweiflung und die Reue zu, und du hast dich besinnungslos getrunken. Du wirst niemandem sagen, dass du Wiesel bist, dass du die Kaiserin zur Schwester hast oder jemanden aus ihrem Umfeld kennst. Lass dir einen anderen Namen einfallen, eine andere Geschichte. Wenn man dich nach Wiesel fragt, gestehe den Mord an ihm, du hast ihn aus Eifersucht erschlagen. Sei glaubhaft, du weißt, wie du es machen würdest. Du wirst weder dem Richter hier noch den Wachen von mir erzählen. Sie werden nicht lange fackeln, und niemandem bleibt Zeit, Verdacht zu schöpfen. So …«, sagte er dann und nahm seine Hände von Wiesels Gesicht. »Habe ich etwas vergessen? Vielleicht doch …« Wieder spürte Wiesel die glatten Hände des Mannes an seinen Wangen. »Ich hörte, du wärest gut darin, aus Fesseln zu entfliehen. Aber diesmal nicht. Dieses Mal wirst du es gar nicht erst versuchen.«

»Was … was hast du getan?«, fragte Wiesel entsetzt, als Erinstor erneut seine Hände von ihm nahm.

»Du wirst es bald erfahren.« Der Verfluchte lachte, unmittelbar darauf gab es einen dumpfen Knall, wie Wiesel es von Asela kannte, wenn sie es wieder besonders eilig hatte, dann war er allein in dieser Zelle. Allein, bis auf die Ratten.

Götter, dachte Lanzensergeant Romeras angewidert, als er die Laterne höher hob, um sich das Gesicht des Mörders näher anzusehen, was für ein elendiger Wicht. Noch immer mit getrocknetem Blut besudelt, waren seine Wangen tränennass, und in seinen Augen stand die Verzweiflung und der Wahn. In seiner Angst hatte er sich selbst besudelt, und er brabbelte etwas vor sich hin, das kaum verständlich war. Schwarzes strähniges Haar hing ihm wie fauliges Heu herab, und unter all dem Blut und Dreck befand sich ein Gesicht, das nur eine Mutter lieben konnte. Wulstige Lippen, eine kurze breite Nase, dichte schwarze Augenbrauen, dazu ein fliehendes Kinn und schiefe Zähne … wie hatte dieser Kerl glauben können, eine Sera wie die Bardin könnte Gefühle für ihn hegen?

»Wie lange hängt er hier denn schon?«, fragte er den Korporal, der den Mörder eingebracht hatte.

Der zuckte mit den Schultern. »Nicht ganz zwei Kerzenlängen. Wir haben hier schon andere hängen lassen, die haben ganze Tage besser ausgehalten. Der hier …«, fügte der Korporal verächtlich hinzu, »… ist jetzt schon weggetreten!«

Der Gefangene schien sie noch gar nicht wahrgenommen zu haben, seine Augen irrten vor Angst weit aufgerissen hin und her, und noch immer brabbelte er sinnlos vor sich hin.

»Was sagt er?«, fragte der Sergeant. Der Korporal beugte sich vor, um den Gefangenen besser zu verstehen, und schüttelte dann doch den Kopf. »Irgendetwas von einem Tor, kaum zu verstehen, was er stammelt.« Er rümpfte die Nase. »Er stinkt nach Wein und ist wahrscheinlich immer noch besoffen.«

»Na gut«, seufzte der Sergeant und trat nach einer Ratte, die am linken Fuß des Mörders hing. »Schau mal, ob du ihn wach und nüchtern kriegst.«

Der Korporal holte aus, und die schallende Ohrfeige riss den Gefangenen herum, ließ ihn an der Kette kreiselnd schaukeln. Er zuckte zwei, drei Mal, und jedes Mal wurde das Schaukeln geringer, schließlich hing er still und schaute den Korporal mit schmalen Augen an. »Danke«, sagte er mit rauer Stimme und spuckte Blut zur Seite aus. »Ich war in einem Alb gefangen.« Er sah hinunter zu seinen Füßen und blickte dann zum Sergeant auf. »Ich hasse Ratten«, teilte er Romeras mit. »Ihr seid hier, um mich abzuholen?« Dem Blick aus diesen schmalen Augen würde wohl so schnell nichts entgehen, und die Stimme, obwohl heiser vom vielen Schreien, war ruhig und klar. Von der Angst und Panik, in der er eben noch gefangen gewesen war, blieb kaum etwas zurück; der Mann, der nun ruhig vor ihnen hing, schien entschlossen und gefasst.

Der Sergeant hatte schon viele an diesen Ketten hängen sehen, und den meisten erging es so wie diesem Kerl, nur hatte Romeras es noch nie erlebt, dass sich jemand so schnell fasste.

Aus irgendeinem Grund rief die überraschende Wandlung und dieser direkte Blick bei dem Sergeant ein Unwohlsein hervor. Dieser Mann hatte eben noch an der Klippe der Verzweiflung gestanden, doch jetzt ging eine Bedrohung von ihm aus. Nur hatte der Lanzensergeant das Gefühl, dass diese Bedrohung weder ihm noch Korporal Sintis galt.

Noch immer sah der Gefangene ihn an, auch Sintis schaute zu ihm herüber, dann fiel ihm ein, dass der Mann auf eine Antwort wartete.

»Ja«, sagte Romeras und räusperte sich. »Wir sind hier, um dich zu holen.« Er gab Sintis ein Zeichen, und dieser ließ die Kette ab. Wie erwartet gaben dem Kerl die Beine nach, doch bevor Sintis ihn greifen konnte, fing er sich bereits und sah seltsam gelassen zu, wie der Korporal seine Handfesseln vom Haken nahm. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er die Arme sinken. Der Kerl nickte dankend und schaute wieder zu Romeras hin. Er schüttelte den Kopf, sodass seine Haare nach vorne flogen, und hielt inne.

»Sind meine Haare schwarz?«, fragte er überrascht.

»Grün sind sie jedenfalls mal nicht«, lachte der Korporal auf.

»So also hat er es sich gedacht«, sprach der Gefangene leise zu sich selbst und richtete den Blick auf den Sergeanten. »Was geschieht jetzt?«, fragte er und rollte seine Schultern, die laut knackten.

»Das liegt an Euch«, gab der Sergeant Antwort. Irgendetwas mahnte ihn zur Höflichkeit, vielleicht lag es an der Haltung des Gefangenen, der trotz der Fußfesseln einen guten Stand gefunden hatte, ganz so, als bereitete er sich auf ein Handgemenge vor. Dass er halb nackt war und gefesselt und zwei gewappneten Legionären gegenüberstand, schien ihn wenig zu berühren. Doch noch schien er bereit zu reden, und der Sergeant mochte keinen Ärger, dennoch legte er die Hand an sein Schwert und trat etwas zur Seite weg, um sich Raum zu geben. Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht des Mörders, aber er nickte nur.

»Sprecht weiter.«

»Wir haben Euch auf frischer Tat ertappt …«

»Schlafend im Bett neben einer Toten«, unterbrach ihn scharf der Gefangene, um dann einen Seufzer zu unterdrücken und zu nicken.

»Ihr habt …«, fing der Sergeant erneut an. »Ihr habt nun die Wahl. Entweder gesteht Ihr, oder Ihr werdet zu der Tat befragt.«

»Vermutlich wird die Befragung schmerzhaft werden?«, fragte der Gefangene, und der Korporal lachte. »Nur für dich. Mir ist es ein Vergnügen.«

Der Gefangene warf ihm einen scharfen Blick zu und nickte knapp.

»Gut. Ich gestehe. Was geschieht danach?«

»Ihr werdet dem Richter vorgeführt, ihm tragt Ihr Euer Geständnis vor, er wird das Urteil verkünden. Ein Priester des Boron wird Euch segnen, und bei Sonnenaufgang wird das Urteil an Euch vollstreckt.«

»Wie lange ist es noch bis zum Sonnenaufgang?«

»Etwas mehr als eine Glocke.«

»Der Priester des Boron …«, begann der Mann, doch sogleich stockte er und schüttelte den Kopf. »Vergesst es, er nützt mir nichts. Warum so schnell? Es ist doch gar nicht Boronstag?«

»Neue Weisung von Hochkommandant Keralos«, erklärte der Sergeant. »Die Krönung der Kaiserin steht bevor, und er will nicht, dass Hinrichtungen davon ablenken. Ihr werdet also am Galgen hier im Innenhof hingerichtet werden.«

»Schnell und unauffällig«, nickte der Mann. »Wäre es nicht mein Hals, der langgezogen werden soll, würde ich ihm dafür applaudieren. Gut«, sagte er und trat mit rasselnden Ketten vor. »Gehen wir. Bringen wir den Mummenschanz zu Ende.« Als der Korporal nach ihm greifen wollte, wich der Mann ihm aus. »Danke«, sagte er höflich. »Ihr braucht mich weder festzuhalten noch zu stützen, und ja, ich kenne auch den Weg.«