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Rachel Gibson: Er liebt mich, er liebt mich nicht

Inhaltsverzeichnis

Buch
Autorin
Außerdem von Rachel Gibson bei Goldmann lieferbar:
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
Danksagung
Copyright

Danksagung

Ich möchte allen, die mir beim Schreiben dieses Buchs geholfen haben, meine Wertschätzung und meinen Dank aussprechen. Craig Clark von C. C. Photography and Graphic Design, weil er seine Erfahrungen und sein Wissen über Fotografie mit mir geteilt und dafür gesorgt hat, dass ich mich nicht blamiere. Jamie G. für seine Motorenkenntnisse, für das Zeichnen von Diagrammen und seine geduldigen Erklärungen über den Unterschied zwischen einem V8 und einem gewöhnlichen V6, über Nockenwellen und Einlassventile. Ich danke auch meiner Schriftstellerkollegin Rachelle Morgan und ihrem Mann, Deputy David Nelson vom Morris County Sheriff’s Dept., Morris County, Texas. Die Zeit, die ihr mir gewidmet habt, war unbezahlbar.

Außerdem von Rachel Gibson bei Goldmann lieferbar:

Das muss Liebe sein. Roman
Frühstück im Kornfeld. Roman
Traumfrau ahoi. Roman
Sie kam, sah und siegte. Roman

Autorin

Seit sie sechzehn ist, erfindet Rachel Gibson mit Begeisterung Geschichten. Damals allerdings brauchte sie ihre Ideen vor allem dazu, um sich alle möglichen Ausreden einfallen zu lassen, wenn sie wieder etwas ausgefressen hatte. Ihre Karriere als Autorin begann viel später, und mittlerweile hat sie nicht nur die Herzen ihrer Leserinnen erobert, sie wurde auch mit dem Golden Heart Award und dem National Readers Choice Award ausgezeichnet. Rachel Gibson lebt mit ihrem Ehemann, drei Kindern, zwei Katzen und einem Hund in Boise, Idaho. Weitere Titel der Autorin sind bei Goldmann in Vorbereitung.

KAPITEL 1

Der Asphalt glühte in der Hitze, als der 63er Thunderbird aus der Garage glitt. Der Zwei-Zylinder-V8-Motor schnurrte wie ein zufriedenes Kätzchen, warm und kehlig. Die heiße texanische Sonne ließ die Speichen an den Rädern aufblitzen, fing sich in den verchromten Kühlerrippen und breitete sich über die glänzend schwarze Lackierung aus. Der Besitzer sah zu, wie der Wagen auf ihn zukam, und lächelte wohlwollend. Noch vor ein paar Monaten war der Sportwagen kaum mehr gewesen als ein Unterschlupf für Mäuse. Doch nun, wieder auferstanden in all seiner früheren Pracht und Herrlichkeit, war er bildschön – eine Erinnerung an jene Zeit, als Detroit die Beschleunigung wichtiger gewesen war als der Benzinverbrauch, die Fahrsicherheit oder Details wie die Position des Getränkehalters.

Jackson Lamott Parrish saß auf dem roten ledernen Fahrersitz des großen Thunderbird, eine Hand lässig über das Steuer gelegt. Das Sonnenlicht fing sich in seinem dichten braunen Haar, und in seinen Augenwinkeln bildeten sich feine Knitterfältchen, als er die Augen gegen das gleißende Licht zusammenkniff. Er ließ den Motor noch einmal röhren, nahm die Hand vom Steuer und legte den Ganghebel in die Parkposition, ehe er die Tür öffnete. Die Sohle seines Cowboystiefels traf aufs Pflaster. Mit einer geschmeidigen Bewegung stieg er aus, worauf der Besitzer des Sportwagens vortrat und ihm einen Scheck reichte. Jack warf einen Blick darauf, stellte fest, dass sämtliche Nullen an der richtigen Stelle waren, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Brusttasche seines weißen Hemds.

»Viel Spaß damit«, sagte er, wandte sich um und ging in die Werkstatt, vorbei an einem 1970er ’Cuda 440-6, dessen mächtiger Hemi-Motor ausgebaut war. Über das Geräusch von Kettenstoppern und Werkzeugmaschinen hinweg rief Jacks jüngerer Bruder Billy einem Mechaniker, der unter einem 59er Dodge Custom Royal Lancer lag, etwas zu.

Den Platz des Thunderbird sollte am nächsten Tag eine 54er Corvette einnehmen. Der Klassiker hatte in einer heruntergekommenen Garage in Südkalifornien gestanden, und vor drei Tagen war Jack hingeflogen, um ihn in Augenschein zu nehmen. Als er feststellte, dass er gerade mal vierzigtausend Meilen auf dem Tacho hatte und sämtliche Fahrgestellnummern übereinstimmten, hatte er ihn auf der Stelle für achttausend gekauft. Im restaurierten Zustand würde die Corvette das Zehnfache einbringen. In der Restaurierung von Oldtimern war Parrish American Classics die Nummer eins. Das wusste jeder.

Die Arbeit mit röhrenden Motoren lag den Parrish-Brüdern im Blut. Seit sie laufen konnten, arbeiteten Jack und Billy in der Werkstatt ihres Vaters. Sie hatten ihren ersten Motor ausgebaut, noch bevor ihnen die Schambehaarung spross, konnten mit geschlossenen Augen einen 260 V8 von einem 289 unterscheiden und Einspritzmotoren im Schlaf reparieren. Als stolze Bürger von Lovett, Texas, mit seinen 19 003 Einwohnern waren die Parrish-Jungs mit einer Vorliebe für Fußball, kaltes Bier und Autorennen auf den weiten, ebenen Straßen aufgewachsen – gewöhnlich mit einer langhaarigen Braut auf dem Beifahrersitz, die sich im Rückspiegel die Lippen nachzog.

Die Jungen waren in einem kleinen Haus mit drei Schlafzimmern hinter der Werkstatt groß geworden. Die ursprüngliche Werkstatt existierte mittlerweile nicht mehr. Sie war abgerissen und durch eine größere, modernere mit acht Stellplätzen ersetzt worden. Sie hatten den Hof hinter der Werkstatt aufgeräumt und die alten Autos und schrottreifen Ersatzteile schon vor langer Zeit wegschaffen lassen.

Das Haus hingegen war noch dasselbe. Die Rosen, die ihre Mutter gepflanzt hatte, die Grasflächen unter der mächtigen Ulme waren geblieben, ebenso die gemauerte Veranda und die Fliegentür, die dringend einmal sauber gemacht werden sollte. Das Haus hatte lediglich innen und außen denselben weißen Anstrich bekommen, den es immer gehabt hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Jack es jetzt allein bewohnte.

Vor sieben Jahren hatte Billy Rhonda Valencia geheiratet und sein wildes Leben bereitwillig für häusliches Glück aufgegeben. Soweit man sich in der Stadt erinnerte, war Jack nie in Versuchung geraten, seinem wilden Leben den Rücken zu kehren. Allem Anschein nach war er nie einer Frau begegnet, die den Wunsch in ihm geweckt hätte, alle anderen für diese eine aufzugeben. Und zwar für immer.

Aber die Leute wussten eben nicht alles. Jack ging weiter in sein Büro im hinteren Teil der Werkstatt und schloss die Tür. Er legte den Scheck in eine Schreibtischschublade und rückte sich den Stuhl zurecht. Vor dem Kauf der 54er Corvette hatte er deren Geschichte nachverfolgt, ehe er nach Kalifornien geflogen war, um sich zu vergewissern, dass der Wagen keine ernsten Schäden an Fahrgestell und Innenleben aufwies. Die Geschichte eines Fahrzeugs zu überprüfen, Ersatzteile aufzustöbern und es zu restaurieren war wie ein Zwang, der ihn erst dann wieder losließ, wenn der Wagen perfekt war. Repariert. Besser. Heil.

Penny Kribs, Jacks Sekretärin, kam herein und brachte die Post. »Ich gehe jetzt zum Friseur«, erklärte sie.

Jacks Blick wanderte zu Pennys dünnem schwarzem Haar, das sie hochgesteckt trug. Er und Penny hatten zwölf Jahre lang zusammen die Schulbank gedrückt, und mit ihrem Mann, Leon, hatte er im Footballteam gespielt.

Er stand auf und legte die Post auf den Schreibtisch. »Willst du dich schön machen für mich?«

Sie trug Ringe an fast jedem Finger und lange rosa Nägel, die wie Krallen gebogen waren. Jack fragte sich oft, wie sie tippen konnte, ohne mehrere Tasten auf einmal zu drücken. Und wie sie so viel Wimperntusche auftragen konnte, ohne sich ein Auge auszustechen. Wie sie die Hand um Leons bestes Stück schloss, wollte er sich lieber nicht vorstellen. Allein der Gedanke jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.

»Natürlich«, erwiderte sie lächelnd. »Du weißt doch, dass du meine erste große Liebe bist.«

Ja, das wusste er. In der dritten Klasse hatte Penny ihm gestanden, dass sie ihn liebte, ehe sie ihm mit ihren schwarzen Lackschuhen gegen das Schienbein getreten hatte. Schon damals war ihm klar gewesen, dass er diese Art von Liebe nicht wollte. »Erzähl das ja nicht Leon.«

»Oh, er weiß es.« Sie hob kurz die Hand und ging zur Tür, wobei sie eine Spur Parfum hinter sich herzog. »Und er weiß auch, dass ich mich nie im Leben mit dir einlassen würde.«

Jack verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Schreibtischkante. »Warum nicht?«

»Weil du Frauen behandelst wie ein Magersüchtiger ein Regal voller Schokoriegel. Du knabberst hier mal, dann knabberst du dort. Vielleicht beißt du auch ein paar Mal ab, aber du isst niemals auf.«

Jack lachte. »Ich glaube, es gibt ein paar Frauen, die dir etwas anderes erzählen könnten.«

Penny fand das nicht lustig. »Du weißt schon, wie ich das meine«, sagte sie über die Schulter hinweg und ging zur Tür hinaus.

Ja, das tat er. Wie die meisten Frauen war auch Penny der Meinung, er sollte längst verheiratet sein, Kinder in die Welt setzen und einen familientauglichen Geländewagen fahren. Doch Jack fand, dass sein jüngerer Bruder diesem Anspruch für sie beide Genüge getan hatte. Billy hatte drei Töchter zwischen sechs Monaten und fünf Jahren. Sie wohnten in einer ruhigen Sackgasse mit einer Schaukel im Garten, und Rhonda fuhr einen Tahoe, die erste Wahl jeder Mutter. Angesichts all dieser Nichten verspürte Jack keinerlei Drang, noch einen Parrish in die Welt zu setzen. Er war ›Onkel Jack‹, und damit war er durchaus zufrieden.

Er setzte sich wieder, knöpfte seine Manschetten auf, krempelte die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit. Es war Freitag, und er hatte noch Berge von Arbeit vor sich, ehe er ins Wochenende starten konnte. Um fünf öffnete Billy die Tür, um sich abzumelden. Jack warf einen Blick auf die Buick-Riviera-Uhr neben seinem Computermonitor. Er arbeitete seit drei Stunden und fünfzehn Minuten.

»Ich muss zu Amy Lynns T-Ball-Spiel«, sagte Billy. »Kommst du auch?«

Amy Lynn war Billys Älteste, und Jack ging zu ihren Spielen, wann immer es seine Zeit erlaubte. »Heute nicht«, antwortete er und warf seinen Stift auf den Schreibtisch. »Heute feiert Jimmy Calhoun im ›Road Kill‹ seinen Junggesellenabschied«, erklärte er. Bis vor kurzem war Jimmy ein wilder Zecher gewesen, doch nun gab er seine Freiheit für ein Paar goldener Ringe auf. »Ich habe versprochen, auf ein paar Drinks reinzuschauen.«

Billy lächelte. »Treten da auch Stripperinnen auf?«

»Kann sein.«

»Erzähl mir bloß nicht, du siehst dir lieber eine Hand voll nackter Frauen als ein T-Ball-Spiel an.«

Jack grinste so breit wie sein Bruder. »Na ja, die Entscheidung ist mir ziemlich schwer gefallen. Zuzusehen, wie Frauen sich ausziehen oder wie eine Horde Fünfjähriger auf dem Platz herumläuft und die Helme verkehrt herum auf dem Kopf hat.«

Billy lachte auf seine typische Art – er warf den Kopf in den Nacken und stieß kurze, meckernde Laute aus. Das Lachen erinnerte so stark an ihren Vater Ray, dass Jack vermutete, er hätte es von ihm geerbt. »Du Glückspilz«, erklärte Billy, wenn auch halbherzig. Sie wussten beide, dass Billy lieber Amy Lynn mit umgekehrt aufgesetztem Helm herumlaufen sah. »Wenn du jemanden brauchst, der dich danach nach Hause fährt, ruf mich an«, fügte er auf dem Weg zur Tür hinzu.

»Klar.« Ein betrunkener Autofahrer war schuld am Tod ihrer Eltern gewesen, als Jack gerade achtzehn Jahre alt war. Die Brüder fuhren grundsätzlich nie, wenn sie getrunken hatten.

Jack arbeitete noch eine Stunde, bevor er den Computer abschaltete und zwischen den Stellplätzen hindurch aus der Werkstatt ging. Alle anderen hatten bereits Feierabend gemacht, so dass das Geräusch seiner Absätze in der Stille widerhallte. Er verschloss das Tor und stellte die Alarmanlage ein, dann sprang er in seinen Shelby Mustang. Auf dem Weg in die Vororte von Lovett fing es an zu regnen. Nur ein paar Tropfen, vermischt mit Staub und Wind, die den glänzenden schwarzen Lack des Wagens mit einer grauen Schicht überzogen.

Das »Road Kill« unterschied sich nicht sonderlich von den vielen anderen Bars in der Gegend. Countrymusic dröhnte aus der Musikbox, und die Gäste tranken Lone-Star-Bier vom Fass. Ein großes rot-weiß-blaues Schild mit der Aufschrift DON’T MESS WITH TEXAS hing über dem Spiegel hinter der Theke, die Wände waren mit alten Straßenschildern, ausgestopften Gürteltieren und Klapperschlangen dekoriert. Der Barbesitzer war Tierpräparator, und wenn ein Gast Lust hatte oder betrunken genug war, konnte derjenige einen Klapperschlangengürtel oder eine schicke Handtasche aus Gürteltierhaut zum Sonderpreis erstehen.

Als Jack die Bar betrat, schob er die Krempe seines Stetsons hoch und blieb lange genug am Eingang stehen, so dass sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnen konnten, bevor er zum Tresen ging. Er begrüßte ein paar Stammkunden. Über Clint Blacks Stimme aus der Musikbox hinweg hörte er den Lärm von Jimmys Junggesellenabschiedsparty, die im Hinterzimmer in vollem Gange war.

»Ein Lone Star«, sagte er. Wenige Sekunden später stand die Flasche auf dem Tresen, und er reichte dem Barmann einen Fünfer. Er spürte eine weiche Hand auf seinem Arm und blickte über die Schulter hinweg direkt in Gina Browns Gesicht.

»Hey, Jack.«

»Hey, Gina.« Gina, ein großes, schlankes Cowgirl, das gern den mechanischen Stier bei Slim Clem am Highway 70 ritt, war etwa so alt wie Jack und zweimal geschieden. Sie trug hautenge Wrangler-Jeans, spitze Stiefel und besaß rotes Haar. Jack wusste aus sicherer Quelle, dass ihr Haar gefärbt war, da sie nicht nur den Bullen gern ritt. In letzter Zeit verriet sie häufiger mit irgendwelchen Bemerkungen, dass sie ihn zum Ehemann Nummer drei auserkoren hatte. Deshalb war es ratsam, ihre Affäre ein bisschen abkühlen zu lassen, damit sie sich die Idee schnell wieder aus dem Kopf schlug.

»Kommst du wegen der Junggesellenparty im Hinterzimmer? « Sie blickte zu ihm auf. Er hätte blind sein müssen, um die Einladung in ihrem Lächeln nicht zu verstehen.

»Ja.« Jack hob die Flasche an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Er hatte keine Lust, das Ganze wieder aufzuwärmen. Er mochte Gina, aber zum Ehemann war er nicht geschaffen. Er nahm sein Wechselgeld vom Tresen und schob es in seine Jeanstasche. »Man sieht sich«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

Ginas nächste Frage ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben. »Hast du Daisy Lee schon gesehen?«

Jack hätte sich um ein Haar an seinem Bier verschluckt. Er drehte sich noch einmal zu Gina um.

»Ich habe sie heute Morgen an der Tankstelle gesehen. Sie hat den Cadillac ihrer Mutter voll getankt.« Gina schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist … keine Ahnung, zehn oder zwölf Jahre her, dass sie in der Stadt war.«

Es waren fünfzehn Jahre.

»Ich habe sie sofort erkannt. Daisy Lee Brooks hat sich nicht sehr verändert.«

Abgesehen davon, dass Daisy Brooks inzwischen Daisy Monroe hieß, und zwar schon seit fünfzehn Jahren. Und dadurch hatte sich alles verändert.

Gina trat einen Schritt näher heran und spielte mit einem seiner Hemdknöpfe. »Ich habe das von Steven gehört. Es tut mir Leid. Ich weiß, er war dein bester Freund.«

Er und Steven Monroe waren unzertrennlich gewesen, seit sie im Alter von fünf Jahren in der Lovett Baptist Church nebeneinander gesessen und aus Leibeskräften »Jesus liebt mich« gesungen hatten. Aber auch das hatte sich geändert. Das letzte Mal, dass er Steven sah, war an jenem Abend gewesen, als sie einander vor Daisys entsetzten Augen blutig geschlagen hatten. Das war auch der Tag gewesen, an dem er Daisy zum letzten Mal gesehen hatte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, in unserem Alter schon zu sterben. Das ist grauenhaft«, plapperte Gina weiter, als bemerke sie nicht, dass Jack sich nicht an ihrer Unterhaltung beteiligte.

»Entschuldige, Gina«, sagte er und ging weiter. Längst begraben geglaubter Zorn wallte in ihm auf, doch er kämpfte mit all seiner Kraft dagegen an und verschloss ihn tief in seinem Inneren.

Dann fühlte er gar nichts mehr.

Mit dem Bier in der Hand schob er sich durch die sich rasch füllende Bar und betrat das Hinterzimmer, in dem sich die Gäste drängten. Er lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen und richtete seine Aufmerksamkeit auf Jimmy Calhoun. Der Ehrengast saß mitten im Raum auf einem Stuhl, umgeben von etwa einem Dutzend Männern. Aller Augen waren auf die beiden wie Rodeoköniginnen gekleideten Frauen gerichtet, die sich zu den Klängen der Dixie Chicks bewegten. Sie hatten sich bis auf glitzernde String-Tangas ausgezogen und machten sich nun an den Knöpfen ihrer Seidenblusen zu schaffen. Völlig synchron ließen sie den Stoff von ihren wohl geformten Schultern und an ihren perfekten Körpern hinuntergleiten und gaben den Blick auf ihre großen, in mit Pailletten besetzte Bikinitops gezwängten Brüste frei. Jack ließ den Blick von ihren vollen Brüsten zu ihren Tangas wandern.

Marvin Ferrell trat neben ihn und verfolgte die Show. »Was meinst du, sind ihre Brüste echt?«, fragte er.

Jack zuckte die Achseln und setzte die Bierflasche an die Lippen. Marvin war offenbar schon zu lange verheiratet, sonst würde er nicht wie eine Frau daherreden. »Wen interessiert das?«

»Stimmt.« Marvin lachte. »Hast du schon gehört, dass Daisy Brooks wieder hier ist?«

Über die Flasche hinweg sah er Marvin an, ehe er sie sinken ließ. »Ja, hab’s gehört.« Wieder verspürte er den alten Zorn, und wieder drängte er ihn zurück, bis er nichts mehr empfand. Er wandte sich wieder den Stripperinnen zu und beobachtete, wie sie Jimmy zwischen ihre halbnackten Körper nahmen und einander über seinen Kopf hinweg küssten. Beim Anblick der nassen, aufreizenden Zungenküsse mit weit offenen Mündern verlangten die Jungs johlend eine Zugabe. Jack legte den Kopf schief und lächelte. Die Show war gut.

»Ich habe Daisy im Supermarkt gesehen!«, fuhr Marvin fort. »Verdammt, sie sieht noch genauso scharf aus wie damals auf der Highschool.«

Jacks Lächeln verschwand, als ihn eine Erinnerung an große braune Augen und weiche rosa Lippen in den schwarzen Schlund der Vergangenheit zu ziehen drohte.

»Weißt du noch, wie toll sie in ihrer kleinen Cheerleader-Uniform ausgesehen hat?«

Jack löste sich von der Tür und trat vollends in den Raum, doch es gab kein Entrinnen. Offenbar schwelgten alle, denen er begegnete, nur zu gern in Erinnerungen. Alle außer ihm.

Während die Stripperinnen sich gegenseitig die winzigen Bikinitops auszogen, war Daisy das einzige Gesprächsthema. Zwischen Pfiffen und Zungeschnalzen wollten Cal Turner, Lester Crandall und Eddy Dean Jones wissen, ob er sie schon gesehen hatte.

Angewidert verließ Jack das Hinterzimmer und ging zurück an den Tresen. Was für eine Gemeinheit, wenn ein Mann nicht genießen konnte, wie zwei beinahe nackte Frauen es nur wenige Schritte von ihm entfernt miteinander trieben. Er hatte keine Ahnung, wie lange Daisy in der Stadt bleiben wollte, hoffte jedoch von Herzen, dass es nur ein kurzer Besuch sein würde. Vielleicht hatten die Leute dann etwas Besseres, worüber sie reden konnten. In erster Linie aber hoffte er, dass sie so viel Verstand hatte, ihm tunlichst nicht über den Weg zu laufen.

Er stellte die Flasche auf den Tresen und verließ das Lokal, ließ das Gerede und die Spekulationen über Daisy Monroe hinter sich. Regen prasselte auf seinen Hut und seine Schultern, als er den Parkplatz überquerte. Doch die Erinnerungen folgten ihm auf Schritt und Tritt. Erinnerungen daran, wie er in wunderschöne braune Augen geblickt und weiche Lippen geküsst hatte. Wie seine Hand an ihrem glatten Schenkel hinaufglitt und sich unter ihr blaugoldenes Cheerleader-Röckchen schob. Erinnerungen an Daisy Lee in ihren roten Cowboystiefeln mit den weißen Herzen auf den Seiten, sonst nichts.

»Gehst du schon?«, fragte Gina und kam auf ihn zu.

Er sah sie an. »Die Party ist öde.«

»Wir könnten doch selber eine kleine Party veranstalten. « Typisch Gina – sie wartete nicht darauf, dass er die Initiative ergriff. Gewöhnlich störte ihn so etwas, aber nicht an diesem Abend. Sie hob ihm ihren Mund entgegen, und sie schmeckte nach warmem Bier und nach Begehren. Jack erwiderte ihren Kuss. Als er ihre festen Brüste an seinem Oberkörper spürte, regte sich tief in ihm erstes Verlangen. Er zog sie an sich und schürte die Glut, bis er nichts als Lust verspürte und den Regen, der durch sein Hemd bis auf die Haut drang. Er schob jeden Gedanken an braune Augen und Cheerleader-Röckchen beiseite, ersetzte ihn durch die Frau, die sich gegen seinen Unterleib presste. Daisy Monroe hob die Hand, um sie auf die Fliegentür zu legen, ehe sie sie wieder sinken ließ. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihr Magen verkrampfte sich. Um sie herum prasselte der Regen auf die Veranda nieder, Wasser ergoss sich aus der Regenrinne auf die Blumenbeete. Die Werkstatt hinter ihr war hell erleuchtet, nur an der Stelle, wo sie stand, war es stockdunkel, als ob das Licht sich nicht traute, noch weiter über den Hof zu kriechen.

Die Werkstatt war umgebaut und sah ganz anders aus als damals. Der Hof war aufgeräumt worden, die alten Autos abgeschleppt. Soweit sie es sehen konnte, war das Haus unverändert und weckte die Erinnerung an eine warme, von Rosenduft erfüllte Sommerbrise, die mit ihrem Haar spielte. An die vielen Abende, wenn sie zwischen Steven und Jack auf der Veranda gesessen hatte, auf der sie nun stand, und über ihre albernen Witze lachte.

Donner grollte, und Blitze zuckten über den Nachthimmel und rissen sie aus ihren Erinnerungen – ein Omen, das ihr riet, lieber zu gehen und ein anderes Mal wiederzukommen.

Konfrontationen waren nicht ihre Stärke. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die Probleme in Angriff nahmen, sobald sie sich stellten. Sie hatte sich zwar gebessert, aber … vielleicht hätte sie doch vorher anrufen sollen. Es widersprach den Regeln der Höflichkeit, um zehn Uhr abends unangemeldet bei jemandem aufzukreuzen, außerdem sah sie wahrscheinlich aus wie eine nasse Katze.

Bevor sie das Haus ihrer Mutter verließ, hatte sie sich vergewissert, dass ihr bis über die Schultern reichendes Haar gebürstet war und glänzte. Ihr Make-up war perfekt, die weiße Bluse und die Khakihose waren frisch gebügelt. Doch inzwischen kräuselte sich bestimmt ihr Haar, die Wimperntusche war zerlaufen und ihre Hose mit Schlamm aus der Pfütze bespritzt, in die sie versehentlich getappt war. Sie wandte sich zum Gehen, zwang sich jedoch, sich noch einmal umzudrehen. Im Grunde spielte es keine Rolle, wie sie aussah, außerdem gäbe es ohnehin nie einen günstigen Zeitpunkt für das, was sie vor sich hatte. Sie war nun schon seit drei Tagen in der Stadt. Sie musste mit Jack reden. Heute Abend. Sie hatte es lange genug vor sich hergeschoben. Sie musste ihm sagen, was sie ihm fünfzehn Jahre lang verschwiegen hatte.

Wieder hob sie die Hand und fuhr vor Schreck zusammen, als die Holztür aufgestoßen wurde, bevor sie klopfen konnte. Durch das Fliegengitter konnte sie im dunklen Hausinneren die Gestalt eines Mannes ausmachen. Er trug kein Hemd. Von irgendwoher im Haus drang ein warmer Lichtschein, der sich über seine Arme und Schultern und halb über seinen nackten Brustkorb ergoss. Sie hätte eindeutig vorher anrufen sollen.

»Hallo«, setzte sie an, ehe sie der Mut verlassen konnte. »Ich möchte Jack Parrish sprechen.«

»Wow«, höhnte seine Stimme in der Dunkelheit. »Wenn das nicht Daisy Lee Brooks ist.«

Seine Stimme hatte sich in den vergangenen fünfzehn Jahren verändert. Sie war tiefer als die des Jungen, den sie gekannt hatte, doch den boshaften Unterton hätte sie überall wiedererkannt. Kein Mensch konnte so viel Spott in seine Stimme legen wie Jack. Früher einmal hatte sie Verständnis dafür gehabt. Hatte gewusst, was dahintersteckte. Doch nun versuchte sie gar nicht, sich einzureden, dass es noch so war.

»Hallo, Jack.«

»Was willst du, Daisy?«

Sie blickte ihn durchs Fliegengitter im Dämmerlicht an, betrachtete den Umriss des Mannes, den sie einmal so gut gekannt hatte. Ihr Magen zog sich noch mehr zusammen. »Ich möchte … ich muss mit dir sprechen. Und ich … habe gedacht …« Sie atmete tief durch und zwang sich, nicht zu stottern. Sie war dreiunddreißig Jahre alt. Ebenso wie er. »Ich wollte dir sagen, dass ich in der Stadt bin, bevor du es von anderen erfährst.«

»Zu spät.« Der Regen prasselte aufs Dach, und das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus. Sie spürte seinen Blick. Er berührte ihr Gesicht und glitt an ihrer gelben Öljacke herab, und als sie schon glaubte, er würde überhaupt nichts mehr sagen, fuhr er fort. »Wenn das alles war, was du zu sagen hast, kannst du ja jetzt gehen.«

Sie hatte noch mehr zu sagen. Eine ganze Menge sogar. Sie hatte Steven versprochen, Jack einen Brief zu geben, den er einige Monate vor seinem Tod geschrieben hatte. Der Brief steckte in ihrer Manteltasche. Sie musste Jack die Wahrheit über das erzählen, was vor fünfzehn Jahren vorgefallen war, und ihm den Brief geben. »Es ist wichtig, dass wir miteinander reden. Bitte.«

Er musterte sie einige Augenblicke lang, ehe er sich umwandte und im Haus verschwand. Er öffnete ihr zwar nicht die Fliegentür, schlug ihr aber auch nicht die Haustür vor der Nase zu. Allerdings bestand kein Zweifel daran, dass er es ihr nicht leicht machen würde. Andererseits – hatte er das je getan?

Die Fliegenschutztür gab das gewohnte Quietschen von sich, als Daisy sie öffnete. Sie folgte Jack durchs Wohnzimmer in die Küche. Seine Silhouette verschwand um eine Ecke, doch Daisy kannte den Weg.

Im Haus roch es nach frischer Farbe. Daisy nahm dunkle Möbel und einen Großbildfernseher wahr, den Umriss von Mrs. Parrishs Klavier an der einen Wand und fragte sich flüchtig, wie viel sich verändert haben mochte, seit sie das letzte Mal dieses Haus betreten hatte. Als sie in die Küche trat, flammte das Licht auf, und es war, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht. Beinahe rechnete sie damit, Mrs. Parrish vor dem Herd stehen zu sehen, wo sie Brot oder Daisys Lieblings-Erdnuss-Kekse backte. Das grüne Linoleum vor der Spüle war noch immer abgenutzt, die Arbeitsflächen nach wie vor blau-türkis gesprenkelt.

Jack hatte den Kühlschrank geöffnet, so dass sein Oberkörper hinter der geöffneten Tür verborgen war und sie nur seine langen Beine und sein Hinterteil sehen konnte. Seine braun gebrannten Finger umfassten den Chromgriff. Eine Gesäßtasche seiner engen Levi’s hatte einen dreieckigen Riss, und die Nähte waren so abgeschabt, dass sie aussahen, als wollten sie jeden Moment nachgeben.

Adrenalin schoss durch ihre Adern, und sie ballte die Fäuste, damit ihre Hände zu zittern aufhörten. Schließlich richtete sich Jack zu seiner vollen Größe auf, und mit einem Mal schien alles wie in Zeitlupe abzulaufen, als hätte plötzlich jemand einen Schalter am Filmprojektor umgelegt. Er drehte sich mit einer Tüte Milch in der Hand um und schloss die Kühlschranktür. Für den Bruchteil einer Sekunde blieben ihre Augen an der schmalen Spur dunklen Haars hängen, die aus seinem Hosenbund wuchs und sich um seinen Nabel kräuselte. Sie ließ den Blick über das Haar auf seinem flachen Bauch und die wohl definierte Brustmuskulatur wandern. Falls sie noch Zweifel gehegt haben sollte, wären sie durch diesen Anblick endgültig ausgeräumt. Er war nicht mehr der Junge, den sie einmal gekannt hatte. Er war eindeutig ein Mann.

Sie zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen, das kräftige Kinn, die geschwungenen Lippen, seine Augen, und spürte, wie ihre Kehle trocken wurde. Jack Parrish war immer ein gut aussehender Junge gewesen, doch nun besaß er eine geradezu gefährliche Attraktivität. Eine Locke seines dichten Haars war ihm in die Stirn gefallen. Diese hellgrünen Augen, an die sie sich so gut erinnerte, die sie einmal so besitzergreifend und voller Leidenschaft angesehen hatten, musterten sie jetzt, als bedeutete ihm ihr Anblick kaum mehr als der eines streunenden Hundes.

»Bist du gekommen, um mich anzustarren?«

Sie trat weiter in die Küche und schob die Hände in die Taschen ihres Regenmantels. »Nein, ich wollte dir sagen, dass ich in der Stadt bin und meine Mutter und Schwester besuche.«

Er hob den Milchkarton an die Lippen, trank und wartete auf eine weitere Erklärung.

»Ich dachte, du solltest das wissen.«

Über den Karton hinweg sah er sie an, ehe er den Blick senkte. Manche Dinge hatten sich doch nicht geändert. Jack Parrish, ein übler Bursche und Hansdampf in allen Gassen, war schon immer Milchtrinker gewesen. »Wie kommst du darauf, dass mich das auch nur die Bohne interessiert? «, fragte er und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Ich dachte, es könnte ja sein. Ich meine, natürlich habe ich mich gefragt, wie du darüber denkst, und war mir nicht sicher.« Es war schwerer, als sie angenommen hatte. Und was sie angenommen hatte, war weiß Gott schon schwer genug gewesen.

»Jetzt brauchst du dich nicht mehr zu fragen.« Er deutete mit dem Milchkarton in Richtung Tür. »Wenn das alles war – da ist die Tür.«

»Nein, das ist noch nicht alles.« Sie blickte auf ihre Stiefelspitzen hinunter. Das schwarze Leder war fleckig vom Regen. »Steven hat mich gebeten, dir etwas auszurichten. Ich soll dir sagen, dass es ihm Leid tut wegen … allem.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein …, dass es ihm Leid getan hat. Er ist seit sieben Monaten nicht mehr da, und es fällt mir immer noch schwer, in der Vergangenheitsform an ihn zu denken. Es kommt mir irgendwie falsch vor, als hätte er nie existiert, wenn ich das tue.« Sie sah Jack wieder an, dessen Miene sich nicht verändert hatte. »Danke für die schönen Blumen, die du geschickt hast.«

Er zuckte die Achseln und stellte den Milchkarton auf den Küchentresen. »Penny hat das getan.«

»Penny?«

»Penny Colton. Verheiratet mit Leon Kribs. Sie arbeitet jetzt für mich.«

»Dann richte ihr bitte meinen Dank aus.« Doch Penny hatte die Blumen nicht geschickt und ohne sein Wissen mit seinem Namen unterzeichnet.

»Halb so wild.«

Sie wusste, wie viel Steven ihm früher bedeutet hatte. »Tu nicht so, als wäre es dir egal, dass er nicht mehr da ist.«

Er zog eine Braue hoch. »Du vergisst, dass ich versucht habe, ihn umzubringen.«

»Du hättest ihn niemals umgebracht, Jack.«

»Nein, da hast du Recht. Ich schätze, ihr wart es einfach nicht wert.«

Das Gespräch lief in die falsche Richtung; sie musste es wieder ins rechte Gleis bringen. »Sei doch nicht so gemein. «

»Das nennst du gemein?« Er lachte freudlos. »Das war noch gar nichts, Butterblümchen. Wenn du noch eine Weile hier bleibst, zeige ich dir gern, wie gemein ich werden kann.«

Sie wusste längst, wie Jack sein konnte, aber selbst wenn sie ein Feigling sein mochte, war sie doch auch stur wie ein Ochse. Wie Jack nicht mehr derselbe Junge war wie früher, war auch sie nicht mehr das Mädchen aus seiner Erinnerung. Sie war gekommen, um ihm die Wahrheit zu sagen. Endlich. Bevor sie den Rest ihres Lebens in Angriff nahm, musste sie ihn über Nathan aufklären. Sie hatte fünfzehn Jahre gebraucht, um an diesen Punkt zu kommen, und Jack konnte so gemein werden, wie er wollte, er würde ihr zuhören müssen.

Aus den Augenwinkeln sah Daisy etwas aufblitzen, und im nächsten Moment trat eine Frau in einem weißen Männerhemd in die Küche.

»Hallo«, sagte sie und stellte sich neben Jack.

Er blickte zu ihr hinunter. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst im Bett bleiben.«

»Ohne dich ist mir aber langweilig geworden.«

Heiße Röte breitete sich von Daisys Hals bis zu ihren Wangen aus, doch sie schien die Einzige im Zimmer zu sein, der die Situation peinlich war. Jack hatte eine Freundin. Natürlich. Er hatte immer eine Freundin gehabt, manchmal auch zwei auf einmal. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie diese Tatsache schmerzte.

»Hallo, Daisy. Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst. Ich bin Gina Brown.«

Es schmerzte nicht mehr, und Daisy schämte sich ein wenig, sich einzugestehen, dass sie außer überwältigender Erleichterung im Grunde gar nichts empfand. Sie war den ganze Weg von Seattle hierher gekommen, um ihm von Nathan zu berichten, und alles, was sie jetzt spürte, war Erleichterung. Als wäre sie der Guillotine entkommen. Offenbar war sie noch feiger, als sie angenommen hatte. Daisy lächelte und streckte die Hand aus. »Natürlich erinnere ich mich. Wir waren im letzten Jahr auf der Highschool im selben Kurs in Amerikanischer Politik.«

»Bei Mr. Simmons.«

»Genau.«

»Weißt du noch, wie er über einen Radiergummi auf dem Boden gestolpert ist?«, fragte Gina, als wäre es völlig normal, dass sie nur mit Jacks Hemd bekleidet vor Daisy stand.

»Das war so lustig. Ich hätte mir beinahe …«

»Was zum Teufel soll das werden?«, unterbrach Jack. »Ein verdammtes Klassentreffen?«

Die beiden Frauen sahen ihn an. »Ich wollte nur höflich zu deinem Gast sein«, erklärte Gina.

»Sie ist nicht mein Gast, außerdem will sie jetzt gehen.« Er warf Daisy einen Blick zu, der ebenso kalt und unnachgiebig war wie vorhin an der Haustür.

»War nett, dich zu sehen, Gina«, sagte sie.

»Ganz meinerseits.«

»Guten Abend, Jack.«

Er stand gegen den Küchentresen gelehnt da und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Man sieht sich.« Daisy ging durch das dunkle Haus zurück zur Tür und nach draußen. Der Regen hatte aufgehört. Auf dem Weg zum Cadillac ihrer Mutter, den sie neben der Werkstatt abgestellt hatte, wich Daisy den Pfützen aus. Vor ihrem nächsten Besuch würde sie auf jeden Fall anrufen.

Gerade als sie die Wagentür öffnen wollte, spürte sie eine Hand auf ihrem Arm, ehe sie herumgerissen wurde. Sie sah in Jacks Gesicht. Das Licht des Bewegungsmelders erhellte seine verkniffenen Züge. Sein Blick bohrte sich förmlich in sie hinein – nicht mehr kalt, sondern erfüllt von glühendem Zorn.

»Ich habe keine Ahnung, was du hier gesucht hast, Absolution oder Vergebung«, sagte er, wobei sein texanischer Akzent noch deutlicher zu hören war als zuvor. »Aber das bekommst du hier nicht.« Er ließ ihren Arm los, als könnte er die Berührung nicht ertragen.

»Ja, ich weiß.«

»Gut. Dann lass mich in Ruhe, Daisy Lee«, sagte er und betonte jede Silbe ihres Namens. »Bleib mir vom Leib, sonst mache ich dir das Leben zur Hölle.«

Sie blickte in sein finsteres Gesicht, sah den leidenschaftlichen Zorn, der auch nach fünfzehn Jahren noch nicht verebbt war.

»Halt dich einfach fern von mir«, sagte er noch ein letztes Mal, bevor er auf den bloßen Fersen kehrtmachte und in der Dunkelheit verschwand.

Ihr war klar, dass es das Klügste wäre, seine Warnung zu befolgen. Pech, dass es keinen anderen Ausweg gab.

Ebenso wenig wie für ihn, nur wusste er noch nichts davon.