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Danksagung
Leseprobe
Die Autorin
Die Romane von Bianca Iosivoni bei LYX
Impressum
Feeling Close to You
Roman
Seit Teagan zum ersten Mal ein Videospiel in den Händen hielt, ist Gaming zu ihrer größten Leidenschaft und zu einer Zuflucht aus dem Alltag geworden. Denn während ihr Vater von ihr erwartet, dass sie nach der Highschool an einer prestigeträchtigen Universität studiert, wünscht Teagan sich nichts sehnlicher, als einen Studienplatz für Game Design zu ergattern – vorzugsweise so weit wie nur irgendwie möglich von ihrer Heimatstadt entfernt. Um das nötige Geld für ihr Studium zu verdienen, streamt sie nachts live und zockt ihre Lieblingsspiele. Sie ist so gut, dass sie sich bereits eine Community aufgebaut hat, die ihr regelmäßig zuschaut und sie finanziell unterstützt. Als sie eines Abends zufälligerweise im selben Spiel wie der bekannte YouTube-Gamer Parker landet und diesen mehrere Male hintereinander haushoch besiegt, ändert sich plötzlich alles. Denn Parker will unbedingt herausfinden, wer die unbekannte Spielerin ist, und kontaktiert sie kurzerhand im Chat. Womit keiner der beiden gerechnet hat: Obwohl sie sich nicht persönlich kennen und sie Tausende von Meilen trennen, knistert es schon bald heftig zwischen ihnen. Doch Teagan ist in der Vergangenheit zu oft verletzt worden – und auch für Parker sind Gefühle das Letzte, was er gerade gebrauchen kann. Dennoch können die beiden einander nicht so einfach vergessen …
Für Anabelle,
die nur auf diese Geschichte gewartet hat.
Und für den PJ-Squad.
Danke für die vielen Stunden, in denen ich mit euch
gezockt habe, statt dieses Buch zu schreiben.
Taylor Swift feat. Brendon Urie of
Panic! At The Disco – ME!
K/DA, Madison Beer, G(I)-DLE, Jaira Burns,
League of Legends – POP/STARS
Laura Platt – Fear Not This Night (»Guild Wars 2«)
ThunderScott – Dead by Daylight
Taylor Swift, Dixie Chicks – Soon You’ll Get Better
Royal Philharmonic Orchestra – Tomb Raider 2 Theme
Charlie Puth, Meghan Trainor – Marvin Gaye
Carly Rae Jepsen – Call Me Maybe
Meghan Trainor – No
Galantis, OneRepublic – Bones
MC Hammer – U Can’t Touch This
Jaroslav Beck, Summer Haze – Escape
Taylor Swift – Shake It Off
Bebe Rexha – Last Hurrah
American Authors – Deep Water
Alan Walker, Sabrina Carpenter, Farruko – On My Way
Panic! At The Disco – High Hopes
Imagine Dragons – Believer
Alan Walker – Faded
Jessie Ware – Hearts
Taylor Swift – You Need To Calm Down
Mabel – Don’t Call Me Up
Sara Ramirez – The Story
WILD – Hold Us Together
Computerspiele machten mich nicht aggressiv. Es waren Menschen, die mich aggressiv machten und wegen denen ich Computerspiele zockte, um wenigstens dort meine ganze Frustration rauszulassen. Immerhin war es weniger kriminell, NPCs und Bossgegner zu töten, als ganz normalen Leuten auf offener Straße den Hals umzudrehen. Oder ihnen an einem ganz normalen Tag in der Highschool an die Gurgel zu gehen.
Der heutige Tag war schon jetzt alles andere als normal. Es hatte damit angefangen, dass ich verschlafen hatte und zu spät gekommen war, woraufhin mir mein Lieblingslehrer Mister Carson eine Verwarnung gegeben hatte. Dann war ich im Gang mit dem Star-Quarterback zusammengeprallt, und die Hohlbirne hatte mir nicht mal dabei geholfen, meine ganzen Bücher aufzusammeln, sondern war einfach weiterstolziert, als würde jemand wie ich in seiner hochglanzpolierten Welt gar nicht existieren. Hoffentlich stolperte er beim nächsten Spiel und landete mit dem Gesicht voran im Dreck. Oder in Hundescheiße.
Mittags hatte mir so ein Mistkerl die letzte Portion des einzig essbaren Gerichts in der Kantine vor der Nase weggeschnappt, und jetzt stand ich nach Geschichte mit knurrendem Magen vor meinem Spind im Flur. Um mich herum erklang der typische Lärm aus viel zu vielen Stimmen, dem Klappern von Spindtüren, lauten Schritten, unterlegt mit dem nervtötenden Piepen von Handys – weil es immer noch Idioten gab, die ihren Benachrichtigungston in der Schule nicht ausgeschaltet hatten.
Ding.
Ding. Ding. Ding.
Argh! Wenn ich noch einmal dieses nervige Geräusch hörte, konnte ich für nichts mehr garantieren. Ich tauschte meine Bücher aus und pustete mir eine lila gefärbte Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus meinem heute Morgen in aller Eile gebundenen Knoten gelöst hatte. In Kombination mit dem Make-up von gestern, das ich abends kurz vor dem Livestream aufgefrischt, danach aber vergessen hatte wieder abzunehmen, sah ich kurz vor der letzten Stunde wahrscheinlich genauso bescheiden aus, wie ich mich fühlte.
Ding!
Ding!
Ich knallte die Spindtür zu und drehte mich zu dem Schuldigen, um ihm gehörig die Meinung zu sagen – und erstarrte. Denn nur zwei Schränke weiter stand Penelope Martinez, meine beste Freundin seit dem Kindergarten. Oder eher: ehemals beste Freundin. Denn vor zwei Jahren hatte sie aufgehört, mit mir zu reden. Ohne Vorwarnung. Ohne Erklärung. Von einem Tag auf den anderen war ich nicht mehr existent für sie gewesen. Anfangs hatte ich noch versucht, den Kontakt wiederherzustellen und herauszufinden, was plötzlich los war. Oder eher, warum nichts mehr los war zwischen uns. Einmal hatte ich sie sogar in aller Öffentlichkeit in der Kantine zur Rede gestellt. Umsonst. Mehr als peinliches Schweigen war nicht dabei herausgekommen. Allem Anschein nach passte ich einfach nicht mehr in Pennys Welt, die, abgesehen von den unvermeidbaren Begegnungen in den Schulfluren, da unsere Spinde noch immer nebeneinanderstanden, nichts mehr mit meiner zu tun hatte.
Die anklagenden Worte erstarben auf meinen Lippen. Als hätte sie mein Starren bemerkt, sah Penny von ihrem Handy auf – und erwiderte meinen Blick. Mein Herz begann zu hämmern. Ich sollte etwas sagen. Wenigstens ein Hi oder ein Wie geht’s. Irgendetwas. Aber ich brachte nichts davon hervor. Wozu auch? Es war ja nicht so, als würden wir plötzlich ein Gespräch anfangen und wieder beste Freundinnen fürs Leben werden.
Und ich hatte recht. Einen Moment lang sah sie mich noch an, dann wandte sie sich kopfschüttelnd ab. Ich schluckte hart und sah ihr nach, zwang mich dann jedoch, mich umzudrehen. Nur um gleich darauf fast in die nächste Person reinzurennen, auf die ich sehr gut hätte verzichten können.
Maddison Mae McKinnon. Fantastisch. Sie war die unangefochtene Schulqueen und der Liebling aller Schüler und Lehrer gleichermaßen. Und so übertrieben höflich und zuvorkommend, dass es zum Kotzen war.
»Hey …« Sie strahlte mich mit ihren perlweißen Zähnen und den riesigen babyblauen Augen an. »Teagan Ramona, richtig?«
Ich biss die Zähne zusammen, bis ein Knirschen zu hören war. »Teagan reicht.«
»Okay.« Kurz wanderte ihr Blick durch den Gang, als würde sie befürchten, dass uns jemand zusammen sehen könnte.
Sie in ihrem aufeinander abgestimmten pastellfarbenen Outfit mit den Killer-Heels und dem perfekt frisierten goldbraunen Haar – und daneben ich mit den rissigen Jeans, den abgetragenen Boots, dem dunkelblauen Tanktop und dem Tattoo auf dem Schulterblatt. Dunkelbraune Haare, die ab Kinnhöhe neonlila gefärbt waren und mir normalerweise bis über die Schultern fielen, vollendeten das Bild.
Als Maddison Mae mir wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, lächelte sie nervös. »Ich weiß, wir kennen uns eigentlich nicht …«
»Wir haben seit der Junior High Englisch und Geschichte zusammen, und du bist diejenige, mit der mein Ex-Freund fremdgeknutscht hat«, unterbrach ich sie trocken und schob den Riemen meiner Tasche auf der Schulter zurecht. »Aber stimmt, wir kennen uns eigentlich nicht.«
Weil wir nicht in denselben sozialen Kreisen verkehrten. In dieser Highschool war Maddison Mae an der Spitze der Nahrungskette, während ich … irgendwo weiter unten war. Glücklicherweise nicht bei den armen Kids, die ständig von anderen gemobbt wurden, aber auch nicht sehr viel weit darüber. Gott, war ich froh, wenn ich dieser Hölle endlich entkommen konnte. Nur noch ein paar Wochen, dann hatten wir alle unseren Abschluss, und ich würde diese Leute nie wiedersehen müssen.
»Richtig …« Maddison Mae sah sich ein weiteres Mal um. »Ich weiß, du und Brandon wart nur kurz zusammen …«
Kurz? Kurz? Brandon Fitzgerald und ich waren fast ein Jahr lang ein Paar gewesen. Und wenn er nicht mit der halben Schule, aber vor allem mit Maddison Mae herumgemacht hätte, wären wir es vielleicht immer noch. Oder auch nicht. Schließlich schien jeder früher oder später genug von mir zu haben und ließ mich dann kommentarlos fallen. Das war praktisch die Story meines Lebens.
Und jetzt war mein Ex ausgerechnet mit der Schulqueen zusammengekommen. Um das Klischee perfekt zu machen, fehlte eigentlich nur noch, dass er Footballstar und sie Cheerleader wäre. Ugh. Maddison und Brandon. Brandon und Maddison. Ihr offizieller Shipname lautete #Braddison. Und als ob das allein nicht ausreichen würde, um sich einen Vorrat an Kotztüten anzulegen, nutzten die beiden diesen Hashtag auch noch bei jedem Bild, das sie online auf allen Social-Media-Kanälen posteten. Zusammen mit #ForeverInLove und #CoupleGoals. Würg.
»Ich wollte eigentlich nur wissen … ähm … Als du und Brandon zusammen wart, habt ihr da …?« Sie neigte den Kopf etwas zur Seite.
Ich blinzelte. Zog die Brauen hoch. »Haben wir da … was?«
Maddison Mae stieß ein etwas zu schrilles Lachen aus und gab mir einen kleinen Klaps gegen die Schulter, als wären wir alte Freundinnen. »Habt ihr … du weißt schon.«
Jetzt sah sie aus, als hätte sie Schmerzen. Und, ganz ehrlich? Was erwartete sie bitte von mir? Dass ich mein Sexleben mit ihr diskutierte? Ausgerechnet mit der Person, die mir meinen Freund ausgespannt hatte? In welchem Universum lebte dieses Mädchen eigentlich?
»Hm … Sorry. Keine Ahnung, worauf du hinauswillst.«
Vielleicht machte es mich zu einem Miststück, aber ich wollte, dass sie es laut aussprach. Genau hier. Mitten im Gang, während unzählige Leute an uns vorbeiliefen, einschließlich diverser Lehrer.
Maddison Mae warf ihnen ein abgelenktes Lächeln zu. »Na, du weißt schon.« Diesmal klang ihre Stimme wie ein Zischen. »Du … und er …?«
Gespielt ahnungslos schüttelte ich den Kopf. »Tut mir leid, Maddison Mae, ich weiß wirklich nicht, was du meinst«, behauptete ich eine Spur zu fröhlich und zu laut, sodass sich gleich mehrere Leute zu uns umdrehten.
»Gott, das kann doch nicht so schwer sein!«, rief sie und wurde mit jeder Silbe lauter. »Ob ihr Sex hattet! Ich will wissen, ob ihr Sex hattet.«
Schlagartig breitete sich Stille um uns herum aus. Ich musste nicht mal hinschauen, um zu wissen, dass uns alle anstarrten. Sie anstarrten, um genau zu sein. Dann begann das Getuschel. Die vereinzelten Lacher.
Und Mister Carsons Stimme, die durch den Gang donnerte. »Maddison Mae McKinnon! Auf ein Wort?«
Ihr hübsches Gesicht wurde knallrot und verzog sich zu einem unglücklichen Ausdruck. Unter anderen Umständen hätte ich jetzt vielleicht Mitleid mit ihr gehabt. Doch dann fiel mir wieder ein, wie oft sie Brandon hinter meinem Rücken die Zunge in den Hals gesteckt hatte, und jeder Gedanke an Mitleid verflog.
»Schönen Tag noch, Maddison Mae«, zwitscherte ich, nur um ihr im Vorbeigehen noch zuzuraunen: »Wenn du ernsthaft glaubst, dass Brandon sein bestes Stück nicht schon in jedes verfügbare Loch gesteckt hat, tust du mir echt leid.«
Und damit ging ich in meine letzte Unterrichtsstunde. Manche Leute sammelten täglich gute Taten oder Bonuspunkte für ihre Collegebewerbungen, ich sammelte Gerüchte und neue Feinde. Man konnte nicht jedermanns Liebling sein.
Irgendwie überstand ich auch die letzte Stunde, packte meine Sachen zusammen und machte mich schleunigst auf den Weg nach draußen. Flüstern und Getuschel folgten mir, aber das war nichts Neues. Es war nicht so, als wäre ich für meine Skandale bekannt, aber wir befanden uns in einer kleinen Highschool in einer noch kleineren Stadt, und die Leute redeten gern. Erst über meinen Look, dann über die Tatsache, dass ich mit Brandon zusammen war, dann über unsere Trennung, und nun würde die Szene mit Maddison Mae eine Weile für Gesprächsstoff sorgen. Gut so. Ich zählte bereits die Tage, bis das hier vorbei war und ich endlich an ein College konnte. Ein College, auf dessen Zusage ich allerdings noch immer wartete.
Bei der Erinnerung daran presste ich die Lippen aufeinander und beschleunigte meine Schritte. Ich war keine Musterschülerin. Nie gewesen. Aber ich hatte mir den Arsch für diese Bewerbungen aufgerissen. Dad zuliebe hatte ich mich außerdem auch noch für ein paar seiner Favoriten beworben, auch wenn sie dort kein Game Design als Studiengang anboten. Aber schließlich brauchte ich auch einen Plan B, falls mich meine Wunsch-Universitäten, allen voran New York, ablehnten. Eine Möglichkeit, über die ich gar nicht erst nachdenken wollte.
Mit schnellen Schritten überquerte ich den Parkplatz und ließ mich gleich darauf in meinen dunkelgrauen Mazda 3 fallen. Der Wagen hatte Mom gehört, bevor … Ich schaltete das Radio ein und schnitt den Gedanken ab, ehe mein verräterisches Gehirn ihn zu Ende bringen konnte. Sofort plärrte irgendein Radiosong los. Ich verzog das Gesicht und schloss mein Handy an. Wenig später erfüllten die Aufzeichnungen der heutigen Unterrichtsstunden das Wageninnere. Ich startete den Motor und sah zu, dass ich von hier wegkam.
Eine halbe Stunde später parkte ich den Mazda auf dem Parkplatz hinter dem Coffeeshop, in dem ich nach der Schule regelmäßig arbeitete. Ich stieg aus und steuerte die Hintertür an.
»Hey Teagan«, rief Charlie mir entgegen.
Ich wusste nicht, wie alt er eigentlich war, nur, dass er schon seit Ewigkeiten hier arbeitete. Er war ungefähr so groß wie ich, etwas fülliger mit Bauchansatz und trug die schreckliche rotbraune Uniform des Ladens, nur dass seine Mütze bereits etwas verrutscht war. Gerade mühte er sich mit zwei Mülltüten ab, die er aus dem Coffeeshop schleppte.
»Hi«, erwiderte ich knapp, hielt ihm jedoch die Tür auf.
Er nickte mir dankbar zu und verfrachtete die Tüten in den Container hinter dem Gebäude, während ich zu den Spinden im Pausenraum ging und meine Sachen herausholte. Wie schon Hunderte Male zuvor band ich mir die Schürze um, flocht mir das Haar zu einem langen Zopf und setzte diese dämliche Mütze mit dem Firmenlogo auf, die wir alle bei der Arbeit tragen mussten. Anschließend trottete ich nach vorne, um meinen Platz als Barista hinter der Theke einzunehmen.
Das Einzige, was schlimmer war als nervige Mitschüler und -schülerinnen? Kunden. Denn zu denen musste man nett sein, wenn man seinen Job behalten wollte. Ich hing zwar nicht besonders daran, aber ich brauchte das Geld, also setzte ich ein freundliches Lächeln auf und gab mein Bestes, mir meine Genervtheit nicht anmerken zu lassen.
»Wie ist dein Name?«
»Brian.« Der Typ auf der anderen Seite des Tresens schaute nicht mal von seinem Handy auf.
»Brian«, wiederholte ich und schrieb den Namen in großen Buchstaben auf den Pappbecher.
»Aber mit Ypsilon«, kam es gelangweilt von ihm. »Und P am Anfang.«
Wie bitte? Seufzend strich ich den Namen durch und malte die Buchstaben ein weiteres Mal auf den Becher. Pryan. Na, herzlichen Glückwunsch.
»Alles klar, Pryan, dein Kaffee kommt sofort.«
Ich stellte Charlie den Becher hin und kümmerte mich um die nächste Person in der nie enden wollenden Schlange. Für gewöhnlich war es am Nachmittag nicht so voll, aber heute könnte man meinen, es wäre ein nationaler Kaffeenotstand ausgebrochen. Nicht, dass ich die Leute nicht verstehen könnte. Ich trank ja selbst mehr davon, als ich sollte. Aber irgendwie musste ich ja wach bleiben, um später zocken zu können. Sehnsüchtig sah ich zur Uhr an der Wand hinter mir und seufzte. Noch fünf Stunden.
»Entschuldigung?« Pryan mit P und Ypsilon drängelte sich vor und hielt mir seinen halb ausgetrunkenen Kaffee unter die Nase. »Ich wollte einen Cappuccino ohne Milchschaum.«
Dein verdammter Ernst, Kumpel?
Er stellte den Becher mit so viel Wucht auf den Tresen, dass der Inhalt herausspritzte und sich auf der Arbeitsfläche und meiner frisch gewaschenen Schürze verteilte.
Pryan grinste hämisch und deutete auf das Schild, das ihm besten Kaffeegenuss versprach – im Zweifelsfall auch in Form eines neuen Getränks. »Ich will einen neuen. Diesmal ohne Schaum.«
Ich biss die Zähne zusammen. Ruhig bleiben, Teagan. Immer schön ruhig bleiben und lächeln. Du kannst sie nicht alle töten. Oh, aber in meiner Vorstellung sprang ich gerade wie Lara Croft über den Tresen und verpasste diesem arroganten Mistkerl einen Tritt, den er in zwanzig Jahren noch spüren würde.
In der Realität zwang ich mich zu einem Lächeln, griff mit spitzen Fingern nach seinem halb leeren Becher und schüttete den Inhalt weg. Dann machte ich ihm unter seinen beobachtenden Blicken widerwillig selbst einen neuen. Der Kunde ist König und dieser ganze Scheiß. Ich hätte mir echt einen anderen Job suchen sollen. Vielleicht im Diner gegenüber, da bekam man wenigstens noch Trinkgeld. Oder als Stripperin in der Bar an der Ecke. Dort wurde man ziemlich sicher auch nicht schlechter behandelt als eine Barista in diesem Schuppen. Wobei ich auf das Antatschen und Angestarrtwerden von wildfremden Männern durchaus verzichten konnte. Das war’s dann wohl mit meiner Stripperkarriere, noch bevor sie richtig angefangen hatte.
»Hier, bitte schön.« Meine Wangen schmerzten von dem übertriebenen Lächeln. »Ein Cappuccino ohne Milchschaum.«
Pryan betrachtete den Inhalt einen Moment lang, als wäre er ein Insekt, das er untersuchen müsste, dann schnappte er sich wortlos das Getränk und verschwand in der Menge.
Gern geschehen, Pryan. Hab ich doch gern gemacht. Jederzeit wieder.
Ich verdrehte die Augen und fing Charlies Blick auf. Mitfühlend verzog er das Gesicht, ehe er den nächsten Kaffee zubereitete. Ich seufzte tief. Das würde eine lange Schicht werden.
Als ich Stunden später nach Hause kam, war das Haus dunkel und die Garage leer. Ich schloss die Haustür auf, gab den Sicherheitscode in die Alarmanlage ein und warf meine Schultasche im Vorbeigehen auf die Treppe, während ich durch den langen Flur und das Esszimmer lief, das wir nie benutzten, um in die Küche zu gelangen. Dieses Haus war mir schon als Kind riesig vorgekommen, und jetzt, als achtzehnjährige Fast-Highschool-Absolventin, ging es mir nicht anders. Vor allem nicht, wenn ich allein hier war. Was zugegebenermaßen fast die ganze Zeit war. Unsere Haushälterin Susanna hatte vermutlich schon vor einer Stunde Schluss gemacht, und Dad war wie an fast jedem Abend noch im Büro.
In der Küche war es vollkommen still. Ich drückte auf den Lichtschalter, und mehrere teure LED-Lampen erwachten zum Leben. Sehr viel heimeliger wirkte der Raum dadurch allerdings nicht. Am Kühlschrank hing kein Zettel mit einer Nachricht von Dad, dass es heute später werden würde, sondern nur ein paar alte und wirklich hässliche Zeichnungen, die ich als Kind angefertigt hatte. Ich hatte keinen Schimmer, warum sie überhaupt noch hier hingen. Es war ja nicht so, als würde sie sich irgendjemand anschauen. Oder als würden sie an irgendein besonderes Ereignis erinnern. Wahrscheinlich waren sie bloß deshalb noch da, weil Mom sie vor Jahren an der Kühlschranktür befestigt und niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie abzunehmen. Und das, obwohl meine Mutter schon seit über drei Jahren nicht mehr in diesem Haus wohnte.
Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Was war heute nur los? Warum musste ich jetzt schon zum zweiten Mal an sie denken, wo ich alle Erinnerungen und jeden Gedanken in diese Richtung für gewöhnlich erfolgreich verdrängte? Offenbar hatte ich trotz Schule, Arbeit und den Games noch immer zu viel Zeit.
Entschlossen stapfte ich zurück zu meiner Tasche im Flur und holte mein Handy heraus, um die Aufzeichnungen der heutigen Unterrichtsstunden weiterlaufen zu lassen. Da mir kaum Zeit für meine Hausaufgaben blieb, geschweige denn zum Lernen, hatte sich das als gute Methode bewährt, um in der Schule nicht komplett zu versagen. Außerdem beschäftigte es meinen Kopf und füllte ihn mit anderen Dingen. Dinge, die nichts mit meiner Mutter zu tun hatten oder der Tatsache, dass ich wieder mal ein kaltes Essen aus dem Kühlschrank holen und mich damit allein an die Kochinsel setzen würde, ohne mir die Mühe zu machen, das von Susanna zubereitete Gericht aufzuwärmen.
Nach dem Essen räumte ich Besteck und Geschirr in die Spülmaschine, holte mir etwas zu trinken und schaltete das Licht in der Küche aus. Im Flur und auf dem Weg nach oben erwachten die LED-Leuchten dank Bewegungsmelder von allein zum Leben, aber ich hätte mich auch im Dunkeln zurechtgefunden. In meinem Zimmer angekommen warf ich meine Sachen samt Handy aufs Bett, schlüpfte aus Boots und Socken und stapfte barfuß zu meinem Schreibtisch hinüber. Oder, wie ich es viel lieber nannte: zu meiner Gaming-Zentrale.
Mehrere Monitore, zwei Desktop-PCs, ein individuell zusammengestelltes Soundsystem, meine drei liebsten Headsets, fünf Controller – jeder in einer anderen Farbe – und der gemütlichste Drehstuhl auf Gottes Erden. Hier war ich zu Hause. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ ich mich auf den Sessel fallen und schaltete alles an. Die violette LED-Lichterkette leuchtete fast im selben Moment auf, in dem die Monitore zum Leben erwachten. Meine Finger kribbelten vor Aufregung. Das hier war es, wofür ich lebte. Nicht für den Mist, den ich den ganzen Tag lang mitmachen musste, sondern hierfür. Für die Momente allein in meiner Höhle, die mir gleichzeitig den Zugang zur ganzen Welt ermöglichte. Aber vor allem den Zugang zu Gleichgesinnten.
Ich prüfte meine Mails und die Social-Media-Kanäle, erinnerte alle an den bevorstehenden Livestream und stand dann wieder auf. Während im Hintergrund ein Update herunterlud, ging ich ins Bad, das direkt an mein Zimmer angrenzte. Noch im Gehen zog ich mir die Klamotten aus, die ich den ganzen Tag über angehabt hatte und die nach Menschen, Schweiß und Kaffee stanken, und stieg schnell unter die Dusche. Anschließend zog ich mir eine Leggings und mein liebstes Gaming-Shirt mit dem Aufdruck I play like a girl. Just try to keep up! an, das meine linke Schulter frei ließ, schminkte und frisierte mich und schaltete mein Handy auf lautlos. Jetzt begann der beste Teil des Tages.
Während der Stream lud, strich ich mir das lange Haar hinter die Ohren, setzte das Headset auf … und wartete. Obwohl ich das schon seit über einem Jahr machte, hämmerte mein Herz noch immer viel zu schnell in meiner Brust, und mein Magen zog sich vor Erwartung zusammen. Inzwischen wussten meine Follower genau, wann ich streamte, trotzdem tauchten immer wieder kurz vor dem Stream dieselben Zweifel auf: Was, wenn niemand online kam? Was hatte ich den Leuten schon zu bieten, außer dass ich ein bisschen mit ihnen quatschte und Spiele zockte? Das taten Hunderte, ach was, Tausende andere Streamer auch – weit bekanntere als ich, mit mehr Erfahrung und angesagteren Games. Im selben Moment, in dem diese Zweifel auftauchten, biss ich mir fest auf die Lippen, bis der Schmerz diese Gedanken aus meinem Kopf vertrieb.
Es spielte keine Rolle, wie viele Leute da waren oder wie viel ich heute Abend mit diesem Stream verdienen würde. Na gut, Letzteres war schon irgendwie wichtig, schließlich war das mein Collegegeld, aber ich machte das hier nicht nur für das Geld oder den Fame. Ich machte es, weil ich es liebte. Weil es mir tatsächlich Spaß machte, auf diese Weise mit anderen Leuten zu interagieren – zumindest wenn es keine Arschlöcher waren, die nur in den Chat kamen, um Ärger zu machen. Ich liebte es, in den Games neue Welten zu erkunden und mich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Und wenn ich dabei auch noch mein Sparkonto fürs College aufbessern konnte, umso besser.
Der Chat war online – und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich die schnell hindurchrauschenden Nachrichten überflog. Die ersten Leute waren schon da, genauso wie meine treue Moderatorin AliceW, die dafür sorgte, dass alle nett blieben und den Regeln folgten, und die nichts lieber tat, als Idioten aus dem Chat zu kicken.
Ich schaltete die Kamera ein – und war live.
»Hey Leute«, begrüßte ich die Zuschauer mit einem Lächeln, das sich zum ersten Mal an diesem Tag nicht gezwungen anfühlte. »Ich hab zwar keine Ahnung, warum ihr nichts Besseres zu tun habt, aber schön, dass ihr da seid.«
Ein paar lachende Emojis strömten durch den Chat. Ich grinste.
Da mir mit Schule, Arbeit, Lernen und Collegebewerbungen keine Zeit blieb, irgendetwas für die Streams vorzubereiten, war es immer eine spontane Angelegenheit. Meist spielten wir bei Tomb Raider weiter. Ich hatte die ganz alten Spiele aufgetrieben, die praktisch nur aus Pixelblöcken bestanden, trotzdem gefiel es den Leuten, mir dabei zuzuschauen, wie ich mit Lara Croft durch Höhlen kroch, Wölfe abschoss und auf der ganzen Welt auf Schatzsuche ging. An anderen Tagen, wenn ich zu müde war, um mich richtig konzentrieren zu können, spielten wir Sims – aber selbst diese Sessions dauerten meist bis weit nach Mitternacht.
»Wie geht’s euch heute Abend?«, fragte ich und nahm einen Schluck von meiner Cola. Daneben stand ein Energydrink für später.
super! und dir?
Toll!
was spielen wir heute?
wann geht’s loooos?
wie gehts dir denn heute?
Kommst du zur E3? oder RTX im Juli?
Ich überflog die Fragen rasch und seufzte innerlich. Gott, ich würde so gerne zur E3, der Electronic Entertainment Expo, fahren. Sie fand in weniger als einer Woche in Los Angeles statt, und dort wurden alle neuen Spiele vorgestellt. Ich würde dafür morden, dabei sein zu können. Aber die Kosten für Flug, Übernachtung und die teuren Tickets würden ein riesiges Loch in meine Ersparnisse reißen. Außerdem war L. A. einfach nicht drin. Die RTX in Austin hingegen …
»Zur E3 schaff ich es leider nicht.« Ich zuckte mit den Schultern, als wäre es keine große Sache. »Aber vielleicht zur RTX.«
Das entlockte den Leuten im Chat jede Menge glücklicher Emojis und weitere Fragen. Wann genau? Wo konnte man mich treffen? Wie lange würde ich da sein? Würde ich an den Championships teilnehmen?
Ich zog eine Grimasse. »Hey, ich habe vielleicht gesagt. Wenn ich hingehe, wird das eine spontane Sache, aber ich gebe rechtzeitig Bescheid. Es wäre mega, euch alle treffen zu können!«
In Gedanken ging ich schnell die Kosten und Reisedauer durch. Die Convention war im Juli, also war ich da endlich mit der Highschool durch. Allerdings fand sie am anderen Ende des Landes statt – und von meinem kleinen Kaff in der Nähe von Seattle konnte man sich leider nicht mal eben nach Austin, Texas, beamen. Wenn ich das allerdings mit einem Besuch auf dem Campus in der Nähe verbinden konnte, wo ich mich ohnehin beworben hatte … Hmmm. Das machte das Ganze um einiges interessanter.
»Ich denk drüber nach«, wiederholte ich, als weitere Fragen im Chat auftauchten, und beschloss, das Thema damit abzuhaken. »Was wollen wir heute zocken? Weiter mit Tomb Raider? Ich glaube, letztes Mal sind wir von diesem riesigen Felsen zerquetscht worden, der den Gang runtergerollt ist. Kann das sein?«
Ein paar widersprachen und nannten andere Orte, aber die Mehrheit stimmte mir zu. Und es wäre cool, mit Lara weiterzumachen, aber irgendwie war mir nach diesem Tag nach etwas, wo ich mehr Dampf ablassen konnte. Keine Simulation und erst recht kein Sports-Game, denn die konnte ich nicht leiden. Aber irgendein Multiplayer-Game, um gegen andere Spieler anzutreten und sie im Idealfall richtig fertigzumachen? Oh ja. Unbedingt. Allein wenn ich an die kleine Auseinandersetzung mit Maddison Mae heute Mittag oder an den nervigen Pryan im Coffeeshop dachte, zuckten meine Finger ungeduldig über der Maus.
»Hey, wie wär’s stattdessen mit einem MMO?«, schlug ich spontan vor.
Sofort warfen die Zuschauer im Chat mit verschiedenen Vorschlägen um sich. GTA, The Elder Scrolls Online, Need for Speed, Battlefield, Final Fantasy, Dead by Daylight. Teilweise waren Sachen dabei, die ich noch nie gespielt hatte und bei denen ich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit total versagen würde. Ich brauchte immer ein bisschen, um mich warm zu spielen, also würde ich sicher nicht als totaler Anfänger in einem Multiplayer-Universum starten, das ich nie zuvor betreten hatte.
»Hello Kitty Online?«, las ich ungläubig vor und lachte auf. »Echt jetzt? Wollt ihr mich fertigmachen?«
Ich überflog die Antworten und anderen Vorschläge. Plötzlich kribbelten meine Finger wieder, und ich konnte nicht anders, als zu grinsen. Ich hatte mein Spiel für heute Abend gefunden und loggte mich direkt als TRGame ein. In Guild Wars 2 jagte ich normalerweise Monster, erledigte Quests und kundschaftete die Welt aus, doch heute war mir nach ein bisschen PvP-Action. Player versus Player in den Arenen. Und ich würde alles daransetzen, zu gewinnen.