Nacht der W ölfe

Maja von Vogel

KOSMOS

Umschlagillustration von Ina Biber, Gilching

Umschlaggestaltung von Sabine Reddig

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© 2020 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

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ISBN 978-3-440-50220-4

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Frühlingsgefühle

»Herrlich, so ein Picknick im Wald!« Franzi streckte sich auf der Wolldecke aus. Sie blinzelte in den hellblauen Himmel, über den ein paar flauschige Schäfchenwolken zogen. Für Mitte März hatte die Sonne schon erstaunlich viel Kraft und Franzi genoss die warmen Strahlen auf der Haut. In den Bäumen zwitscherten die Vögel und die Knospen an den Zweigen schienen nur darauf zu warten, endlich ihre Blätter auszurollen und den Wald in helles Grün zu tauchen.

»Finde ich auch.« Kim öffnete den Picknickkorb und drapierte die mitgebrachten Leckereien auf der Decke. Sie hatte Sandwiches mit Gurke, Tomate und Käse gemacht, von Marie kam eine große Schale Obstsalat und Franzi hatte einen Marmorkuchen und eine Dose Schokocookies beigesteuert. Dazu gab es Zitronengrastee aus einer Thermoskanne.

»Es ist angerichtet, Mädels!«

Franzi setzte sich auf. »Super! Ich hab einen Mordshunger.«

»Und ich erst.« Marie fuhr mit der Zunge über ihre himbeerfarben geschminkten Lippen.

Offiziell begann der Frühling zwar erst in ein paar Tagen, aber die drei !!! hatten beschlossen, das Ende des Winters schon heute mit einer Radtour und einem Picknick im Wald zu feiern. Seit ihren Ermittlungen auf einer Computermesse im Dezember hatte ihr Detektivclub keinen Fall mehr gehabt, weshalb sie gerade jede Menge Zeit für die schönen Dinge des Lebens hatten.

»Ich freu mich schon total auf den Frühling.« Franzi griff nach einem Sandwich. »Endlich wieder jeden Tag draußen sein, joggen, Rad fahren, skaten und regelmäßig auf Tinka ausreiten.«

Franzi liebte ihr Pony Tinka mindestens genauso wie Sport und Bewegung. Eine mehrwöchige Kältewelle im Februar hatte die Stadt in Eis und Schnee erstarren lassen und die Menschen an ihre Häuser gefesselt. Erst Anfang März war es wieder wärmer geworden, doch das Tauwetter hatte die Landschaft zunächst in eine große Schlammwüste verwandelt. Vor ein paar Tagen war endlich die Sonne aus ihrem Winterschlaf erwacht, hatte Wege, Wald und Wiesen getrocknet und Franzis Lebensgeister geweckt. Die Radtour heute war genau das Richtige gewesen, um sich mal wieder ordentlich auszupowern. Trotzdem brodelte in ihr noch so viel überschüssige Energie, dass sie das Gefühl hatte, die ganze Welt aus den Angeln heben zu können.

»Der Marmorkuchen schmeckt super!«, schwärmte Kim. »Von deiner Mutter?«

Franzi nickte. »Sie probiert gerade klassische Kuchenrezepte aus: Bienenstich, Streuselkuchen, Gugelhupf, Käsekuchen … Damit will sie morgen in die neue Café-Saison starten.«

»Kommt bestimmt gut an«, nuschelte Kim mit vollem Mund.

Frau Winkler betrieb nicht nur einen erfolgreichen Backservice, sondern auch ein kleines Hofcafé im alten Gewächshaus ganz hinten im Obstgarten der Familie Winkler. Dort bot sie im Frühling und Sommer Kaffee und hausgemachten Kuchen in gemütlicher Atmosphäre an. Das Café hatte nur an Sonntagen geöffnet und war ein echter Geheimtipp.

Marie seufzte. »Du hast es gut! Ich wünschte, Oma Agnes würde uns auch mal mit einem leckeren Kuchen überraschen. Bei ihr gibt es immer nur diese eklige Buchweizengrütze, Algen, Topinambur, gelbe Linsen oder anderes total gesundes Zeug.«

»Ist sie schon wieder bei euch zu Besuch?«, fragte Franzi überrascht. Sie erinnerte sich nur sehr ungern an die zuckerfreien Plätzchen ohne Mehl, Backpulver und Ei, die Oma Agnes bei ihrem letzten Besuch in der Adventszeit gebacken hatte. Sie waren absolut ungenießbar gewesen.

Marie nickte. »Ich hab das Gefühl, inzwischen verbringt sie mehr Zeit bei uns als bei sich zu Hause. Letzte Woche ist sie mit zwei riesigen Koffern und einer Reisetasche angerückt. Sie hatte so viel Gepäck dabei, als wollte sie bei uns einziehen. Angeblich will sie Tessa mit Finn helfen, aber das nehme ich ihr nicht ab.«

»Wieso? Vielleicht will sie ja wirklich möglichst viel Zeit mit ihrem jüngsten Enkel verbringen«, sagte Kim.

Oma Agnes war die Mutter von Tessa, Maries Stiefmutter. Über Weihnachten hatte sie mehrere Wochen bei Maries Familie verbracht und war allen ziemlich auf die Nerven gegangen. Vor allem ihr Gesundheitstick war echt anstrengend. Sie war gegen Handys und Computer, weil der Elektrosmog gefährlich sein konnte, erlaubte keine Süßigkeiten und kochte nur extrem gesunde Gerichte, die leider meistens nicht schmeckten. Außerdem war sie der Meinung, Kinder bräuchten klare Regeln und müssten grundsätzlich spätestens um neunzehn Uhr im Bett liegen. Was für ein Horror!

Nur Helmut Grevenbroich, Maries Vater, verstand sich blendend mit seiner Schwiegermutter. Er war allerdings auch meistens nicht zu Hause, denn als bekannter und gefragter Schauspieler reiste er von einem Filmdreh zum nächsten.

Marie wickelte sich nachdenklich eine blonde Haarsträhne um den Finger. »Ich hab irgendwie so ein merkwürdiges Gefühl. Da stimmt was nicht! Tessa hat Oma Agnes mehrmals deutlich zu verstehen gegeben, dass Finn bestens versorgt ist und sie ruhig nach Hause fahren kann, aber auf dem Ohr ist sie taub.«

Maries kleiner Bruder Finn war drei Jahre alt und ging in den Waldkindergarten. Er war ein süßes Kerlchen und Marie liebte ihn über alles. Die Gefühle für ihre zwölfjährige Stiefschwester Lina, Tessas Tochter, waren nicht ganz so euphorisch. Aber inzwischen kamen Marie und Lina meistens gut miteinander klar. Die Patchworkfamilie bewohnte eine große, alte Villa im Ostviertel, in der genug Platz für alle war und man sich auch mal aus dem Weg gehen konnte.

Kim machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich hab euch doch von dem Telefonat erzählt, das ich bei Oma Agnes’ letztem Besuch zufällig mitangehört habe.«

»Du meinst, als sie sich mit jemandem gestritten hat?«, fragte Franzi.

Kim nickte. »Das kam mir damals schon seltsam vor. Es klang, als hätte sie ziemlichen Stress.«

»Aber mit wem?« Marie holte drei Becher aus dem Korb und schenkte sich und ihren Freundinnen nach Zitrone duftenden Kräutertee ein.

Kim zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Möglicherweise ist sie jemandem auf die Füße getreten und deshalb zu euch geflüchtet.«

»Meinst du?« Marie runzelte die Stirn. »Ich werde Oma Agnes im Auge behalten, vielleicht finde ich ja etwas heraus. Dabei wollte ich eigentlich möglichst wenig zu Hause sein, solange sie da ist.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Nachher bin ich noch mit Holger zum Joggen verabredet. Seit das Wetter besser ist, drehen wir wieder jeden Abend unsere Runde.«

»Wie läuft es denn gerade zwischen euch?«, erkundigte sich Kim. »Alles gut?«

»Ja, eigentlich schon.« Marie zögerte.

»Aber?«, hakte Kim nach.

Marie biss sich auf die Lippe. »Ach, nichts. Vergiss es.« Holger und Marie waren nach einer längeren Beziehungspause seit einer Weile wieder ein Paar. Nach außen hin wirkten sie glücklich, aber Franzi kam es manchmal so vor, als ob die Trennung einen Sprung in Maries Herz hinterlassen hätte, der nicht so leicht zu kitten war. Meistens wollte Marie allerdings nicht darüber reden, was ihre Freundinnen natürlich respektierten.

»Blake und ich gehen heute Abend ins Kino«, erzählte Franzi. Sie freute sich wahnsinnig auf den Abend mit Blake! In letzter Zeit hatten sie sich nicht so oft gesehen wie sonst, weil Franzi viel für die Schule tun musste und Blake sich auf einen Chairskating-Wettkampf vorbereitete, der im April stattfinden sollte. Er saß seit einem Reitunfall vor einigen Jahren im Rollstuhl, was seiner Sport-Begeisterung jedoch keinen Abbruch getan hatte. Er war ein sehr guter Schwimmer, spielte Basketball, machte Karate und war leidenschaftlicher Chairskater. Das Skaten im Rollstuhl machte ihm unheimlich viel Spaß und mittlerweile schaffte er in seinem Sportrollstuhl gewagtere Sprünge als Franzi auf ihren Inlinern.

Franzi biss gerade von ihrem Sandwich ab, als sie zwischen den Bäumen eine Bewegung wahrnahm. »Schaut mal, ich glaube, da kommt jemand.«

»Wo?« Kim stopfte sich das letzte Stück Marmorkuchen in den Mund und reckte den Hals.

Im selben Moment erschien ein Radfahrer auf dem Waldweg, der direkt an der Wiese vorbeiführte, auf der die Mädchen saßen. Der Mann beugte sich über den Lenker und trat kräftig in die Pedale. Zwischendurch blickte er sich immer wieder um, als würde er nach einem unsichtbaren Verfolger Ausschau halten. Neben dem Rad rannte ein großer Hund her und zog heftig an seiner Leine.

»Die haben es aber eilig«, stellte Marie fest.

Der Mann entdeckte die Mädchen auf der Wiese. »Lauft weg!«, brüllte er. »Schnell!«

Franzi runzelte die Stirn. »Was ist denn mit dem los?«

»Sieht fast so aus, als wäre er auf der Flucht«, sagte Kim. Der Radfahrer bremste neben der Wiese. Er war leichenblass. »Ihr müsst hier weg!«, keuchte er. »Sofort!« Der Hund hatte den Schwanz eingezogen und tänzelte nervös neben dem Fahrrad hin und her. Er schien mindestens genauso verschreckt zu sein wie sein Herrchen.

Franzis Kopfhaut begann zu kribbeln. Als Detektivin hatte sie ein gutes Gespür für andere Menschen. Dieser Mann hatte nicht nur Angst, sondern echte Panik. Aber warum?

»Was ist denn los?«, fragte Kim.

Wieder warf der Mann einen schnellen Blick über die Schulter. Seine Augen flackerten unruhig und sein Atem ging stoßweise. »Ein Wolf!«, stieß er hervor. »Dahinten war ein Wolf!« Er zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war.

Kim sprang auf. »Was?«

Auch Marie war blass geworden. »Das ist ein Scherz, oder?«

Der Radfahrer schüttelte den Kopf. »Ich hab ihn mit eigenen Augen gesehen. Er ist plötzlich aus dem Unterholz aufgetaucht und hat Arco und mich verfolgt. Sitz, Arco!« Der Hund gehorchte winselnd. »Arco ist fast durchgedreht vor Angst.«

Kim zog die Schultern hoch. »Lasst uns lieber von hier verschwinden.«

»Moment, nicht so schnell.« Franzi blieb ganz ruhig. Sie wandte sich an den Mann. »Sind Sie sicher, dass es ein Wolf war? Könnte es nicht auch ein Fuchs oder ein großer Hund gewesen sein?«

»Nein! Es war ein Wolf, eindeutig«, beharrte der Radfahrer.

»Das kann doch nicht sein, oder?«, fragte Marie. »Ich dachte, Wölfe sind in Deutschland ausgestorben.«

»Das waren sie auch«, sagte Franzi. »Aber seit einigen Jahren wandern sie wieder ein. Bisher allerdings nicht hier bei uns, sondern hauptsächlich in Ostdeutschland, soviel ich weiß.«

Franzi liebte Tiere, ganz egal, ob es sich um ihr Pony Tinka, ihr hinkendes Huhn Polly oder eine Weinbergschnecke im Gemüsegarten ihrer Eltern handelte. Ihr Vater war Tierarzt und sie durfte ihm manchmal in der Praxis helfen. Dabei hatte sie viel über das Verhalten von verschiedenen Tierarten gelernt.

»Das ist mir nicht geheuer«, murmelte Kim.

Plötzlich knackte es direkt neben der Wiese im Unterholz. Arco begann zu bellen und Kim stieß einen spitzen Schrei aus. Maries Finger bohrten sich in Franzis Unterarm und Franzis Herzschlag setzte einen Moment aus.

Versteckte sich zwischen den Büschen etwa ein Wolf?

Schwesterherz

Arco zerrte an der Leine und bellte immer lauter. Franzi starrte gebannt in den Wald. Eine Amsel flatterte aus einem Gebüsch und flog schimpfend davon. Franzi entspannte sich wieder. Einen Augenblick hatte sie tatsächlich geglaubt, ein Paar gelbe Augen im Unterholz aufleuchten zu sehen.

»Es war nur ein Vogel!« Kim seufzte erleichtert. »Verdammt, hab ich einen Schreck bekommen.«

»Wer hat Angst vorm bösen Wolf?« Marie kicherte nervös. »Das ist ja fast wie bei Rotkäppchen

Franzi grinste. »Stimmt, und den Korb mit Kuchen haben wir auch dabei.« Sie zeigte auf den Picknickkorb.

»Fehlt nur noch die Flasche Wein«, sagte Kim. »Und die Großmutter.«

»Die sitzt bei mir zu Hause und kocht wahrscheinlich gerade unglaublich gesunde Buchweizengrütze.« Marie verzog das Gesicht.

»Ich muss weiter«, sagte der Radfahrer. Er schien sich wieder etwas beruhigt zu haben. Auch Arco hatte aufgehört zu bellen.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Franzi. »Das war bestimmt ein Fuchs.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was ich gesehen habe. An eurer Stelle würde ich lieber woanders picknicken.« Er verabschiedete sich und fuhr los.

»Ich muss auch nach Hause«, stellte Marie fest. »Sonst komme ich zu spät zu meiner Joggingrunde mit Holger.«

Die drei !!! packten ihre Sachen zusammen. Die Sonne war hinter den Bäumen verschwunden und es wurde kühl.

Franzi holte ihre Jacke aus dem Fahrradkorb und schlüpfte hinein. Als sie wenig später hinter Marie und Kim über den Waldweg radelte, ertappte sie sich dabei, wie sie sich mehrmals umsah. Sie wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Aber zwischen den Bäumen regte sich nichts. Nur ein Eichhörnchen flitzte am Stamm einer Birke hinauf und wieder hinunter.

Kein Wolf weit und breit.

Natürlich nicht! In diesem Wald gab es keine Wölfe.

Oder?

»Wasch dir bitte die Hände, wir können gleich essen. Ich muss nur schnell den Gugelhupf aus dem Ofen holen.« Frau Winkler verschwand in ihrer Backstube, die gleich neben der Küche lag. Den herrlichen Duft nach frisch gebackenem Kuchen nahm Franzi kaum noch wahr, denn er war für sie so normal wie der Geruch nach Pferdeäpfeln in Tinkas Stall.

»Das ist doch mal wieder typisch!« Franzis Schwester Chrissie pfefferte die Butterdose auf den Holztisch. »Ich muss die ganze Arbeit machen und Madame setzt sich einfach an den gedeckten Tisch!«

»Was ist denn mit dir los?« Franzi ging zum Waschbecken, hielt die Hände unter den warmen Wasserstrahl und seifte sie gründlich ein. Chrissie war drei Jahre älter als sie und benahm sich manchmal ziemlich unausstehlich.

»Ich ärgere mich, weil du dich ständig vor der Hausarbeit drückst!«

»Ich hab heute Mittag die Spülmaschine ausgeräumt«, erinnerte Franzi sie. »Und gestern Wäsche aufgehängt.«

Chrissie schnaubte empört. »Na toll! Dafür erwartest du jetzt wahrscheinlich auch noch den Orden für fleißige Haushaltshelferinnen, oder was?«

Franzi verdrehte die Augen und trocknete sich die Hände ab. Mit Chrissie war heute offenbar nicht zu reden. Wenn ihre Schwester in so einer Stimmung war, ging man am besten gar nicht auf ihre Sticheleien ein.

»Guten Abend allerseits!« Herr Winkler betrat die Küche und lächelte seinen Töchtern zu. »Endlich Wochenende! Wie war euer Tag?«

»Geht so«, brummte Chrissie. Sie stellte den Brotkorb auf den Tisch und ließ sich auf ihren Platz fallen.

Herr Winkler füllte die Glaskaraffe mit Leitungswasser und schenkte sich und seinen Töchtern ein. »Hast du schon alles für deinen Zeltausflug morgen gepackt?«

»Nein.« Chrissie starrte missmutig in ihr Wasserglas. »Der Ausflug fällt aus. Sandra und Leonie sind krank geworden. Magen-Darm-Grippe. Der blöde Virus geht gerade bei uns in der Klasse rum.«

Deswegen war Chrissie also so mies drauf! Jetzt tat sie Franzi fast ein bisschen leid. Sie hatte sich seit Wochen auf das Zeltwochenende mit ihren Freundinnen gefreut. Kein Wunder, dass sie schlechte Laune hatte.

»Wie blöd!«, sagte Franzi. »Aber ihr könnt den Ausflug doch bestimmt nachholen, oder?« Sie nahm sich eine Scheibe Brot und reichte den Korb an ihren Vater weiter.

Chrissie zuckte mit den Schultern. »Ja, vielleicht.«

Frau Winkler kam aus der Backstube. Ihre Haare waren genauso rot wie Franzis, nur etwas dunkler. Sie hatte sie zu einem losen Knoten aufgesteckt, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten. Als sie sich die Haare aus dem Gesicht strich, hinterließen ihre Finger eine Mehlspur auf ihrer Wange. Rasch zog sie sich die Schürze über den Kopf und setzte sich an den Tisch.

»Entschuldigt, ich musste mich noch um den Gugelhupf kümmern.« Sie trank einen Schluck Wasser. »Nachher backe ich den letzten Blechkuchen, dann müsste es für morgen reichen.«

Herr Winkler runzelte die Stirn. »Ich dachte, wir machen uns heute einen gemütlichen Abend zu zweit.«

»Daraus wird leider nichts«, sagte seine Frau. »Wenn ich das Café am Wochenende nach der Winterpause wiedereröffnen will, muss ich noch einiges vorbereiten. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht! Dummerweise hat die neue Aushilfe kurzfristig abgesagt. Das arme Mädchen hat Magen-Darm-Grippe. Kann vielleicht jemand von euch einspringen?«

Chrissie schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall! Ich brauche am Wochenende unbedingt Erholung, sonst stehe ich die nächste Schulwoche nicht durch. Außerdem bin ich ja eigentlich gar nicht da.«

»Ich kann das Kellnern übernehmen«, bot Franzi an und schmierte Butter auf ihr Brot. Normalerweise hatte sie nichts dagegen, im Café auszuhelfen, zumindest solange es nur ab und zu vorkam. Sie mochte die entspannte Stimmung und unterhielt sich gerne mit den Gästen.

»Prima, danke!« Ihre Mutter lächelte ihr zu.

»Eigentlich fand ich es ganz entspannt, dass wir im Winter die Wochenenden für uns hatten.« Herr Winkler belegte sein Brot mit Käse und Gurkenscheiben.

»Ich auch! Jetzt trampeln wieder haufenweise fremde Leute durch unseren Garten und man hat keine ruhige Minute«, maulte Chrissie. »Wie soll man sich denn da ausruhen?«

Frau Winkler seufzte. »Natürlich hat es nicht nur Vorteile, ein Café auf dem eigenen Grundstück zu betreiben. Und etwas mehr Freizeit fände ich auch schön. Aber ich brauche nun mal die Sonntagsausflügler, damit das Café genug abwirft.«

»Kannst du nicht nur noch jedes zweite Wochenende öffnen?«, fragte Franzi. »Oder einmal im Monat?«

Frau Winkler nickte langsam. »Das wäre eine Möglichkeit. Ich werde darüber nachdenken. Wie war denn euer Picknick? Hat euch der Marmorkuchen geschmeckt?«

»Und wie! Kim war total begeistert.« Franzi strich Frischkäse auf ihr Brot und biss hinein. Sie musste an die Begegnung mit dem Radfahrer denken. Die Geschichte mit dem Wolf ließ ihr einfach keine Ruhe. Sie schluckte den Bissen hinunter. »Sag mal, Papa, gibt es eigentlich Wölfe hier in der Gegend?«

Chrissie schnaubte verächtlich. »Spinnst du? Wölfe sind längst ausgestorben.«

»Das stimmt nicht ganz«, korrigierte Herr Winkler seine Tochter. »Sie waren ausgestorben.«

»Die Wölfe kommen zurück, oder?«, fragte Franzi.

Ihr Vater nickte. »Ich habe kürzlich einen interessanten Artikel darüber gelesen. Wölfe waren hierzulande tatsächlich fast hundertfünfzig Jahre lang nahezu ausgerottet. Sie wurden im 18. und 19. Jahrhundert intensiv bejagt. Der vermutlich letzte Wolf in Deutschland wurde 1904 in Sachsen erschossen. Doch seit ein paar Jahren kehren die Wölfe in ihre alte Heimat zurück und siedeln sich in verschiedenen Gegenden an. In Ostdeutschland leben inzwischen wieder zahlreiche Wolfsrudel, meistens auf Truppenübungsplätzen.«

»Warum gerade dort?«, fragte Franzi.

»Weil sie da ideale Lebensbedingungen haben. Viel Platz, keine Besiedelung durch den Menschen, nur wenige Straßen und jede Menge Wild zum Jagen.«