Ulrika Schöllner, Dießen, wurde 1959 als Junge geboren und vollzog von 2015–2018 den kompletten Übergang in ein glückliches Leben als Frau.
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ISBN 978-3-497-02901-3 (Print)
ISBN 978-3-497-61279-6 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61283-3 (EPUB)
© 2019 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
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Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Wer ich bin und wie alles begann
Das Outing
Die psychologisch-psychiatrische Begleitung
Hormonersatztherapie (HRT)
HRT und Diabetes
Allgemeines zu Behörden und Krankenkassen
Die Personenstands- und Vornamensänderung
Fallstricke der Psyche
Feminisierende und geschlechtsangleichende OPs
Das Gesicht
Der Bart
Die Brust
Stimme und Adamsapfel
Meine Stimm-OP
Die geschlechtsangleichende Operation (GaOp)
Vor dem großen Schritt
Meine GaOp
Meine FFS
Touch Up
Abschied in der Klinik
Auf in die Heimat
OP-Nachwehen zu Hause
Meine Brust-OP
GaOp-Korrektur und der Feind aller Kliniken
Alltag in der Transition
Der Weg in den Alltag als Frau
Schlusswort
Danksagung
Anhang: Internetseiten
Links zu Foren und Richtlinien
Medizinische Kontakte
Vorwort
Wenn man aktuell die Medien in Deutschland verfolgt, könnte man den Eindruck gewinnen, es sei heute das Normalste der Welt, Transgender zu sein. Offenbar im Kontext des Ehe-für-alle-Hypes überschlagen sich die Medien in der Präsentation immer neuer Transgenderstorys. Kaum noch Shows oder Doku-Sendungen, die keine Transgenderstory präsentieren oder eine Quoten-Transfrau in ihre Show einbauen. Die Qualität und Authentizität dieser Storys ist für mich eher fragwürdig. Auch die Politik glaubt aktiv sein zu müssen – ob das nun sinnvoll und zielführend für Betroffene ist, sei dahingestellt.
Warum komme ich dann auf die Idee, gerade jetzt ebenfalls das Thema zu bedienen? Zweifel hatte ich schon. Warum sollte sich jemand für meine Geschichte interessieren? Würde sich dafür ein Verleger finden? Soll ich alles nicht lieber nur für mich selbst aufschreiben? Andererseits – warum nicht? Alltäglich ist meine Story nicht unbedingt. Eventuell kann ich damit auch anderen ein wenig helfen? Freunde und Bekannte schlugen mir vor, meine Erfahrungen als Buch zu veröffentlichen. Zwei Gründe sind für mich Antriebsfeder: Zum einen natürlich meine persönliche Geschichte. Durch meinen späten Prozess der Erkenntnis, Transfrau zu sein, weiche ich allein schon aufgrund meines Alters von den sonst präsentierten Fällen ab. Zum anderen möchte ich auf diesem Weg meine Erfahrungen an andere Betroffene weitergeben. Das sind Erfahrungen im Umgang mit der eigenen Situation: vom Weg der Erkenntnis – oder auch schon davor, von den Irrwegen bis zur Erkenntnis – bis zum Start und der Realisierung des Weges zum anderen Geschlecht, der sich oft völlig unerwartet aufzeigt. Zu diesem Weg gehört auch der Dschungel deutscher Behördengründlichkeit, der mich oft an den Rand der Verzweiflung führte, sowie die Praxis deutscher Krankenkassen, die in diesen besonderen Fällen ihren so gern gezeigten Leitsatz „zum Wohle des Patienten“ selbst zu oft ad absurdum führen und den Weg der Betroffenen nicht begleiten, sondern nach Kräften erschweren und blockieren.
Nicht alles wird für andere hilfreich sein, manches ist nur meine spezielle Sicht und Erfahrung. Aber für einige wird es doch Parallelen geben, und meine bereits gemachten Erfahrungen können ihnen auf ihrem Weg helfen. Oder diejenigen, die noch ganz am Anfang stehen und sich gerade erst auf den Weg machen, finden Anregungen, wie sie vorgehen können. Vieles, was in den Medien zu sehen ist, ist etwas oberflächlich auf bereitet und zeigt wenig Details von den Wegen der Betroffenen. Denn Details sind nicht schillernd oder dramatisch genug für Medien. Ich bin Transfrau, und sicherlich sind meine Erfahrungen für andere Transfrauen wesentlich interessanter als für Transmänner. Doch die Parallelen sind in vielen Belangen erkennbar, der Weg durch die öffentlichen Instanzen gleicht sich auf jeden Fall. Insofern kann mein Buch für alle Betroffenen von Interesse sein. Das kleine Buch verstehe ich daher als einen Mix aus der Erzählung über meinen Weg und einem bescheidenen Ratgeber für andere transidente Menschen.
Doch nicht nur transidente Menschen sollen sich angesprochen fühlen. Letztlich ist das umfassende Thema der Umgang mit Menschen, die anders sind und nicht in unsere gesellschaftlichen Schubladen passen, der eigene Umgang mit Anderssein und Toleranz. Daher lade ich jeden offenen Menschen ein, mein Buch zu lesen, und hoffentlich etwas Interessantes und Neues für sich herausziehen zu können.
Ich wünsche nun viel Spaß beim Lesen und dem Gewinn neuer Erkenntnisse, egal wer dieses Buch mit welcher Intention liest.
Dießen a. Ammersee, im April 2019 Ulrika Schöllner
Einleitung
Ich bin Transfrau … – stopp, hier fängt das Dilemma für manche schon an. Bin ich jetzt Transfrau oder Transgenderfrau oder Transsexuelle oder …? Der Begriffsdschungel bei diesem Thema ist ganz erstaunlich, und viele Betroffene machen dieses Denken in eher fragwürdigen Schubladen und Definitionen fast zur Religion. Da werden TV-Sendungen oder Artikel zu diesem Thema nicht nach Inhalt, Authentizität oder Darbietung beurteilt, sondern danach, ob ein Moderator die fast heiligen Begriffe „richtig“ benutzt hat.
Das klassische Polarisationsthema ist die operative Geschlechtsangleichung, egal, ob von Mann zu Frau (MzF) oder von Frau zu Mann (FzM). Die Nutzung des Wortes „Umwandlung“ ist dabei die Todsünde schlechthin. Die reflexartige Antwort von Betroffenen lautet: „Ich bin schon immer eine Frau/ein Mann, meine Genitalien werden meinem Geschlecht nur angeglichen.“ Darüber kann man sich nun trefflich lange und ausführlich streiten: Ist es eine Angleichung oder wird etwas durch die Pubertät Geprägtes, die Herausbildung primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale, gewandelt in das gefühlte Geschlecht?
Ähnlich von Spannungen gekennzeichnet ist die Verwendung der Begriffe „Transgender“ und „Transsexualität“. Offiziell – schon da wird es schwierig, denn was ist offiziell? – gilt Transsexualität als Unterkategorie von Transgender. Transgender umfasst danach alle Menschen, die sich jenseits der bipolaren Geschlechterrollen sehen. Doch dabei gibt es eben erhebliche Differenzen. Transsexuelle haben zwar eine Phase der Unklarheit, doch letztlich wollen sie keinesfalls irgendwo zwischen den beiden Geschlechtern stehen. Sie wollen Frau oder Mann sein und streben somit auch fast ausnahmslos die medizinische Angleichung an das empfundene und gewünschte Geschlecht an.
Transgender umfasst jedoch neben Intersexuellen – Menschen, die als medizinische Besonderheit von Geburt an sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale aufweisen – auch die Menschen, die zwar jenseits der klassischen Geschlechter einzuordnen sind, aber keinesfalls eine eindeutige Zuordnung wünschen. Zu ihnen zählt man heute daher auch Transvestiten und Menschen, die das Wechselspiel zwischen den Geschlechtern eher als Fetisch betrachten, das Leben in einer Geschlechterrolle nach Gutdünken zelebrieren wollen.
Das hat jedoch mit Transsexualität nichts, aber auch nicht das Geringste zu tun, weshalb sich gerade Transsexuelle oft heftig gegen die Zuordnung wehren und vielfach auch wenig mit der heute existierenden Genderbewegung anfangen können. Im Gegenteil, sie fühlen sich von dieser Bewegung sogar oft politisch instrumentalisiert. Ich lehne diese Ideologie allgemein und besonders deren Umgang mit „Transgendern“, der das alles eher zum Spaß deklariert und Geschlecht als rein gesellschaftliches Thema betrachtet, aus tiefster Überzeugung und eigenem Erleben ab. Der heutige, offene Umgang mit dem Thema hat für Transsexuelle nichts verbessert, sondern eher das Gegenteil bewirkt. Je mehr das Thema ausgebreitet wird – und das geschieht eben leider vorwiegend durch Menschen, die dieser Genderbewegung nahestehen –, desto mehr sehe ich Abwehrreaktionen in breiten Schichten der Bevölkerung. Die medial und politisch vorpreschenden Personen zeichnen sich eben gerade nicht durch sensiblen Umgang mit dem Thema aus, zeigen anderen gegenüber nicht den Respekt, den sie selbst fordern und treten oft fordernd und provozierend auf. Etwas überspitzt: Je weniger sie selbst schon auf ihrem Weg fortgeschritten sind, desto lauter treten sie auf. Das Bild, das dadurch in der Öffentlichkeit von Transsexuellen entsteht, ist das von schrägen Vögeln. Mit der Realität aller Transfrauen, die ich kenne, hat das nichts zu tun.
Nun könnte man das Problem leicht entschärfen, indem man zwischen Transsexuellen und Transgendern unterscheidet. Doch so einfach geht das leider nicht. Auch Intersexuelle passen nicht in diese Schemata und sehen sich kaum als Transgender. Transsexuell hat zudem die Komponente „sexuell“ im Wort. Und die ist etwas schwierig, verbindet sie doch für Außenstehende das Thema zu leicht mit sexuellen Assoziierungen und verschiebt es leider oft etwas in die Schmuddelecke. Transsexuellen geht es jedoch in erster Linie um ihre geschlechtliche Identität, nicht um sexuelle Neigungen – denn die sind, wie bei allen anderen Menschen auch, völlig unterschiedlich.
Ich erlebe immer wieder, wie verwirrt und desinformiert Menschen bei diesen Fragen sind, wenn sie keinen Bezug dazu haben, aber plötzlich damit konfrontiert werden, oder ungefragt ihre Meinung dazu kundtun. Ganz schnell wird dann oft auch deutlich, wie oberflächlich die vermeintliche Toleranz der Gesellschaft ist, wenn sie auf die Realität trifft.
Es ist also gar nicht so einfach, treffende Worte zu finden, die der Komplexität dieses Themenbereiches gerecht werden. Persönlich verwende ich für Transsexuelle eher den Begriff Transidente, der für mein Verständnis am besten die Themen berücksichtigt, um die es Transsexuellen geht. Doch auch das trifft es im Sinn des Wortes nicht richtig. Im Buch werde ich daher die unverfängliche Wortwahl trans* Personen nutzen. Ich persönlich habe diese Kategorisierungen immer sehr entspannt gesehen, denn die damit verbundenen Problematisierungen sind für mich wenig bedeutsam. Einzig wichtig und spannend ist die Tatsache, dass mein Körper durch äußerliche Einwirkung entsprechend meinen Erwartungen und meiner Gefühlswelt angeglichen wird – dass der Körper mir gerecht wird, so gut es irgendwie geht. Derartige Begriffsstreitereien sind mir dagegen eher zuwider. Auch macht es die Überbetonung dieser Aspekte für Außenstehende eher schwierig, sich diesem Thema zu nähern. Sie führt eher zur Abwendung von offenbar zickigen trans* Personen, indem sie negative Vorurteile bestätigt. Doch wo die Verwendung der Begriffe widersprüchlich ist, versuche auch ich aufzuklären – entspannt nicht missionarisch. Ich werde in diesem Buch folgende Terminologie nutzen:
Transidentität bzw. transident – wenn ich allgemein über das Thema Transsexuelle spreche.
Transfrau/Transmann – wenn es um geschlechtsspezifische Themen geht.
Geschlechtsangleichung – wenn es allgemein um die dafür notwendigen operativen Eingriffe geht.
GaOp – oder englisch: Sex Reassignment Surgery (SRS) – für die geschlechtsangleichende Operation.
Facial Feminization Surgery (FFS) – für die feminisierende Gesichtsoperation.
FzM – für Frau zu Mann.
MzF – für Mann zu Frau.
Cis-Frauen/-Männer – für alle Menschen, bei denen die Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.
Bleibt noch ein Begriff, der für mich schwierig ist: Schamlippen. Wieso zum Teufel nennen wir sie in einer aufgeklärten Welt noch immer so? Wieso Scham? Es gibt nichts, was eine Frau dort schamvoll zu verbergen hätte, höchstens zu schützen. Ich benenne sie eher lateinisch, also Labien.
Wir leben heute in einer scheinbar offenen und toleranten Welt. Doch das ist, wie die Formulierung schon andeutet, oft nur eine Scheinwelt, eine oberflächliche Wahrnehmung. Etwa 95 Prozent der Deutschen halten sich nach einer ARD-Studie („Medien und Toleranz“ 2014) für tolerant, gestehen aber gleichzeitig diese Toleranz nur etwa 50 Prozent der Bevölkerung zu. Das allein zeigt bereits einen Widerspruch und erklärt, weshalb ganz viele Betroffene oft einsame Menschen sind, die zumindest am Anfang nicht wissen, wohin sie sich mit ihren Gefühlen und Erkenntnissen wenden sollen. Selbst die Familien sind mit derartigem Outing oft völlig überfordert, und die Angst der Betroffenen davor ist überwältigend groß, manchmal auch unbegründet. Warum ist das so in einer ach so toleranten Gesellschaft, in der Toleranz anscheinend zunehmend mit Tollhaus verwechselt wird?
Es ist wohl in erster Linie die uralte Scheu vor dem Abweichenden, vor dem Ungewohnten, vor dem Anderssein. Überall kann das ja sein, nur bitte nicht bei uns – was sollen die Bekannten, Nachbarn etc. denken? Daran hat sich nicht allzu viel geändert. Auch ich habe in den ersten Jahren des Erkennens meines Andersseins solche Gedanken gehabt, sie haben mich blockiert und meinen Weg über viele Jahre verhindert. Doch daran hatten in erster Linie nicht andere Menschen Schuld, sondern vielmehr ich selbst.
In diesem kleinen Buch möchte ich unter anderem dazu beitragen, den Betroffenen den Weg aus diesem Dilemma aufzuzeigen. Ich möchte anhand eigener Erfahrungen den Gefühlsdschungel etwas lichten, möchte anderen helfen, durch eigene Stärke Selbstbewusstsein zu erlangen und diesen beschwerlichen, aber wunderbaren Weg besser zu meistern.
Wer ich bin und wie alles begann
Ich bin Transfrau – ach, das sagte ich ja schon in der Einleitung.
Dieses Buch sollte ursprünglich nicht meinen transidenten Lebensweg nachzeichnen und sollte auch keine Autobiografie werden, sondern war eigentlich zuerst nur als Aufarbeitung für mich selbst gedacht. Erst später kam der Gedanke hinzu, den Weg transidenter Menschen allgemein zu beschreiben, eigene Erfahrungen hinzuzufügen und Tipps aus dem eigenen Erleben zu geben. Herausgekommen ist nun etwas, das alle Ansinnen irgendwie vereint: Es ist mein transidenter Lebenslauf geworden, der sich aber auch als kleiner Ratgeber für andere Transidente versteht.
Die Erzählform wird sich ebenfalls nicht an klassische Strukturen halten. Ich habe begonnen, dieses Buch zu schreiben, als ich schon mitten auf meinem Weg war. Somit wird einiges als Vergangenheit erzählt und anderes als gerade geschehend.
Ein weiterer Aspekt sei vorab auch gleich klargestellt: Wer ein Buch voller sentimentaler und rührender Schicksalsschilderungen einer Transfrau erwartet, eine Leidensgeschichte, die geeignet ist für eine weitere Talkrunde in so emotionalen Quassel-Sendungen wie „Lanz“ & Co, den muss ich enttäuschen. Emotionen und tiefgehende Erlebnisse sind sicher Teil meines Weges, aber diesen bin ich von Anfang an aufrecht, zielstrebig und stolz gegangen. Ich wusste ab einem bestimmten Moment genau, was ich wollte, habe Rückschläge angenommen und verarbeitet.
Mein Name ist Ulrika, geboren wurde ich 1959 – ja, Sie lesen richtig, jung und knackig hätte einen anderen Zeitstempel. Mein theoretisches Verfallsdatum ist nicht mehr sooo weit weg. Auch das macht meinen Weg ein klein wenig besonders.
Wenn dieses Buch erscheinen wird, bin ich die Hauptstrecke meines Weges bereits gegangen und habe die wichtigsten Meilensteine der Transition absolviert. Abgeschlossen wird dieser lange Prozess des Zu-sich-selber-Kommens nie sein, aber es wird sich irgendwann hoffentlich halbwegs so anfühlen, angekommen zu sein. Wobei – wann ist man eigentlich angekommen? Erst, wenn die Meilensteine absolviert sind? Oder, wenn die inneren Prozesse soweit vollendet sind, dass man sich eins fühlt mit seinem Ich, den seelischen Veränderungen und seinem Körper, wie er sich dabei verändert hat? Dazu später mehr.
Geboren wurde ich in einem männlichen Körper, der aber von Beginn an sehr weibliche und weiche Züge hatte. Den Erzählungen nach – Fotos gibt es auch – war ich ein blonder Rauschgoldengel, der immerzu für ein Mädchen gehalten wurde. Mein Elternhaus in der ehemaligen DDR war konservativ-bürgerlich, gleichzeitig aber streng kommunistisch – ein scheinbar schreiender Widerspruch! Doch es war gelebte DDR-Realität.
Mein Vater hatte alsbald genug von dem „Mädchen“, das doch ein echter Bursche sein sollte. Erschwerend kam für ihn hinzu, dass bei mir ein Hodenhochstand festgestellt wurde, dem die Ärzte mit einer Steroid-Spritzenkur zu Leibe rückten. Das Äußere wurde kurzerhand gegen den Willen meiner Mutter mit einem fortan zu tragenden „Igel-Haarschnitt“ korrigiert. Um das schlanke und zierliche Kind zum richtigen Burschen zu machen, wurde mir Leistungssport verordnet – dreimal pro Woche Schwimmtraining war das Mittel der Wahl. Meine Versuche, mich davor zu drücken – ich schwänzte oft das Training, befeuchtete zur Tarnung meine Trainingssachen und Handtücher, trieb mich während der Trainingszeiten herum oder fuhr mit der Tram von einer Endstelle zur anderen und zurück – waren nicht sehr erfolgreich. Mein Bewegungstalent war groß genug und die Körpermaße ideal. Das qualifizierte mich für die Sportschule, die Sport-Kaderschmiede der DDR. Von diesem Zeitpunkt an war jeden Tag zwei- bis dreimal Training im Wechsel mit Unterrichtszeiten angesagt, und am Wochenende standen Wettkämpfe an.
Damit war mein Schicksal vorerst besiegelt, ich lernte zu funktionieren. Alles Zarte, Weiche und Weibliche war mir vorerst ausgetrieben worden. Doch die Erfolge waren eher bescheiden. Meine Technik war zwar filigran, aber mit der Kraft und dem nötigen Muskelaufbau wollte es nicht so recht vorangehen – warum wohl …? Aus der schlanken, etwas schlaksigen Erscheinung war zwar etwas „breitschultrigeres“ geworden, aber doch kein echter Kerl, keiner der Modelathleten, wie sie Schwimmer im Allgemeinen darstellen.
Während viele Jungen meiner Klasse ihre voranschreitende geschlechtliche Reife unter der Dusche oder in der Umkleidekabine beim Training stolz zur Schau stellten, konnte ich damit wenig anfangen – es machte mich unsicher, ja, es widerte mich zum Teil an. Ich konnte nichts anfangen mit deren Freude über die ersten selbst herbeigeführten Samenergüsse, ich empfand nichts bei den ersten Stehversuchen meines Penis. Das versuchte ich mit Witz und dem Verhalten als Klassenkasper zu übertönen, was jedoch auch nicht wirklich prickelnd war. Doch was sollte ich anfangen mit dem, was ich erlebte und fühlte? Ich hatte keine Ahnung. Ich war halt irgendwie anders, hatte dafür aber keine Erklärung. Auf die Idee, darüber mit Eltern, Großeltern, Lehrer oder Trainer zu reden, kam ich damals definitiv nicht. Ich nahm es hin. Warum? Ich kann es bis heute nicht wirklich beantworten.
Nach vier Jahren war der Ausflug Sportschule mangels durchschlagender Erfolge beendet. Was nun folgte, war jedoch noch schlimmer. Ich musste zurück auf eine normale DDR-Schule, eine zehnklas- sige polytechnische Oberschule (POS), das entspricht in etwa einer Realschule. Hier hinein passte ich wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, die Umstellung war für mich grauenvoll. Jetzt kam zum ersten Mal die Zeit, als ich mich völlig falsch fühlte, nicht nur das raue Umfeld betreffend, nein, auch als Junge, der trotz Schwimmerfigur so gar nicht in die Reihe der anderen Jungs passte. Ich war weicher und weiblicher – das Weibliche sah ich damals nicht, nur das Weiche. Das Gebaren der Jungen, die Präsentation der pubertären Schübe der Jungen, die teilweise Kraftmeierei, die oft zu spürende Suche nach Streit und Kräftemessen waren für mich eine völlig fremde Welt. Damit hatte ich bereits in der Grundschule vor der Sportschule zu kämpfen. Es war mir völlig zuwider, mich mit anderen Jungen zu prügeln, sich Tagesopfer rauszusuchen, die „heute mal fällig“ waren. Weil ich da nicht mitzog, wurde ich logischerweise selbst gelegentlich zum Tagesopfer. Mich mit Fäusten zu wehren, war für mich keine Option. Mit dem Wechsel zur Sportschule waren solche Dinge glücklicherweise kein Thema mehr gewesen.
Ich suchte nun zunehmend den Kontakt zu Mädchen, doch auch die wollten sich nicht so recht mit mir abgeben. Für sie war ich ein verweichlichter Junge, der absolut nicht in ihre pubertäre Welt passte. Es war damals die achte oder neunte Klasse, die Mädchen um die 14 oder 15 Jahre alt und auf der Suche nach ersten sexuellen Erfahrungen mit älteren Jungen. Die Mädchen wollten also nichts mit mir, und ich nichts mit den Jungs zu tun haben – das Dilemma war perfekt. Es gab niemanden, mit dem ich darüber reden und dem ich meine Gefühlslage erklären konnte, weder meine Eltern noch Bekannte. Zwei Versuche bei meinen Eltern endeten mit dem berühmten Klaps auf die „Männerschulter“ – stell dich nicht so an, du musst dich durchbeißen, das wird schon. Andere Optionen, z. B. Hilfsgruppen oder ähnliches, waren damals unbekannt – zumindest für mich.
Damit war das Thema abgehakt, doch meine Probleme blieben. Wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich einen Jungen, der sehr schlank war, fast schlaksig. Ich sah zwar einen Penis, aber der war unwichtig für mich. Ich sah auch, dass ich um die Hüften und Taille anders war als die Jungs. Mein Verhältnis von Oberschenkeln, Hüfte und Taille hatte eher früh-weibliche Formen, was mir aber erst später bewusst wurde. Das Ergebnis einer solchen Musterung im Spiegel war auf jeden Fall frustrierend. Ich fühlte mich falsch, ohne zu wissen, was eigentlich falsch war.
Wenn meine Eltern im Theater oder Konzert waren, ging ich öfters an den Kleiderschrank meiner Mutter und hielt mir ihre Kleider an, ab und an schlüpfte ich auch in eines der Kleider hinein. Es schien, als würde mir das gut stehen, irgendwie fühlte es sich auch gut an, andererseits aber auch sehr eigenartig. Der richtige Moment eines „Aha-Effektes“ stellte sich jedoch nicht ein. Das lag vielleicht auch an der Situation und der Art der Kleider meiner Mutter, es waren vorwiegend Abendkleider. Zudem musste ich aufpassen, dass man mich nicht dabei erwischte.
Ich hielt mich damals für alles Mögliche, aber der Gedanke, meine Situation hätte etwas mit Identitätsproblemen zu tun, damit, dass ich eventuell als Mädchen im Jungenköper steckte und nur funktionieren sollte, der war damals so weit weg wie der Mond von der Erde. Also riss ich mich zusammen und fasste den Entschluss, mich nunmehr den Jungs anzunähern – ein ganzer Kerl zu werden. Das hatte zum Teil sicher groteske Züge. Ich tat Dinge, die mir völlig fremd waren, nur um dazuzugehören. Zumindest erreichte ich eine gewisse Anerkennung und fühlte mich angenommen, was sicher auch so war. Mit der Zeit verschwand die Fremdheit zum eigenen Ich, aber wirklich als Junge, als pubertierender Teenager mit all den Dingen, die so dazugehören, fühlte ich mich nie. Die folgenden Jahre waren langweilig. Ich hatte mich in meine Rolle gefügt, hechelte aber irgendwie immer dem werdenden Mann in mir hinterher, der ich nach meinem Verständnis jedoch nie war.
So vergingen die restlichen Jahre der Schulzeit, die etwas frustrierenden Jahre der Berufsausbildung und die folgende Militärzeit. Die Militärzeit sticht dabei etwas heraus. Hier versuchte ich den fachlichen Erfolg als guter Funker damit zu kompensieren, dass ich besonders cool sein wollte, und meine sich herausgebildete politische Aufmüpfigkeit das unterstreichen sollte. Im Kontext meiner sich formenden politischen Überzeugung, die völlig konträr zum kommunistisch geprägten Elternhaus war – das bezog sich vordergründig auf meinen Vater, meine Mutter war quasi liebende Mitläuferin – führte das jedoch unweigerlich zu heftigen Problemen, die ich teuer zu bezahlen hatte (Arrestzeiten). Doch etwas hatte ich schon damals gelernt: einen starken Willen und ein Rückgrat, beides ließ ich mir nicht brechen.
Mein Anker war meine Mutter, die recht stark unter meinem alles beherrschenden Vater zu leiden hatte und mit der Zeit krank davon wurde. Sie hat mich mit dem Ziel erzogen, ein selbstständiger Mensch zu werden, der sein Leben allein bewältigen kann, und keine typische Machorolle als Mann einnimmt mit einer Frau an seiner Seite, die ihn zu versorgen hat. Viel Hausarbeit war in den Augen meiner Mutter auch für den Lebensweg von Jungen angesagt und hilfreich. Die klischeehaft weiblichen Dinge im Haushalt habe ich selbst als Jugendlicher gern gemacht: Ich habe gern Wäsche aufgehängt, zusammengelegt und gebügelt, habe gern mit meiner Mutter gekocht und gebacken, selbst das Putzen war für mich keine Last. Ebenso war Gartenarbeit in unserem und dem Garten meiner Großeltern für mich Vergnügen. Gibt es doch nichts Schöneres, als die Früchte der Arbeit in Form von frischem Gemüse oder Obst direkt aus dem Garten zu ernten, zu essen oder zu verarbeiten. Diese Bodenhaftung hat sich durch mein ganzes Leben gezogen.
Um hier keinen völlig falschen Eindruck von meinem Vater zu erzeugen. Er war gewiss kein Tyrann, und noch weniger einer der Männer, die nach der Arbeit die Füße hochlegten und sich von der Frau umsorgen ließen. Mein Vater war Hochschullehrer, später Direktor der Sektion Chemie der Karl-Marx-Universität (KMU) Leipzig. Wenn er abends nach Hause kam, dann verzog er sich in sein Arbeitszimmer und arbeitete weiter. Zum gemeinsamen Abendessen kam er wieder heraus, um danach oftmals wieder zurückzukehren an den Schreibtisch. Ab und an setzte er sich zu meiner Mutter auf die Couch zum gemeinsamen Fernsehen. Ausnahmen waren Besuche von Freunden oder Kollegen aus der ganzen Welt. Dann wurde es sehr interessant bei uns zu Hause.
Mit meiner Mutter habe ich viel Zeit verbracht, wir verstanden uns hervorragend. Doch leider war auch sie nicht die so dringend benötigte Ansprechpartnerin für meine Themen. Eher war ich in der Zeit ein Halt für sie. Ob sie mein Dilemma nicht sehen oder es nur verdrängen wollte – warum auch immer –, das weiß ich bis heute leider nicht. Denn schon 1982, kurz vor Ende meines Militärdienstes, verstarb sie viel zu früh mit 48 Jahren. Das war für mich ein großer Schock mit weitreichenden Folgen. Es brach eine Welt für mich zusammen. Der Schock war so groß, dass es Tage dauerte, bis ich wirklich weinen konnte und bis ich wirklich realisierte, was geschehen war, wie groß und heftig der Verlust meiner Mutter für mich war. Bis heute wirken die Erfahrungen und Gefühle dieser Zeit für mich kräftig nach. Meine Mutter war und ist die Person, bei der meine Gedanken in den letzten zwei bis drei Jahren am häufigsten verweilten.
Meine weiblichen Eigenschaften wurden von meinem Vater in der Folgezeit ausgenutzt. Ich hielt den Familienladen am Laufen, erfüllte ein Jahr lang die Rolle meiner Mutter für meinen Vater und meinen jüngeren Bruder, schmiss sozusagen den Männerhaushalt. Ich kaufte ein, kochte, backte, putzte und machte die Wäsche. Schlimmer noch, nicht mein Vater war eine seelische Stütze für mich, sondern er versuchte sich an mich anzulehnen. Er war das „Opfer“, der von der Frau verlassene Mann, der nun allein durchs Leben gehen sollte. Das endete jäh, als ich mitbekam, dass mein Vater längst eine neue Geliebte hatte, sich aber dennoch von mir umsorgen ließ. Den ersten Kontakt mit ihr hatte ich in unserer Wohnung, als sie mir oberlehrerhaft erklärte, dass es meinem Vater nicht gut ginge, und wir – mein Bruder und ich – aufgrund unseres Lebenswandels daran schuld seien. Das war der Beginn der völligen Entfremdung von meinem Vater, der sich in dieser Rolle gefiel, die zwanzig Jahre lang anhielt.
Am Ende der Militärzeit lernte ich meine spätere Ehefrau kennen. Auch sie lernte mich als sehr weiblichen Mann kennen, wozu sie immer stand. Erst später erzählte sie mir, dass sie darauf öfters angesprochen wurde. Sie hatte sich den weiblichen Mann explizit erwählt. Sie traf mich in meiner elterlichen Wohnung an, wenn ich kochte und den Haushalt führte. Auch bei ihr zu Hause habe ich gern Dinge im Haushalt erledigt, habe gebacken und ihren gerade geborenen Sohn gewickelt, den wir fortan gemeinsam aufzogen. Sie hat also die Frau in mir immer gesehen, wenn auch nicht in der letzten Konsequenz.
Nach drei Jahren – 1986 – heiraten wir. In meinem Job (Techniker für Großrechner-Systeme) war ich ebenfalls sehr schnell erfolgreich, stieß aber schnell wieder an die unvermeidlichen Hürden der DDR-Zeit. Alsbald meldete sich die Stasi bei mir, um mir kundzutun, dass mein weiteres berufliches Fortkommen von ihrem Wohlwollen bzw. einer Entscheidung meinerseits abhing, die mich zum willigen Unterstützer des Systems gemacht hätte.
Das war der Anfang zur ersten großen selbstbestimmten Weichenstellung in meinem Leben. 1987 verließ ich das „gelobte“ Land, und startete in Bayern mein neues Leben in Freiheit. Dabei mussten meine Frau und unser ältester Sohn vorerst zurückbleiben. Es hat etwa ein Jahr gedauert, bis die Pläne gereift waren, meine Familie aus der DDR rauszuholen. Im Sommer 1988 war es dann soweit und wir waren nach dramatischen, aufregenden Tagen wieder vereint.
Dreieinhalb Jahre später wurde unser zweiter Sohn geboren. Auch jetzt übernahm ich wieder gern eher weibliche Aufgaben. Mein emotionales Verhältnis zu unseren Kindern hatte auch viele Züge, die man eher Müttern zuschreibt – ob es das gemeinsame Baden, das Wickeln, die Körperpflege, das Schmusen im Bett oder andere Aspekte waren. Heute würde ich mich wahrscheinlich am Rande dessen bewegen, wo manche fragwürdigen Zeitgenossen schon die Grenze zu „sexuellen“ Übergriffen sehen.
Meine Frau liebte diese weiblichen Züge an mir. Ich habe schon damals zum Ausdruck gebracht, dass ich am liebsten zu Hause wäre und Haushalt und Kinder übernehmen würde. Aber ich hatte den Job, der unsere neue Existenz sicherte. Auch im Bekannten- und Freundeskreis habe ich mich mehr zu den Freundinnen meiner Frau hingezogen gefühlt als zu deren Männern. Ich war sozusagen der „Frauenversteher“.
1991 startete ich in die Selbstständigkeit. Es waren Jahre des Aufbruchs, wir starteten neu durch, hatten alles hinter uns gelassen. Ich hatte Spaß an meinem Job rund um IT-Netzwerk- und Systemberatung, genoss die Freiheit in allen Bereichen und die saubere Umwelt – mit allem, was ich hatte, stürzte ich mich in mein zweites Leben. Die weiblichen Aspekte verschwanden zusehends. Die Zweifel an mir selbst, an meiner Geschlechtsrolle waren trotz meiner Vorliebe für vermeintlich weibliche Aspekte im Haushalt vorerst verschwunden. Ich war in diesen Jahren ein offenbar recht glücklicher Mensch, die Widersprüche waren vom Rausch des neuen Lebens und der beruflichen Selbstständigkeit überdeckt.
Es ging natürlich nicht nur bergauf. Die erste Firma, die ich zusammen mit einem Partner gegründet hatte, musste sieben Jahre später Konkurs anmelden. Ich startete ein weiteres Mal durch, diesmal ohne Partner, und das erfolgreich. Jahrelang habe ich nicht bemerkt, in welches Hamsterrad ich mich dabei schrittweise begeben hatte. Der Wille zum beruflichen Erfolg, der Wille eine perfekte kleine Familie und ein perfektes eigenes Heim zu haben, dabei die wenigen negativen Erfahrungen meiner Kindheit mit meinen Eltern natürlich vermeiden und ins Gegenteil kehren zu wollen, und das alles finanziell allein zu stemmen – meine Frau blieb für die Kinder zu Hause – waren so treibend, dass ich mich selbst dabei verlor. Ich funktionierte hervorragend, aber auch gegen mich selbst.
Im Nachhinein denke ich, es war der Wille, 150 Prozent Mann sein zu wollen, um alle Zweifel der Vergangenheit auszuräumen. Die Zweifel am Mann in mir verschwanden jedoch niemals ganz, im Spiegel sah ich noch immer keinen richtigen Mann. Doch ich versuchte das mit noch mehr Arbeit und Erfolg zu kaschieren. Dadurch veränderte ich mich erheblich: Ich wurde bestimmender, sicher zu selbstbewusst – viel davon war jedoch aufgesetzt – und erreichte mit dem Erfolg eine gewisse Arroganz, die ganz sicher nicht besonders förderlich war. Etwa 2006 setzte sich langsam die Erkenntnis durch, dass das eigentliche Leben an mir vorbeizog und ich versucht hatte, alle Probleme – zunehmend auch in der Partnerschaft – mit noch mehr Arbeit zu ertränken. Trotz vieler Bedenken, begann ich die Arbeit zu reduzieren. Entgegen aller Befürchtungen wurde das von meinen Kunden nicht bestraft, sondern verstanden.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine ersten Berührungen mit einer Transfrau, einer Kollegin in einem Projekt. Es hat lange gedauert, bis ich überhaupt kapiert hatte, dass sie Transfrau war. Leider hatte sie auf ihrem Weg keinen Erfolg, hatte mit Ablehnung in der Familie und bei Arbeitskollegen zu kämpfen und vereinsamte vollständig. Während unseres Projektes stieg sie völlig unvorbereitet aus und zog sich in eine irreale Spielwelt am Computer zurück. Ich versuchte, sie zu erreichen und mit ihr zu sprechen. Völlig konsterniert stellte sie fest, dass ausgerechnet ich der einzige Mensch war, der Kontakt zu ihr aufnahm und das Gespräch suchte. Damals merkte ich das erste Mal ziemlich vage, dass ein gehöriger weiblicher Anteil in mir steckte. Leider waren meine Bemühungen erfolglos. Sie kam in eine Klinik, und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört oder gesehen.
2009 ging unser jüngerer Sohn zur Ausbildung nach Kanada – erst Abitur, dann Studium. Ab jetzt wurde es etwas ruhiger und entspannter, obwohl die Verantwortung und der Druck, genug Geld zu verdienen, um das alles zu ermöglichen, hoch waren. Doch ich hatte plötzlich irgendwie mehr Luft. Ich hatte wieder etwas Zeit, auch über mich nachzudenken, und hatte die Möglichkeit, mehr Zeit für mich selbst abzuknapsen – und ich tat es! Doch das geschah nicht etwa zielstrebig, sondern relativ wirr und chaotisch.
Es dauerte nicht lange, und ich erkannte und fühlte erneut, dass etwas in mir nach Änderung rief. Nicht nur so irgendeine der üblichen nötigen Veränderungen im Leben, die herannahende Mid-life-Crisis oder ähnliches – nein, es fühlte sich schon fundmentaler an.
Zunehmend verspürte ich erneut eine starke Anziehungskraft durch das weibliche Geschlecht, jedoch völlig anders, als zu erwarten wäre. Ich betrachtete schöne Frauen zunehmend mit Neid. Ich wurde neidisch auf ihre Figuren, auf ihre Brüste und auf ihr Genital. Ich wünschte mir oft, ich hätte all diese Eigenschaften.
Ich begann, besondere Partys zu besuchen. Partys, auf denen man den Alltag richtig hinter sich lassen konnte, raus konnte aus der Alltags-Uniform, raus konnte aus der zementierten Geschlechterrolle, und hineinschlüpfen konnte in eine – anfangs für mich zum Teil bizarre – neue Welt, die Fetischwelt. Eine Welt aus schrillen Kostümen, mehr oder weniger Bekleidung in Latex oder Leder. Eine Welt, in der ich plötzlich anders sein konnte und das auch war. Meine Partyoutfits wurden immer weiblicher, und ich fühlte mich zunehmend wohler. Meine Frau konnte diese Entwicklung sehen, bemerkte sie auch, und nahm sie stillschweigend zur Kenntnis. Gesprochen haben wir damals kaum darüber, denn Reden war leider schon länger nicht mehr unsere Stärke. Wir hatten unseren Spaß, ich dabei wohl erheblich mehr als sie.
Den Partys folgten Ausflüge in die Sadomasowelt, in der ich nach Erfahrungen und Wegen für mich suchte, aber – nach anfänglich scheinbar passenden Entwicklungen – doch nicht wirklich fand. Der Ausflug war Teil der Suche nach mir selbst, der Hoffnung, das zu finden, was ich an mir als Mann nicht passend fand. Doch auch das zeigte sich als Sackgasse.
Zwischendrin folgte noch ein kurze Phase mit Ausflügen in einige spezielle Männerklubs in München, vielleicht zeigte mein Anderssein ja in diese Richtung? Doch das war es ganz offensichtlich nicht, das wusste ich ganz schnell!
Diese Suche und Unzufriedenheit mit mir selbst steigerte sich weiter in das Bedürfnis nach Piercings an meinem Körper. Ob am Penis, den Brustwarzen, am Hodensack oder am Damm, ich steigerte mich in eine „Schmückungs-Orgie“ mit Titanringen und -stäben an meinem Körper. Irgendwie hatte ich dabei das Gefühl, das an mir Fehlende auszugleichen, was auch immer es sei. Zugegeben, die Piercing-Geschichte war auch jenseits meines Themas recht reizvoll und hatte eine sexuell stimulierende Komponente. Der eine oder andere bewundernde Kommentar war Balsam auf meine Seele.
Wenn auch heute fast alle Piercings abgerüstet sind, einige durch die Ga-OPs ganz unvermeidlich – nur die Brustwarzen sind weiter mit Ringen geschmückt –, so sind schöne Piercings für mich weiterhin erotisch. Zum Piercing kam noch eine weitere Komponente auf der Suche nach meinem körperlich-seelischen Ich hinzu: Tattoos. Zum einen sind sie ein recht fester Bestandteil der Sadomaso- und Fetischszene, zum anderen wurden auch sie Ausdruck meiner Suche, Ausdruck meiner Unzufriedenheit mit mir selbst. Schritt für Schritt füllte sich meine Haut erst in den Leisten, dann an der Brust, den Oberarmen und last but not least an einem Unterarm mit Tattoos. Ich machte es mir nicht leicht, es musste überall ein Thema sein, musste zu mir, meinem Leben und meinem Fühlen passen, perfekt und schön sollten sie obendrein sein. Für wie viele Euro ich in dieser Zeit Tattoos auf meinen Body stechen ließ, weiß ich heute so genau nicht mehr, über 4.000 Euro waren es definitiv. Heute hat das für mich nur mehr wenig Bedeutung, wenngleich ich nichts bereue. Aber das eine oder andere Tattoo würde ich mir heute nicht mehr stechen lassen.
Auch dieser Ausflug war nur ein weiterer Teil bei der Suche nach dem, was in mir brodelte, aber keine Bestimmung fand und sich nicht fassen ließ.
Bald wurde aus dem Partyspaß jedoch der Drang, mich auch außerhalb der Partys weiblicher zu kleiden. Ich kaufte, anfangs noch heimlich, Frauengarderobe und Frauenschuhe – High Heels – und begann im Androgyn-Style auf die Straße zu gehen. Das war sicher alles recht verkrampft und hatte wohl ab und an auch einen etwas „nuttigen“ Einschlag, aber ich fühlte mich Schritt für Schritt immer wohler und sicherer dabei. Mit einer Freundin machte ich in Partyoutfits Fotoshootings mitten in München, und ich genoss die Blicke und wohlwollenden Kommentare der Passanten.
Der nächste Schritt war ein erstes professionelles Frauenstyling durch eine Transfrau. Ich hatte eine Session von vier Stunden mit anschließendem Fotoshooting gebucht. Es gab dort einen reichhaltigen