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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-184-2
»Wie im Paradies«, sagte Jonas Horst träumerisch. »Nicht, Amelie?«
»Mhm«, antwortete sie. Sie saßen am Rande der Dünen von Maspalomas auf Gran Canaria und sahen auf den Atlantik hinaus, der an diesem Tag recht unruhig war. Weiße Schaumkrönchen tanzten auf den Wellen, die dicht hintereinander auf den Strand zurollten, um sich dann, wenn sie ihren höchsten Punkt erreicht hatten, zu brechen und schließlich, noch immer mit großer Kraft, auszulaufen. Viele Leute warfen sich ihnen entgegen, laut kreischend vor Vergnügen, und Amelie wünschte sich nichts sehnlicher, als sich ebenso unbeschwert zu fühlen.
Statt dessen saß sie hier und überlegte, wie schon all die Tage zuvor, wie sie Jonas endlich sagen sollte, daß sie sich trennen mußten. Er war ein so lieber Kerl, und sie wollte ihn nicht verletzen – aber er war nun einmal nicht der richtige Mann für sie. Er wollte am liebsten sofort heiraten, ein paar Kinder bekommen, ein eigenes Häuschen bauen, möglichst auf dem Lande, und dann nur noch für die Familie da sein.
Doch das war nichts für sie. Sie war erst fünfundzwanzig Jahre alt. Zuerst wollte sie die Welt erobern und sich vielleicht danach gemütlich einrichten. Oder auch nicht. Sie war neugierig auf das Leben, wollte es nicht jetzt schon verplanen.
Sie hatte es aufgeschoben. Jeden Abend hatte sie sich gesagt: »Morgen. Morgen rede ich mit ihm«, und auf diese Weise waren die Urlaubstage vergangen, und ihre Angst vor dem Gespräch war immer größer geworden. Sie wußte doch schon im voraus, wie er sie ansehen würde – mit diesen treuen Augen, die ganz dunkel waren vor Traurigkeit. Sie durfte gar nicht daran denken.
»Sollen wir ins Wasser gehen?« fragte er. »Die Wellen sind so toll – das macht bestimmt Spaß.«
»Geh allein«, sagte sie. »Ich bleibe lieber noch ein bißchen hier sitzen und sehe zu.«
»Bist du sicher?«
Sie nickte, und er stand auf, zögerte noch einen Augenblick und rannte dann auf das Wasser zu.
Sie beobachtete ihn eine Weile, verlor ihn aber dann aus den Augen – es waren zu viele Leute im Wasser an diesem schönen Tag. Zuvor war es manchmal sehr windig gewesen, aber heute war es ruhig, man konnte im Sand liegen, ohne daß er einem in Augen und Ohren flog. Trotzdem war das Meer so unruhig. Sie würde das Wetter auf dieser Insel nie begreifen.
»Was machst du denn so allein hier?« fragte eine Stimme, die sie zusammenfahren ließ. Auch das noch!
»Hallo, Niko«, sagte sie so unbefangen wie möglich. »Ich hatte keine Lust zu schwimmen – Jonas ist allein ins Wasser gegangen. Und wo ist Simone?«
Er lachte und setzte sich neben sie – so dicht, daß er sie fast berührte, aber nur fast. »Auch ins Wasser gegangen.« Er sah sie von der Seite an und setzte leiser hinzu: »Ich finde es sehr schön, einmal mit dir allein zu sein.«
Sie rückte ein Stück von ihm ab, er beunruhigte sie auch so schon mehr, als ihr lieb war. »Laß das nicht Simone hören«, sagte sie.
»Ach, Simone«, seufzte er, doch mehr sagte er nicht.
Sie hatte schon manchmal gedacht, daß Niko und Simone ein merkwürdiges Paar waren – aber das waren Jonas und sie schließlich auch. Streng genommen waren sie ja gar kein Paar mehr, nur Jonas wußte das noch nicht.
Sie unterdrückte einen Seufzer. Sie mußte es ihm unbedingt sagen, bevor sie nach Berlin zurückkehrten. Denn wie es dort weitergehen würde, konnte sie sich schon denken. Der Alltag würde über sie hereinbrechen, ständig würde sie im Streß sein, keine Zeit mehr haben, tausend Dinge gleichzeitig erledigen müssen. Deshalb hatte sie sich ja gerade überlegt, es ihm im Urlaub zu sagen, obwohl das natürlich auch nicht klug gewesen war, wie ihr allmählich aufging. Ein solches Gespräch mußte letztlich beiden den Urlaub verderben. Ihr, weil sie Angst davor hatte und es deshalb ständig aufschob. Und ihm, weil er spürte, daß etwas nicht in Ordnung war und weil er schließlich sehr verletzt und unglücklich sein würde, wenn sie endlich sagte, was sie zu sagen hatte. Sie konnte von jetzt an eigentlich nichts mehr richtig machen. Sie hatte schon viel zu lange gewartet.
Verdammt, dachte sie wieder einmal, andere schaffen es doch auch, eine Beziehung zu beenden. Warum kann ich das nicht?
»Bist du traurig?« fragte Niko. »Du siehst aus, als möchtest du am liebsten weinen.«
Er sah sie schon wieder an, aber sie blickte weiter stur geradeaus. Bloß nicht in seine Augen sehen, bloß nicht zu sehr in seine Nähe kommen – das war mehr als gefährlich. Sie war wirklich in einer mißlichen Situation: Sie hatte sich noch nicht einmal mit Jonas ausgesprochen – aber sie war bereits auf dem besten Wege, sich in einen anderen Mann zu verlieben, der aber leider auch nicht frei war. Niko hatte eine höchst attraktive und besitzergreifende Freundin.
Und warum sieht er mich dann immer so an? fragte sie sich. Und warum kommt er mir so nahe, als wollte er mich am liebsten berühren? Aber sie wollte gar keine Antworten auf diese Fragen haben, denn das würde mit Sicherheit alles nur noch komplizierter machen, als es schon war.
»Der Urlaub ist fast zu Ende«, sagte sie und tat so, als sei seine Frage damit beantwortet.
»Ja, und dann sehen wir uns nicht mehr, du und ich«, erwiderte er.
Wenn er doch nur endlich aufhören würde, sie anzusehen. Und war er ihr nicht schon wieder ein wenig nähergerückt? Ach, wie sie sich nach seiner Berührung sehnte. Aber das ging ja alles nicht, zuerst mußte sie die Sache mit Jonas klären, und dann war da ja immer noch Simone…
»Wieso redest du immer so?« fragte sie abweisend. »Du bist mit Simone hier, vergiß das nicht. Da solltest du eigentlich nicht mit anderen Frauen flirten.«
»Ich flirte nicht«, widersprach er, sehr ernst dieses Mal. »Ich versuche nur, dir endlich zu sagen, wie schön und attraktiv und wunderbar ich dich finde und daß ich gern…«
»Hör auf!« sagte sie mit erstickter Stimme.
»Ist es wegen Jonas?« fragte er. »Ich weiß, ihr seid zusammen, aber ich habe euch beobachtet, und ich bin sicher, du liebst ihn nicht wirklich. Amelie, hör doch, wir sind vielleicht nie wieder allein – ich muß es dir jetzt endlich sagen.«
Sie sprang auf. »Aber ich will es nicht hören!« rief sie, und ihre Stimme klang nun fast verzweifelt. »Laß mich in Ruhe, Niko.«
Sie drehte sich um und rannte über den warmen hellen Sand auf das Wasser zu. Sie warf sich der ersten Welle entgegen, tauchte unter und wieder auf, ließ sich von der nächsten umwerfen und tobte so lange im Wasser herum, bis sie sich völlig verausgabt hatte. Sie war müde und erschöpft, als sie langsam zu den Dünen zurücklief, aber zumindest war ihr Kopf nun leer – alle trüben Gedanken hatte der wilde Atlantik aus ihr herausgespült.
Nasse Arme schlangen sich von hinten um sie, und Jonas rief begeistert: »War das nicht super? Solche Wellen wie heute hatten wir die ganze Zeit noch nicht, Amelie. Ich dachte mir schon, daß du es nicht lange aushältst und nachkommst ins Wasser. Ich wärme mich nur ein bißchen auf, dann gehe ich noch mal rein.«
Sie sagte nichts, suchte die Dünen ab, bis sie ihr Handtuch und ihren rosa Rucksack gefunden hatte. Ihr Herz machte einen kleinen Satz – enttäuscht und erleichtert zugleich. Niko war nicht mehr da.
*
»Du wirst dich doch nicht in Amelie verknallen?« fragte Simone Bernauer. Sie lag lässig ausgestreckt auf einem Liegestuhl in der weitläufigen Parkanlage des Hotels in Maspalomas, in dem Niko und sie abgestiegen waren. Auch Amelie und Jonas wohnten hier. Es war ein ganz neues Hotel, mit mehreren Swimmingpools und freiem Blick auf den Atlantik.
Simone war erst sechzehn, was man ihr aber nicht ansah, sie ging überall leicht für zwanzig durch. Sie war ausgesprochen attraktiv und wußte es auch. Außerdem war sie stets auf ihren Vorteil bedacht und bekam meistens, was sie wollte. Niko hatte einmal zu ihr gesagt, sie sei ein intrigantes Biest. Sie hatte nur gelacht und das als Kompliment aufgefaßt.
»Das geht dich nichts an, Simone«, antwortete Niko abweisend. »Außerdem finde ich, mußt du nicht gerade den winzigsten Bikini anziehen, wenn wir hier in der Hotelanlage sind. Alle starren dich an.«
»Na und? Ich gefalle den Männern eben, was ist schon dabei? Und am Strand rennen sie alle nackt herum, da wird ein kleiner Bikini ja wohl kein Problem sein.«
Er seufzte hörbar. Klar gefiel seine kleine Cousine den Männern – sie war blond und hatte, obwohl sie sehr schlank war, einen hübschen runden Busen, den sie durch ihre Kleidung stets betonte. Kein Wunder, daß ihre Eltern sie nicht allein mit einer Freundin in Urlaub hatten fahren lassen wollen.
Er fragte sich, warum er sich hatte überreden lassen, sozusagen als ihre Aufsichtsperson mit ihr nach Gran Canaria zu fliegen. Aber die Überredungskraft seines Onkels war beträchtlich, und Niko hatte schließlich nachgegeben. Er hatte nicht viel Geld, und auf diese Weise kam er zu einem kostenlosen Urlaub.
Allerdings hatte er sich zuvor nicht vorstellen können, daß ihm Simone dermaßen auf die Nerven gehen würde. Außerdem hatte er ihr leider in einem Anfall von Gutmütigkeit versprochen, niemandem zu erzählen, warum sie zusammen in Urlaub waren.
»Dann nimmt mich doch keiner mehr ernst, Niko, das kannst du mir nicht antun. Wenn jemand erfährt, daß du praktisch mein Babysitter bist – also, echt, das wäre das Letzte. Wir tun so, als wären wir ein Paar, okay? Dir kann es doch egal sein, und mir tätest du einen riesigen Gefallen. Versprich’s mir, bitte.«
Na ja, da hatte er es ihr versprochen, denn es stimmte ja: Ihm konnte es egal sein. War es auch gewesen, bis er Amelie Unger kennengelernt hatte. Amelie war auch blond und schlank, aber ein ganz anderer Typ als Simone, nicht nur äußerlich: Sie konnte sehr nachdenklich sein und dann wieder sehr lustig, sie las gerne und diskutierte leidenschaftlich über das Gelesene, sie interessierte sich für alles, was in der Welt vor sich ging – während Simone hauptsächlich damit beschäftigt war, ihre Wirkung auf Männer zu testen. Na ja, sie war erst sechzehn, und er selbst war mit sechzehn auch noch ziemlich unreif gewesen, soweit er sich daran erinnerte. Jetzt war er siebenundzwanzig, hatte große Reisen durch die ganze Welt gemacht und beschlossen, das auch in den nächsten Jahren noch zu tun. Es gab noch so viel zu entdecken.
»Also, was ist nun?« bohrte Simone weiter. »Bist du in Amelie verknallt oder nicht?«
»Ich habe doch schon gesagt, daß dich das nichts angeht«, knurrte er unwillig, ohne die Augen von seinem Buch zu heben. Konnte sie ihn nicht endlich in Ruhe lassen?
»Also ja«, stellte sie fest, ohne sich von seinem abweisenden Gesicht einschüchtern zu lassen. »Da wirst du aber Ärger mit Jonas kriegen. Und mit mir auch.«
Endlich sah er auf. »Und wieso mit dir, du vorlautes Gör?«
»Weil sie denken, daß wir ein Paar sind, du und ich«, erklärte sie gelassen. »Hast du gedacht, ich sehe tatenlos zu, wie eine andere Frau meinen Freund anmacht? Wenn ich da was merke, werde ich eine astreine Vorstellung als eifersüchtige Hexe geben.« Nun grinste sie ihn an, die Vorstellung gefiel ihr sichtlich.
»Mach bloß keinen Mist, Simon!« warnte er sie. ›Simon‹ hatte er sie früher manchmal im Scherz genannt, und gelegentlich tat er es noch heute.
Sie revanchierte sich sofort. »Wieso, Nikolaus?« Er war tatsächlich auf den Namen Nikolaus getauft worden, etwas, das er seinen Eltern bis heute nicht verzeihen konnte. »Wir haben eine Abmachung, vergiß das nicht. Du hast mir versprochen, daß wir beide…«