© Loewe Verlag GmbH, Bindlach 1991, 2017
© (Canada) 1939 by McClelland and Stewart Limited
© 1989 by Ruth Macdonald and John Gordon McClelland
Titel der Originalausgabe: : Anne of Ingleside
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dagmar Weischer
Coverillustration: Ulrike Heyne
eBook-Konvertierung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
E-Pub 2.0 ISBN 978-3-7320-0899-5
Printausgabe Hardcover ISBN 3-7855-2382-3
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Cover
Titel
1. Kapitel – Wie hell der…
2. Kapitel – „Was für ein…
3. Kapitel – Am nächsten Morgen…
4. Kapitel – „Kommt nicht in…
5. Kapitel – Anne schnitt im…
6. Kapitel – „Wieso um alles…
7. Kapitel – Mrs. Parker war…
8. Kapitel – Normalerweise freute sich…
9. Kapitel – Walter lag nun…
10. Kapitel – Steifbeinig kletterte Walter…
11. Kapitel – Bis Ende August…
12. Kapitel – Eines Morgens Ende…
13. Kapitel – Der Novemberschnee war…
14. Kapitel – Der Winter war…
15. Kapitel – Anne und Susan…
16. Kapitel – „Ich mußte einfach…
17. Kapitel – Die folgenden Nächte…
18. Kapitel – Das Glück war…
19. Kapitel – Seit der alte…
20. Kapitel – Gleich am nächsten…
21. Kapitel – Eines Abends waren…
22. Kapitel – Das Frühjahr begann…
23. Kapitel – „Sie haben sich…
24. Kapitel – Die Ingleside-Kinder…
25. Kapitel – Mittlerweile hatte Cocky…
26. Kapitel – In der letzten…
27. Kapitel – Die folgende Nacht…
28. Kapitel – Inzwischen durfte Anne…
29. Kapitel – Im Oktober weigerte…
30. Kapitel – Sobald es Frühling…
31. Kapitel – Nach dem Essen…
32. Kapitel – „Ich weiß was,…
33. Kapitel – „Aber warum willst…
34. Kapitel – „Wenn ich richtig…
35. Kapitel – Am Abend saß…
36. Kapitel – Rilla saß mit…
37. Kapitel – Die Ingleside-Kinder…
38. Kapitel – Nan bog zitternd…
39. Kapitel – „Darf ich dieses…
40. Kapitel – Diana war überglücklich:…
41. Kapitel – Der August ging…
42. Kapitel – Das erhoffte Baby…
43. Kapitel – „Na, hast du…
Weitere Titel von Lucy Maud Montgomery
Weitere Infos
Impressum
Wie hell der Mond heute abend scheint, dachte Anne Blythe, während sie durch den Garten zu Diana Wrights Haus hinaufmarschierte. Der salzige Wind wehte kleine Kirschblütenblätter von den Bäumen.
Sie blieb einen Augenblick stehen und ließ ihren Blick über die Hügel und Wälder gleiten, die ihr Zuhause gewesen waren und an denen sie heute noch genauso hing wie damals. Ihr geliebtes Avonlea! Seit Jahren lebte sie nun schon in Glen St. Mary, aber Avonlea hatte etwas, was Glen St. Mary niemals haben würde. An jeder Ecke begegnete ihr etwas Vertrautes. Sogar die Felder, die sie früher durchstreift hatte, hießen sie willkommen. Sie fühlte sich zurückversetzt in die glücklichen Jahre ihrer Kindheit; wo sie auch hinschaute, mit allem verband sie eine liebe Erinnerung, und in so manchem geheimen Garten blüten die Rosen immer noch genauso wunderbar wie damals. Anne kam immer wieder gern in ihre alte Heimat, auch wenn es wie diesmal einen traurigen Anlaß für ihren Besuch gab. Eine Woche war sie nun schon hier, aber Marilla und Mrs. Lynde wollten sie einfach nicht so schnell wieder abfahren lassen. Ihr altes Dachzimmer stand jederzeit für sie offen, und als sie jetzt dort eintrat, hatte sie das Gefühl, von ihm regelrecht empfangen zu werden. Ihr Blick fiel auf ihr geliebtes altes Bett mit Mrs. Lyndes selbstgestrickter Apfelblätterdecke und den tadellosen Kissen mit den selbstgehäkelten Spitzen, auf Manilas selbstgeflochtene Läufer, auf den Spiegel, aus dem ihr damals, vor langer, langer Zeit, das Gesicht des kleinen Waisenkindes entgegengeblickt hatte, das damals in seiner ersten Nacht auf Green Gables so unglücklich gewesen war. Anne vergaß für einen Augenblick, daß sie mittlerweile glückliche Mutter von fünf Kindern war – jetzt war sie wieder die Anne von Green Gables. Als Mrs. Lynde eintrat, um frische Handtücher zu bringen, schaute Anne immer noch verträumt in den Spiegel.
„Es ist so schön, daß du wieder zu Hause bist, Anne“, sagte Mrs. Lynde freundlich. „Neun Jahre ist es jetzt schon her, seit du weggezogen bist, aber Marilla und ich vermissen dich immer noch. Obwohl es nicht mehr ganz so einsam ist hier, seit Davy geheiratet hat. Millie ist so ein reizendes Ding! Aber es ist einfach nicht dasselbe, niemand ist so wie du!“ Sie legte den Stapel Wäsche neben den Waschtisch.
„Schon, aber der Spiegel hier kann mir nichts vormachen, Mrs. Lynde. Er sagt mir klar und deutlich: Du bist nicht mehr so jung wie früher“, sagte Anne wehmütig.
„Aber du hast dich gut gehalten“, gab Mrs. Lynde tröstend zurück. „Obwohl du nie besonders viel Farbe im Gesicht hattest.“
„Na ja, Hauptsache, es ist noch kein Doppelkinn in Sicht“, freute sich Anne, „und Hauptsache, mein altes Zimmer erkennt mich wieder. Es wäre schrecklich für mich, wenn ich eines Tages feststellen müßte, daß es mich vergessen hat. Und es ist so wunderbar, den Mond über dem Geisterwald aufgehen zu sehen, so wie früher.“ Sie lehnte sich aus dem Fenster.
„Ja, er sieht aus wie eine riesengroße Goldkugel“, stimmte Mrs. Lynde zu und hatte das ungute Gefühl, daß Anne mal wieder einen ihrer poetischen Anflüge bekam.
„Sehen Sie doch bloß, wie scharf sich die Tannenspitzen gegen den Mond abzeichnen… und die Birken im Tal, wie sie ihre Arme emporheben. Wie groß sie geworden sind! Sie waren noch ganz winzig damals, als ich hierherkam.“
„Ja, Bäume sind wie Kinder“, seufzte Mrs. Lynde. „Furchtbar, wie schnell die wachsen, sobald man sie aus den Augen läßt. Sieh dir bloß diesen Fred Wright an. Er ist mit seinen dreizehn Jahren fast schon so groß wie sein Vater. Übrigens gibt’s zum Essen warme Hühnchenpastete, und ich hab extra für dich Zitronenplätzchen gebacken. Und dein Bettzeug ist sogar doppelt und dreifach gelüftet! Erst hab ich es nämlich rausgehängt, dann Marilla, weil sie nicht wußte, daß ich es schon gemacht hatte, und schließlich Millie, die dachte, es hätte noch keiner getan.“ Mrs. Lynde schmunzelte. „Ich hoffe, Mary Maria Blythe kann morgen auf die Beerdigung gehen, wo sie doch so dafür schwärmt“, setzte sie nach einer Weile hinzu.
„Tante Mary Maria – so nennt Gilbert sie immer, obwohl sie bloß die Kusine seines Vaters ist; mich nennt sie Annie“, bemerkte Anne schaudernd. „Und das erste, was sie nach meiner Hochzeit zu mir sagte, war: ‚Komisch, daß Gilbert ausgerechnet dich genommen hat, wo er so viele nette Mädchen hätte haben können.‘ Puh! Vielleicht hab ich sie aus diesem Grund nie leiden können; und ich weiß, daß Gilbert sie genausowenig mag, nur gibt er es nicht zu, weil sie mit ihm verwandt ist.“ Sie zog die Stirn kraus.
„Bleibt Gilbert auch noch eine Weile?“ fragte Mrs. Lynde.
„Nein, er fährt morgen schon zurück. Er muß nach einem Patienten sehen, dem es sehr schlechtgeht.“
„Na ja, wahrscheinlich hält ihn auch nicht viel in Avonlea, seit seine Mutter letztes Jahr gestorben ist. Und der alte Mr. Blythe wollte wohl mit seinem Tod auch nicht länger warten. Wofür hätte er auch noch leben sollen. Das ist typisch für die Blythes, sie hängen sich viel zu sehr an irdische Dinge“, überlegte Mrs. Lynde. „Es ist schon traurig, daß es jetzt in Avonlea keinen mehr von ihrer Sippe gibt; die waren schon in Ordnung. Dafür gibt’s noch jede Menge Sloanes. Die Sloanes sind immer noch die alten, Anne, und werden es wohl auch bleiben, bis in alle Ewigkeit, Amen.“ Sie ging zur Tür.
„Mir ist es ziemlich egal, wie viele Sloanes es noch gibt“, lachte Anne. „Ich werde jedenfalls nach dem Essen mit Diana einen Mondspaziergang durch den alten Obstgarten unternehmen und dann schlafen. Ich will morgen ganz früh wach sein und die Morgendämmerung über dem Geisterwald genießen – wenn der Himmel sich rötlich färbt und die Rotkehlchen singen.“
„Aber die Kaninchen haben dieses Jahr die ganzen Lilien aufgefressen“, bemerkte Mrs. Lynde, während sie langsam die Treppe hinunterstieg und insgeheim den Kopf über Annes romantische Ader schüttelte. Anne war in der Beziehung immer schon sonderbar gewesen, und die Hoffnung, daß sich das jemals ändern würde, konnte man wohl begraben.
Diana kam Anne schon auf dem Weg entgegen. Selbst im Mondschein konnte Anne erkennen, daß ihr Haar immer noch schwarz war und ihre Augen immer noch so strahlten wie früher. Es war allerdings auch nicht zu übersehen, daß sie zugenommen hatte, aber schließlich hatte sie noch nie als besonders mager gegolten. Beide begrüßten sich herzlich.
„Keine Sorge, Diana, ich will nicht lange…“, begann Anne.
„Nein, nein, das ist es nicht“, fiel Diana Anne ins Wort. „Du weißt genau, daß ich den Abend viel lieber mit dir verbringen würde, als zu diesem Empfang zu gehen. Ich hab dich bisher ja kaum gesehen, und übermorgen fährst du schon wieder ab. Aber Freds Bruder, weißt du … wir müssen einfach hin.“
„Ja, ich weiß“, winkte Anne ab. „Ich komme ja auch nur auf einen Sprung vorbei. Ich hab unseren alten Weg genommen: durch den Geisterwald, an deinem alten, schattigen Garten entlang und weiter zum Nymphenteich. Da bin ich stehengeblieben und hab mir das Spiegelbild der Weiden verkehrt herum angesehen, genau wie früher. Wie die gewachsen sind inzwischen!“ Sie setzten sich auf eine Böschung am Wegesrand.
„Ja, so wie alles andere“, seufzte Diana. „Ich brauche mir bloß den kleinen Fred anzusehen. Wir alle haben uns verändert, nur du nicht. Du änderst dich nie, Anne. Wie stellst du es bloß an, daß du so schlank bleibst? Schau mich an!“ Ärgerlich deutete sie auf ihren Bauch, und beide mußten lachen.
„Na ja, ein bißchen mütterlich siehst du schon aus“, gab Anne scherzhaft zu. „Aber so dick wie die meisten anderen in unserem Alter bist du doch auch nicht. Und was mich angeht, da sind die Leute auch geteilter Meinung. Auf der Beerdigung sagte Mrs. Donnell zu mir, ich sähe nicht einen Tag älter aus als früher. Dagegen meinte Mrs. Andrews: ‚Du lieber Himmel, Anne, du hast aber nachgelassen!‘ Es ist eben Ansichtssache. Mir fällt erst dann auf, daß ich älter werde, wenn ich die Fotos in den Zeitschriften vor mir sehe. Aber komm, ist doch egal, Diana, morgen sind wir beide einfach wieder junge Mädchen. Ich wollte dir nämlich vorschlagen, daß wir uns morgen nachmittag absetzen und wieder einmal alle unsere alten Verstecke aufsuchen. Wir könnten zum Beispiel über die Felder und durch die alten Farnwälder gehen. Im Frühling ist nichts unmöglich, weißt du. Wir werden einfach eine Zeitlang vergessen, daß wir Mütter sind und Verantwortung tragen und das alles, und statt dessen quietschfidel und ausgelassen sein. Es macht einfach keinen Spaß, immer nur vernünftig zu sein!“ Sie stieß ihre alte Freundin aufmunternd in die Seite.
„Also, du bist wirklich ganz die alte, Anne!“kicherte die, „Und ich würde riesig gern mitmachen. Aber…“, sie zögerte.
„Kein Aber“, befahl Anne. „Ich weiß schon, was du denkst: ‚Wer soll dann den Männern das Essen kochen‘ – das zählt nicht!“
„Na ja, so ungefähr. Aber eigentlich kann ja auch Anne-Cordelia das Essen machen. Sie kann mit ihren elf Jahren schon genauso gut kochen wie ich“, sagte Diana stolz. „Und sie sollte morgen sowieso einspringen, weil ich auf die Frauenversammlung gehen wollte. Also abgemacht, ich komme mit dir. Das wird traumhaft! Das Essen können wir morgen ja mitnehmen…“
„Ja, laß uns in Hester Grays Garten picknicken – falls es den noch gibt“, schlug Anne begeistert vor.
„Ich denke schon“ überlegte Diana. „Obwohl ich seit meiner Heirat nicht mehr dort gewesen bin. Anne-Cordelia macht zwar oft lange Spaziergänge, aber ich ermahne sie immer, in der Nähe zu bleiben. Einmal habe ich sie im Garten erwischt, wie sie Selbstgespräche führte. Als ich sie darauf ansprach, behauptete sie, sie unterhielte sich mit den Blumen. Erinnerst du dich an das Puppengeschirr mit den Röschen, das du ihr zum neunten Geburtstag geschickt hast? Es ist noch ganz heil, sie geht besonders vorsichtig damit um. Und sie benützt es nur, wenn die ‚Drei Grünen‘ zu ihr zum Tee kommen. Wer das sein soll, will sie mir absolut nicht verraten. Anne, ich finde wirklich, daß sie dir in mancher Hinsicht ähnlicher ist als mir.“
„Vielleicht haben Namen doch mehr zu sagen, als man denkt“, meinte Anne. „Aber du solltest ihr die Phantasievorstellungen lassen, Diana. Mir tun Kinder immer leid, die nie spielen dürfen, wie sie wollen.“ Sie riß einen Grashalm aus und begann, traumverloren darauf herumzukauen.
„Olivia Sloane ist da ganz anderer Meinung“, sagte Diana ernst. „Sie ist zur Zeit Lehrerin an unserer Schule, weißt du. Und sie sagt, Kinder sollten mehr mit der Realität vertraut gemacht werden.“ Man sah Diana an, daß sie an dieser Erziehungsmethode zweifelte.
„Du wirst doch nicht im Ernst auf das hören, was eine Sloane behauptet, liebste Diana?“ fragte Anne auch gleich erstaunt.
„Nein… nein!“ wehrte ihre Freundin ab. „Ich kann sie überhaupt nicht leiden. Die mit ihren blauen Kugelaugen, genau wie der ganze Clan. Und ich mache mir auch keine ernsthaften Gedanken über Anne-Cordelias Hirngespinste. Sie sind ganz nett, genauso wie deine früher. Die Realität wird sie noch früh genug kennenlernen.“
„Also, dann ist ja alles in Ordnung“, lachte Anne und stand auf. „Komm so gegen zwei zu uns rüber, dann werden wir uns erst mal Manilas selbstgebrauten Johannisbeerwein zu Gemüte führen.“
„Weißt du noch, wie du mich mal damit betrunken gemacht hast?“ kicherte Diana und klopfte ihr Kleid ab.
„Ja. Wir werden so richtig in Erinnerungen schwelgen morgen. So, aber jetzt halte ich dich nicht länger auf, da kommt auch Fred gerade angefahren.“ Anne deutete auf die Straße.
„Gut, wir sehen uns dann morgen, Anne.“ Diana küßte sie rasch und lief auf ihren Mann zu.
Auf dem Rückweg zum Haus blieb Anne an ‚Dryads Blubberbach‘ stehen. Sie liebte diesen Bach über alles. Sein Glucksen war wie das helle Kinderlachen von früher. All ihre Kinderträume… sie konnte sie in dem klaren, gurgelnden Wasser wieder genau vor sich sehen… der Bach kannte all ihre Geheimnisse. Und im Geisterwald lauschten wie vor Jahren schon die weisen alten Fichten.
„Was für ein herrlicher Tag, wie für uns geschaffen“, sagte Diana am nächsten Nachmittag, als sie Anne abholte.
„Ja, heute wollen wir Freundinnen sein wie früher, auch wenn wir uns morgen schon wieder trennen müssen“, rief Anne. „Sieh mal, das grüngoldene Licht auf den Hügeln und den blauen Dunst in den Tälern! Alles ist heute nur für uns da, Diana. Und bei Westwind bin ich immer besonders abenteuerlustig. Das wird ein aufregender Streifzug!“
Und sie sollte recht behalten. Anne und Diana suchten all ihre alten Lieblingsplätze auf: die Liebeslaube, den Geisterwald, das Veilchental, den Birkenpfad und den Nymphenteich. Manches hatte sich verändert. Aus den Birkenschößlingen waren hohe Bäume geworden; der Birkenpfad war mit Farn überwuchert, und der Nymphenteich war versiegt und hatte nur eine feuchte, moosbewachsene Mulde hinterlassen. Das Veilchental dagegen war immer noch mit violetten Veilchen übersät, und der Apfelbaumkeimling, den Gilbert einmal weit draußen mitten im Gehölz gefunden hatte, war zu einem riesigen Baum mit winzigen Blütenknospen herangewachsen. Aber alles erinnerte sie an ihre Kindheit. Annes Haar schimmerte in der Sonne immer noch genauso mahagonifarben und Dianas genauso pechschwarz wie früher. Ihre Freundschaft war immer noch so fest und eng wie damals. Hin und wieder gingen sie einfach schweigend nebeneinander her, denn bei so guten Freundinnen waren Worte nicht immer nötig. Wenn sie aber sprachen, schwelgten sie in Erinnerungen: „Weißt du noch, wie wir uns über Tante Josephine lustig gemacht haben?“ „Weißt du noch, wie wir uns mit Kerzenlicht im Fenster gegenseitig verständigt haben?“ „Weißt du noch, was für einen Spaß wir auf Miss Lavendars Hochzeit hatten, und kannst du dich noch an Charlottas blaugeränderte Brille erinnern?“ Ihr Lachen von damals, es war ihnen so nah, daß sie es fast hören konnten.
„Ich komme mir vor wie fünfzehn“, kicherte Anne mittendrin. „Es ist alles so hell, und ich fühle mich so leicht, als könnte ich fliegen.“
„Mir geht es ganz genauso“, sagte Diana und vergaß, daß die Waage am Morgen noch hundertfünfundfünfzig Pfund angezeigt hatte. Aufatmend blieben sie auf einer kleinen Lichtung stehen.
Alles um sie herum war wunderschön. Die Frühlingssonne sandte ihre Strahlen durch die jungen grünen Blätter, und von allen Seiten ertönte fröhliches Vogelgezwitscher. Es gab so viel zu entdecken: Einen kleinen Weg, der von wilden Kirschblüten verhangen war; ein brachliegendes Feld, das übersät war mit winzigen Fichtentrieben, die wie kleine Kobolde aus dem Gras hervorspitzten; lustig gurgelnde Bäche, Siebenstern, der versteckt unter den Tannen wuchs. Und schließlich fanden sie tatsächlich Hester Grays Garten. Er hatte sich nicht sehr verändert und stand wie früher voller Narzissen. Nur die Kirschbäume waren älter geworden, standen aber immer noch in dichter weißer Blüte. Sie suchten sich ein paar moosbewachsene Steine aus, auf denen sie ihren Picknickkorb ausbreiteten. Anne und Diana waren nach ihrem langen Marsch hungrig und langten tüchtig zu.
„An der frischen Luft schmeckt alles gleich noch mal so gut“, seufzte Diana beglückt. „Dein Schokoladenkuchen, Anne – einfach unschlagbar. Du mußt mir unbedingt das Rezept geben. Fred wird begeistert sein. Der kann essen, was er will, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Und ich schwöre mir immer, keinen Kuchen mehr anzurühren, weil ich von Jahr zu Jahr dicker werde. Mir graut davor, so zu werden wie Großtante Sarah. Die war schließlich so fett, daß sie nicht mehr ohne Hilfe aus dem Sessel aufstehen konnte. Aber wenn ich dann einen Kuchen wie diesen hier vor mir stehen sehe oder den gestern abend auf dem Empfang… also, es wäre ja eine Beleidigung, wenn ich da nicht zugreifen würde.“ Sie biß ein großes Stück Kuchen ab.
„Hat es dir gefallen gestern?“ fragte Anne.
„Ja, einerseits schon. Bis ich Freds Kusine Henrietta in die Klauen geriet. Für die gibt es nichts Schöneres, als sich über ihre Operationen und über die neuesten Sensationen auszulassen. Aber Jim war lustig – na gut, ein winziges Stück noch –, er erzählte zum Beispiel, ihn hätte in der Nacht vor seiner Hochzeit eine solche Panik ergriffen, daß er am liebsten abgehauen wäre. Er meint, das ginge allen zukünftigen Ehemännern so, nur daß sie es nicht zugeben. Aber bei Gilbert und Fred war das doch sicher nicht so, was meinst du?“
„Nein, sicher nicht.“ Anne wischte die Krümel von ihrem Schoß.
„Ich hab Fred gefragt“, gab Diana zu, „und er sagte, er hätte bloß befürchtet, ich könnte im letzten Moment noch nein sagen, so wie Rose Spencer. Aber man weiß nie, was im Kopf eines Mannes so vor sich geht. Also, das war wirklich ein herrlicher Nachmittag heute! Schade, daß du morgen schon abfahren mußt, Anne.“
„Hast du nicht Lust, mich diesen Sommer mal in Ingleside zu besuchen, Diana? Vorher – also, ich glaube, vorher wird mir nicht nach Besuch zumute sein.“ Anne zog die Stirn kraus.
„Doch, ich würde furchtbar gerne kommen. Aber im Sommer kann ich wohl kaum von zu Hause weg, da gibt es immer so viel zu tun.“
„Rebecca Dew kommt auch endlich mal, darüber freue ich mich sehr“, erzählte Anne. „Von Tante Mary Marias angekündigtem Besuch bin ich dafür um so weniger begeistert. Aber da sie Gilberts Verwandte ist, muß er ihr wohl oder übel die Tür offenhalten.“
„Vielleicht komme ich im Winter“, meinte Diana. „Ich würde Ingleside gerne wiedersehen. Du hast wirklich ein hübsches Haus, Anne, und so eine nette Familie.“
„Ja, Ingleside ist wirklich schön, jetzt gefällt es mir auch“, stimmte Anne zu. „Am Anfang dachte ich, ich könnte mich nie an dieses Haus gewöhnen. Ich haßte es richtig, als ich es zum erstenmal sah. Ich haßte es damals wegen seiner Vorzüge gegenüber meinem geliebten Traumhaus, es war wie eine Beleidigung. Ich weiß noch, wie ich zu Gilbert sagte: ‚Wir sind in unserem Traumhaus so glücklich gewesen. Woanders werden wir nie so glücklich sein.‘ Und dann kämpfte ich eine Zeitlang mit dem Heimweh. Bis ich bemerkte, daß ich anfing, Ingleside zu mögen. Es gefiel mir mit jedem Jahr besser. Heute liebe ich jedes Zimmer, jedes hat seine Nachteile, aber auch seine Vorzüge – etwas, was es von all den andern unterscheidet und ihm Persönlichkeit verleiht. Und ich liebe diese wunderbaren Bäume vor dem Haus. Ich weiß nicht, wer sie gepflanzt hat, aber immer, wenn ich nach oben gehe, bleibe ich am Treppenabsatz stehen … du weißt schon, an dem komischen Fenster mit dem tiefen Sessel davor; dann setze ich mich hin und schaue einen Augenblick hinaus. Eigentlich stehen viel zu viele Bäume im Garten, aber ich könnte mich von keinem einzigen trennen.“
„Genau wie Fred“, stimmte Diana zu. „Die große Weide vor dem Haus ist sein ein und alles, obwohl ich ihm schon so oft gesagt habe, daß sie die ganze Sicht aus dem Wohnzimmerfenster nimmt. Aber die Weide bleibt, wo sie ist. Schön ist sie ja, und nach ihr haben wir schließlich unser Haus ‚Weidenhof‘ getauft. ‚Ingleside‘ gefällt mir auch. Es klingt so gemütlich, so richtig nach Kaminfeuer“
„Ja, das findet Gilbert auch. Wir haben ganz schön lange gebraucht, um einen geeigneten Namen zu finden. Ich bin froh, daß wir so ein hübsches, geräumiges Haus haben, denn jetzt brauchen wir den Platz wirklich. Die Kinder fühlen sich auch wohl darin, obwohl sie noch so klein sind.“
„Deine Kinder sind wirklich süß“, bemerkte Diana und schnitt sich heimlich noch ein Eckchen von dem Schokoladenkuchen ab. „Meine sind natürlich auch nett, aber deine haben irgendwie was ganz Besonderes, und deine Zwillinge erst! Ich hätte gern Zwillinge gehabt.“
Anne lachte. „Komisch, daß sich meine Zwillinge kein bißchen ähnlich sehen. Dabei sieht Nan so hübsch aus mit ihrem braunen Haar, ihren braunen Augen und ihrer zarten Haut. Di ist der Liebling ihres Vaters, weil sie grüne Augen und rotes Haar hat, noch dazu mit einem Wirbel. Shirley dagegen ist Susans Augapfel. Nach seiner Geburt war ich lange Zeit krank, so daß sie sich die meiste Zeit um ihn kümmern mußte. Mit dem Erfolg, daß sie ihn wie ihren eigenen Sohn behandelt. Sie verwöhnt ihn fürchterlich.“ Anne goß sich noch einen Becher Kaffee ein.
„Und er ist noch so klein, daß er sich vor dem Schlafen von dir zudecken läßt“, sagte Diana neidisch. „Jack ist jetzt neun und will davon nichts mehr wissen. Er sagt, aus dem Alter wäre er raus. Dabei hab ich das immer so gerne gemacht! Ach, ich finde, Kinder wachsen viel zu schnell!“ Sie seufzte.
Anne nahm Dianas Hand, und so saßen sie eine Weile glücklich beieinander, ohne etwas zu sagen. Allmählich legten sich die langen, stillen Schatten des Abends auf das Gras, die Sonne ging unter. und die Dämmerung breitete sich über Hester Grays Garten aus. Das Zwitschern der Rotkehlchen klang wie Flötenspiel. Über den blütenweißen Kirschbäumen tauchte plötzlich ein Stern auf.
„Der erste Stern ist immer wie ein Wunder“, sagte Anne.
„Ich könnte ewig so sitzen“, entgegnete Diana. „Ich mag gar nicht von hier weggehen.“
„Mir geht es genauso, aber schließlich haben wir nur so getan, als wären wir noch mal fünfzehn“, meinte Anne energisch und raffte sich auf. „Wir dürfen nicht vergessen, daß wir eine Familie haben. Wie himmlisch der Flieder duftet! Ist dir schon mal aufgefallen, Diana, daß der Duft des Flieders etwas Betörendes hat? Gilbert lacht darüber, wenn ich das sage.“
„Ich finde, er riecht zu stark für die Wohnung“, bemerkte Diana. Sie hob gerade den Teller mit den Resten des Schokoladenkuchens auf, warf einen sehnsüchtigen Blick darauf, schüttelte den Kopf und verstaute ihn dann mit tugendhafter Miene im Picknickkorb.
Anne reckte sich und gähnte.
„Stell dir mal vor, Diana, wie das wohl wäre, wenn wir auf dem Rückweg plötzlich unserem Ebenbild begegnen würden, so, wie wir früher waren?“ meinte sie dann.
Diana schauderte bei dem Gedanken.
„Ich glaube nicht, daß ich das lustig fände, Anne. Ich hab nämlich gar nicht bemerkt, wie dunkel es schon ist. Solange es hell ist, bin ich bereit, mir alles Mögliche vorzustellen, aber im Dunkeln…“
Schweigend machten sie sich auf den Rückweg, während am Horizont der glühende Schein des Sonnenuntergangs langsam hinter den Hügeln verschwand.
Am nächsten Morgen besuchte Anne noch Matthews Grab und schmückte es mit frischen Blumen. Am Nachmittag nahm sie dann den Zug nach Hause. Während der Fahrt sehnte sie sich eine geraume Zeit zurück nach Green Gables, bis sie allmählich anfing, sich auf das zu freuen, was vor ihr lag: ihr Zuhause. Es war ein so fröhliches Haus, daß jeder, der über seine Schwelle trat, sich sofort darin wohl fühlte. Den ganzen Tag hörte man Lachen, Geschirrklappern, das Weinen und Plappern der Babys – dieser herrlichen kleinen Geschöpfe mit Lockenkopf und knuddeligen Beinchen; es war ein Zuhause, in dem immer kleine Feste gefeiert und kleine Geheimnisse ausgetauscht wurden.
Anne zog noch einmal den Brief hervor, den ihr kleiner Sohn geschrieben hatte. Sie hatte herzlich darüber lachen müssen, als sie ihn am Abend zuvor den Leuten auf Green Gables vorlas: Es war der erste Brief, den sie überhaupt von einem ihrer Kinder bekommen hatte, und für einen siebenjährigen Jungen in der ersten Klasse war es schon ein ganz hübscher Brief, auch wenn natürlich nicht alles richtig geschrieben war und sich in einer Ecke ein dicker Tintenklecks befand.
„Di hat die ganze Nacht geweint, weil Tommy Drew ihre Puppe anzünden wollte. Susan erzählt uns so schöne Gutenachtgeschichten, aber sie ist einfach nicht so wie du, Mami …“
‚Wie ist es bloß möglich, daß ich eine Woche lang ohne die Kinder glücklich sein konnte?‘ dachte Anne voller Selbstvorwürfe. Sie sah ungeduldig auf ihre Uhr.
„Schön, daß du mich abholst!“ rief sie, als sie in Glen St. Mary aus dem Zug stieg und Gilbert sie in die Arme schloß. Sie konnte nie sicher sein, ob er am Bahnhof sein würde, denn wie oft wurde er zu einer Geburt gerufen oder zu einem Sterbefall. Um so schöner war es, wenn er tatsächlich einmal unerwartet Zeit hatte. Zusammen trugen sie das Gepäck zum Wagen.
Die Veranda vor ihrem Haus war mit lustigen japanischen Lampions geschmückt, die ganz Ingleside erleuchteten. Anne eilte erwartungsvoll den Gartenweg hinauf, und kaum war sie an der Haustür angelangt, wurde sie von allen freudig begrüßt und bestürmt. Jedes der Kinder hatte ihr einen Blumenstrauß gepflückt, sogar Shirley mit seinen zwei Jahren.
„Was Für ein netter Empfang! Ihr seht alle gut aus“, freute sich Anne und verteilte Küsse.
„Wenn du das nächstemal von zu Hause fortgehst, Mami“, verkündete Jem mit ernster Miene, „dann krieg ich Appensitis.“
„Wie willst du das denn anstellen?“ fragte Walter interessiert.
„Psst!“ Jem stupste Walter heimlich in die Seite und flüsterte ihm zu: „Ich will sie doch bloß erschrecken, damit sie nicht mehr weggeht.“
Anne war ganz aus dem Häuschen: Sie umarmte einen nach dem anderen, lief in die Dämmerung hinaus und sah nach ihrem Garten und lauschte dabei all den Neuigkeiten, die ihre Kleinen zu berichten hatten: Wie Papa alle Löwenzähne aus dem Garten gerupft hatte, wie Shirley sich im Stall unter einem Pferd versteckt hatte, wie Jem nicht aufpaßte und sich ohne Hose auf einen Fliegenfänger setzte-und wie Krabbe in die Regentonne fiel. „Er wäre fast ertrunken“, bekräftigte Susan. „Zum Glück hat ihn der Herr Doktor miauen hören und ihn noch rechtzeitig an den Hinterbeinen herausgezogen.“
„Aber jetzt scheint es ihm wieder gutzugehen“, sagte Anne und meinte damit den glänzenden schwarzweißen Kater, der auf einem Kaminsessel lag und sich behaglich schnurrend von ihr streicheln ließ. Bevor man sich irgendwo im Haus niederließ, war es angebracht, immer erst nachzusehen, ob der Platz nicht schon von einer Katze besetzt war. Was Krabbe betraf, hatte Gilbert ihm diesen Namen vor einem Jahr gegeben, als Nan ihn eines Tages als armseliges, ausgehungertes Kätzchen mitgebracht hatte. Es war dann bei diesem Namen geblieben, obwohl er später eigentlich nicht mehr so recht paßte.
„Aber Susan! Wo sind denn bloß Gog und Magog? Sie sind doch nicht etwa in die Brüche gegangen?“ rief Anne plötzlich überrascht.
„Nein, nein“, rief Susan und hastete aus dem Zimmer. Kurz darauf erschien sie wieder mit den beiden Porzellanhunden, die schon immer ihren Platz neben dem Kamin von Ingleside hatten. „Wie konnte ich bloß vergessen, sie vor Ihrer Ankunft wieder zurückzustellen. Wissen Sie, während Sie weg waren, kam Mrs. Charles Day von Charlottetown zu Besuch. Sie ist furchtbar pedantisch und neigt dazu, alles wörtlich zu nehmen. Walter meinte, für Unterhaltung sorgen zu müssen, und stellte ihr die beiden Hunde vor: ‚Das hier ist Gott und das da ist Mein Gott‘, sagte er doch tatsächlich. Das arme, unschuldige Kind! Ich war entsetzt und wagte nicht, Mrs. Day ins Gesicht zu sehen. Ich entschuldigte mich, so gut es ging, damit sie nicht auf die Idee käme, uns für eine gotteslästerliche Familie zu halten. Und ich beschloß, die Hunde vorsichtshalber außer Sichtweite zu verstauen, bis Sie wieder zu Hause sind.“ Anne mußte lachen über diese Geschichte – typisch Walter!
„Mama, können wir nicht bald zu Abend essen?“ fragte Jem ungeduldig neben ihr. „Ich hab furchtbares Magenknurren. Mama, stell dir vor, jeder kriegt heute seine Lieblingsspeise.“ Er hüpfte von einem Bein aufs andere.
„Wir wollten Ihre Rückkehr so richtig feiern“, bestätigte Susan. „Wo ist Walter bloß? Er ist diese Woche dran mit Gongschlagen.“ Sie steckte den Kopf zur Tür hinaus und rief nach ihm.
Das Abendessen wurde das reinste Festmahl. Und was für eine Freude, die Kleinen hinterher ins Bett zu bringen! Susan gestattete Anne sogar ausnahmsweise, Shirley eigenhändig zuzudecken.
„Das ist schließlich kein gewöhnlicher Tag, liebe Frau Doktor“, erklärte sie mit feierlicher Miene.
„Ach, Susan, ich finde, gewöhnliche Tage gibt es gar nicht. Jeder Tag bringt etwas ganz Besonderes. Hast du das noch nie bemerkt?“ sagte Anne und stopfte die Zipfel von Shirleys Bettdecke fest.
„Ja, Sie haben recht“ stimmte Susan zu. „Ich brauche bloß an letzten Freitag zu denken. Es war ein verregneter, langweiliger Tag. Und siehe da, meine große rosa Geranie bekam plötzlich Knospen, nachdem sie drei Jahre lang nicht hatte blühen wollen. Übrigens – ich muß Ihnen etwas sagen: Walter hat einen gewissen Verdacht. Bestimmt hat er bei den Kindern in Glen was aufgeschnappt. Die Kinder wissen heutzutage viel zuviel über Sachen, die sie noch nichts angehen. Neulich sagte Walter also sehr nachdenklich zu mir: ‚Susan, sind Babys eigentlich sehr teuer?‘ Ich war sprachlos, liebe Frau Doktor, aber ich behielt einen klaren Kopf. ‚Manche Leute halten Babys Für Luxus‘, sagte ich nur. ‚Aber für uns hier in Ingleside sind sie unentbehrlich.‘ Insgeheim machte ich mir Vorwürfe, daß ich mich so lautstark über die unverschämten Preise in den Geschäften von Glen beklagt hatte. Ich muß das arme Kind ganz schön beunruhigt haben. Falls er irgend etwas davon zu Ihnen sagt, sind Sie jedenfalls vorgewarnt.“ Sie machte leise die Tür zum Kinderzimmer zu.
„Ich glaube, du hast die Situation gut gemeistert, Susan“, sagte Anne ernst. „Und ich denke, es ist sowieso an der Zeit, allen zu sagen, daß etwas unterwegs ist.“ Susan nickte und ging in die Küche.
Anne trat ans Fenster und schaute aufs Meer hinaus. Sie sah zu, wie langsam der Nebel heraufkroch, erst über die mondbeschienenen Dünen und den Hafen und dann bis in das langgezogene Tal unterhalb von Ingleside, in dem das Dorf Glen St. Mary wie in einem Nest lag.
„Wie schön, nach einem schweren Tag heimzukommen und dich bei mir zu haben“, sagte Gilbert und nahm sie in die Arme. „Bist du glücklich, meine Allerliebste?“
„Glücklich!“ Anne beugte sich nieder und sog den Duft der Apfelblüten ein, die Jem ihr auf den Tisch gestellt hatte. Sie fühlte sich geradezu umhüllt von Liebe. „Gilbert, es war so schön, eine Woche lang wieder die Anne von Green Gables zu sein, aber es ist hundertmal schöner, wieder bei dir zu sein, als die Anne von Ingleside.“
„Kommt nicht in Frage“, sagte Gilbert in strengem Ton.
Jem wußte, daß er sich keine weiteren Hoffnungen zu machen brauchte. Auch von seiner Mutter kam kein Zeichen, sich für ihn einzusetzen. In diesem Punkt hielten Mama und Papa fest zusammen, da gab es keinen Zweifel. Jems Blicke verdüsterten sich vor Zorn und Enttäuschung über seine grausamen Eltern. Wie konnten sie nur so unbeeindruckt dasitzen und einfach weiteressen und so tun, als wäre nichts! Jem starrte sie fassungslos an. Nur Tante Mary Maria bemerkte das natürlich, es gab ja nichts, was Tante Mary Maria nicht bemerkte, aber sie schien sich darüber eher zu amüsieren.
Am Nachmittag war Bertie Shakespeare Drew dagewesen, um mit Jem zu spielen. Walter hatte währenddessen seine Freunde Kenneth und Persis Ford in ihrem alten ‚Traumhaus‘ besucht. Bertie Shakespeare hatte nun Jem erzählt, daß die Jungen von ganz Glen sich am Abend unten am Hafen treffen wollten, um Captain Bill Taylor beim Tätowieren zuzusehen: sein Cousin Joe Drew sollte eine Schlange in den Arm geritzt bekommen. Er – Bertie – würde auf jeden Fall hingehen, und ob Jem mitkäme? Das würde bestimmt ein Riesenspaß. Jem war sofort Feuer und Flamme gewesen, und jetzt diese Abfuhr!
„Erstens“, erklärte Papa, „ist der Weg zum Hafen für dich viel zu weit, und zweitens gehen die anderen mit Sicherheit erst spät nach Hause. Deine Bettgehzeit ist aber um acht, mein Sohn.“
„Ich mußte als Kind sogar schon um sieben ins Bett“, warf Tante Mary Maria dazwischen und nahm sich noch einen Löffel Gemüse.
„Wenn du älter bist, Jem, dann kannst du abends länger weggehen“, bekräftigte Anne und lächelte ihren ältesten Sohn an.
„Das hast du mir letzte Woche schon erzählt“, heulte Jem nun entrüstet, „und jetzt bin ich älter. Ihr meint immer, ich wäre noch ein Baby! Bertie darf schließlich auch gehen, und ich bin genauso alt wie er!“
„Die Masern gehen um“, verkündete Tante Mary Maria düster. „Du steckst dich bloß an, James.“
Jem konnte es nicht ausstehen, wenn sie ihn ‚James‘ nannte. „Ich will aber die Masern kriegen“, knurrte er aufmüpfig, verstummte aber sogleich unter Papas Blicken. Dieser duldete es nicht, wenn man Tante Mary Maria freche Antworten gab. Jem haßte Tante Mary Maria von Herzen! Tante Diana und Tante Marilla waren die liebsten Tanten auf der Welt, aber diese Tante Mary Maria paßte absolut nicht in seine Vorstellung von einer Tante.
„Also gut“, verkündete Jem trotzig mit Blick auf seine Mutter, damit niemand auf die Idee käme, er könne Tante Mary Maria meinen, „du mußt selbst wissen, ob du mich magst oder nicht. Aber was würdest du wohl sagen, wenn ich fortginge nach Afrika, um Tiger zu jagen?“ Er sah seine Mutter erwartungsvoll an.
„In Afrika gibt es keine Tiger, mein Schatz“, belehrte sie ihn in mildem Ton.
„Dann eben Löwen!“ rief Jem empört. Daß die aber auch alles besser wissen mußten! Oder wollten sie sich etwa über ihn lustig machen? Na wartet, ihr! „Daß es Löwen gibt in Afrika, könnt ihr wohl nicht abstreiten! Millionen von Löwen gibt’s da. Afrika wimmelt nur so von Löwen!“ stieß er hervor.
Mutter und Vater ließen sich nur zu einem Lächeln herab, sehr zu Tante Mary Marias Mißfallen. Wenn Kinder unverschämt wurden, kannte sie keine Gnade.
„Hier kommt dein Pfefferkuchen mit Schlagsahne“, unterbrach Susan, hin- und hergerissen zwischen ihrem Mitgefühl für Klein-Jem und der Überzeugung, daß Herr und Frau Doktor ganz recht hatten, wenn sie ihm verboten, mit dieser Dorfbande zu dem verrufenen und ewig betrunkenen Captain Bill Taylor zum Hafen unten zu gehen.
Pfefferkuchen mit Schlagsahne war Jems Lieblingsnachspeise. Heute abend jedoch konnte selbst die seine stürmische Seele nicht besänftigen.
„Ich will nichts“ schmollte er. Dann stand er auf und marschierte mit einem letzten Trotzausbruch in Richtung Tür:
„Vor neun geh ich sowieso nicht ins Bett. Und wenn ich erwachsen bin, geh ich überhaupt nie mehr ins Bett. Ich bleib die ganze Nacht auf, und zwar jede Nacht, und tätowieren laß ich mich auch, und zwar von Kopf bis Fuß. Ich werde der schlimmste Junge sein, den es gibt. Ihr werdet schon sehen “Damit knallte er die Tür hinter sich zu.
„Mich hat zwar keiner nach meiner Meinung gefragt, Anne, aber wenn ich als Kind so zu meinen Eltern gesprochen hätte, wäre ich windelweich geschlagen worden“, bemerkte Tante Mary Maria spitz. „Ich finde, in manchen Familien sollte man wirklich wieder zum Stock greifen, so wie früher.“ Sie schüttelte empört den Kopf.
„Aber Klein-Jem hat doch keine Schuld“, fauchte Susan. „Bertie Shakespeare Drew hat ihm doch den Floh ins Ohr gesetzt, er war den ganzen Nachmittag da. Erst kam er in die Küche geschlichen, um mir den besten Aluminiumtopf zu entführen. Er sagte, er bräuchte ihn als Helm, weil sie Soldat spielen wollten. Danach machten sie sich Boote aus Schindeln und ließen sie im Bach herumsegeln, dabei wurden sie naß bis auf die Haut. Und schließlich spielten sie Frosch und hüpften eine geschlagene Stunde laut quakend über den Hof. Kein Wunder, daß Jem völlig überdreht ist. Normalerweise ist er nämlich das liebste Kind auf der Welt!“ Susan schnappte sich einen Stapel Teller und marschierte hinaus.
Tante Mary Maria schwieg vorsichtshalber. Beim Essen sprach sie nie mit Susan Baker, um auf diese Weise ihr Mißfallen darüber zum Ausdruck zu bringen, daß es Susan gestattet war, überhaupt mit der Familie am Tisch zu sitzen.
Dabei hatten Anne und Susan dies ausgeheckt, bevor Tante Mary Maria aufkreuzte. Susan wußte ganz genau, was sich gehörte, und setzte sich normalerweise nie mit an den Familientisch, wenn Gäste da waren.
„Aber Tante Mary Maria ist kein Gast“, hatte Anne erklärt. „Sie ist bloß ein Mitglied unserer Familie, und das bist du genausogut, Susan.“
Susan war also einverstanden gewesen. Mary Maria Blythe sollte ruhig sehen, daß sie keine gewöhnliche Haushälterin war. Sie kannte Tante Mary Maria zwar nicht persönlich, aber ihre Nichte hatte früher einmal in Charlottetown bei ihr gearbeitet und Susan alles über sie erzählt.
„Ich kann nicht gerade behaupten, daß ich mich über Tante Mary Marias bevorstehenden Besuch übermäßig freue, ausgerechnet jetzt“, hatte Anne damals frei heraus gesagt. „Aber sie hat Gilbert einen Brief geschrieben, in dem sie fragt, ob sie für ein paar Wochen kommen kann, und du weißt ja, wie er ist…“
„Ist ja auch sein gutes Recht“, meinte Susan fest. „Was bleibt einem anderes übrig, als zu seiner Verwandtschaft zu stehen? Aber gleich ein paar Wochen … also, liebe Frau Doktor, ich will ja nicht den Teufel heraufbeschwören, aber die Schwägerin von meiner Schwester Matilda kam auch mal ‚Für ein paar Wochen‘ und blieb schließlich zwanzig Jahre.“
„Ich glaube nicht, daß wir derlei befürchten müssen“, lachte Anne. „Tante Mary Maria hat ein nettes eigenes Haus in Charlottetown. Nur findet sie es mittlerweile zu groß und einsam. Ihre Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, mußt du wissen, sie war fünfundachtzig; Tante Mary Maria hat immer für sie gesorgt, und sie vermißt sie sehr. Wir wollen versuchen, ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, Susan.“
„Ich werde tun, was in meiner Macht steht, liebe Frau Doktor. Den Tisch werden wir wohl besser ausziehen.“
„Ja. Und stell bitte keine Blumen auf den Tisch, Susan. Sie bekommt Asthma davon. Und auf Pfeffer sollten wir auch verzichten, weil sie sonst ständig niesen muß. Außerdem kriegt sie leicht Kopfschmerzen, es wäre also besser, wenn wir nicht allzuviel Lärm veranstalten.“
„Oje! Also, Sie und der Herr Doktor sind ja nun wirklich nicht laut. Und wenn mir nach Schreien zumute ist, kann ich mich ja in die Büsche schlagen. Aber die armen Kinder… wenn die ständig still sein müssen, bloß damit Mary Maria Blythe keine Kopfschmerzen kriegt, also, entschuldigen Sie, aber ich finde, das geht doch ein bißchen zu weit.“ Susan stemmte die Hände in die Hüften.
„Es ist doch bloß für ein paar Wochen, Susan“, begütigte Anne sie.
„Hoffentlich. Wir müssen wohl aus allem das Beste machen.“ Mehr hatte Susan dazu nicht zu sagen.
Tante Mary Maria kam also mit Sack und Pack an und erkundigte sich als erstes, ob denn der Schornstein wenigstens frisch gereinigt wäre. Sie hatte offenbar eine Heidenangst, es könnte ein Feuer ausbrechen. „Ich hab schon immer gesagt, daß euer Schornstein viel zu niedrig ist. Ich hoffe, mein Bett ist ordentlich gelüftet, Annie. Stickiges Bettzeug ist mir ein Graus“, verkündete sie mit schneidender Stimme. Sodann ergriff sie Besitz von Inglesides Gästezimmer und nach und nach von allen anderen Räumen des Hauses, mit Ausnahme von Susans Zimmer. Niemand brach bei ihrem Empfang in stürmisches Jubelgeschrei aus. Jem warf ihr nur einen kurzen Blick zu und entschlüpfte gleich in die Küche, um Susan zu fragen, ob sie denn wenigstens lachen dürften, solange diese Tante da wäre? Walter stiegen bei ihrem Anblick die Tränen in die Augen, so daß er unehrenhafterweise aus dem Zimmer gescheucht werden mußte. Die Zwillinge ließen es gar nicht erst so weit kommen, sondern suchten freiwillig das Weite. Sogar Krabbe mußte hinauslaufen, um draußen laut loszuprusten. Nur Shirley ließ sich nicht beirren und musterte die Tante furchtlos mit seinen runden braunen Augen, während er sicher auf Susans Schoß saß. Tante Mary Maria fand, daß die Ingleside-Kinder schlechte Manieren hätten. Aber was konnte man schon anderes erwarten bei einer Mutter, die für die Zeitung schrieb, und einem Vater, der sich einbildete, seine Kinder seien die Perfektion in Person, bloß weil sie seine Kinder waren, und schließlich einer Haushälterin wie Susan Baker, die nicht wußte, was sich gehört. Aber sie, Mary Maria Blythe, war entschlossen, ihr Bestes zu tun für diese bedauernswerten Enkelkinder von Cousin John, zumindest solange sie in Ingleside weilte.
„Dein Tischgebet ist viel zu kurz, Gilbert“, bemerkte sie mißbilligend nach dem ersten Essen. „Möchtest du, daß ich das Tischgebet spreche, solange ich hier bin? Es würde deiner Familie schon ein besseres Beispiel geben.“ Sie zog die Augenbrauen fragend hoch.
Gilbert erklärte sich, wenn auch unbehaglich, einverstanden, sehr zu Susans Entsetzen. ‚Klingt eher wie eine Andacht‘, dachte sie verächtlich, als Tante Mary Maria das nächste Mal ihr Gebet aufsagte. Und Susan war im Grunde ganz derselben Ansicht wie ihre Nichte, die einmal über Mary Blythe gesagt hatte, sie sähe immer so aus, als rümpfe sie die Nase. Trotzdem sah sie für eine Dame von vierundfünfzig eigentlich nicht übel aus. Sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge – sie selbst war davon überzeugt, daß sie aristokratisch waren –, umrahmt von stets wohlgepflegten grauen Löckchen, die Susan im Vergleich zu ihrem piksenden grauen Haarknoten geradezu als Beleidigung empfand. Sie zog sich auch recht hübsch an und schmückte sich mit langen Ohrringen und modischen hohen, netzartigen Kragen, die ihren schlanken Hals zur Geltung brachten.
‚Na, wenigstens brauchen wir uns wegen ihres Aussehens nicht zu schämen‘, überlegte Susan insgeheim. Gut, daß Tante Mary Maria ihre Gedanken nicht lesen konnte…
Anne schnitt im Garten einen Strauß Lilien für ihr Zimmer und einen Strauß Pfingstrosen für Gilberts Schreibtisch ab. Es war ein ungewöhnlich heißer Junitag gewesen, und man konnte kaum unterscheiden, ob der Hafen silbern oder golden schimmerte.
„Das wird ein wundervoller Sonnenuntergang heute abend“, sagte Anne zu Susan, während sie ihren Kopf durchs Küchenfenster streckte.
„Solange ich den ganzen Abwasch noch vor mir habe, kann ich dem Sonnenuntergang nichts abgewinnen“, entgegnete Susan sarkastisch und schrubbte auf einer Pfanne herum.
„Aber bis dahin ist er vorbei, Susan. Sieh doch bloß diese riesengroße weiße Wolke mit dem rosaroten Saum, die sich da oberhalb der Bucht auftürmt. Hättest du nicht auch Lust, da hinaufzufliegen und dich auf der Wolke niederzulassen?“
Susan ließ die Bürste sinken und stellte sich vor, wie sie mit dem Geschirrtuch in der Hand zu besagter Wolke emporschwebte. Sie konnte daran nichts Aufregendes finden. Aber schließlich war ihre Frau Doktor in anderen Umständen, man mußte also nachsichtig mit ihr sein.
„Übrigens entdecke ich neuerdings eine ganz gemeine Sorte Käfer, die unsere Rosenbüsche anknabbert“, fuhr Anne fort. „Ich muß sie morgen absprühen. Am liebsten würde ich es heute abend schon tun. An einem Abend wie heute arbeite ich besonders gern im Garten, da wächst alles so gut. Ich hoffe, Susan, daß es im Himmel auch Gärten gibt, ich meine, Gärten, in denen man arbeiten und pflanzen darf.“
„Aber Käfer soll’s doch wohl nicht geben“, warf Susan ein.
„Nein, nicht unbedingt“, lächelte Anne und roch an dem Lilienstrauß. „Aber ein fertiger Garten würde überhaupt keinen Spaß machen. Man hat doch erst dann etwas von einem Garten, wenn man selbst darin arbeitet. Ich möchte Unkraut jäten, umgraben, Pflanzen einsetzen und versetzen, Bäume und Sträucher beschneiden.“
„Warum können Sie denn den Abend nicht so verbringen, wie Sie es möchten?“ Susan versuchte, Anne auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen.
„Gilbert möchte, daß ich ihn begleite. Er will nach der armen alten Mrs. John Paxton sehen, sie liegt im Sterben. Er hat alles für sie getan, was in seiner Macht stand, aber es ist zu spät. Doch sie will unbedingt, daß er bei ihr vorbeischaut.“
„Niemand möchte gern alleine sterben“, sagte Susan gedankenvoll. „Es ist ein schöner Abend für eine Ausfahrt. Ich denke, ich werde selber ins Dorf gehen und einkaufen, wenn ich die Zwillinge und Shirley ins Bett gebracht habe. Miss Blythe hat sich nach oben verzogen. Sie seufzt bei jedem Schritt und behauptet, sie bekäme gerade wieder einen ihrer Migräneanfälle. Wenigstens wird dann heute abend mal ein bißchen Ruhe herrschen. “Susan hatte das sehr düster gesagt, aber Anne ging nicht darauf ein.
„Sieh zu, daß Jem rechtzeitig ins Bett kommt, ja?“ sagte sie noch im Weggehen. „Er ist wirklich übermüdet, aber man kriegt ihn einfach nicht in sein Zimmer. Walter kommt heute gar nicht; Leslie hat mich gebeten, daß er bei ihnen übernachten darf.“
Jem saß mißmutig auf der Treppe vor dem Haus und warf mit finsteren Blicken um sich, besonders in Richtung Mond, der riesengroß hinter der Kirchturmspitze stand. Er konnte es nicht ausstehen, wenn der Mond so groß war.
„Paß auf, daß du keinen Krampf kriegst, wenn du so böse dreinblickst“, hatte Tante Mary Maria ihn ermahnt, als sie an ihm vorbei ins Haus gegangen war.
Jem blickte daraufhin finsterer denn je. Sollte er doch einen Krampf kriegen, um so besser. „Hau ab und lauf mir nicht dauernd hinterher“, fauchte er auch Nan an, die zu ihm herausgeschlichen kam, nachdem die Eltern gegangen waren.
„Alter Brummbär!“ rief Nan erschrocken. Doch bevor sie davontrottete, legte sie den roten Zuckerlöwen neben ihn auf die Stufe, den sie ihm hatte bringen wollen.
Jem ignorierte ihn. Noch nie war er so grausam behandelt worden. Alle hackten auf ihm herum. Heute morgen noch hatte Nan zu ihm gesagt: ‚Du bist nicht in Ingleside geboren, so wie wir.‘ Dann hatte Di seinen Schokoladenhasen aufgegessen, obwohl sie ganz genau wußte, daß es seiner war. Sogar Walter hatte ihn im Stich gelassen und war zu Ken und Persis Ford spielen gegangen. Wie gern wäre er mit Bertie zum Tätowieren gegangen! Es gab nichts, was er sich jemals sehnlicher gewünscht hätte als das. So gern hätte er das herrliche Segelschiff auf Captain Bills Kaminsims gesehen, von dem Bertie ihm erzählt hatte. Eine bodenlose Gemeinheit war das, jawohl! Er schlug sich mit der Faust aufs Knie.