Peter Trawny
Adyton

Peter Trawny

ADYTON

Heideggers esoterische Philosophie

INHALT

Adyton

Die esoterische Initiative

Ort und Universum

Der Adressat I

Die Öffentlichkeit I

Die Öffentlichkeit II. Eröffnungsfeiern

Das Unlesbare lesen

Der Adressat II. Antworten

Das Unsagbare sagen

Das Universum der Universität

Herrschaft I

Der Adressat III. Asymmetrien. Banales

Tugend. Verhaltenheit. Empfang des Anderen

Der Adressat IV. Der Fremde

Herrschaft II. Volk im Ereignis

Hölderlin-Wortraum

Herrschaft III. Der Gott und sein Volk

Im Innersten I

Im Innersten II. Frauen und Heimat

Epilog. Atopia

Anmerkungen

Personenregister

ADYTON

Innan, innan

Das Adyton ist das Unzugängliche, Unbetretbare; Bereich eines griechischen Tempels, in dem sich das Allerheiligste befand. Ort eines Ortes also, der sich ohnehin von den gewöhnlichen Orten unterscheidet. Eine solche Ordnung ruft nach Annäherung. Sie bildet eine Spur.

Im Fünften Gesang von Homers »Ilias« kämpft Diomedes auf der Seite der Griechen gegen Aeneas. Diomedes ist stärker und verletzt Aeneas, der aber von Apollon beschützt wird. Dieser ermahnt den Griechen, auf den Unterschied zwischen Göttern und Sterblichen zu achten, und rettet Aeneas. Um ihn wieder zu Kräften kommen zu lassen, bringt der Gott seinen Schützling zum Pergamos in seinen Tempel, ins Adyton (Il., V, 448, 512). Dort wird er von seinen Schwestern Leto und Artemis gepflegt.

Das Adyton ist ein den gewöhnlichen Sterblichen unzugänglicher Ort der Genesung, der Stärkung, Zuflucht für den Geschwächten und Verletzten. Nur durch die Entscheidung des Gottes wird ein Mann oder eine Frau zugelassen.

Ungefähr eintausend Jahre später erzählt Lucan1 vom römischen Bürgerkrieg in den »Pharsalia«, dass Appius, auf der Seite des Senats gegen Julius Caesar kämpfend, zum Orakel nach Delphi geht, um dort Aussagen über den Verlauf des Krieges zu erfahren (Phars., 5. Buch, 141-161). Die Priesterin, die Pythia, aber sträubt sich in das Adyton einzudringen, aus Angst vor der Anwesenheit des Gottes. Sie muss von anderen Priestern mit Gewalt in die Höhle (antrum) hineingetrieben werden.

Das Adyton ist der Ort des Orakels, des göttlichen Zuspruchs. Obwohl unzugänglich, müssen Einzelne es betreten. Das Eindringen fällt nicht leicht. Doch der Gott braucht den, der ihn »hört« und seine Worte weitergibt. Sein Begehren ist eine Aussetzung. Dem Gott zu gehorchen, ist schrecklich.

Das Adyton ist demnach der unzugängliche Ort von göttlicher Heilung und göttlichem Zuspruch, der Ort, an dem der Zugelassene, der Eindringling, das Wort und die Kraft aus der Nähe empfängt. Es geht darum, ins Adyton zu gelangen, in ihm zu sein, um den Ursprung von Leben und Wort zu erfahren.

Heideggers Philosophie ist der Gang zu diesem Adyton, der Versuch zu denken, was in ihm geschieht. Es geht natürlich nicht um ein faktisches Betreten eines Unzugänglichen (was sollte das sein?). Vielmehr handelt es sich um die Anerkennung eines undenkbaren Ortes, dem wir uns nur im Sinne dieser Anerkennung zu nähern vermögen. Demnach ist die Erfahrung seiner Nähe nicht die Voraussetzung der Anerkennung, sondern umgekehrt die Anerkennung Voraussetzung des Ortes.

Das ist so, weil die Anerkennung eine Antwort ist. Sie antwortet auf das Unzugängliche, indem sie es bewahrt. Das Denken versteht sich als die Beantwortung eines Bezuges zu einem Anderen, das sich als Verborgenheit, Verweigerung, als ein Adyton erweist. Es geht darum, in diesem Bezug zu sein. Wer in diesen Bezug hineingelange, empfange einen ungeheueren Exzess von Sinn. Weil dieser Empfang ein Bewohnen dieses Bezuges voraussetzt, ist Heideggers Philosophie esoterisch.

Vielleicht lautet das Hauptwort von Heideggers Denken nicht »Sein«, sondern »in«, »In-Sein«, noch anders, aber auch schon so gedacht wie jenes »In-Sein« von »Sein und Zeit« (§§ 12/13). Es gibt jedenfalls eine ganze Flut von Worten, von »In«-Worten, wie »Innigkeit«, »Inständigkeit«, »In-begriff«, »Inmitten« und »Inzwischen«, Formulierungen wie »Ins-Werk-setzen der Wahrheit« oder »im-Wort-sein«.

Wenn es wohl zu weit gehen würde, den Vorrang des »Seins« zu bezweifeln, so lässt sich doch mit guten Gründen sagen, dass Heideggers Denken die »Innigkeit« sucht, die »Innigkeit« im gewöhnlich Unzugänglichen, dem Fremden und dem Befremdlichen, das beim Erscheinen des Eindringlings etwas von seiner Fremdheit einbüßt. Doch dieser Eindringling gebraucht keine Gewalt, er wartet vielmehr darauf, zugelassen zu werden.

Zugleich hat Heideggers Philosophie den unbändigen Zug zur »Heimat«, der Ankunft in ihr, der Möglichkeit, in ihr zu sein. Sie ist der Ursprung von Leben und Tod. Wer in der Heimat wohnt, der sitzt an der Quelle und am Herd. Vieles wird von Heidegger aufgewendet, um zu verstehen, warum diese Heimat verloren ging.

»Innigkeit« ist ein Zustand der Intensität, der Dichte von Bedeutung, auch des Schmerzes. Das verlangte Heidegger von der »Geschichte«. Sie sollte gleichsam greifbar sein, sollte geschehen, sollte eine Erfahrung sein, d.h. sie sollte »Geschick« sein. In der Geschichte zu sein, bedeutet etwas anderes als über sie zu berichten. »Geschichtlichkeit« meint, in der Geschichte zu sein und in ihr zu handeln.

Noch Heideggers politisches Votum für Deutschland mag mit der »Innigkeit« zusammenhängen. »Politisch« sein hieß für Heidegger, in einem »Volk« zu leben. In einem »Volk« zu leben bedeutete, von ihm gestützt und geschützt zu werden, für den Philosophen gewiss auch im sozialen Sinn. Die Internationalisierung und zuletzt die Globalisierung, die Heidegger vielleicht als erster Denker des 20. Jahrhunderts erkannte, bedeuten die notwendige Zerstörung dieser »Innigkeit«. Sie brauchen und erzeugen eine »Öffentlichkeit«, gegen die er zeit seines Lebens nur polemisieren konnte.

Die Intensität der »Innigkeit« setzt also Grenzen voraus. Das Adyton ist ein Abgetrenntes in einem ohnehin schon abgegrenzten Bezirk, abgeschirmt demnach von vielen Grenzen. Die Technik und die ihr zugehörige Rationalität sind per se grenzüberschreitend. Sie haben keinen Sinn für die Grenze, können sie nur ignorieren. In der Globalisierung stellt sich so eine grenzenlose, d.h. unendliche Kugeloberfläche her, auf welcher die Werte, Waren und Menschen am besten so schnell fluktuieren sollen wie die Daten in den virtuellen Adern des Cyberspace. Die Technik und ihre Rationalität verdächtigen die »Innigkeit« eines unverbesserlichen Hanges zur Anti-Moderne und Gegen-Aufklärung.

Und wirklich hat sich Heideggers Philosophie von Anfang an von der Öffentlichkeit, der public sphere, abgewendet. Dagegen begehrt sie Intimität. Sie sucht ein Gegenüber, das sich nicht sperrt gegen das Unzugängliche, das offen ist für das Eindringen ins eigentlich Unbetretbare, das übereinstimmt mit dem Gedanken, dass es im Denken um das Unzugängliche geht. Heideggers esoterische Initiative adressiert sich an dieses Gegenüber, das sich in »Wenigen« und »Einzelnen« zeigt. Keine Frage, dass eine rationalistische und auf Öffentlichkeit angelegte Haltung von dieser esoterischen Initiative nur abgestoßen werden kann. Doch sie bleibt nicht unberührt davon. Indem sie vom Heideggerschen Text abgestoßen wird, stößt sie das Abstoßende selbst von sich ab und aus. Sie muss hinter einer esoterischen Philosophie eine im günstigsten Fall nur abwegige, im ernsteren Falle allerdings gefährliche Geheimniskrämerei vermuten.

Deutlich ist, dass diese Initiative Ähnlichkeiten zum erotischen Ereignis hat, das nun in der Tat der Intimität bedarf. Das erotische Ereignis, die erotische Nähe ist »Innigkeit«, die einen abgeschirmten Bereich braucht. Überhaupt konzentriert sich das Erotische auf einen Ort, dessen Unzugänglichkeit es zu feiern gilt. Und wie seltsam – war Heidegger nicht auch ein gewaltiger Erotiker? Ist nicht das erotische Ereignis begrenzte Erscheinung in der exzessiven Innigkeit von zweien?

In einem seiner esoterischen Manuskripte aus den dreißiger Jahren schreibt Heidegger: »Aber der Gott – wie dann dieser? Frage das Seyn! Und in dieser Stille, im anfänglichen Wesen des Wortes, antwortet der Gott.«2 Das Adyton ist das »Seyn«, seine »Stille«, in welcher »der Gott« beginnt zu »antworten«. Das Adyton ist »Stille« als das »anfängliche Wesen des Wortes«, Ort des Zuspruchs, der Antwort, ist das Thema von Heideggers esoterischer Philosophie.

Mein Versuch ist die Darstellung einer womöglich neuen Heidegger-Interpretation, nicht zwar des ganzen Werkes (wer sollte das vermögen?), wohl aber von jenem Teil, der mit dem Manuskript der »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«3 beginnt. Mit diesem Text, Mitte der dreißiger Jahre entstanden, betritt Heidegger einen Weg, den er nicht mehr verlassen hat. Die bisherigen Interpretationen dieses Werkteils von Heideggers Denken versuchen stets, Heidegger für die »Philosophie« fruchtbar zu machen.4 Dabei nehmen sie nicht ernst, dass gerade die »Philosophie« es ist, die für Heidegger bei all dem, was er zu sagen versuchte, auf dem Spiel steht. Danach ist Heideggers Denken essenziell esoterisch, woraus sich verschiedene exoterische Exkurse erklären lassen. Für Heidegger ist das Denken ein unablässiger Gang zum Adyton, eine immer noch ausstehende Antwort auf die Un-möglichkeit ihrer selbst. Die Zukunft der Philosophie könnte davon abhängen, ob sie diese ausstehende Antwort, diese Offenheit, ist oder nicht.

Die esoterische Initiative

Es muss etwas geschehen sein mit der Philosophie, wenn ein öffentlich angesehener Philosoph schreibt, das »Sichverständlichmachen« sei ihr »Selbstmord« (435). Da wird brüsk eine Art von Verpflichtung aufgekündigt, eine angebliche Pflicht zur Klarheit, zur Verstehbarkeit, zur Vernunft. Möglich, dass auch das Begehren eines jeden Philosophen, anerkannt zu werden, gebremst werden soll. Noch möglicher aber wohl, dass hier implizit behauptet wird, eine »verstandene« Philosophie sei eine bereits tote. Das Ideal des Verständnisses führte dann unmittelbar zum Philosophie-Museum, zur Leichenhalle der Ideengeschichte. Bereits Kant unterschied in dieser Hinsicht zwischen einem »Schul-« und einem »Weltbegriff« der Philosophie.

Gewiss mag die Bemerkung auch das sagen. Sie sagt aber noch mehr. Es könnte nämlich sein, dass das Kriterium der »Verständlichkeit« vom Philosophen als ein solches betrachtet wird, das der Philosophie gleichsam von Haus aus gar nicht zu eigen ist. Für ihn könnte die Verständlichkeit im Dienste einer »Öffentlichkeit« stehen, die sich ein Recht anmaßt, dem sich die Philosophie nicht beugen könne. Die Pflicht zur Verständlichkeit wäre eine Idee der Öffentlichkeit, ein beanspruchtes Recht der Öffentlichkeit, sei es jener, die sich massenmedial, oder jener, die sich wissenschaftlich-akademisch organisierte; eine Differenz, die immer mehr aufhört, eine zu sein.

Die heute durch Kapital und Technik ungeheuer beschleunigte und vervielfältigte Öffentlichkeit war Heidegger noch unbekannt. Womöglich hat uns erst diese ungeahnte Explosion der Medien deutlich werden lassen, dass wir die Öffentlichkeit auf keinen Fall als eine Art von Riesen-Subjekt verstehen dürfen. Das wiederum bedeutet jedoch nicht, dass sie gänzlich jenseits der Elemente einer sich nach wie vor repräsentierenden Subjektivität geschieht. Heidegger reagiert in der Mitte der dreißiger Jahre auf ein neuartiges Phänomen.

Die Universität des Kaiserreichs und der Weimarer Republik war ein von der Öffentlichkeit separierter Sonderbereich. In seiner Rede von der »Wissenschaft als Beruf« (1917) geht Max Weber wie selbstverständlich davon aus, dass die Universität kein Ort der Diskussion, sondern der klaren hierarchischen Ordnung sei. Es sind die Ordinarien, die das Sagen haben. Wenn Weber die Öffentlichkeit im Blick hatte, dachte er an die »Straße«, nicht aber an den »Katheder«, den »Lehrstuhl«. Die Ablehnung der Politik in der Wissenschaft hängt bei Weber auch damit zusammen, dass er die Universität nicht für einen öffentlichen Raum hielt.

Diese Differenz von Öffentlichkeit und Universität gerät mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in eine erste Krise. Nicht nur, dass die Partei Opportunisten Aufstiegschancen bot, die sie vorher auf diese Weise nicht hatten. Vor dem Hintergrund einer »Weltanschauung« beginnt sie auch, neue Wissenschaften zu erfinden (Heidegger geht in den »Beiträgen zur Philosophie« auf die so genannte »Zeitungswissenschaft« ein, einer Vorläuferin der Kommunikations- und Medienwissenschaft) und so direkt in den Status der Universität einzugreifen.

Mit diesem Eingriff, mit dieser Grenzüberschreitung wurde die Universität einem Prozess unterworfen, in dem sie immer mehr zu einem integralen Bestandteil jener sozio-politischen Öffentlichkeit wird, der noch Kant im »Streit der Fakultäten« die »Freiheit« und »Gesetzgebung der Vernunft« als alleinige Orientierungspunkte der »philosophischen Facultät« opponiert. Heidegger wurde zum Zeugen einer Abdankung dieser Orientierung, in der vor allem ökonomische und ideologische Gesichtspunkte von Außen die Souveränität der Philosophie zu zersetzen begannen.

Seit jeher steht die Philosophie vor der Aufgabe, sich mit der Anwesenheit einer sozio-politischen Öffentlichkeit, auf die sie prinzipiell bezogen ist, da es ihr ja um das »Ganze« geht, auseinanderzusetzen. Sie hat diese Aufgabe unterschiedlich gelöst. Platon z.B. hat die Adressaten seines Denkens genau differenziert. Nicht jeder war geeignet, in die Möglichkeiten der Dialektik eingewiesen zu werden. Überhaupt hat er der Schrift – diesem unverzichtbaren Element einer Herstellung von Öffentlichkeit – wenig vertraut und dafür umso mehr die Unterredung favorisiert. Für ihn findet die Philosophie im unmittelbaren Verhältnis des Lehrers zu seinen Schülern statt, im gemeinsamen Leben des Philosophierens.