Impressum
ISBN: 9783955014896
2014 andersseitig.de
Covergestaltung: Erhard Koch
Digitalisierung: Erhard Koch
andersseitig Verlag
Dresden
www.andersseitig.de
info@new-ebooks.de
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Gertrude Aretz
Elisabeth von England
Bedingfield aber steht hinter Elisabeth, wenn sie schreibt. Muss sie ihren Brief unterbrechen, dann wird ihr Tinte und Papier weggenommen. Bedingfield steckt das angefangene Schreiben zu sich und gibt es ihr erst dann zurück, wenn sie Zeit hat, es fortzusetzen.
Der Brief Elisabeths an Maria fällt nicht so aus, wie ihn die Königin erwartet hat. Sie verlangt ein volles Geständnis oder wenigstens eine Bitte um Verzeihung. Doch dazu versteht sich Elisabeth nicht. Nie wird sie ihre Schwester um Gnade anflehen. Lieber will sie ihr Leben lang Gefangene bleiben. Auch Maria gibt nicht nach. Sie antwortet erst zehn Tage später auf diesen Brief, aber nicht Elisabeth persönlich, sondern in einem an Bedingfield gerichteten Schreiben. Sie nennt darin Elisabeths Selbstverteidigung „voll Heuchelei und Schliche“, auf die sie nicht mehr reinfalle. Ihr ganzes Gebaren sei erkünstelt und scheinheilig.
Maria hat nicht so unrecht. Was aber bleibt Elisabeth anders übrig, als bis zuletzt ihre Unschuld zu beteuern und ihre wirklichen Gefühle in religiösen und anderen Dingen zu verbergen? Ehrlich darf unter Maria niemand eine der Regierung und Kirche entgegengesetzte Meinung bekennen, ohne sein Leben zu riskieren. Elisabeth hat ohne Frage vieles von der Verschwörung Wyatts und anderen Intrigen gegen Maria gewusst. Ob sie sie in dem Punkt, dass sie die Krone dann erhalten werde, gebilligt hat, ist eine andere Frage. Wahrscheinlich nicht. Ihrem stolzen Charakter lag es fern, Leuten etwas zu verdanken, was sie als ihr absolutes Erbrecht als englische Prinzessin betrachtete. Sie verachtete im Grund ihres Herzens die Rebellen, wie aus ihrer Konfrontierung mit James Croft zur Genüge hervorgeht. Die englische Krone wollte sie sich nicht „aneignen“, sondern sie aus den Händen des englischen Volkes empfangen, wenn ihre Zeit gekommen war. Aber – und darin liegt des Rätsels Lösung – es ist ihr nicht gleichgültig, welches Ansehen sie bei ihren zukünftigen Untertanen genießt. Für Vergrößerung ihrer Popularität beim Volke ist ihr nichts zu gefährlich. Ereignisse, wie der Aufstand Wyatts mit den vielen grausamen, ja unmenschlichen Bestrafungen vonseiten Marias, vor allem aber ihre Einkerkerung im Tower können Elisabeth nur nützen, selbst wenn ein Teil des Publikums überzeugt wäre, sie sei nicht ganz ohne Kenntnis der Dinge gewesen. Die ungeheure, immer mehr anwachsende Partei der Protestanten sieht in Elisabeth die in ihrer Ehre und fürstlichen Würde, in ihrem Glauben beschmutzte Thronerbin, eine Art Märtyrerin – wozu Elisabeth allerdings die wenigste Anlage hat. Aber die Rolle dünkt ihr nicht schlecht, die man ihr zuteilt. Es reizt sie auch, immer mit der Gefahr zu spielen. Sie braucht das aufpeitschende Element zu ihrem Leben wie die großen Eroberer die Gefahren der Kriege, die großen Abenteurer die Gefahren der Welt brauchen. Obendrein ist Elisabeth eine sehr typische Frau. Sie braucht Bewunderung, Anbetung und Liebe. Die Mittel, das zu erreichen, sind typisch weiblich bei ihr, zum großen Teil durch Erziehung und Umwelt ihrem Charakter eingeprägt. Die Kunst der Verstellung, die sie so früh anwenden lernt, leistet ihr später als Herrscherin die besten Dienste in ihrer Politik. Verstellung wendet sie jedoch hauptsächlich in zweckdienlichem Sinne an. Andererseits können sich ihre Freunde auf sie verlassen. Das einmal gegebene Wort bricht sie nicht. Ein ihr anvertrautes Geheimnis gibt sie nicht preis. Was kann sie nach dem misslungenen Putsch anderes tun als immer wieder alles ableugnen, wenn sie die vielen darin verwickelten Freunde nicht dem Tode überliefern will? Das ist ihr schon als Fünfzehnjährige in der Intrige Seymour klar gewesen. Jetzt, als Zwanzigjährige, handelt sie nicht anders. Maria kann Himmel und Erde in Bewegung setzen, ihre klügsten und geschicktesten Staatsmänner Elisabeth entgegenstellen, sie vor die erfahrensten Richter bringen – nie wird sie von dieser jungen Frau mit dem starken Persönlichkeitsbewusstsein die ganze Wahrheit erfahren! Nie wird sie diesen stolzen, zielbewussten Menschen zwingen, sich zu beugen. Elisabeths Wege, zum Ziel zu gelangen, sind hundertfach verschlungen. Maria und ihre Räte stehen ratlos vor diesem Labyrinth. Nie werden sie daraus herausfinden!
Elisabeth kann es auch in Woodstock nicht unterlassen, ein wenig mit dem Feuer zu spielen. Sie schlägt ihrem „Kerkermeister“ Bedingfield so manches Schnippchen. Trotz der strengen Bewachung, trotz aller Vorsichtsmaßregeln, trotzdem sie weder Briefe noch Besuche erhält, empfängt sie doch manche Nachricht von außen. Sie ist genau unterrichtet, dass sich die Stimmung sehr zu Ungunsten Marias gewendet hat und die große Menge alle ihre Hoffnungen auf eine bessere Zeit – mit Elisabeth an der Spitze – setzt. Sie erfährt auch, dass alle in Wyatts Verschwörung verwickelten Gefangenen nichts zu ihrem Nachteil ausgesagt haben. Es trägt viel dazu bei, ihre eigene Verteidigung mit derselben Taktik weiter zu führen, die sie bis jetzt angewandt hat. Unerschütterlich bleibt sie mit kluger Berechnung, den Blick in die Zukunft gerichtet, die Frau, an deren Herzenskälte alles zerschellt. Die Frau, die später selbst kein Mitleid, keine Gnade kennt, wenn es sich um Staatsvergehen handelt.
Der Kampf und die Komödie zwischen den beiden Schwestern gehen also weiter. Da Maria so lange Zeit verstreichen lässt, ehe sie antwortet, versucht es Elisabeth wieder einmal mit Krankheit, um den Kontakt mit dem Hofe nicht ganz zu verlieren. Sie verlangt, man möge ihr die Ärzte der Königin schicken. Ihr Gesicht, ihre Arme und Beine sind geschwollen. Bedingfield bringt den Bescheid, es sei unmöglich, ihr augenblicklich diesen Wunsch zu erfüllen. Einer der königlichen Leibärzte sei krank, der andere verreist, der dritte, Dr. Owen, unabkömmlich. Er verordne ihr jedoch ein gutes Abführmittel. Also ein erneuter Beweis der Ungnade Marias. Dazu noch der Hohn.
Elisabeth schäumt innerlich vor Wut. Als man ihr vorschlägt, einen anderen Arzt aus der Umgegend zu Rate zu ziehen, entgegnet sie:
„Nein, ich habe keine Lust, meinen Gesundheitszustand vor Fremden darzulegen.“
Sir Henry hat ihr noch nicht gewagt zu sagen, dass er seit einigen Tagen schon die Antwort der Königin auf ihren Brief in Händen hat. Da ergreift Elisabeth selbst die Gelegenheit eines Morgens während der Messe. Sie fragt ihn direkt, ob denn nicht eine Antwort von der Königin eingetroffen sei.
„Gewiss, Euer Gnaden, wenn Sie befehlen Ihnen darüber Mitteilung zu machen.“
„Bitte.“
Bedingfield zieht seine Notizen aus der Tasche. Er hat Befehl, nur einiges aus dem Originalbrief Marias an Elisabeth zu übermitteln.
Als sie sieht, dass es kein Brief an sie persönlich ist, kann sie den Zorn über die ihr angetane Beleidigung kaum beherrschen.
Wie gleichgültig aber sagt sie: „Nein, legen Sie es mir nach dem Essen vor.“
Sie muss erst die Herrschaft über sich selbst wieder gewinnen. Nach dem Diner lässt sie Bedingfield rufen und erfährt nun, in welchen Ausdrücken Maria ihren Brief bewertet hat.
„Nun gut“, meint sie, „da die Königin, wie ich zu meinem größten Bedauern bemerke, nicht mehr durch meine scheinheiligen Briefe belästigt werden will, so muss ich Sie wohl bitten, Sir Henry, für mich beim Staatsrat vorstellig zu werden. Ich werde Ihnen alle Hauptpunkte erklären, auf die ich Wert lege.“
Bedingfield lehnt ab. Es entspreche weder seiner Stellung, noch seinen Vorschriften, Bittschriften für sie einzureichen oder zu schreiben.
„Wieso?“, braust sie auf. „Im Tower darf jeder Gefangene seine Angelegenheiten dem Gouverneur mitteilen und dieser übermittelt es dann dem Staatsrat. Ich aber, ich werde gemeiner behandelt als der geringste Verbrecher vom Zuchthaus in Newgate! Für den dürfen sich wenigstens seine Freunde einsetzen.“
Und im Ton völliger Demut und Verzweiflung fügt sie hinzu: „Mein Gott, soll ich denn mein ganzes Leben in dieser Hoffnungslosigkeit verbringen? Ohne eine andere Stütze als die Wahrheit meiner Sache! Ich lege sie in Gottes Hand! Ihm allein empfehle ich mein Geschick. Komme was wolle! Immer werde ich die treue Untertanin meiner Königin bleiben, die ich mein ganzes Leben gewesen bin.“
Damit hat sie den frommen Katholiken gewonnen. Wenn jemand Gottes Schutz und Zeugnis anruft, darf er doch nicht zweifeln, wie ernst es gemeint ist.
Sir Henry berichtete die Worte seiner jungen Gefangenen noch am 4. Juli in einem Brief an den Staatsrat. Regierungsmänner und Königin sind gerührt und sehen ein: jedem Gefangenen muss gestattet werden, ein Gesuch einzureichen. Elisabeth darf also den Staatsräten schreiben, sogar den Brief an die Königin direkt senden. Maria befiehlt es ausdrücklich, damit sie ihn lesen kann, noch bevor der Staatsrat ihn zu Gesicht bekommt.
Jetzt plötzlich hat es Elisabeth gar nicht mehr eilig. Vorläufig genügt ihr, dass sie ihren Willen durchgesetzt hat. Die Genehmigung Marias datiert vom 7. Juli. Die kapriziöse junge Prinzessin antwortet erst am 30. Inzwischen ist sie wieder krank geworden, ohne jedoch noch einmal nach den Hofärzten zu verlangen. Als sie Tinte und Feder erhält, fällt ihr ein, nicht selbst zu schreiben. Briefe an Staatsräte schreiben Mitglieder des Königshauses nicht persönlich. Dazu sind ihre Sekretäre da. Ihr steht keiner in Woodstock zur Verfügung. Sir Henry tut ihr jetzt auch diesen Gefallen. Er schreibt in ihrem Namen.
Unter erneuten Versicherungen ihrer Unschuld und absoluten Königstreue bittet Elisabeth jetzt die Räte ernstlich, man möge sie entweder unter positive Anklage vor ein Gericht stellen, damit sie ihre Sache verteidigen könne, oder ihr gestatten, vor der Königin in Person zu erscheinen. Das würde sie doch niemals wagen zu fordern, wenn sie ihrer Sache nicht gewiss wäre. Und wolle man ihr weder das eine noch das andere gestatten, so bitte sie einige der Herren, selbst nach Woodstock zu kommen, damit sie aus ihrem eigenen Munde vernähmen, was sie zu sagen hätte. Auf diese Weise würde sie sich wenigstens nicht so von aller Welt verachtet und verlassen fühlen.
Sieben Tage später, am 7. August, lässt die Königin durch ihre Räte Elisabeth mitteilen, sie werde ihr Gesuch prüfen. Maria ist inzwischen schon seit nahezu zwei Wochen verheiratet. Das Glück, endlich Philipp bei sich zu haben, nach dem sie sich immer leidenschaftlicher gesehnt hatte, je länger er sie warten ließ, füllt vorläufig ihr ganzes Denken aus und die damit verbundenen Feste nehmen viel Zeit in Anspruch.
Vielleicht war Elisabeths Geburt bereits der Auftakt zu dem tragischen Ende ihrer Mutter. Heinrich VIII. hatte den Erben seines Thrones erwartet. Eine Tochter wurde ihm an seiner Statt am 7. September 1533 in Greenwich geboren. Trotz des maßlosen Jubels der Londoner Bevölkerung, trotz der pompösen Tauffeierlichkeiten, die monatelang darauf folgten, war die Geburt dieses Kindes eine gewisse Enttäuschung für Heinrich. Die schöne Anna Boleyn hatte seine Hoffnungen nicht erfüllt, wenn auch die Aussicht bestand, dass sie später ein zweites Kind, einen Sohn, zur Welt bringen könne. Er hätte aber gerade in dem ersten Kind der geliebten Frau gern den Träger seiner Dynastie gesehen. Hatte er nicht hart genug darum gerungen? Um Anna auf den englischen Thron zu setzen, hatte es Heinrich auf den Bruch mit Rom ankommen lassen und seine zwanzigjährige Ehe mit Katharina von Aragon eigenmächtig geschieden. In Westminster ließ er die neue junge Königin krönen, was keiner Frau nach ihr wieder geschah. Annas bezaubernde Jugend, ihr heißes Temperament, ihre dunklen Augen, ihre unvergleichliche Schönheit berauschten Heinrich. Sechs Jahre kämpfte er um sie, ehe er sie zu sich erheben konnte. Und dann erlebte sie doch nur ein relativ kurzes Glück an seiner Seite. Ehe sie seinem Begehren nachgab, hatte er versichert, sie „aufrichtig zu lieben und zu ehren und ihr immerdar zu dienen“. Das schrieb er ihr.
„Ich beschwöre Euch“, bat er flehentlich, „in diesem selben festen und beständigen Vorsatz zu beharren, und ich versichere Euch, dass ich meinerseits es Euch nicht nur geziemend vergelten, sondern Euch womöglich noch an Treue des Herzens übertreffen werde.“
Die junge Hofdame der Königin forderte eine hohe Gegenleistung. 1526 wurde Anna Boleyn Heinrichs Geliebte unter der Bedingung, dass er sich von Katharina scheiden lasse. Heinrich selbst wünschte es. Er brauchte einen Erben. Von der jungen schönen Anna, die er liebte, hoffte er ihn zu bekommen. Der Preis ihrer Gunst sollte die englische Krone sein. Zäh verfolgte Anna ihren Plan. Endlich, am 25. Januar 1533, erreichte sie ihr Ziel, nachdem Heinrich einen jahrelangen, hartnäckigen Kampf mit dem Papst geführt hatte. Die römische Kirche lehnte es ab, auf die unzulänglichen Gründe hin die Scheidung über seine erste Ehe auszusprechen. Er aber hielt fest an dem Versprechen, das er der Geliebten gegeben. Er schuf die englische Hochkirche! Der Bruch mit Rom war endgültig. Er brauchte bald weder Dispens noch Einwilligung des Papstes mehr, um seine neue Königin zum Thron zu führen.
Und doch war es noch zu früh, um alles öffentlich geschehen zu lassen. Ganz im Geheimen fand im Schloss York, dem heutigen Whitehall, die Trauung Heinrichs mit Anna Boleyn statt. Es war Eile geboten. Sie war guter Hoffnung. Sie trug das Kind unter dem Herzen, das einst bestimmt war, Englands größte Königin zu werden. Es waren nur drei Zeugen bei der Trauung anwesend. Rowland Lee, Bischof von Lichfield, traute das Paar im guten Glauben, denn der König hatte ihm die Versicherung gegeben, er habe endlich vom Papst Dispens und die Auflösung seiner ersten Ehe erlangt. Nur wolle er vorläufig alles Aufsehen um dieses Ereignis vermeiden. Deshalb müsse die Trauung in aller Stille vollzogen werden. Und so geschah es. Erst vier Monate später, im Mai desselben Jahres, wurde Heinrichs Ehe mit Katharina von Aragon für nichtig erklärt, aber nicht durch den Papst, sondern durch Heinrichs Willkür, als Oberhaupt der neuen Hochkirche, zu dem er sich aber offiziell erst im Jahr 1534 erklärt. Der kürzlich vom Papst zum Erzbischof von Canterbury erhobene Thomas Cranmer ist die Haupttriebfeder der ganzen Intrige und sein Stellvertreter.
Im Juni darauf wird Anna Boleyn gekrönt mit allem Pomp, der in England bei derartigen Ereignissen, an denen das ganze Volk teilnimmt, üblich ist. Nun ist sie anerkannte Königin. Bald steht das Ereignis bevor, das Heinrichs sehnlichsten Wunsch erfüllen soll. Es ist eine Tochter, kein Sohn! Heinrichs Leidenschaft für Anna scheint von diesem Augenblick an im Verblassen. Neue Liebesabenteuer des Königs rufen heftige Auseinandersetzungen zwischen ihm und ihr hervor. Sie liebt ihn. Sie will sich ihn nicht entreißen lassen. Ihr beleidigter Stolz, ihr heißes Temperament reißen sie zu Szenen hin. Er bedeutet ihr brutal, sie solle sich nicht in seine Privatangelegenheiten mischen. Sie solle bedenken, was sie gewesen sei. Trotzdem sie jetzt Königin sei, könne er sie wieder in die Tiefe, in das Nichts stürzen. Anna schäumt. Eine ihrer jungen Hofdamen erregt besonders ihre Eifersucht. Sie weiß, was ihr bevorsteht. Wie ihre eigene Jugend über die ältliche Katharina von Aragon einst triumphierte, so wird jetzt Jane Seymours Schönheit die noch junge Anna von des Königs Seite verdrängen und sich den Platz an der Sonne sichern. Heinrich wirft die Frauen weg, wenn er sie satt hat, wenn ein neues Abenteuer, neue Liebesleidenschaft lockt. Ihm wird es auch diesmal nicht schwer werden, einen Grund zu finden, um Anna Boleyn, seine Königin, loszuwerden. Es sind gewisse Leute um ihn, die längst Anna ihr Glück neiden. Verrat und Missgunst erfassen den günstigen Augenblick und kommen dem König in seinen Absichten entgegen. Nichts wird leichter und schneller wahrgenommen als das vergehende Interesse eines Mannes für eine Frau. Hass, Neid, Ehrgeiz bemächtigen sich des nur noch an einem Faden hängenden Glücks. Es ist jetzt nicht mehr schwer, es ganz zu zerstören.
So skrupellos Heinrich selbst in Liebesangelegenheiten ist, er duldet nicht, dass die Frauen ihn betrügen. Der leiseste Verdacht kann ihm genügen oder zum Vorwand dienen, ein junges Leben zu verderben, das ihm im Weg steht. Frivolität und Ungebundenheit bei Frauen liebt er nur, so lange sie seinem persönlichen Vergnügen dienen, ihn ergötzen. Erfahrung und seine eigenen Gelüste machen ihn misstrauisch und ungläubig. Es bedarf keiner großen Beweise, Heinrich von der Untreue und den Ausschweifungen einer Frau zu überzeugen. Sein Hof ist nicht dazu angetan, aus den Frauen, die in seiner Sphäre leben, unantastbare Wesen zu machen. Liebesverhältnisse verheirateter Frauen sind keine Ausnahme. Die Männer sind hemmungslos im Lebensgenuss, auch eine Königin ist für sie nicht unerreichbar. Intrige und Böswilligkeit sind Heinrich bereitwillige Helfer, das Glück der jungen Königin an seiner Seite zu untergraben. Er schenkt den Einflüsterungen nur zu gern Gehör, denn schon ist Anna ihm für seine Liebe zu Jane Seymour unbequem. Was ihm einst an Anna gefiel: ihre Koketterie, ihr leichtes, fast französisches Temperament, ihre fröhliche Ausgelassenheit, stößt ihn plötzlich ab. Er findet sie oberflächlich, keck. Er findet die Ansicht der Feinde Annas bestätigt, dass die Königin sich ihrer Würde nicht bewusst sei und allzu viel Frivolität an den Tag lege. Er sieht ihre entzückende Schönheit nicht mehr, ihre Jugend gilt ihm nichts mehr – sie ist jetzt 28 Jahre alt! Sein Interesse für Anna ist erloschen. Bald legen sich die Höflinge, als sie merken, dass der Einfluss der Königin auf ihren Gemahl von Tag zu Tag geringer wird, keinen Zwang mehr auf. Unumwunden sprechen sie zu Heinrich von dem zügellosen Leben, das Anna vor und während ihrer Ehe mit ihm geführt hat. Der intrigante Thomas Cromwell, des Königs Lordsiegelbewahrer, besonders tut alles, um Anna zu vernichten. Die so schnell zu Ruhm und Glanz Gelangte hat böse Feinde. Manchem am Hofe hat sie den Einfluss auf den König geschmälert, manchem hat sie die Staatskarriere verdorben. Die Katholischfühlenden hat sie mit Arroganz und Hochmut behandelt. Jetzt rächen sich besonders die, die sich durch den Protestantismus der Königin beleidigt sehen und ihre Übermacht fürchten. Kein Mittel ist Annas Feinden zu schlecht, um ihr Heinrichs völlige Ungnade zu verschaffen. Man geht so weit, sie der Blutschande mit ihrem Bruder, Lord Rochfort zu beschuldigen. Heinrich glaubt es, ohne Beweise dafür zu haben. Fünf andere Männer werden genannt, denen die Königin ihre Gunst schenkte. Bei Zweien scheint der Beweis augenscheinlich. Der Sänger und Tänzer Mac Smeaton und Lord Norris. Beide kommen in den Tower. Alle erwartet das Schafott. Bis zum Tod leugnet Lord Norris als echter Ritter jede Schuld Annas. Der Tänzer allein gesteht einiges, um der qualvollen Folter zu entgehen. Man weiß nicht, ob er in seiner Todesangst die Wahrheit spricht. Aber auch ihm nützt das Geständnis nichts. Auch ihn trifft des Henkers Beil.
Die Renaissancemenschen setzen ihren Leidenschaften selten Schranken. Heinrich genügen diese Sühneopfer zweier Menschenleben nicht. Sein Herz sinnt auf noch mehr Rache. Anna Boleyn, die er zur Königin hat krönen lassen, hat ihm in den Augen der Welt die Schande des Ehebruchs angetan. Sie hat sich in seinen Augen als Dirne benommen. Dafür muss sie büßen. Seine erste Frau hat er verstoßen, weil er einen Sohn wünschte, sie ihm aber ein Mädchen gebar. Er hat sie verstoßen, weil sie ihm nicht mehr gefiel, weil sie alt wurde. Die zweite, kokett, genußsüchtig, schön und jung, gefällt ihm vielleicht in seinem Inneren noch, aber auch sie hat ihm nicht den von Wahrsagern prophezeiten Thronerben geschenkt. Es muss eine andere sein, die das Orakel erfüllt. Er will und kann aber Anna nicht ihrem Leben der Freude und des Genusses überlassen. Wohl hat er ihre Liebhaber beseitigt; sie wird sich andere nehmen, wenn Heinrich sich von ihr scheiden ließe. Daher muss Anna sterben. Anfangs zwar gibt es zwischen den furchtbaren Szenen des Königs und der Königin immer wieder Versöhnung. Anna ist Heinrichs größte Liebe gewesen. Immer wieder versteht sie es, ihn an sich zu ziehen, bis ihr Schicksal um so sicherer entschieden ist, als sie fast drei Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Elisabeth, am 29. Januar 1536, einen toten Knaben zur Welt bringt. Damit sieht Heinrich die Hoffnung auf einen Thronerben vernichtet. Er will Anna nicht mehr. Sie hat ihn doppelt enttäuscht.
Am 2. Mai, nur wenige Monate nach dem unheilvollen Ereignis, verkünden die Kanonen des Tower, dass man das Tor der großen Staatsverräter öffnen wird, um es hinter einer sehr hohen Persönlichkeit wieder zu schließen. Von der Themse her ist in heimlicher Nacht ein Boot gekommen. An Bord befindet sich die unglückliche Königin, die für immer die Ungnade ihres Herrn und Gemahls getroffen hat. Es nützt ihr nichts, dass sie hoch und heilig ihre Unschuld beteuert. Es nützt ihr nichts, dass sie an Heinrich schreibt: „Niemals hatte ein Fürst eine Frau, die ihre Pflichten treuer und in größerer Liebe erfüllte, als Anna Boleyn.“ Heinrich beachtet diesen Brief kaum. Eine neue Leidenschaft hält ihn gefangen. Er hat keine Zeit, kein Interesse, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Er hat nur Auge und Ohr für Jane Seymour. Mit ihr feiert er rauschende Feste, mit ihr hält er tolle Gelage, erlebt er neue Liebe, einen neuen Rausch, während Anna Boleyn im Kerker des Tower auf den Knien liegt und heiße Gebete zu Gott schickt. Während sie in finsteren, schauerlichen Nächten zu Tode verwundet schluchzt, Gott möge sie erhören und des Königs Herz erweichen. Es ist nicht möglich, dass er sie, die er geliebt, so jung, fallen lasse, dass er sie dem Henker ausliefern werde. Umsonst! Das Todesurteil wird wenige Tage später gesprochen, ohne Anna Gelegenheit gegeben zu haben, sich zu verteidigen. Als man sie am 19. Mai zur Richtstätte führt, ist sie gefasst. Sie geht aufrecht in einem tief ausgeschnittenen schwarzen Kleid, das ihr totenbleiches Gesicht nur noch mehr hervorhebt. Sie hat dieses Kleid angelegt, damit dem Henker erspart bleibe, ihr die modische steife Halskrause mit der Schere aufzuschneiden.
Nachdem sie alle, denen sie Unrecht getan, um Verzeihung gebeten hat – auch für Heinrich betet sie zu Gott – fällt das schöne Haupt Elisabeths Mutter unter dem Beil. Gleich nach der Hinrichtung spricht derselbe Erzbischof von Canterbury, Thomas Cranmer, der sich einst am eifrigsten um die Scheidung Heinrichs von Katharina von Aragon bemühte, jetzt die Nichtigkeitserklärung der Ehe des Königs mit Anna Boleyn aus. Und damit macht er sein Patenkind, Prinzessin Elisabeth, rechtlos, zum Bastard! Sie hat nicht nur die Mutter verloren, sondern auf ihr lastet auch der Makel der Illegitimität.
Im Grunde genommen bleibt das Unglück Anna Boleyns für viele ein Rätsel. Manche am Hofe wollen durchaus nicht an die vorgebrachten Gründe glauben. Die Protestanten, deren Beschützerin sie war, zweifeln. Hat sie wirklich die Ehe gebrochen? Oder war alles nur Vorwand von Heinrich, um sie los zu sein? Waren hier Intrigen ihrer Feinde im Spiel? Hatten sich die Katholiken für den Bruch Heinrichs mit Rom an Anna, der Ursache dazu, der glühenden Protestantin, gerächt? Viele Jahre später, als ihre Tochter Elisabeth zur Regierung kam, meldete sich noch einer der Verteidiger der Ehre Annas bei der Königin. Elisabeth erhielt im September 1559 einen Brief des Doktors Alexander Ales, eines angesehenen Protestanten. Als Augenzeuge des Todes ihrer Mutter bezeugte er der Königin: Anna sei das Opfer ihrer Anhängerschaft an die Reformation gewesen. Die Verleumdungen über ihr Privatleben habe man nur als Vorwand gebraucht, um ihren Einfluss auf Heinrichs Kirchenpolitik zu vernichten. In ihrem Inneren pflichtete Elisabeth dieser Annahme wohl bei, sie tat indes nichts, um die Ehre ihrer unglücklichen Mutter zu rehabilitieren. Vielleicht wollte sie aus kluger Vorsicht das Vergangene nicht wieder aufstöbern. Vielleicht wären Dinge zum Vorschein gekommen, die die Rechtmäßigkeit ihrer Thronfolge hätten erschüttern können. Aber nicht nur aus diesen Staatsgründen unterließ Elisabeth es, sondern die Erinnerung an ihre Mutter hatte sich in ihrem Herzen nicht befestigen können. Sie war noch zu klein gewesen, um das Furchtbare im Leben Anna Boleyns richtig zu erfassen und nachzuempfinden. Eine Hinrichtung war außerdem eine nicht außergewöhnliche Staatshandlung, von der die damalige Zeit weiter kein Aufhebens machte. Was Elisabeth von der Schönheit und Jugend, von der Liebenswürdigkeit und Beliebtheit Anna Boleyns wusste, erfuhr sie höchstens heimlich von Freunden ihrer Mutter, denn sprechen durfte man in Gegenwart des Kindes nie öffentlich von Anna. Ihren Tod beklagten übrigens wenige. Die meisten wagten nicht, ihr Bedauern zu zeigen. La reine est morte, vive la reine, hätte man an Heinrichs Hofe rufen können, als Anna nicht mehr unter den Lebenden weilte. Die neue Leidenschaft Heinrichs VIII., Jane Seymour, ließ jetzt als zukünftige Königin alles Gewesene vergessen.
Elisabeth I. Königin von England
Im November 1558 läuteten die Glocken von St. James eine blutige Zeit zu Ende. Maria Tudor, die Katholische, hatte ihre fünfjährige grausame Regierung beendet. Es war ein harter Kampf zwischen Katholiken und Protestanten gewesen. Dreihundert Protestanten ließen, während Maria auf dem englischen Thron saß, ihr Leben auf den Scheiterhaufen von Smithfield. Sie starben für ihren neuen Glauben. Viele andere traf das Beil des Henkers, der Marterpfahl oder die Kerker des Tower. Der Tochter Heinrichs VIII., aus seiner Ehe mit Katharina von Aragon, war es gelungen, das Staatsruder in die seit zwanzig Jahren verlassenen Bahnen der katholischen Herrschaft zurück zu lenken. Mit schroffer Hand, allen Gegnerschaften zum Trotz, hatte sie es verstanden, sich zu behaupten. Jetzt aber, am Tage ihres Todes, vergaßen Katholiken und Protestanten, dass sie Feinde waren. Alle atmeten auf in dem einen Gedanken: Königin Mary ist tot! Ein langer, furchtbarer Traum war zu Ende! Und auf das Sterbegeläut folgten die jubelnden Glocken, die das stark protestantisch empfindende englische Volk aufforderten, vor einer neuen, jungen Königin das Knie zu beugen und ihr zu huldigen.
Die junge Herrscherin war Elisabeth, die Stiefschwester der Verstorbenen – und ihre Gegnerin. Zu dieser Gegnerschaft wurde der Keim bereits in der Kindheit in Elisabeths Herz gelegt, teils durch die vielgefährdete und beispiellos schwierige Lage, in der sie sich der eifer- und rachsüchtigen Schwester gegenüber befand, teils durch die kirchlich-religiösen Spannungen Englands überhaupt.
Sowohl Maria als auch Elisabeth durchliefen eine harte Schule des Lebens. Ihre Kindheit und Jugend im Haus des gemeinsamen Vaters war reich an grausigen Geschehnissen. Maria Tudors Stolz wurde viele Jahre auf eine harte Probe gestellt. Heinrich VIII. ließ seine Frauen, wenn sie ihm unbequem wurden, entweder hinrichten oder er verstieß sie. Marias spanische Mutter erlitt das immerhin weniger grausame Schicksal. Sie wurde verstoßen. An ihrer Stelle erkor Heinrich eine junge, reizende Engländerin, die spätere Mutter seiner Tochter Elisabeth, Anna Boleyn. Sie endete auf dem Schafott.