Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-72716-9)
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© 2014 Beltz Nikolo in der Verlagsgruppe Beltz • Weinheim und Basel
Lektorat: Tarek Münch
Gestaltungskonzept: Atelier Bea Klenk, Bea Klenk/Sabina Riedinger
Umschlagfoto und Innenteilfotos: © Marlen Mauermann
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-72726-8
Inhalt
Dicke Freunde
Johnny, Franz und Waldemar
Freunde machen Kinder reicher
Angenommen, wie wir sind
Freunde sind Entwicklungshelfer
Was Kinderfreundschaften ausmacht
Wie sich Kinderfreundschaften entwickeln
»Jungsspiele«, »Mädchenkram«
Cliquen, Teams und beste Freunde
Ein Club mit eigenen Regeln
Allerbeste Freunde
Von Freunden Abschied nehmen
Freunde finden
Spielen verbindet
»Niemand will mit mir spielen«
Jedes Kind hat Superkräfte
Das Gegenteil von Freundschaft: Mobbing
Eigenbrötler und Einzelgänger
Jeder Freund eine eigene Welt
Ungleiche Freundespaare
Freunde in der Fantasie
Bücher als Freunde
Quellennachweis
Danksagung
DICKE FREUNDE
Für Kinder heißt Freundschaft vor allem eines: zusammen etwas machen. Ohne viele Worte entsteht so eine Verbundenheit, die sie trägt und stärkt – in dem wunderbaren Gefühl, gemocht zu werden.
Johnny, Franz und Waldemar
Johnny Mauser, Franz von Hahn und der dicke Waldemar sind dicke Freunde. Zu dritt auf einem Fahrrad radeln sie in den Morgen hinein, spielen Verstecken, ernten Kirschen und erobern mit einem alten Ruderboot den Dorfteich. Am Abend schwören sie sich hinter dem Hühnerstall ewige Freundschaft und beschließen, nie mehr auseinanderzugehen – all ihrer Verschiedenheit zum Trotz.
Gemeinsam Abenteuer zu erleben, viel miteinander zu spielen und am Abend in dem guten Gefühl einzuschlafen, fest mit anderen verbunden zu sein: Das wünschen sich auch Kinder von ihren Freunden, vom Kita-Alter an bis weit in die Pubertät hinein. Die Sehnsucht danach zieht Kinder hinaus aus dem vertrauten Familienkreis, hin zu anderen Kindern. Und lässt sie erste soziale Beziehungen knüpfen, die eigenen Gesetzen folgen und zu denen Erwachsene oft nur schwer einen Zugang finden: Zu stark unterscheiden sich Kinderfreundschaften von jenen Beziehungen, die wir Großen Freundschaft nennen.
Was uns Erwachsenen an unseren Freunden wichtig ist, haben Meinungsforscher im Jahr 2014 im Auftrag des Kaffeeherstellers Jacobs untersucht. Das Ergebnis: Freunde sind für uns in erster Linie zum Reden da. Sowohl Männer als auch Frauen leben ihre Freundschaften vor allem als einen vertrauten, offenen Austausch miteinander. Unter Kindern hingegen spielt Reden lange Zeit gar keine so große Rolle – dafür haben sie ja die Erwachsenen. Was einen Freund für ein Kind zum Freund macht, ist, dass man etwas mit ihm tun kann. Und genau dafür stehen auch Johnny Mauser und seine Freunde. Von ihrem ganzen langen Tag, den sie zusammen verbringen, ist kein einziger direkter Dialog überliefert – aber jede Menge Dinge, die sie zusammen getan haben: Rad fahren. Kieselsteine flippen. Seeräuber spielen. Angeln. Kirschen teilen. Pipi machen. Freundschaft schwören.
Und genau dieses aktive Miteinander ist es, was Kinder in Freundschaften über sich hinauswachsen lässt. Denn bei ihren gemeinsamen Abenteuern erfahren sie ganz konkret, dass die Stärke einer Gruppe stets in der Verschiedenheit der Einzelnen liegt: Das Geheimnis der erfolgreichen Kaperfahrt auf dem Dorfteich besteht schließlich darin, dass Johny Mauser am Ruder steht, Franz von Hahn mit seinem bunten Schweif das Segel stellt und der dicke Waldemar wie dafür gemacht ist, als Stöpsel das Loch in den Schiffsplanken zu stopfen.
Wir alle wünschen unseren Kindern solche Freunde, die ihre Entwicklung beflügeln und die sie über sich hinaus wachsen lassen. Mit denen sie spielen und lernen, toben und rangeln und sich ausprobieren können, und mit denen sie sich so fest verbunden fühlen wie die drei Freunde im Bilderbuch. Zwar können wir solche Freunde nicht für unsere Kinder finden. Und wir können sie auch nicht davor schützen, im stürmischen Auf und Ab der Kinderfreundschaften die eine oder andere herbe Enttäuschung zu erleben. Trotzdem können wir viel dafür tun, dass unsere Kinder es leichter haben mit dem Freundefinden. Wenn wir nämlich verstehen, wie unsere Kinder in Sachen Freundschaft ticken, können wir sie beim Knüpfen und Pflegen ihrer sozialen Beziehungen liebevoll und einfühlsam begleiten – und so unseren Teil dazu beitragen, dass sie das Glück erfahren, eines Freundes Freund zu sein.
Freunde machen Kinder reicher
»Libe Emilia«, schrieb meine Tochter Linnea mit sechs Jahren einen Brief an ihre Freundin. »Ich fermise dich und hab dich liep. Bite kom balt zu besuch und spil mit mir!« Große Gefühle stecken in diesen Zeilen: die Zuneigung zueinander, die Sehnsucht nach einander und die Freude daran, zusammen zu sein und miteinander zu spielen. Sie zeugen von Nähe und Verbundenheit, echter Wertschätzung und dem Gefühl großer Dankbarkeit dafür, einander gefunden zu haben. Sie belegen, wie wichtig ein Kind für ein anderes sein kann, und das lange vor der Teenagerzeit, in der die Peer Group zum sozialen Zuhause wird.
Angesichts solcher offensichtlich intensiver Emotionen ist es umso erstaunlicher, dass die sozialen Beziehungen von Kindern untereinander bis in die jüngste Vergangenheit hinein meist unter dem Radar der Erwachsenen flogen. In den vergangenen siebzig Jahren analysierten Bindungsforscher und Entwicklungspsychologen die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung bis ins kleinste Detail, bemaßen Mutter und Vater die zentrale Rolle im glücklichen und gesunden Aufwachsen eines jeden Kindes bei und konnten die große Bedeutung eines liebevollen, zugewandten Elternhauses gar nicht genug betonen. In der Folge befassen sich heute unzählige Elternratgeber mit der Frage, wie Mütter und Väter ihre Kinder lieben und verstehen, unterstützen und begleiten, erziehen und aufs Leben vorbereiten können. Gleichaltrige Freunde sind diesen Büchern allenfalls eine Fußnote wert. Dabei verbringen Kinder heute so viel Zeit unter Gleichaltrigen wie nie zuvor: Ob beim Babyschwimmen und in PEKiP-Kursen, bei Tagesmüttern und in Kitas, im Ganztagskindergarten oder in der Grundschule – andere Kinder sind überall. Wir müssen nur das Potential erkennen, das in diesen Begegnungen steckt. Sie nämlich sind es, die all unsere Bemühungen, unseren Kindern eine schöne Kindheit voller Liebe und Geborgenheit zu schenken, erheblich erleichtern können. Denn wenig macht ein Kind glücklicher als ein Abenteuer, das es mit seinem besten Freund teilen kann.
Richten wir deshalb einmal ganz bewusst den Fokus darauf, wie unsere Kinder das Leben anderer Kinder bereichern können, und umgekehrt, ohne dabei die Bedeutung von uns Eltern in irgendeiner Weise zu schmälern. Denn ja: Kinder brauchen ein stabiles Fundament, eine sichere, vertrauensvolle Bindung zu ihren Eltern, die für sie wie ein sicherer Hafen ist. Doch das heißt nicht, dass ihre Liebesfähigkeit in den ersten Lebensjahren auf uns Eltern beschränkt ist. Gerade wenn Kinder geborgen und geliebt aufwachsen, entwickeln sie auch schon sehr früh die Fähigkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, sie immer besser kennenzulernen und fest ins Herz zu schließen. Wenn wir sie dabei begleiten und unterstützen, machen wir ihnen ein großes Geschenk.
Was ist eigentlich Freundschaft?
Als »auf gegenseitiger Zuneigung beruhendes Verhältnis von Menschen zueinander« definiert der Duden die Freundschaft – und erfasst damit jenen kleinsten gemeinsamen Nenner, der Kinder- und Erwachsenenfreundschaften eint: Freundschaft heißt, dass man sich mag. Tatsächlich ist das deutsche Wort »Freund« aus dem gotischen »frijond« abgeleitet, was »lieben« bedeutet. Psychologen betonen außerdem die Freiwilligkeit, die Freundschaft ausmacht: Sie lässt sich weder erzwingen noch von außen herbeiführen. Echte Freunde haben sich immer aus freien Stücken füreinander entschieden.
Freundschaft ist ein sehr persönliches Thema. Eins, das unsere Herzen berührt. »Zeige mir deine Freunde, und ich sage dir, wer du bist« – in diesem griechischen Sprichwort liegt eine tiefe Wahrheit verborgen. Denn tatsächlich sind die Menschen, mit denen wir uns umgeben, immer auch ein Spiegel unserer selbst: unserer Träume und Wünsche, unserer Interessen und Leidenschaften, unserer Vergangenheit und unserer Gegenwart. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschlossen, in diesem Buch nicht nur alles Wissenswerte rund ums Thema Kinderfreundschaften zusammenzutragen, sondern auch ganz persönlichen Freundschaftserinnerungen und -erfahrungen Raum zu geben. Denn von niemandem können wir mehr über Kinderfreundschaften lernen als von den Kindern, die wir haben, und den Kindern, die wir selbst einmal waren.
Angenommen, wie wir sind
Eines Tages kam meine Tochter Linnea traurig von der Schule nach Hause und sagte: »Ich werde es niemals schaffen, eine gute Freundin zu sein.« Nach und nach stellte sich heraus, dass an diesem Tag die Schulpsychologin den Erstklässlern ein Buch vorgelesen hatte, aus dem sie lernen sollten, wie das geht: Freunde sein. »Man muss immer fröhlich und freundlich sein, und immer ehrlich, und immer seine Spielsachen teilen«, zählte Linnea auf. »Und man darf niemals meckern oder streiten oder beleidigt oder böse sein.« Als sie am Ende dieser langen Liste angelangt war, ergänzte sie treuherzig: »Ich glaube nicht, dass ich das so schaffen kann.«
»Mein Liebling, das kann keiner schaffen«, sagte ich und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. »Und für mich bedeutet gerade das Freundschaft: Dass man sich mag, auch wenn man nicht perfekt ist. Und dass man auch mal meckern oder streiten oder beleidigt sein darf und sich trotzdem noch gerne mag.«
Letztlich war es dieses Gespräch, das mein Interesse am Thema Kinderfreundschaften weckte. Denn es zeigte, welch überzogene Erwartungen wir oft an die Freundschaften der Kleinsten stellen – Erwartungen, die wir selbst in unseren eigenen Freundschaften niemals erfüllen könnten. Und so steht am Anfang dieses Buches, das vor allem von den Unterschieden zwischen Kinder- und Erwachsenenfreundschaften handelt, eine große Gemeinsamkeit, die die Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach so prägnant in Worte gefasst hat: »Freunde sind Menschen, die uns ganz genau kennen und trotzdem zu uns halten.«
Vor unseren Freunden müssen wir uns nicht verstecken – wir können uns so zeigen, wie wir sind. Und sie lieben uns nicht nur trotz, sondern oft sogar für unsere vermeintlichen Schwächen, die uns nicht perfekt, aber einzigartig machen. Unsere Kinder verinnerlichen diese Botschaft, indem wir sie ihnen vorleben. Und das heißt: Ihre Eltern im Umgang mit deren Freunden zu erleben ist die beste »Freunde-Schule«, die man Kindern wünschen kann.
Also: Kein schlechtes Gewissen, wenn Wochenenden und Ferientage nicht automatisch und ausschließlich für Verwandtschaftsbesuche, sondern einige auch für Freunde reserviert sind. Denn unsere Freunde, das sind unsere Wahlverwandten, unsere selbst gewählte zweite Familie. Erzählen wir unseren Kindern also, wie wir Freunde kennen und lieben gelernt haben, was uns verbindet und was unsere Freundschaft ausmacht. Zeigen wir ihnen, wie man sich streitet und wieder verträgt und auch über Raum und Zeit hinweg miteinander verbunden bleiben kann. Leben wir ihnen vor, dass kein Mensch perfekt sein muss, um Freunde zu haben. Und unsere Kinder erst recht nicht. Weil sie einzigartig, wunderbar und liebenswert sind – genau so, wie sie sind.
FREUNDE SIND Entwicklungshelfer
Menschenkinder sind von Geburt an soziale Wesen. Sie entdecken miteinander, lernen voneinander und knüpfen Beziehungen, die ihnen genau die Impulse geben, die sie gerade brauchen.
Was Kinderfreundschaften ausmacht
Mein Freund ist, wer mit mir spielt
Mama, Papa, Tasse, Ball – die ersten Worte kleiner Kinder beschreiben Menschen, Tiere und Gegenstände aus ihrem Alltag, hunderte Male gehört, bevor sie sie selbst sprechen. Dieser Hang zum Greifbaren, Konkreten ist typisch für kleine Kinder – deshalb ist es für sie so viel schwerer, etwa von einem Albtraum als von einem Ausflug zu erzählen. Umso interessanter ist es, dass die meisten Kinder bereits mit drei, spätestens vier Jahren das Wort »Freund« nicht nur kennen und verstehen, sondern auch selbst benutzen. Denn: All diese Freunde haben natürlich Namen. Natürlich könnte das Kindergartenkind auch einfach von Ida und Paul, Max und Elise erzählen, mit denen es Kuchenbacken oder Baggerfahren gespielt hat. Wenn es von seinen Freunden spricht, tut es jedoch mehr: Es macht eine Aussage über seine Beziehung zu einem Kind, über seine Gefühle ihm gegenüber. »Max ist mein Freund«, das heißt: Dieses Kind ist für mich etwas Besonderes, und ich will, dass ihr das wisst.
Dabei haben Kindergartenkinder ein sehr »verhaltensbezogenes Konzept von Freundschaft«, wie es die Entwicklungspsychologin Maria von Salisch nennt: Ein Freund ist der, der mit mir spielt und nett zu mir ist. Interessanterweise machen bereits sehr kleine Kinder diese Nettigkeit an einer gewissen Etikette fest. So konnten Verhaltensforscher beobachten, dass Zweijährige bevorzugt mit denjenigen Gleichaltrigen Kontakt aufnehmen, die sie mit einem Lächeln oder Blick begrüßen, die sie bei Bedarf mit liebevollen Berührungen trösten und die sich – wenn auch wortlos – entschuldigen, wenn sie ihnen aus Versehen weh getan oder etwas weggenommen haben. Doch ein Freund muss für Kindergartenkinder nicht nur nett, sondern auch nahe sein, und das im ganz wörtlichen Sinne. Denn zur Freundschaft gehört auch für die ganz Kleinen schon eine gewisse Vertrautheit, die sich erst einstellt, wenn man sich oft und regelmäßig sieht. Kein Wunder, dass die meisten Freunde von Kindern vor dem Schulalter im selben Viertel, oft sogar in derselben Straße wohnen! Oft entwickeln sich die allerersten Kinderfreundschaften dabei aus einer Freundschaft der Eltern heraus: Weil sich die Erwachsenen gerne sehen und häufig Zeit miteinander verbringen, kommen auch die Kinder regelmäßig zusammen und werden in der vertrauensvollen Atmosphäre der Erwachsenenfreundschaft dazu angeregt, untereinander eigene soziale Beziehungen zu knüpfen. Die meisten Kinderfreundschaften entstehen jedoch da, wo Kinder ohne ihre Eltern zusammenkommen und somit ganz auf ihre Altersgenossen konzentriert sind: bei der Tagesmutter, in der Kita und im Kindergarten.
Den »wichtigsten Sozialisierungsraum neben der Familie« nennen die Verhaltensbiologen Gabriele Haug-Schnabel und Joachim Bensel derlei Kindertagesstätten und beschreiben, wie etwa ab dem dritten Geburtstag die Gleichaltrigen dort den bislang meist vorgezogenen Erwachsenen den Rang als Spielgefährten ablaufen. Dadurch werden sie mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert. Etwa: Wie verteilt man die Rollen in einem Spiel, wenn keiner nachgeben will? Daraus leiten sich richtiggehende moralische Grundfragen ab: Was ist richtig oder falsch? Was ist gerecht, was ungerecht? Wodurch werden Menschen verletzt, und lässt sich das wiedergutmachen? Nicht umsonst beschreibt Entwicklungspsychologin Maria von Salisch Kinderfreundschaften als eine gute Möglichkeit, Sozialkompetenz und moralisches Bewusstsein zu entwickeln. »Freunde sind Entwicklungshelfer«, sagt sie.