Humoreske

Die Schlangendame


Erstes Kapitel

Er hatte nie den Ehrgeiz besessen ein Gelehrter zu sein

Als Herr Ewald Brock eben sein zweiundzwanzigstes Lebensjahr erfüllt hatte, gelang es ihm, zu seinem eigenen und aller seiner Bekannten Erstaunen, die Abiturientenprüfung zu bestehen. Es geschah an einem Gymnasium des äußersten Pommern und nicht mit Auszeichnung, sondern mit Ach und Krach und Note 3. Indessen, er hatte nie den Ehrgeiz besessen, ein Gelehrter zu werden, sondern es kam ihm fürs Erste nur darauf an, daß man ihm von Staatswegen die Erlaubnis zur Führung des Prädikates Student erteilte. Dieses Ziel hatte den dunklen Mühsäligkeiten seiner an zahlreichen humanistischen Bildungsanstalten des Vaterlandes durchmessenen Gymnasiastenlaufbahn den einzigen Glanz verliehen, und wenn ihn Horaz und Homer mit allen Ödigkeiten der lateinischen und griechischen Syntax drangsalten, wenn die üble Einrichtung der Mathematikstunden sein Dasein belästigte, so fühlte er sich in dem Gedanken aufgerichtet, daß eine Zeit kommen werde, bestimmt, allen diesen überflüssigen Molestierungen ein Ende zu bereiten, eine Zeit, in der Homer, Horaz und die Logarithmentafeln zu lächerlichen Schemen für ihn werden würden, auf dessen Visitenkarte die Abbreviaturen stud. med. und ein kunstreich verschlungener Zirkel stehen sollte, wie er den Korpsstudenten aus der miserablen Masse der unbemützten Streber emporhebt.

Als ihm daher aus dem Munde des Examenkommissars die Kunde geworden war, daß er mit Note 3 die Reifeprüfung bestanden habe, eilte er, noch in Prüfungsfrack und weißer Binde, auf das Telegraphenamt und sandte seinem Vater, dem würdigen Professor der Weltgeschichte an der Universität Halle, ein Telegramm, das kein anderes Wort enthielt als: Durch! Dann ging er ruhigen aber heiteren Geistes in das Gasthaus zum Schwarzen Adler, wo ein Mädchen namens Camilla das Amt einer Kellnerin bekleidete. Dieses Mädchen war groß, blond, nett, von ausgiebiger Busenfülle und zutraulichem Gemüte. Deshalb liebte es Herr Ewald Brock.

Für Gymnasiasten war Camilla verboten, weil es der Schwarze Adler auch war, und Herr Ewald Brock hatte es deshalb bisher nur wagen dürfen, spät abends und durch eine Hintertür den Ort seiner liebsten Zerstreuungen zu besuchen. Heute ging er ostentativ am hellen Tage durch das Vorderthor ein, begab sich auch nicht in die Kutscherstube, die er aus Gründen scheuer Vorsicht sonst zu frequentieren pflegte, sondern er setzte sich mit kühner Gelassenheit in die offizielle Gaststube zu den Honoratioren der Ackerbürgerschaft und nahm dort in aller Öffentlichkeit die Glückwünsche Camillas entgegen, die ihn heute mit einem Beitone von zärtlichem Stolze Mei gescheides Luderchen nannte. Denn sie war aus Sachsen.

Ich erachte es für unnötig, zu betonen, daß sich Herr Ewald Brock an diesem Abend nicht wie ein Wüstenheiliger benahm und Abscheu gegen spirituose Getränke an den Tag legte. Er betrank sich vielmehr mit einer gewissen planmäßigen und unerschrockenen Zielsicherheit. Erwähnt zu werden verdient aber, weil es einen schätzbaren Einblick ins Herrn Brocks Psyche gewährt, daß er dies, der Feier des Tages zu Ehren, nicht in Bier, sondern in einer absonderlichen Sorte Rotwein that, die sich von gewöhnlichen Rotweinmarken außer durch einen gewissen vitriolischen Geschmack darin unterschied, daß sie von Aussehen eher blau als rot zu nennen war. Diese koloristische Eigentümlichkeit vermochte es indessen nicht, Herrn Ewald Brock auch nur leise zu irritieren. Ihm war jeder Rausch gleich willkommen, ob es nun ein blauer oder ein roter war. Er hätte selbst gesprenkelte Räusche mit heiterm Gleichmut, ja mit Wohlgefallen und Dankbarkeit, hingenommen.

Als er nach Hause kam, hochgemut und trällernd, fand er auf seinem Tische ein Telegramm aus Halle vor. Der Alte ist doch ein braver Knabe, dachte er sich gerührt. Siehe, schon drahtet er Draht!

Als er aber das Telegramm aufgemacht hatte, las er die Worte: »Was soll das heißen. Bist du wieder durchgefallen oder endlich durchgekommen? Sofort Drahtantwort.« Dieser Mangel an Vertrauen kränkte Herrn Ewald Brock sehr. Er schritt ärgerlich in seinem Zimmer auf und ab und meditierte: Da hat man dem Alten nun den Gefallen gethan, hat sich, weiß Gott, geschunden wie ein Ochs, gebüffelt wie ein Pferd, und was thut er? Er macht Einem telegraphische Grobheiten dafür. Hätte mich schön gehütet, zu telegraphieren, wenn ich durchgefallen wäre. So was!

Auf einmal verwirrte sich was in seinem Gehirn. Es war ihm, als wenn sich eine molkige Masse zusammenballte, etwas ganz unbeschreiblich Scheußliches. Himmel! Am Ende bin ich wirklich durchgefallen und hab mir in der Besäuftheit das andre bloß eingebildet? Herrgottsdonner . . . aber ja, natürlich! Es kann ja gar nicht anders . . . .

Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, seine Augen glotzten ratlos durch die Fenster in die Nacht, und es kam ihm der Gedanke, daß er morgen die Schule verschlafen würde.

Aber wie er voll grimmiger Verzweiflung seine Hände in die Hosentaschen bohrte, da fühlte er in der rechten etwas knisterndes, und sogleich hellte sich sein Gesicht stupide fröhlich auf. Er ergriff das Knisternde und zog es heraus. Na ja, da stand sie schwarz auf weiß und ganz nüchtern, die staatliche Bestätigung seiner wissenschaftlichen Reife. Über alle Zweifel erhaben und unter Ausschluß jedes Betrunkenheitsverdachtes stand es kalligraphisch da, und Herr Ewald Brock las es mit kosenden Augen. Donnerwetter ja, er fühlte sich in diesem Augenblicke sogar von einem gewissen Hochgefühle offizieller Gelehrsamkeit erfüllt, und er fand, daß er in der That nicht unbeträchtliche Schätze seltenen Wissens in sich aufgespeichert trage. Massen einfach, Säcke, zum Bersten voll, geschwollene Schläuche voll edeln Weines. Das Entzücken überwältigte ihn und gab seiner Phantasie eine gewisse breit ausladende Kraft. Wie ein Magazin kam er sich vor, oder wie ein schwerer, schwankender Heuwagen. Aus diesem Grunde empörte es ihn etwas, daß er das wichtige Dokument, das alles dies bescheinigte, so respektlos zerknittert und mit blauroten Flecken unanmutig verziert in der Hosentasche herumgetragen hatte, und er nahm sich vor, mit derlei feierlichen und bedeutsamen Schriftstücken künftig pietätvoller umzugehen.

Im übrigen war er sehr müde. Donnerwetter: schon halb zwölf Uhr! Ganz Pommern schlief, und er durchgrübelte die Nacht! Also denn ins Bett gethan den gelehrten Leib! Oh Camilla! Puah! Was das Mädchen für Beine hat! Beine! Zumal oben 'rum.

Herr Ewald Brock hatte schon seinen rechten Stiefel ausgezogen und mit einem kraftvollen Schwunge, der Übung verriet, von der Spitze der Zehen gegen die Kleiderschrankthüre geschleudert, da überfiel ihn weiß Gott schon wieder ein Gedanke: Der Alte will ja Drahtantwort!

Es blieb Herrn Ewald Brock nichts anderes übrig, er mußte wiederum meditieren. Welch ein unglaublichere Tag! Dies nefastus cerebralis. Und dabei dieser Schädel! Ihm schien, er müsse birnenförmig sein und oben einen Stiel haben. Oh Camilla!

Ein alter Weltweiser aber hat gesagt, daß die Biene selbst aus bitteren Pflanzen Honig sauge. Herr Ewald Brock, obschon er keine Biene war, bewährte die Wahrheit dieser Sentenz. Er saugte aus der bitteren Notwendigkeit, morgen sehr früh aufstehen zu müssen, die erleuchtete und kandierte Idee, daß es das Beste sei, wenn er sich nicht hier, in seiner menschenleeren Wohnung, sondern drüben im Schwarzen Adler zu Bette legte. Denn dort war er sicher, früh geweckt zu werden, maßen Camilla pünktlich um sieben Uhr aufstehen mußte.

Trällernd, wie er in sie eingetreten war, verließ Herr Ewald Brock seine Wohnung.

10. Kapitel

Mädchen, Mädchen, studiere die Architektonik moderner Gelehrsamkeitstempel!

Herrn Ewald Brocks Beschäftigung war leider um ebensoviel unerfreulicher wie sie unästhetischer als die Pauls war. Daß er ein Tänzer wäre statt eines Medizinbeflissenen! Resigniert blickte er, so weit es ging, an seinem Bauch hinab. Himmlische Güte, was für ein Stück Fleisch wird man mit der Zeit! Das kommt von diesem vielen Sitzen hinter den Büchern.

Es kann nicht verschwiegen werden, daß Herr Ewald Brock zu Beginn seiner Garçon-Ehe die Tendenz zu einer gewissen beschaulichen Passivität hatte. Wozu studieren, wenns einem auch ohne dies so gut geht? Aber in dieser Hinsicht huldigte Paul ganz anderen Ansichten. Sie entwickelte Grundsätze von einer erstaunlichen Neigung fürs akademisch Löbliche. Als ob sie eine Gouvernante wäre, dazu bestellt, Herrn Ewald Brock zum Fleiße anzuhalten, ward sie nicht müde, immer und immer wieder an die Kollegs, an die Kliniken zu erinnern, ja, sie scheute sich gar nicht, selbst von den Stationen des Staatsexamens zu reden. Zwei hatte Herr Brock thatsächlich hinter sich. »Nu, hopla, die andern!« meinte Paul in ihrem weiblichen Eigensinn. »Weißt du, mein Dickes, in zwei Jahren allerspätestens muß die Geschichte geschehen sein. Du siehst, ich drängele nicht, aber länger darfst Du Deinen guten Alten wirklich nicht kränken. Schließlich wird er wild und heimst Dich ein. Na, und dann?«

Verflucht ja, und dann!

»Kind, Du mußt nicht an die Zukunft denken. Es ist, hä, es ist dumm, an die Zukunft zu denken. Man verekelt sich bloß die Gegenwart damit. Hakschebaksche, wie die weisen Greise in der Türkei voll Tiefsinn sagen. Lasset uns tanzen und fröhlich sein, denn es wäre möglich, daß wir morgen die Gicht hätten.«

Aber das Kind machte seine braunen Augen weit auf, so weit wie das Mädchen auf dem Pear-Soap-Plakat, und sprach:

»Laß Du die türkischen Greise sagen, was sie mögen, Dickes. Wir kriegen die Gicht noch lange nicht. Aber wer in Leipzig faul ist, muß in Halle streben. Daher ist es besser, in Leipzig nicht faul zu sein und an morgen zu denken. Thust Du's nicht, thu' ich's

Und, beim Himmel, sie that's recht ausgiebig und ermangelte nicht, auch Herrn Ewald Brock daran zu erinnern. Sie massierte ihn förmlich mit Ermahnungen. Wenn er das Mädchen nicht wirklich lieb gehabt hätte, wär er ihr längst durchgegangen.

So in der Fuchtel war er weiß Gott nicht einmal in Halle gewesen. Zu nachtschlafender Zeit bereits, früh um neune, holte Paul sein müdes Fleisch aus den Federn. Er wehrte sich mannhaft, wurde groß sogar, und die Not erleuchtete seine Phantasie zu kühn erfundenen Ausflüchten: Daß er Influenza habe, daß er nervös werde durch ungebührlich frühes Aufstehen, daß das lange Schlafen erblich sei bei den Brocks . . . Nichts half. Seine Lebensweise wurde umgekrempelt wie ein paar Hosen beim Ausklopfen. Es war keine Möglichkeit mehr, bis um elf zu schlafen, dann auf den Grimmschen Bummel, dann zum Frühschoppen ins Korpsstübchen und abends um sechs Uhr zum Mittagstisch zu gehn, um sich stark und tüchtig zu machen für lehrreiche Nachtwandelungen mit Stilpe. Stilpe war überhaupt abgeschafft.

»Das ist kein Umgang für Dich,« sagte Paul. »Stilpe soll alleine versumpfen, bis er's selber dicke kriegt. Der frißt sich schließlich auch ohne Staatsexamen durch. Ein Klappenwerk wie seins kommt nie aufs Trockene. Paß auf, er wird mal Journalist oder sonst was Gemeinnütziges und verdienst sich ganze Hüte voll Geld. Aber Du, mein Dickes, was willst denn Du machen, wenn Du kein Staatsexamen machst?«

»Paul, Du mußt mich nicht für ein Nilpferd halten; das ist beleidigend.«

»Na, so mach Dein Staatsexamen, daß ich sehe, wie gescheit Du bist!«

»Werd' ich machen, Paul, werd' ich! Verlaß Dich, hä, verlaß Dich darauf. Aber ich bitte Dich: Nicht drängeln! Ich bin das nicht gewöhnt. Es macht mich, hä, nervös macht mich's. Du siehst ja, wie ich in den Kliniken herumstrebe. Seit drei Wochen stirbt hier kein klinischer Fall, den ich nicht Dir zu Liebe studiert hätte!«

»Ja, weil ich Dich hinführe, Dickes. Alleine gingst Du nie!«

Herr Ewald Brock lächelte bei diesen Worten.

»Was giebt's denn da zu feixen, Dickes?«

»Ich lächle Dir Dank, mein unentwegtes Mädchen. Komm, führ Dein Lamm auch heute zur Schlachtbank!«