Michail Sergejewitsch Gorbatschow, geboren 1931 in Priwolnoje (Kaukasus), studierte in Moskau Jura und arbeitete als Agraringenieur in seiner Heimatregion Stawropol. Nach einer steilen Parteikarriere war er von 1985 bis 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. 1986 begann er seine Kampagne für Perestrojka (»Umbau«) und Glasnost (»Offenheit«). 1990/91 war er Präsident der Sowjetunion und erhielt 1990 den Friedensnobelpreis. 1992 gründete er die Gorbatschow-Stiftung, 1993 die Umweltschutzorganisation Internationales Grünes Kreuz. Seit dem Tod seiner Frau Raissa lebt Gorbatschow unweit seiner Tochter Irina bei Moskau.
Kosename nach dem berühmten Porträt eines Bauernmädchens, gemalt 1825 von dem russischen Künstler Alexej Gawrilowitsch Wenezianow (Anm. d. Übers.)
1 Desjatine = 1,09 Hektar (Anm. d. Übers.)
Die Deutschen nannten die Katjuscha »Stalinorgel«. (Anm. d. Übers.)
Höchster Unteroffiziersrang in der Sowjetarmee; entspricht in etwa dem Hauptfeldwebel. (Anm. d. Übers.)
Zu Informationen über die im Text genannten Personen siehe das Personenverzeichnis.
Kiewer Reich: Mittelalterlicher Vorläuferstaat der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Weißrussland mit Zentrum in Kiew. (Anm. d. Übers.)
Ostap Bender ist eine fiktive Gestalt aus den beiden Romanen von Ilf und Petrow, Zwölf Stühle und Das goldene Kalb. Bender, ein Hochstapler auf der Jagd nach Reichtum, ist die Hauptfigur dieser beiden in den zwanziger Jahren entstandenen satirischen Romane, die zu den meistgelesenen und -zitierten Werken der russischen Literatur gehören. Die Autoren setzen sich darin kritisch mit der sowjetischen Gesellschaft auseinander. (Anm. d. Übers.)
Strafprozess gegen eine Gruppe bekannter sowjetischer Ärzte, die im Kreml-Krankenhaus arbeiteten und 1952 verhaftet wurden. Die Anklage lautete: Verbindungen zum amerikanischen Geheimdienst, Bildung einer »zionistischen Verschwörung« und Mord an sowjetischen Führern. Die Meldung über die Entlarvung und Verhaftung der »Sabotageagenten im weißen Kittel« wurde am 13. Januar 1953 in der Prawda veröffentlicht. Der Prozess wurde Anfang März 1953 eingestellt, die Verhafteten wurden Anfang April freigelassen.
Zdeněk Mlynář war damals Student aus der Tschechoslowakei. 1968 wurde er einer der Anführer des »Prager Frühlings« und lebte danach lange Jahre in der Emigration.
Kommunistitscheskij sojus molodjoschi, »kommunistischer Jugendverband«, abgekürzt: Komsomol, Jugendorganisation der KPDSU. (Anm. d. Übers.)
Nach dem Besuch von Farmen im amerikanischen Staat Iowa oktroyierte Chruschtschow den Bauern Ende der fünfziger Jahre eine breit angelegte Kampagne für den Mais-Anbau.
Die Episode ereignete sich am 12. Oktober 1960 während der Sitzung der 15. UNO-Versammlung, die den Ungarn-Aufstand zum Thema hatte. Chruschtschow drückte mit dieser Geste sein Missfallen über den Referenten aus.
Am 1. Dezember 1962 besuchte Chruschtschow eine Ausstellung abstrakter Kunst in der Manege und fiel wütend über die Teilnehmer dieser Ausstellung her.
Agitproptheatergruppe; in den zwanziger und dreißiger Jahren in der UDSSR verbreitetes Genre von Laientheatervorstellungen Jugendlicher. Das Repertoire der »Blauen Bluse« bestand aus literarischen Montagen, Revuen, Szenen, Chor- und Tanznummern, die das Arbeits- und gesellschaftliche Leben sowie internationale Ereignisse thematisierten.
Alexej Nikolajewitsch Kosygin (1904–1980) strebte eine Reform der Lenkung der Industrie an, bei der Elemente marktwirtschaftlicher Anreize in die Planwirtschaft eingeführt werden sollten. Die Reformvorschläge wurden auf dem Plenum des ZK der KPDSU vom September 1965 gebilligt, dann aber nicht in die Praxis umgesetzt.
Der Name Nowaja gaseta (»Neue Zeitung«) steht für investigativen Journalismus. Sie ging 1999 aus einer der ersten unabhängigen russischen Tageszeitungen hervor, die Chefredakteur Dmitrij Muratow mit Kollegen der ehemals sowjetischen Jugendzeitung Komsomolskaja Prawda gründete. (Anm. d. Übers.)
Vor kurzem wurde Luschkow entlassen. Das geschah sicher nicht ohne ernsthafte Gründe.
Khanpalast in Bachtschyssaraj, heute ein schöner Ausflugsort und Zentrum der krimtatarischen Kultur. Hier herrschten 300 Jahre lang die Khane, bis Katharina die Große den letzten Khan absetzte. Der Bau des Palastes, der von italienischen, türkischen, russischen und ukrainischen Baumeistern entworfen wurde, zog sich fast 200 Jahre hin. Besondere Berühmtheit erlangte der »Tränenbrunnen« im Hof des Palastes durch das Gedicht »Die Fontäne von Bachtschyssaraj« von Alexander Puschkin. (Anm. d. Übers.)
Tschebureki: herzhafte gefüllte Teigtaschen, die ursprünglich aus der Küche der Krimtataren stammten. (Anm. d. Übers.)
Ten Days that Shook the World ist ein Roman des US-amerikanischen Journalis- ten und überzeugten Sozialisten John Reed über die Oktoberrevolution von 1917. Das Buch erschien 1919 mit einem Vorwort von Lenin. Später wurde es von Stalin zensiert. (Anm. d. Übers.)
Gedichte von Andrej Wosnesenkij (Anm. d. Übers.)
Nach der Musik des armenischen Komponisten Aram Chatschaturjan (1903–1978). (Anm. d. Übers.)
Vorsitzender des Ministerrats nach Kosygins Tod 1980
Heute: Romanow Pereulok
Bevor Tichonow Vorsitzender des Ministerrats wurde, war er stellvertretender Minister für Metallurgie und stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Planungskommission.
Andropow starb am 9. Februar 1984. (Anm. d. Übers.)
Einer der ältesten und angesehensten Führer der PCI
Gemeint ist der KGB. (Anm. d. Übers.)
Die »Breschnew-Doktrin« oder »Doktrin beschränkter Souveränität« ist eine von westlichen Politikern formulierte Charakterisierung der Außenpolitik Breschnews. Im Fall einer Bedrohung der Integrität der »sozialistischen Gemeinschaft« wäre die UDSSR berechtigt gewesen, sich in die inneren Angelegenheiten der Warschauer-Pakt-Staaten einzumischen. Dieses Prinzip war die ideologische Grundlage für den von der UDSSR eingeleiteten Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei im August 1968.
Die Belowescher Vereinbarung wurde am 8. Dezember 1991 von den Staats- und Regierungschefs der Russischen Föderation, der Ukraine und Weißrusslands unterzeichnet. Damit wurde der offizielle Schlussstrich unter die Auflösungserscheinungen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UDSSR) gezogen. Gleichzeitig wurde die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet. (Anm. d. Übers.)
Im Politbüro des ZK der KPDSU … Nach Aufzeichnungen von Anatolij Tschernjajew, Wadim Medwedew und Georgij Schachnasarow (1985–1991). 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Gorbatschow-Stiftung, Moskau 2008. Die erste Auflage erschien 2006.
glasnost = »Offenheit« im Sinne von Rede- und Informationsfreiheit (Anm. d. Übers.)
Der 20. Parteitag der KPDSU vom 14. bis zum 25. Februar 1956 in Moskau war der erste sowjetische Parteitag nach Stalins Tod. Nikita Chruschtschow machte dort einige von Stalins Verbrechen, insbesondere die »Säuberungen« an Parteimitgliedern, bekannt und verurteilte sie. Der Parteitag markierte eine Wende in der Geschichte der Sowjetunion. (Anm. d. Übers.)
Die deutsche Ausgabe des Buches erschien 1987 unter dem Titel Perestroika. Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt bei der Droemerschen Verlagsanstalt. (Anm. d. Übers.)
Das wirtschaftliche Konzept der »Neuen Ökonomischen Politik« (NEP) hatten Lenin und Trotzkij 1921 eingeführt. Sie war vor allem durch eine Liberalisierung in Landwirtschaft, Handel und Industrie gekennzeichnet und gestattete der Wirtschaft auch marktwirtschaftliche Methoden. (Anm. d. Übers.)
Gemeint ist Viktor Alexandrowitsch Sojfer, seit 1993 Direktor des Instituts für Systeme zur Verarbeitung von Signalen der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Der Chefredakteur der Sowjetskaja Rossija
19. Parteikonferenz: Im Gegensatz zu Parteitagen und ZK-Sitzungen fanden Unionsparteikonferenzen nur sehr selten und aus einem gegebenen Anlass statt.
Kaum jemand konnte sich damals vorstellen, dass in Jelzins postsowjetischem Russland die Zahl der Beamten die der Sowjetunion um das Anderthalb- bis Zweifache übersteigen und Jelzin selbst drei, vier Jahre später alle möglichen Privilegien für sich in Anspruch nehmen würde.
Das neue Programm, das die Frankfurter Deklaration von 1951 ersetzte, wurde 1989 vom 28. Kongress der Sozialistischen Internationale verabschiedet.
Quelle: Polit.ru vom 2. August 2010, gekürzt
Valentin Pawlow, vorher Finanzminister, wurde im Januar 1991 zum neuen Leiter des Ministerkabinetts ernannt, da Ryschkow im Dezember 1990 schwer erkrankt war.
In einem seiner Auftritte merkte Viktor Schejnis dazu an, wenn Jelzins Forderungen im Frühjahr 1991, Gorbatschow abzusetzen, realisiert worden wären, hätten die Putschisten im August höchstwahrscheinlich Erfolg gehabt.
Nesawisimaja gaseta, 6. Mai 1992
Literaturnaja gaseta, 1992
Rabotschaja gaseta, 11. Dezember 1991
Die Vereinbarung von Belowesch (auch bekannt unter dem Namen »Minsker Abkommen«) wurde vom Obersten Sowjet der Russischen Föderation am 12. Dezember 1991 ratifiziert.
Mit dem Abkommen von Alma-Ata gründeten elf Staaten der ehemaligen Sowjetunion am 21. Dezember 1991 förmlich den Staatenbund »Gemeinschaft unabhängiger Staaten« (GUS). Ursprünglich gehörten ihm Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien, Moldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, die Ukraine und Usbekistan an. (Anm. d. Übers.)
s. Robert M. Gates, From the Shadows: The Ultimate Insider’s Story of Five Presidents and How They Won the Cold War, New York 1996, S. 496
ebd., S. 503
Dem Gedenken an meine Frau
Ein Jahr ohne Raissa. Wir, die Angehörigen und enge Freunde, haben uns heute versammelt, um den Grabstein zu enthüllen. Er stammt von dem Bildhauer Friedrich Sogojan. Eine farbige Marmorplatte – wie ein blühendes Feld. Große Steine. Die Inschrift: »Raissa Maximowna Gorbatschowa. 5. Januar 1932–20. September 1999«. Die Gestalt einer jungen Frau, die Raissa sehr ähnlich sieht. Sie bückt sich, um Feldblumen auf die Grabplatte zu legen.
Ein Jahr ist vergangen, das allerschwerste vielleicht. Mein Leben hatte seinen eigentlichen Sinn verloren. Ich brauchte Monate, um zu mir zu kommen. Was mich gerettet hat, ist die Nähe zu meiner Tochter Irina, meinen Enkelinnen Xenia und Anastasia sowie Freunde.
Nach Raissas Tod stellte ich für einige Monate meine Reisen und öffentlichen Auftritte ein. Ich verbrachte die ganze Zeit auf meiner Datscha. Nie zuvor habe ich mich so furchtbar einsam gefühlt. Fast fünfzig Jahre waren Raissa und ich zusammen, einer an der Seite des anderen, und nie haben wir das als Last empfunden, im Gegenteil: Es ging uns immer gut zu zweit. Wir liebten uns, obwohl wir auch unter vier Augen nicht groß darüber sprachen. Die Hauptsache war: Wir wollten all das bewahren, was uns in unserer Jugend zusammengebracht hatte. Wir verstanden uns und hüteten unsere Beziehung.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich schuld bin an Raissas Tod. Ich rufe mir alles ins Gedächtnis zurück, um herauszufinden, wie es möglich war, dass ich sie nicht habe retten können. Ich habe gesehen, wie sehr ihr die Ereignisse der letzten Zeit zusetzten: Wie konnte es geschehen, dass unanständige, gewissen- und verantwortungslose Menschen in unserem Land die Oberhand gewonnen hatten? Raissa kam ständig auf dieses Thema zu sprechen, und wenn ich ihr vorhielt, man könne nicht die ganze Zeit an ein und dasselbe denken, zog sie sich in ihr Schneckenhaus zurück und schwieg. Sie tat mir leid. Es quälte mich, dass sie litt.
Immer wieder kommt mir die Erinnerung an die letzte Nacht, die sie lebte, die Nacht vom 19. auf den 20. September. Raissa starb am 20. September 1999, um 2 Uhr 57. Sie starb ohne Schmerzen, lag im Koma. Wir konnten einander nichts zum Abschied sagen. Sie starb zwei Tage vor der geplanten Stammzellentransplantation aus dem Knochenmark ihrer Schwester Ljudmila – fünf Tage vor dem 46. Jahrestag unserer standesamtlichen Trauung in Moskau.
Bis zum Ende glaubte ich an ihre Rettung und konnte das Geschehene lange nicht fassen. Hilflos und verstört standen Irina und ich an ihrem Bett: »Geh nicht fort, Sacharka.[1] Hörst du?« Ich ergriff ihre Hände in der Hoffnung, sie würde mir vielleicht mit einem Händedruck antworten. Raissa schwieg – sie war tot.
Vor der Krankheit hatten Raissa und ich wiederholt über unsere Zukunft gesprochen. Einmal hörte ich von ihr: »Ich möchte nicht ohne dich zurückbleiben. Das ist kein Leben für mich. Du, du heiratest dann eben und lebst weiter.« Ich war erschüttert darüber, was ihr durch den Kopf ging. »Was redest du?! Wie kommst du darauf? Wieso sprichst du vom Tod? Du bist jung, schau dich im Spiegel an. Hör, was die Leute sagen. Du bist einfach müde!«
»Ich will keine alte Frau sein«, sagte sie oft. Als dann die Enkel kamen, musste entschieden werden, wie sie uns beide anreden sollten. Sie wollte »Babulja« genannt werden. »Babuschka, das klingt so klapprig, aber Babulja, da steckt doch Energie drin!« So war sie eben …
Raissa mochte den Spruch vom Alter einer Frau: »Kind, Mädchen, junge Frau, junge Frau, junge Frau, junge Frau – eine alte Frau ist eine tote Frau.«
In den letzten Jahren unseres Zusammenlebens träumte sie oft davon, dass einer von uns stirbt. Immer häufiger merkte ich, dass sie Angst hatte. Manchmal sagte sie: »Lass uns weniger reisen.« Es fiel ihr zunehmend schwer, weite Reisen mit mir zu unternehmen. Doch wie ich an ihren traurigen Augen ablas, fiel es ihr noch schwerer, allein zurückzubleiben.
In jener Nacht standen Irina und ich an ihrem Bett. Wir weinten und konnten nichts mehr machen.
Raissas Geburtstag. Sie wäre 69 Jahre alt geworden. In unseren Gesprächen über die Zukunft hat sie oft gesagt: »Wenn ich bis zum Anbruch des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends leben würde, wäre das vollkommen ausreichend.« Sie hat dieses Ziel um drei Monate verfehlt. Dabei hatten wir einen Plan: Wir wollten das Jahr 2000 so begrüßen, dass wir es nie vergessen würden. Und da Irina und die Kinder noch nie in Paris waren, hatten wir vor, das Jahr 2000 auf den Champs-Élysées in dieser wunderbarsten Stadt der Welt zu begrüßen.
Darauf freuten wir uns, bis uns dieser schreckliche Verlust traf. Und trotzdem bin ich mit den Mädchen nach Paris gefahren, ihr Weihnachtsgeschenk von Raissa.
Heute waren wir auf dem Neujungfrauenfriedhof. Wir haben viele Blumen mitgebracht – Vorweihnachtszeit. In der Nacht ist Schnee gefallen. Ich habe Raissas Lieblingsblumen mitgebracht: rote Rosen. Ein unvergessliches Bild: die roten Rosen auf dem blütenweißen Schnee. Auf der Grabplatte.
Als wir zurückkamen, haben wir uns an den Tisch gesetzt. An der Wand ein großes Porträt von ihr, im Zimmer Blumen, brennende Kerzen, der geschmückte Weihnachtsbaum und der Duft von Nadelholz. Auf dem Tisch alles, womit sie uns immer verwöhnte. Kurz: eine russische Tafel mit sibirischem Anstrich in Gestalt von Pelmeni und der Torte namens »Avantgarde«, die in der Kreml-Konditorei zubereitet wurde und deren Name von Raissa stammt. Wir hoben die Gläser und standen schweigend da …
Mit Irina, Anastasia und Xenia, 2009
Quelle: A. Trukhachew
Nach dem Abendessen ging ich nach oben in mein Arbeitszimmer. Ich machte kein Licht und stand am Fenster. Das von Laternen beleuchtete Datschengrundstück, der dichte russische Wald und der unentwegt fallende Schnee – ich kam mir vor, als säße ich im Bolschoi-Theater, im Nussknacker. Wir hatten eine Familientradition, nach der wir jedes Jahr an Silvester ins Bolschoi-Theater gingen. Wir schauten uns den Nussknacker an, und wenn wir nach Hause kamen, feierten wir den Ausklang des alten Jahres und verteilten die Geschenke, die Väterchen Frost trotz der erhöhten Sicherheitsstufe in die Präsidentenvilla geschleust und uns unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte. Musik, fröhliches Beisammensein …
All das sind nun Erinnerungen an ein vergangenes Leben, an die Zeit, da wir alle noch zusammen waren.
Raissa liebte den russischen Winter, besonders wenn es ordentlich stürmte und schneite. So war es schon, als wir noch in der Region Stawropol wohnten, wo wir uns sogar einmal bei einem Schneetreiben verirrt haben. Und so war es auch in Moskau. Raissa stammt aus dem Altai-Gebirge und wuchs in Sibirien auf. Ein paar Jahre lebte die Eisenbahnbauer-Familie auch im Nordural in der Taiga.
Oft erzählte sie von Schlittenfahrten, bei denen die drei Kinder Raissa, Shenja und Ljudotschka in Pelzmäntel eingepackt an einen neuen Wohnort gebracht wurden. An Winterabenden war es in den Familien Brauch, die berühmten Pelmeni zu kneten, sibirische Teigtaschen, die man einfror und in einem Sack an der eiskalten Luft aufbewahrte. Pelmeni, das war Raissas Leibgericht.
Wieder komme ich auf ihre letzten Tage zurück. Tapfer kämpfte sie um ihr Leben und ertrug geduldig alles, was die Ärzte mit ihr anstellten. Es war eine Qual, das mit ansehen zu müssen. In Minuten der Verzweiflung suchte sie in meinen Augen und in denen ihrer Tochter nach einer Antwort auf die Frage, wie es mit ihr weitergehen würde.
Als Raissa am 19. Juli nach der Diagnose ins Krankenzimmer gebracht wurde, ging ich zu ihr. Sie schaute mir in die Augen und fragte: »Was haben die Ärzte gesagt?«
Vorsichtig sagte ich: »Sie sagen, es handle sich um eine akute Blutkrankheit.«
»Ist das das Ende?«, fragte sie.
»Nein. Wir haben beschlossen, morgen mit dir nach Deutschland zu fliegen, wo man zusätzliche Untersuchungen vornehmen wird, um sich ein genaues Bild von der Krankheit zu verschaffen. Dort wird auch entschieden, wie sie zu heilen ist.«
Wir flogen nach Münster mit der Hoffnung auf Raissas Genesung. Am 21. September mussten wir mit der toten Raissa zurückkehren.
Ich beschloss, ein Buch über unser Leben zu schreiben. Das hatte ich schon lange vor, brachte es aber nicht fertig. Dieses Buch ist mir schwergefallen. Ich stand die ganze Zeit unter dem Eindruck des mit Rotstift geschriebenen Titels, den Raissa ihrem Buch geben wollte: Was mir auf der Seele liegt.
Meine Erinnerungen widme ich dem Andenken an Raissa.
Mit Raissa, 1986
Dieses Buch ist anders als alle Bücher, die ich bisher verfasst habe. Es gibt keine feste Struktur, es handelt sich um keine Memoiren im eigentlichen Sinne, sondern einfach um meine Sicht unseres Lebens.
Diejenigen, die ich gebeten habe, dieses Buch zu lesen und zu beurteilen, haben gesagt, es gefalle ihnen. Wenn sie keinerlei Beanstandungen gehabt hätten, hätte ich das als Wunsch gewertet, mir nach dem Mund zu reden, um mich zu unterstützen. Aber neben der positiven Bewertung hat es durchaus auch sehr nützliche Kritik gegeben, die ich bei der Schlussredaktion nach Möglichkeit berücksichtigt habe.
Ich hoffe, es ist mir gelungen, eine umfassende Vorstellung von der Geschichte meines Lebens zu geben. Dieses Buch ist meine Antwort auf die Frage nach den Faktoren, die letztlich ausschlaggebend waren für meinen politischen Weg.
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