Die Erleichterung darüber, dass der gestrige Tag überstanden ist, stimmt sie ruhig, beinahe fröhlich. Die erste Etappe ist geschafft. Sie hat sich gerade gemütlich auf dem Sofa ausgestreckt, als sie die Haustür ins Schloss fallen hört. Bei diesem Geräusch lässt sie das Buch auf die Brust sinken und horcht. Sie muss über sich selbst lächeln.
»Mama?«
Er ist immer noch ihr Kind. Noch heute ruft er sofort nach ihr, sobald er nach Hause kommt. Bevor er sich auch nur die Schuhe ausgezogen hat. Sie reißt sich zusammen und setzt eine ernste Miene auf. Schließt die Augen, atmet tief und gleichmäßig. Sie hört, wie er ins Zimmer tritt.
»Hallo? Mama?«
Elias stockt. Jetzt hat er sie auf dem Sofa entdeckt. Leise geht er weiter in die Küche, um sie nicht zu wecken.
Eva steht auf und folgt ihm lautlos. Im Flur holt sie ihn ein, packt ihn von hinten bei den Schultern, drückt ihm ein Bein in die Kniekehle und zieht ihn mit einem schnellen, routinierten Griff nach hinten. Er kommt ins Schwanken, beinahe schafft sie es, ihn zu Boden zu kriegen, aber er steigt auf ihr Spiel ein, windet sich aus ihrem Griff, dreht sich um und leistet Widerstand. Er ist stärker als sie und ein ganzes Stück größer, und ihr Versuch, ihn niederzuwerfen, mündet in ein zähes Kräftemessen, das sie nur verlieren kann. Er lacht, und sie sagt: »Ach, verdammt!« und beschließt, dass sie ihn jetzt zu Boden zwingen wird, trotz seiner stahlharten Muskeln, und sie wendet alle Kräfte auf, aber er lacht nur noch mehr und hält ihre dünnen Unterarme fest.
Elias hat sie schon fast umgeworfen, als es ihr gelingt, sich aus seinem Griff zu winden und ihn zu übermannen, indem sie ihm die Arme um die Taille legt, ein Bein hinter seine Wade hakt, ihn aus dem Gleichgewicht bringt und auf den Boden wirft. Er ist überhaupt nicht darauf vorbereitet und fällt mit einem dumpfen Rums zu Boden. Er bleibt auf dem Rücken liegen, und eine schreckliche Sekunde lang macht sie sich fast Sorgen, dass er sich wehgetan haben könnte. Aber er bleibt liegen und lacht nur noch mehr. Sie setzt ihm den bestrumpften Fuß auf den Brustkorb. Spürt seine Körperwärme. Sie hat gewonnen.
»Was liegst du da rum?«, fragt sie und schafft es, tatsächlich richtig sauer und genervt zu klingen. »Immer liegst du nur rum und faulenzt!«
Er ist schon viel zu groß für solchen kindischen Blödsinn, schon lange. Das weiß sie auch, aber es ist ihr egal. Was sie hier spielen, ist ein Upgrade der Variante, die sie jahrelang spielten, als er klein war: Sie kitzelte ihn, bis er vor lauter Lachen quietschte, während sie mit immer gereizterer Stimme schimpfte: »Jetzt HÖR aber auf. Lachen ist hier streng verboten!« oder »Hast du nicht gehört? Hier WIRD nicht gelacht!« oder »Jetzt reiß dich mal zusammen, sonst werd ich sauer. Ich mein es ERNST!« Und jedes Mal musste er immer noch mehr lachen, bis sie sich selbst nicht mehr halten konnte und ihn stattdessen in den Arm nahm und an sich drückte, so dass sie seinen kleinen Körper spürte, und dann flüsterte sie ihm ins Ohr, dass er nie, niemals vergessen dürfe, wie lieb sie ihn habe. Und er antwortete wie immer: »Was? Ich hab dich nicht verstanden«, oder mit einem fingierten Hustenanfall oder indem er die Musik so aufdrehte, so dass Eva übertönt wurde, oder mit einer anderen abwehrenden Geste.
Mittlerweile ist Elias fast 1,90 Meter groß. Er braucht nur eine Sekunde, um sie abzuschütteln und aufzustehen, woraufhin er sie mühelos und geschmeidig auf den Boden wirft, sie aber federleicht landen lässt. Sie gehen gleich rücksichtsvoll und gleich grob miteinander um, und sie wissen genau, wann was angesagt ist. Und jetzt ist sie damit dran, auf dem Boden zu liegen und zu ihm aufzublicken. Allem Anschein nach endgültig besiegt. Aber sie hat noch einen Trumpf im Ärmel.
»Okay«, sagt sie. »Selbst schuld. Ich habe versucht, dich zu warnen, aber anscheinend hast du mir nicht zugehört. Deswegen greife ich jetzt zum allerallerletzten Mittel. Dem gefährlichsten.«
»Nein, nein …«
Er sieht auf sie herab und kann sein Amüsement nicht verbergen.
»Das nicht. Bloß das nicht.«
»Das hättest du dir eher überlegen müssen. Jetzt ist es zu spät.«
Sie streckt beide Zeigefinger in seine Richtung und lässt sie immer schneller und schneller in der Luft kreisen, als wollte sie ihn damit hypnotisieren.
»Oh nein!«
Er fasst sich an die Augen, offensichtlich völlig verwirrt. Der Zauber hat wieder einmal gewirkt, und er stolpert davon. Sie ist frei und rappelt sich hoch.
»Versuch’s doch gar nicht erst, du weißt doch, dass es zwecklos ist«, sagt sie.
Er lächelt und geht weiter in die Küche. Das Spiel ist vorbei.
»Haben wir was zu essen da?«
Wir. Immer noch wir. Er macht den Kühlschrank auf und schaut hinein.
»Ich hab Lasagne gemacht«, antwortet sie und schaltet den Ofen ein. »Müssen wir bloß aufwärmen.«
»Kannst du mir nicht ein bisschen was vorspielen?«
Sie sieht ihn verwundert an.
»Jetzt?«
»Ja.«
»Das willst du doch sonst nie.«
»Stimmt. Aber jetzt schon.«
Sie zögert, aber nur ganz kurz. Dann geht sie ins Arbeitszimmer, wo das Klavier steht, und setzt sich auf den Hocker. Atmet ruhig und sammelt sich.
Elias stellt sich an die Tür.
Sie spielt die alten Lieder, die sie treu durch all die Jahre begleitet haben. Die Mondscheinsonate. Alla turca. Kleine Abschnitte aus ihren Lieblingsstücken von Fauré, Chopin, Schubert und Satie. Sogar das alte, heillos abgedroschene Für Elise findet seinen Platz am Schluss, in erster Linie aus nostalgischen Gründen. Das war das erste Stück, das sie sich im Alter von sieben Jahren selbst beigebracht hat.
Nachdem der letzte Ton verklungen ist, steht sie auf, um die schicksalsschwere Stimmung zu durchbrechen. Außerdem ist der Ofen schon seit einer guten Weile heiß.
Es ist der 25. Mai, Elias’ 21. Geburtstag. Völlig unwirklich. Aber sie hat sich vorgenommen, ihn nicht mit Anekdoten darüber zu langweilen, wie er damals zur Welt kam. Keine nervigen Sentimentalitäten.
Sie hat Kerzen angesteckt und den Tisch mit Servietten und Leinensets gedeckt. Die Zubereitung der Lasagne am Nachmittag hat ganz schön lange gedauert, aber sie ist wirklich gelungen, absolut perfekt. Statt geriebenem Käse hat Eva Mozzarella genommen, den mag Elias so gern. Er hat sein Geschenk ausgepackt und sich über den Pulli gefreut, eine dieser Marken, die er mag und die ein bisschen zu teuer ist, als dass er sich selbst etwas davon kaufen könnte.
Jetzt sitzt er ihr gegenüber und isst. Wie irgendein erwachsener Gast. Seit dem letzten Jahr ist er plötzlich so aufgeschlossen, seine ganze teenagerhafte Verschlossenheit ist einer neuen Männlichkeit gewichen. Seine Ausdrucksweise wird immer gewählter und präziser. Er überrascht sie immer wieder mit neuen Kenntnissen und intelligenten Gedanken und tiefen Einsichten, die sie selbst nie so hätte formulieren können.
Seit dem Winter jobbt Elias als Kellner in einem Restaurant, und wenn es ihm in den Sinn kommt, erzählt er ihr gerne ein paar Anekdoten von seinem Arbeitsplatz. Sie hört ihm zu und lacht und schaut ihn an. Er erzählt, wie ein Gast, dem er Sushi serviert hat, den ganzen Klecks Wasabi nahm, ihn in den Mund steckte und kaute, um sich dann mit einer krampfartigen Grimasse zu Elias zu wenden und festzustellen, dass »die Guacamole doch ein bisschen intensiv geraten« sei. Sie bricht in Gelächter aus, denn er sieht so komisch aus, wie er diesen Gast imitiert, doch in ihren Stolz mischt sich auch eine beinahe lähmende Wehmut, und sie schluckt energisch, um keine feuchten Augen zu bekommen.
»Wie war das Kaffeetrinken nach der Beerdigung?«, erkundigt er sich dann.
Sie zuckt mit den Schultern.
»Na ja. Ich hab’s überlebt.«
Er sagt nichts und sieht auf einmal nachdenklich aus.
»Meinst du nicht, dass du mal irgendjemand kennenlernen solltest?«, fragt er.
Jetzt ist sie einen Augenblick sprachlos.
»Kennenlernen? Einen Mann meinst du?«
»Ja. Das wäre doch ganz normal. Dann wärst du nicht so allein.«
»Es geht mir prima.«
»Ja, weiß ich doch. Aber trotzdem.«
Sie antwortet nicht. Es ist ja nett, dass er fragt, dass er sich Gedanken um sie macht. Er möchte eben, dass sie auch ein schönes Leben hat.
»Wie geht’s dir so, kannst du nachts schlafen?«
»Ja ja.«
Die Nächte sind schon okay, schlafen kann sie immer problemlos. Man hat sie mehrfach gefragt, ob sie nicht Tabletten braucht, sowohl der Chefarzt in der Klinik als auch die Pfarrerin. Die verstehen das nicht. Denn gerade in den Nächten ist sie doch erst frei. Da kann sie sich auf das kühle Kissen legen und das Böse Tier fortschicken. In der Leere ruhen und sich einfach selbst ausschalten. In ihrem ganzen Leben hat sie noch nicht so fest geschlafen wie momentan. Träumen tut sie nicht, dafür hat sie keine Zeit. Sie muss sich voll und ganz auf ihren Schlaf konzentrieren.
Dieser Tage ist es so, dass die Albträume erst einsetzen, wenn sie aufwacht. Wenn der Morgen kommt und sie wieder ins schmerzlich helle Tageslicht hinausmuss.
»Meinst du, ich soll das Boot behalten?«, fragt sie, um das Thema zu wechseln.
Er starrt sie verblüfft an.
»Natürlich. Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht. Ich dachte bloß so. Es muss ja manchmal doch gewartet werden. Und ab und zu gefahren. Und jetzt, wo Oma nicht mehr …«
Sie verstummt. Er legt seine Hand auf ihre. Soweit sie sich erinnern kann, hat er das noch nie gemacht.
»Es gehört dir doch genauso«, meint er. »Du kämst doch nie zurecht ohne das Boot.«
»Nein, da hast du wohl recht. Ich werd’s behalten.«
Elias hat aufgegessen und den Teller leer gekratzt. Jetzt ist er satt, was ihr wie immer ein Gefühl besonderer Befriedigung verschafft. Sie will gerade verraten, was es zum Nachtisch gibt, Baiser mit Erdbeeren, sein Lieblingsdessert, da klingelt sein Handy und er schießt vom Tisch hoch und verschwindet aus der Küche. Sie hört undeutliches Gemurmel aus dem Wohnzimmer, er redet und redet, aber sie kann nicht heraushören, worum es geht. Sie hört nur, dass er fröhlich klingt und mehrmals lacht.
Sie steht auf und beginnt abzuräumen. Die Lasagne kann sie in Portionen aufschneiden und einfrieren. Vielleicht mag Elias sich ja ein paar Stücke in sein eigenes Gefrierfach legen in seiner neuen Wohnung. Das Geschenkpapier knüllt sie mit dem Geschenkband zusammen. Den Pulli kann er ja später mitnehmen.
Es klingelt stürmisch mehrmals hintereinander. Und da kommen sie.
Sie hört, wie Elias in den Flur geht, um aufzumachen. Seine Freunde stürmen herein. Auch seine Freundin, die kleine Blonde. Alle sind gekommen, um ihm beim Umzug zu helfen. Heute wird es passieren. Der Tag ist da, und es fühlt sich an, als würde man ihr einen Arm abreißen.