Carol Novello
mit Ginny Graves
Mit Jack an
meiner Seite
Wie unser Leben heilt, wenn wir einem notleidenden Tier ein Zuhause geben.
Wahre Geschichten von ganz besonderen Freundschaften
Aus dem Englischen übersetzt
von Karin Weingart
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Mutual Rescue bei Hachette Book Group, Inc., USA.
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Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Integral Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany.
Redaktion: Sabine Zürn
Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG, München
unter Verwendung eines Motivs von Amy Grigoriou
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-25706-4
V001
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Für alle Angestellten, Ehrenamtlichen und Spender überall auf der Erde, die den Tierschutz mit Zeit, Energie, Engagement und finanziell unterstützen: Wer Tieren hilft, hilft auch den Menschen.
Für meine Nichten Amelia und Julia, die in ihrem Wesen genauso schön sind wie äußerlich.
Sowie für alle Tiere, die ich im Laufe der Jahre aufgenommen habe, und von denen jedes auf seine eigene Art und Weise auch mich gerettet hat.
Inhalt
Einführung
Teil I
HERZ
Kapitel 1
Mut fassen
Haustiere geben uns Schutz und Zuflucht
Kapitel 2
Vertrauen aufbauen
Das Geheimnis der Bindung
Kapitel 3
Trauer bewältigen
Tiere trösten uns und geben Sicherheit
Kapitel 4
Nach dem Kummer wieder aufblühen
Mit vierbeiniger Hilfe neue Lebensqualität erlangen
Teil II
KÖRPER
Kapitel 5
Die körperliche Gesundheit verbessern
Haustiere wirken sich positiv auf den Organismus aus
Kapitel 6
Das Leben umarmen
Die Gesellschaft unserer Tiere vertreibt die Einsamkeit
Kapitel 7
Krankheit und Verletzungen überstehen
Wie Tiere uns bei körperlichen Beschwerden zur Seite stehen
Kapitel 8
Süchte bekämpfen
Die stabilisierende Kraft der bedingungslosen Liebe unserer Tiere
Teil III
SEELE
Kapitel 9
Widerstandskraft entwickeln
Haustiere als Quelle persönlicher Stärke und Belastbarkeit
Kapitel 10
Das psychische Wohlbefinden steigern
Vier Pfoten verankern uns in der Gegenwart
Kapitel 11
Die kindliche Entwicklung fördern
Der Einfluss von Tieren auf Autismus, Lesefähigkeit und Denkvermögen
Teil IV
VERBUNDENHEIT
Kapitel 12
Beziehungen bereichern
Haustiere schaffen Verbindungen
Kapitel 13
Ein Hoch auf die Natur und alle Lebewesen
Sie machen unser Leben reich
Kapitel 14
Erfüllung finden
Was notleidende Tiere uns lehren können über den Sinn des Lebens, Liebe und Vertrauen
Danksagung
Quellen
Über die Autorinnen
Tierschutzorganisationen
Einführung
Vom Fenster meines Büros in der Humane Society Silicon Valley aus habe ich einen guten Blick auf ein überwuchertes Stück Land, das wir als »Katzengarten« bezeichnen. Auf diesem eingezäunten Gelände leben »Carols Wilde«, wie meine Kolleg*innen die streunenden Katzen nennen, die sich hier aufhalten, bis wir sichere Plätzchen in Scheunen oder Baumschulen für sie gefunden haben. Die Tiere verkriechen sich in Tonnen (wie die Rentner in ihren Eigentumswohnungen in Florida) und tauchen verlässlich in der Abenddämmerung wieder auf. Dann sind sie nur schwer von den länger werdenden Schatten zu unterscheiden. Schauen Tess, meine Schäferhündin, und ich aus dem Fenster, hoffen wir immer, einen Blick auf einen dieser Einsiedler erhaschen zu können, die irgendwo im Nirgendwo zwischen unseren verhätschelten Hauskatzen und ihren großen, räuberischen Vorfahren anzusiedeln sind, die manchmal in den nahe gelegenen Hügeln gesichtet werden. Das an Greta Garbo erinnernde arrogant-distanzierte Verhalten dieser Katzen fasziniert mich zum Teil auch deshalb, weil es im krassen Gegensatz zu den meisten Haustieren steht, die ich im Laufe der Jahre hatte und die ausnahmslos alle nach meiner Gesellschaft und Zuneigung gierten. Es erinnert mich aber auch an eine andere Katze, die vor langer Zeit in mein Leben trat und einige der wichtigsten Entscheidungen beeinflusste, die ich seither getroffen habe.
Es war in der Vorweihnachtszeit. Meine Eltern und ich suchten auf einer Plantage im Speckgürtel Philadelphias, wo wir damals wohnten, nach einem schönen Christbaum. Ich war fünf Jahre alt. Die frische Luft, der Duft der Tannen und die Vorfreude auf das Fest stärkten meinen Entschluss, den für unsere Familie perfekten Baum zu finden. Ich guckte mir gerade ein vielversprechendes Exemplar an, als geschmeidig ein Schatten aus dem Unterholz auftauchte. Eine Katze! Sie kam auf mich zu, und als ich mich hinkniete, um sie zu streicheln, fühlte sich ihr blass bernsteingelbes Fell wie ein dünnes Wintermäntelchen an. Die Mieze stupste sanft mit dem Kopf an mein Knie und fing an, zu schnurren. »Was macht sie hier?«, fragte ich meine Mutter, schon ganz hingerissen von dem Tierchen. »Glaubst du, dass sie ein Zuhause hat? Und wenn nicht, darf ich sie dann behalten? Bitte!«
»Das kriege ich raus«, antwortete meine Mutter. Als sie ging, um sich beim Besitzer der Plantage nach der Katze zu erkundigen, und ich ihr nachsah, spürte ich neben zarter Hoffnung schon die aufkeimende Enttäuschung. Nach meiner damaligen Lebenserfahrung sprach fast alles dafür, dass ich die Katze nicht behalten durfte. In unserer Familie war es so, dass mein Dad und ich harmonisch auf ein und derselben Umlaufbahn rotierten, während meine Mutter ihre Kreise in unerreichbarer Ferne zog. Dass sie mich auf ihre Weise durchaus auch irgendwie liebte, war mir schon klar, ihre Art der Zuneigung aber unterschied sich um Welten von der meines Vaters, dessen Liebe sich anfühlte wie ein gemütliches Kaminfeuer. Warm. Einladend. Sicher. Und das ist auch der Grund, warum sich mir dieser spezielle Moment auf der Christbaumplantage so tief eingeprägt hat. Denn als Mom zurückkam, lächelte sie und sagte: »Irgendjemand hat das Katerchen hier ausgesetzt. Wir können ihn also mitnehmen, wenn wir wollen.« Ich war begeistert – und völlig von den Socken! Meine Mutter hatte Ja gesagt. Und mehr noch: Sie empfand genauso viel Zärtlichkeit für den Streuner wie ich. Tiere waren der Riss in ihrem Schutzschild, durch den ein Schimmer von Liebe leuchtete – ihnen gegenüber konnte sie Zuneigung zeigen. Und nachdem wir uns einen Baum ausgesucht hatten, sagte sie doch tatsächlich zu mir: »Na komm, Carol, lass uns zum Auto gehen, bevor uns der Kleine noch erfriert.« Zum ersten Mal in meinem jungen Leben hatte ich das Gefühl, wir könnten einander doch noch näherkommen. Und dass ein Tier vielleicht sogar die tiefste Kluft überbrücken konnte.
Wir gingen zusammen in den Supermarkt und kauften unserem neuen Familienmitglied eine Flunder, die wir in Geschenkpapier einwickelten und am Morgen des Weihnachtstages unter den Baum legten. Als Nicholas Quattromano (benannt nach dem heiligen Nikolaus und – zu Ehren des Herkunftslandes meines Vaters – dem italienischen Wort für »Vier Hände«) sein Geschenk beschnüffelte, das Papier zerfetzte, um den Fisch auszupacken und ihn zu verschlingen, mussten wir alle drei lachen. Im Nachhinein betrachtet, ist es kein Wunder, dass in diesem Moment meine Leidenschaft für die Rettung streunender Tiere geweckt wurde. Dass wir Nick, wie wir ihn nannten, zu uns genommen hatten, eröffnete meiner Mom und mir eine gemeinsame Welt. Das hat unsere Beziehung nicht verbessert, aber so konnte ich auch ihre weichere, warmherzigere Seite wahrnehmen, und wir entdeckten, dass wir durchaus Gemeinsamkeiten hatten.
Nicks erste vorsichtige Annäherung entpuppte sich als wohlkalkulierter Schachzug, um ins Warme zu gelangen – denn anschließend thronte er den Großteil seiner Zeit oben auf dem Kühlschrank, unerreichbar für meine nach ihm greifenden Hände. Trotzdem war ich froh, dass er in Sicherheit war, zu uns gehörte und sich auf uns verlassen konnte. Die Saat meiner Leidenschaft für die Rettung herrenloser Tiere war ausgebracht.
Nick führte die Riege vieler weiterer notleidender Streuner an, die wir in den folgenden Jahren bei uns aufnahmen. Mit ihm wurde der Grundstein für meinen Lebensweg gelegt, der mich von der Harvard Business School zu Intuit führte, einem Hightech-Software-Hersteller, für den ich ein Jahrzehnt lang tätig war. Von dort aus begab ich mich auf die Suche nach mehr Erfüllung. Und diese Sinnsuche brachte mich schließlich zu meiner heutigen Arbeit als Vorsitzende unseres wuseligen Tierheims im Herzen des Silicon Valleys.
Angesichts meiner bis in die Kindheit zurückgehenden Tierliebe war es für mich überhaupt keine Frage, dass ich den Job bei der Humane Society Silicon Valley mit fliegenden Fahnen annahm. Aber nicht jeder sah das so. Einige meiner früheren Kollegen, flüchtige Bekannte, aber auch Leute, denen ich bei meinen ersten Spendenaktionen begegnete, konnten nicht begreifen, dass eine Absolventin des MBA-Studiengangs in Harvard, die danach für Intuit erfolgreich mehrere Multi-Millionen-Unternehmen geführt hatte, jetzt im Tierschutz tätig war. Andere verstanden zwar meinen Impuls, etwas Gutes tun zu wollen, fragten sich aber, warum ich mich dann nicht lieber menschlichem Leid widmete. Letzten Endes interessierte sie alle mehr oder weniger dasselbe: »Warum helfen Sie eigentlich Tieren, wenn Sie doch auch etwas für die Menschheit tun könnten?«
Als Antwort hielt ich ihnen die Statistiken entgegen, die meine Leidenschaft für das Tierwohl immer wieder neu entfachten: Obwohl in den Vereinigten Staaten große Anstrengungen unternommen werden, Tierleben zu retten, landen jährlich immer noch mehr als 6,5 Millionen Katzen und Hunde im Tierheim. Eingeschläfert werden anderthalb Millionen. Und von den grob gerechnet 410 Milliarden Dollar, die die amerikanische Bevölkerung für wohltätige Zwecke ausgibt, gehen zusammengerechnet nur drei Prozent an Tier- und Umweltorganisationen. Die Leute nickten, und viele zeigten auch ernsthafte Betroffenheit. Trotzdem spürte ich, dass die meisten nicht überzeugt waren. Im Laufe der Zeit realisierte ich, dass die erschreckenden Statistiken nur einen Bruchteil der Geschichte erzählten und dass ich noch nicht die ganze Wahrheit kannte.
Auf der Suche nach umfassenden Informationen musste ich an meine Mutter denken und wie Nick unsere Beziehung gekittet hatte. Die Zärtlichkeit, die Mom den Tieren bei uns zu Hause entgegenbrachte, zeigte mir, dass sie doch lieben konnte, auch wenn sie ihre Gefühle mir gegenüber nicht immer so zum Ausdruck brachte, wie ich es mir gewünscht hätte. Traurig macht mich unsere Beziehung immer noch, doch irgendwann wurde mir klar, dass ich die Wahl hatte: Ich konnte ihr entweder zornig vorwerfen, was ich alles nicht von ihr bekam, oder dankbar sein für das, was sie tat: die Hinwendung zu Tieren, was später zu meiner Lebensaufgabe wurde. Ich entschied mich für Letzteres.
Je länger ich über die Bedeutung von Tieren für mein Leben und das anderer Tierfreunde nachdachte – sie gaben mir Hoffnung, wenn ich verzweifelt war, brachten mich zum Lachen und trösteten mich mit ihrer Gesellschaft –, desto klarer wurde mir die wahre Bedeutung der Tierrettung: Mit meiner Hilfe für Tiere helfe ich auch den Menschen. Ich helfe ihnen, ihren Schmerz zu bewältigen, Erfüllung zu finden und mehr Freude zu erleben.
Die Menschheit braucht zweifellos Hilfe. Selbst in unserem wohlhabenden Land ist das Ausmaß des Elends unfassbar. In den USA leiden etwa 16 Millionen Erwachsene unter Depressionen, etwa acht Millionen an posttraumatischen Belastungsstörungen. 29 Millionen haben Diabetes, hinzu kommen acht Millionen, bei denen die Krankheit noch nicht diagnostiziert wurde. Inzwischen sind 40 Prozent der Bevölkerung übergewichtig. Dabei sind die trauernden, kaputten, überwiegend bewegungsarmen Massen noch gar nicht mitgerechnet, die keine konkrete Diagnose haben, aber trotzdem zu kämpfen haben und leiden. Doch Hoffnung auf eine gesündere Zukunft ist in Sicht. Und die kommt womöglich auf vier Beinen daher und trägt einen Schwanz. Assistenztiere können bei vielen Problemen behilflich sein, und wie meine Co-Autorin Ginny Graves und ich in den folgenden Kapiteln zeigen werden, lässt sich das auch wissenschaftlich belegen. Die Zahlen, Daten, Fakten, die die positive Wirkung beweisen, die Tiere auf die menschliche Gesundheit haben, sind so überzeugend, dass einer kürzlich veröffentlichten Studie zufolge 60 Prozent der Ärzte ihren Patienten ein Haustier »verschreiben«; überwältigende 97 Prozent zeigen sich vom gesundheitlichen Nutzen der Tierhaltung überzeugt. Diese Zahlen beziehen sich generell auf Haustiere – unabhängig davon, ob sie aus dem Tierschutz stammen oder nicht. Die Aufnahme eines notleidenden Tieres geht mit zusätzlichen Pluspunkten einher.
Was das angeht, bin ich natürlich absolut parteiisch und würde jedem empfehlen, ein Tier aus dem Tierheim aufzunehmen. Denn ich bin davon überzeugt, dass die Sorge für ein heimatloses Wesen in uns allen den Samen für Güte, Großherzigkeit und Mitgefühl legt und dafür sorgt, dass diese wunderbaren Eigenschaften in uns Wurzeln schlagen und gedeihen. Das verankert uns in der Liebe.
Menschen mit ernsten Problemen profitieren oft ganz besonders von einem Haustier. Doch die Vierbeiner bereichern das Leben von uns allen. Natürlich stellen sie ihre Anforderungen und sind mitunter auch ziemlich nervig, wie jeder bestätigen kann, der einmal morgens um vier in einen warmen Hundehaufen getreten ist. Doch die Verantwortung für ein Tier, das von uns abhängig ist, kann auch ein Segen sein, weil sie unserem Leben einen tieferen Sinn gibt. Und die Tiere danken es uns hundertfach.
Katzen und Hunde verleihen unserem Alltag Zufriedenheit, Wärme und viele kleine Momente der Freude und Ablenkung von unseren Sorgen, sie binden uns ein ins Hier und Jetzt und erinnern uns daran, was im Leben wirklich wichtig ist – wozu auch ein alter Tennisball oder ein verratztes Wollknäuel als Quell echter Freude gehören können.
Mein Kater Wilbur zum Beispiel, ein ausgemachter Meisterschelm, den ich mit 30 Jahren aufgenommen habe, offenbarte mir das Wunder der Küchenschubladen. Die Unterste zog er heraus, krabbelte dahinter und kletterte an der Rückseite des Schränkchens hoch, um in der obersten Schublade wieder zum Vorschein zu kommen wie der Entfesselungskünstler Houdini, nachdem er sich aus einer Kiste befreit hatte. Dann guckte mich Wilbur an, als wollte er sagen: »Ta-da! Ganz schön cool von mir, was?« Ich musste jedes Mal lachen und vergaß einen Moment lang den Stress bei der Arbeit. Wilbur war gleichzeitig ein Antidepressivum und ein Angstlöser mit Fell und vier Pfoten.
Studien mit den unterschiedlichsten Probandengruppen berichten Ähnliches: Die Interaktion mit einem Tier kann die Laune heben, das Wohlbefinden steigern und die Kommunikations- und Beziehungsfähigkeiten verbessern. Eine Erkenntnis, die angesichts des psychisch und körperlich schlechten Gesundheitszustandes vieler Menschen hoffnungsfroh stimmt und von größter Bedeutung ist. Nach meiner Eingewöhnungszeit in der Humane Society Silicon Valley begann ich, plötzlich an allen Ecken und Enden Beweise für die positive und lebensverändernde Wirkung von Tieren zu finden. Je mehr Geschichten mir begegneten von Menschen, die nach der Aufnahme einer Katze oder eines Hundes ihre Lebensfreude zurückgewonnen hatten, desto dringender wurde mein Bedürfnis, sie weiterzuerzählen. Die Leute mussten einfach erfahren, dass Hilfe für notleidende Tiere keineswegs bedeutete, menschliches Leid zu ignorieren. Im Gegenteil: Diese Hilfe ist ein wesentlicher Beitrag zur Lösung dieser Probleme!
2015 machte mich ein Mitglied unseres Vorstandes mit David Whitman bekannt, einem Autor und kreativen Filmproducer. Gemeinsam fanden wir eine Möglichkeit, die Botschaft von der transformativen Kraft der Tierrettung zu verbreiten. Von ihm stammte der Begriff »Mutual Rescue« – gegenseitige Rettung und Hilfe –, und er schlug vor, Kurzfilme über Menschen zu drehen, deren Leben sich durch die Aufnahme eines Hundes oder einer Katze aus dem Tierschutz radikal verändert hatte. Zufällig hatte ich den ersten Kandidaten schon im Sinn, und er war geradezu perfekt dafür geeignet. Ein Jahr zuvor hatte uns nämlich ein übergewichtiger Mann geschrieben, er sei viel gesünder, seit sein ebenfalls übergewichtiger Hund aus unserem Tierheim bei ihm lebte. Seine Geschichte stand im Mittelpunkt unseres ersten Films, mit dem wir viele Menschen erreichen und dazu inspirieren wollten, uns ihre Geschichten mit Tieren zu erzählen, um diese ebenfalls zu verfilmen und damit für die Tierrettung zu werben. Wir hatten ja keine Ahnung, wie sich das Ganze entwickeln würde! Eric & Peety, unser erster Kurzfilm, ging durch die Decke und wurde inzwischen in mehr als 40 Ländern mehr als 100 Millionen Mal angeklickt.
Mit Exposés für weitere Filme wurden wir geradezu überschüttet. Uns schrieben Menschen, die depressiv, selbstmordgefährdet, Diabetiker, pleite, obdachlos, einsam und was nicht alles gewesen waren: Sie ließen uns teilhaben an ihren bewegenden, erhebenden, mitunter lebensrettenden Erfahrungen mit Tieren aus dem Tierschutz. Aus vier dieser Geschichten machten wir Kurzfilme und wurden zu staunenden Zeugen der explosionsartigen Entwicklung eines internationalen Phänomens. Kylie & Liza, unser Anfang 2017 fertiggestellter zweiter Film, erzählt die Geschichte einer temperamentvollen Zwölfjährigen, die vergeblich gegen Knochenkrebs ankämpfte, und dem von ihr aufgenommenen Kätzchen, das die Mutter später über den Tod der Tochter hinwegtröstete. In den folgenden Monaten veröffentlichten wir zwei weitere Filme, und zusammen brachten die drei es bis heute auf 35 Millionen Views.
Weil die Filme den Kern von »Mutual Rescue« zum Ausdruck brachten, trafen sie mitten ins Herz. Doch als wir uns noch tiefer mit den Geschichten befassten, wurde mir klar, dass ein fünfminütiger Film nicht umfassend erzählen kann, was alles nach der Aufnahme eines Tieres geschieht. Denn einer der überraschendsten Aspekte besteht darin, dass oft nicht nur das Leben derjenigen Person verändert wird, die ein Tier zu sich nimmt. Vielmehr gehen die Auswirkungen meist weit darüber hinaus.
Dabei denke ich zum Beispiel an meine Erfahrungen mit Wilbur und seinem Katzenbruder Wiley, einer echten Knutschkugel mit ganz eigenem Charisma. Indem sie mich immer wieder aufmunterten und dadurch meine Belastbarkeit stärkten, halfen mir die zwei Jungs, meinen beruflichen Führungsaufgaben besser und mitfühlender gerecht zu werden. Das erzeugte im Team eine kooperative Atmosphäre, die wiederum die Motivation und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter*innen steigerte. Mit anderen Worten: Zwei spielenden Katzentieren gelang es, eine kleine Aufwärtsspirale positiver Energie in Gang zu setzen. Und das ist nur ein kleines Beispiel für etwas, das häufig geschieht, wenn jemand ein Tier zu sich nimmt: Die enge Beziehung zwischen Mensch und Tier steigert das körperlich-seelische Wohlbefinden, Leben und Lieben werden erfüllter, und nicht selten lassen sich die Mitmenschen davon anstecken.
Aus einer Harvard-Studie zur Entwicklung Erwachsener, die 1938 begann und seit mehr als 80 Jahren das Leben von etwa 700 Männern verfolgt, geht hervor, dass enge Beziehungen glücklicher machen als Geld oder Erfolg. Wie George Vaillant, von 1972 bis 2004 Leiter der Studie, schrieb, ruht dieses tiefe, anhaltende Glück auf zwei Säulen. »Die eine ist die Liebe«, sagt er. »Die andere besteht darin, einen Lebensstil zu finden, der die Liebe nicht vertreibt.«
Tiere aus dem Tierschutz prägen ein Leben, das Liebe nicht nur nicht vertreibt, sondern sie geradezu anzieht – und damit die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir auch Liebe ausstrahlen. Wird eine Person optimistischer, kann sich diese veränderte Einstellung auf andere übertragen, wie eine weitere Gruppe von Harvard-Wissenschaftlern herausfand. Und auch dies konnten die Forscher belegen: Wer in einer Entfernung von anderthalb Kilometern einen glücklichen Freund wohnen hat, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit selbst glücklich. Denn Glücklichsein überträgt sich auf die Nachbarn, auf in der Nähe lebende Geschwister und die Lebenspartner. Mit anderen Worten: Die Freude, die eine Person aus der Rettung eines Tieres bezieht, kann ansteckend sein. Dieses gute Gefühl überträgt sich wie in konzentrischen Kreisen auch auf andere.
Mittlerweile bezeichne ich dieses Phänomen als »Hilfseffekt«. Diesem Gedanken liegt der »Schmetterlingseffekt« zugrunde, ein wissenschaftliches Phänomen, dem zufolge das Flügelschlagen eines Schmetterlings in Australien genügend Luftmoleküle in Bewegung setzt, um in Kansas einen Tornado auszulösen. Oder einfacher ausgedrückt: Auch kleinste Veränderungen können überraschend große Folgen haben.
In den folgenden vierzehn Kapiteln dieses Buches zeigen wir, wie sich dieser Effekt im Leben von Menschen auswirkt. Im ersten Teil mit der Überschrift »Herz« machen wir Sie mit Menschen bekannt, deren Haustiere sie dabei unterstützten, schwere Traumen und tiefe Trauer zu bewältigen, und die dadurch mehr Stärke, Mut und Zuversicht gewonnen haben, um weiterleben zu können. Im Teil »Körper« erzählen wir von Menschen, die erfahren durften, dass die Aufnahme einer Katze oder eines Hundes nicht nur ihrer Gesundheit zuträglich war, sondern dass sie generell besser mit körperlichen Beschwerden zurechtkamen und trotz ihrer Beeinträchtigung freudig am Leben teilhaben konnten. Unter der Überschrift »Seele« finden Sie Berichte, wie gerettete Tiere Menschen bei der Bewältigung von Ängsten, Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen halfen, positives Denken förderten, ihnen Hoffnung gaben und ein erfülltes Leben ermöglichten.
Im Grunde geht es aber eigentlich in jeder Geschichte um alle drei Bereiche – Herz, Körper und Seele –, was einmal mehr die weitreichenden und vielschichtigen Auswirkungen der Tierrettung veranschaulicht. Im Übrigen profitieren davon immer beide Seiten, sowohl Mensch als auch Vierbeiner. Und das auf überraschende, berührende und mitunter tiefgründige Art und Weise.
Im Teil »Verbundenheit« berichten wir, wie Tiere aus dem Tierschutz unsere zwischenmenschlichen Beziehungen stärken und wie wir dadurch auch mit vielen anderen Tieren eine innere Verbindung herstellen können. Und wenn Tiere die Menschen gesünder und glücklicher gemacht haben, kann etwas ganz Besonderes geschehen: Diejenigen, deren Herzen geheilt wurden, leisten oft einen positiven Beitrag für die Welt, um für die Liebe und Unterstützung zu danken, die sie von ihren Tieren erhalten haben. Manche erkennen ihre Lebensaufgabe, andere finden zu sich selbst oder entdecken ihren Glauben oder ihre Beziehung zu Gott oder zu einer kosmischen Kraft neu.
All diese Geschichten und die entsprechenden Forschungsergebnisse bestätigen mich in meiner tiefen Überzeugung, dass Tiere aus dem Tierschutz uns menschlich weiterentwickeln lassen, denn durch sie gehen unsere Herzen wieder auf. Sind wir zu einem offenen, mitfühlenden Umgang mit unseren Tieren fähig, können wir auch uns selbst und anderen größeres Mitgefühl entgegenbringen und dazu beitragen, etwas Gutes für die Gemeinschaft zu tun.
Tiere können uns sowohl mit unseren Schwächen konfrontieren als auch mit der ganzen Fülle unseres Potenzials. Sie können uns beibringen, verlässlicher und verantwortungsbewusster zu werden. Unsere Unzulänglichkeiten zu überwinden und Schritt für Schritt zu unserem allerbesten Selbst zu gelangen – liebevoller, zugewandter, fürsorglicher, großzügiger zu werden. Und indem sie es uns ermöglichen, zu lernen und als Persönlichkeiten zu wachsen, geben sie uns auch die Chance, uns zu einer Quelle von Licht und Hoffnung für die Menschheit weiterzuentwickeln. Wir sorgen für sie, und sie zeigen uns im Gegenzug, wie man etwas heilt.
Teil I
HERZ