Über dieses Buch:

England im 12. Jahrhundert. Er ist der Sohn einer mächtigen Druidin und des Medicus von Richard Löwenherz – doch Llewelyn will um keinen Preis in die Fußstapfen seiner Eltern treten. In den Armen der christlichen Kirche findet er die Geborgenheit, nach der er sich sehnt … und ahnt nicht, dass er so zum Spielball der Mächtigen zu werden droht: Ein machthungriger Bischof schickt ihn nach England an den Hof der schönen Burgherrin Gwendolyn, die es immer noch wagt, dem skrupellosen König John die Gefolgschaft zu verweigern. Doch statt die widerspenstige Lady umzustimmen, entwickelt Llewelyn Gefühle für sie, die alle seine Loyalitäten infrage stellen – und beide in tödliche Gefahr bringen …

Über die Autorin:

Susan Hastings ist gelernte Geologin und war lange als Sachverständige für Geologie und Ökologie tätig. Ein Mentor im Studium entdeckte ihr schriftstellerisches Talent und motivierte sie dazu, dieses Talent zu verfolgen. Zunächst schrieb sie dann Kurzgeschichten, später zahlreiche Liebes- und Historienromane, die sie unter verschiedenen Pseudonymen erfolgreich veröffentlichte.

Bei dotbooks sind von Susan Hastings auch die folgenden historischen Romane erschienen: »Die Sehnsucht der Nonne«, »Der schwarze Magier«, »Die Liebe des Milchmädchens«, »Die Wollhändlerin« und »Die Himmelsträumerin« sowie die historischen Liebesromane »Die Leidenschaft des Wikingers, »Die Sklavin und der Wikinger«, »Die Geliebte des Wüstenkriegers«, »Das Verlangen des Gladiators«, »In den Armen des Raubritters«, außerdem »Dark Heat – Gefährliche Leidenschaft«.

Die Website der Autorin: www.susan-hastings.de

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Originalausgabe Februar 2020

Copyright © der Originalausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

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Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/faestock, und einem Gemälde von Samuel Scott

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96148-805-6

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Susan Hastings

Das Vermächtnis der Druidin

Historischer Roman

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Der Rückkehrer

Er war wieder da!

Llewelyn hielt den Atem an und spannte den Bogen. Die Sehne schnitt scharf in seine Wange ein, doch er spürte den Schmerz nicht. Sein rechtes Auge starrte adlergleich über den schlanken Pfeil, während er das linke zusammenkniff.

Den Pfeil hatte er selbst hergestellt. Er besaß eine feine Spitze aus Eisen, messerscharf und geeignet, sich durch Fleisch zu bohren. Und Fleisch wollte Llewelyn durchbohren. Er war ein guter Schütze, traf eine Drossel im Flug und eine Traube Eichelfrüchte auf dem höchsten Baum. Aber es eine Sache, auf Tiere oder Früchte zu schießen. Diesmal wollte er einen Menschen töten – seinen Vater! Der Pfeil sollte sein Herz treffen. Er würde nicht leiden, würde schnell sterben. Und dann wäre alles wieder so wie vorher.

Die Morgendämmerung kroch hinter dem Wald herauf und verstärkte das seltsame Zwielicht. Llewelyns Augen waren scharf, er konnte auch in der Nacht gut sehen, wenn es nur ein Fünkchen Licht gab, von den Sternen, vom Mond oder von den brennenden Gasen, die manchmal aus dem Moor entwichen. Es wäre kein Problem, den Pfeil abzuschießen, wenn sein Vater aus dem Haus trat, und das Geschoss würde sein Ziel finden.

Llewelyns linke Hand, die den Bogen aus Eschenholz hielt, begann leicht zu zittern. Den eigenen Vater töten? Welch schwerer Sünde machte er sich da schuldig!

Er presste die Lippen zu einem festen Strich zusammen. Gott würde ihm verzeihen, denn sein Vater war weder ein gottesfürchtiger Mann noch überhaupt ein Christ. Zudem besäße Llewelyn dann die Aufmerksamkeit seiner Mutter wieder ganz allein, ihre Liebe und Fürsorge. Er wäre wieder der einzige Mann in ihrem Leben, der sie beschützte und versorgte.

Ein aufkommender Wind wehte in sein offenes Auge, bis es tränte. Das Haus, die Tür, alles verschwamm vor seinem Blick. Langsam ließ er den Bogen sinken, die Sehne entspannte sich. Die Muskeln in seinen Oberarmen schmerzten, so sehr hatte er sich angespannt. Mit dem Handrücken wischte er ungehalten die Tränen weg. Was tat er hier eigentlich?

Er hockte sich auf den Stumpf einer Eiche, die vor Jahren gefällt worden war, und fuhr flüchtig mit der Hand über die tödliche Wunde des Baumriesen. Er hatte die Jahresringe nicht gezählt, wusste nicht, wie alt der Baum gewesen war, als ihm die Axt den Garaus machte. Plötzlich fühlte er die Endlichkeit des Lebens umso deutlicher.

Sein Blick ging wieder hinüber zum Haus. Ein dünner Rauchfaden kräuselte aus dem Rauchabzug. Aus der winzigen, ärmlichen Waldhütte war ein ansehnliches Haus geworden. Den Ausbau hatte er gemeinsam mit seiner Mutter bewerkstelligt. Jeder einzelne Balken zeugte von Arbeit und Schweiß, von Mühsal und Stolz. Er liebte die Frau, die ihm das Leben geschenkt hatte, und er hatte sich geschworen, stets für sie da zu sein. Auch sie hatte ihm all ihre Liebe geschenkt, all ihr Wissen vermittelt – und ihm von seinem Vater erzählt. Rupert war eine Lichtgestalt gewesen, etwas Gottgleiches. Rigana sprach stets voller Achtung und Respekt von ihm. All die Jahre hatte sich Llewelyn danach gesehnt, ihm nur ein einziges Mal zu begegnen. Sein Leben lang hatte er danach gestrebt, es ihm gleich zu tun – in dem Wissen, es nie erreichen zu können.

Es war unwahrscheinlich, dass er jemals seinem Vater von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde. Obwohl Rigana stets behauptete, sie spüre, dass Rupert noch lebe, glaubte niemand daran, auch Llewelyn nicht. Dieses Geheimnis um Rupert de Cazeville verklärte ihn nur noch mehr.

Mit Bitterkeit beobachtete Llewelyn den Rauchfaden. Diesen Rauchabzug hatte er auch gebaut, über der Kochstelle aus Lehm und Steinen. Die alte Hütte hatte gar keinen besessen. Alles hatte er getan, für Rigana und für sich. Er war überzeugt gewesen, dass Rupert auch für sie diese Lichtgestalt war, dieses gottähnliche Wesen ohne Körper, nur Geist, Wissen, Macht.

Ja, Rupert de Cazeville besaß Macht über Rigana, weil sie ihn nie hatte vergessen können, aber er besaß auch Macht über Llewelyn, weil er sein ganzes Denken und Trachten bestimmte.

Und nun war er da! Wie oft hatte Llewelyn sich diesen Tag herbeigesehnt, sich vorgestellt, wie es wäre, seinem Vater zum ersten Mal gegenüberzustehen. Als er durch einen Zufall erfuhr, dass Rupert auf seine Burg zurückgekehrt war, konnte er keine Nacht mehr ruhig schlafen. Er hatte Rigana bedrängt, ihm zu erlauben, seinen Vater zu besuchen. Sie hatte lange gezögert. Dann hatte sie zugestimmt.

Er fuhr sich mit den Händen durch das dichte, dunkle Haar und empfand Bitterkeit. Er hatte seinen Vater hierhergeholt, zurück in die Familie, die sie niemals gewesen waren. Und er hatte erkennen müssen, dass der Vater ihm fremd war. Äußerlich ähnelten sie sich so sehr, dass man hätte glauben können, Rupert wäre gar nicht älter geworden. Selbst für Rigana war diese Ähnlichkeit faszinierend.

Vielleicht liebte sie Llewelyn auch deshalb so stark, weil er die äußerliche Reinkarnation von Rupert war, mit neunzehn Jahren, als sie ihn zu dem alten Druiden gebracht hatte und ihn nie wiedersah. Wie schmerzhaft musste dieser Abschied gewesen sein!

Doch jetzt stellte Llewelyn fest, dass Rupert ein Mensch aus Fleisch und Blut war. Er wohnte in dem Haus, das er nicht gebaut hatte. Er aß von den Früchten, die er nicht geerntet hatte. Und er lag des Nachts neben Rigana und nahm sie als seine Frau! Wie viele Nächte hörte er jetzt schon diese lustvollen Geräusche, das Knarren der hölzernen Bettstatt, das Flüstern und Murmeln, das Stöhnen und Ächzen, das Schreien und Jubeln.

Llewelyn krümmte sich zusammen. Er empfand seinen eigenen Vater als Eindringling, als Fremdkörper, und bereute, ihn je gesucht zu haben.

Und Rigana? Sie hatte schon immer diese zurückhaltende Art besessen, diese wissende Bescheidenheit, diese selbstverständliche Fügung in das Schicksal. Doch auch sie stellte sich plötzlich in ihrer Unvollkommenheit dar und schämte sich nicht einmal dafür. Jeder Blick, jede Geste, jede Berührung verriet ihre Liebe zu Rupert. Sie liebte ihn mehr und anders, als sie Llewelyn liebte. Das schmerzte ihn, und es machte ihn wütend.

Rupert war sein Lehrer geworden. Erst als sein Schüler wurde Llewelyn richtig bewusst, dass er niemals an ihn heranreichen würde. Was sich in seinem Vater an Wissen, Erfahrungen, Kenntnissen und Können angesammelt hatte, war so überwältigend, so gewaltig, dass es ihn ängstigte. Selbst in seiner menschlichen Unvollkommenheit – und dass er mit Rigana schlief, hielt Llewelyn für eine gravierende Unvollkommenheit – zeigte Rupert eine unnahbare Größe.

Er sollte nicht so denken. Den Gewinn an Wissen und Weisheit, den ihm sein Vater vermitteln konnte, würde all diese dummen und eigensüchtigen Vorurteile in alle Winde zerstreuen. Er sollte sich freuen, er sollte dankbar sein. Warum war er es dann nicht?

Er warf den Bogen zu Boden und zertrat den Pfeil. Töten war keine Lösung. Doch was war es dann?

Rupert de Cazeville sog den eigenartigen Duft nach Kräutern, Stroh und Weiblichkeit auf. Im Halbschlaf konnte er nicht unterscheiden, ob es eine seiner Visionen war oder die Realität. Er hatte keine Vision mehr gehabt, seit er König Richards Tod vorhergesehen hatte. Fast schon schien es ihm, als wäre ihm diese Gabe abhandengekommen. Er wäre darüber nicht böse gewesen. Die Gabe hatte ihm kein Glück gebracht. Er hatte Ereignisse vorhergesehen, die er letztlich nicht verhindern konnte. Wozu war die Gabe dann überhaupt da?

Stets hatte er darunter gelitten, hatte sie verflucht, sie nicht haben wollen. So sehr er sich auch dagegen gewehrt hatte, es hatte nichts genützt. Die Visionen kamen und gingen und wurden von der Wirklichkeit eingeholt.

Stöhnend drehte er sich auf dem harten Bett aus Brettern und Stroh. Er hatte schon bequemer gelegen, komfortabler gelebt, dort im Orient, wo alles hell, bunt, laut und voller fremdartiger Düfte war. Er hätte im Orient bleiben, sich nicht auf Richards Fährte begeben sollen. Aber er war seinen Visionen nachgejagt, wollte diesen unglücksseligen Kindskopf von König retten.

Rupert lachte hart auf und fuhr sich über die Augen. Es war dunkel, nur die Geräusche des nächtlichen Waldes drangen zu ihm in die Hütte.

Was ging ihn dieser König an, was hatte er mit dem Kreuzzug zu schaffen? Es war nicht sein König, es war nicht sein Glaubensfeldzug, nicht sein Gott! Es war dieser verdammte Wissenshunger, der ihn sein ganzes Leben vorwärtsgetrieben hatte.

Es hatte auf der Burg seiner Vorfahren begonnen – normannische Ritter, die gut einhundert Jahre zuvor England erobert und sich auf der riesigen Insel festgesetzt hatten. Rupert hätte sich in den Ehrenreigen seiner kämpferischen Ahnen einreihen können, aber er wollte nicht, er konnte nicht. Statt mit dem Schwert zu üben, verkroch er sich lieber auf dem Heuschober und lernte Lesen. Er war eine Schande für seinen Vater.

Es hatte Rupert nichts ausgemacht, auch nicht, als seine Mutter ihn in ein irisches Kloster schickte. Sie war wohl die Einzige, die ahnte, dass dieser Sohn anders war. Die Visionen, die den Jungen plagten, wurden stets zur Realität. Ein streng abgeschiedenes und gottesfürchtiges Leben würde ihn davon heilen, die klösterliche Einsamkeit ihn von seiner Umgebung isolieren. Und Rupert erträumte sich, im Kloster endlich richtig Lesen und Schreiben zu lernen. Doch die Klostermauern erdrückten seine Seele. Den einzigen Ausweg sah er in der Flucht.

Es war sicher göttliche Vorhersehung, dass die Kräuterfrau Rigana ihn halbtot im Wald gefunden und bei sich aufgenommen hatte. Ja, es war Schicksal, es war wohl vorbestimmt, auch wenn er nie sein eigenes Schicksal vorhersehen konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er geliebt, aus tiefstem Herzen, mit jeder Faser seines Körpers, mit den überschäumenden Säften und Kräften der Jugend.

Rigana war die wundervolle Wandlung seines bisherigen unerfüllten und schmerzhaften Lebens gewesen. Sie hatte ihm Fürsorge und menschliche Wärme geschenkt, hatte ihn die Weisheiten des Lebens, die Wunder der Natur, das Mysterium einer versunkenen Welt gelehrt. Hexe, weise Frau, Druidenkönigin oder nur Kräuterweib, all diese Worte besaßen für ihn damals keine Bedeutung. Rigana war Mutter, Lehrerin, Geliebte, Frau. Sie hatte auf einfühlsame Weise seinen Geist geweckt, sie hatte seine Fähigkeiten erkannt, hatte ihn geführt und gefördert. Und sie hatte ihn zum Mann gemacht.

Wieder lachte Rupert trocken auf. In der Dunkelheit klang seine kehlige Stimme seltsam fremd. Er lauschte einen Augenblick, doch Rigana schlief mit ruhigen Atemzügen neben ihm. Zum Mann gemacht … und nun hatte er einen Sohn!

Das Unbehagen in seinem Bauch verstärkte sich. War diese Odyssee durch die Welt wirklich notwendig gewesen? Um ihn von seinem Sohn zu trennen?

Rigana hatte ihn fortgeschickt, als sie spürte, dass ihre Weisheiten nicht mehr ausreichten, seinen Wissenshunger zu stillen. Erst die Jahre bei dem alten Druiden, der versteckt im Wald lebte und nur eine kleine Zahl auserwählter Schüler um sich versammelt hatte, hatten Rupert zu dem Wesen reifen lassen, das er jetzt war. Der Alte hatte ihm sein Wissen weitergegeben, ihn mit seinem Geist beseelt. Er hatte ihn an die Allmacht des Wissens herangeführt, vor der Rupert anfangs zurückschreckte. Später hatte er erfahren müssen, welche Macht ihm dieses Wissen verlieh und in welche Gefahren es ihn brachte. Sein Medizinstudium in Bologna, sein Leben als Medicus in Genua, war das nicht alles Vorbestimmung, nur um auf König Richard zu treffen?

Nur zu bereitwillig war Rupert dem eroberungslustigen Monarchen gefolgt, der sich dem Aufruf zum Kreuzzug zur Rückeroberung Jerusalems angeschlossen hatte. Es entsprach Richards abenteuerlichem Wesen, sich auf ein derartiges Unterfangen einzulassen. Und es entsprach Ruperts Wissensdurst, ihm in den Orient zu folgen. Nicht die Eroberung Jerusalems interessierte ihn, sondern die viel weiter entwickelten medizinischen Methoden des Orients. Er war überzeugt, dass er nur dort all das Wissen erlangen konnte, wonach er sein Leben lang gestrebt hatte.

Es war dieser verdammte Krieg, der alles zerstörte – das Heer der Kreuzfahrer, Richards Seelenheil, ja den ganzen Orient. Wenn Rupert gehofft hatte, ein neutraler Gelehrter sein zu können, so hatte er sich gründlich geirrt. Jeder wollte sich seiner bedienen, sein Wissen, sein Können, seine Fähigkeiten ausnutzen. Natürlich nur zum eigenen Vorteil, um selbst Wissen und Macht zu erreichen. Und es wurde ihm zu gefährlich.

Dieses gewaltige Wissen über das Wesen der Natur musste er für sich behalten. Es harmonierte nicht mit dem christlichen Glauben. Es harmonierte mit keinem Glauben, denn Glauben war nicht Wissen.

Trotz seiner Fähigkeit zu Visionen konnte er sein eigenes Schicksal niemals voraussehen. Und so hatte es ihn zu Sultan Saladin, in die Gefangenschaft aufständischer Stammesfürsten und in die zweifelhafte Gastfreundschaft des Königs von Zypern getrieben. Doch nirgendwo hielt es ihn lange, stets wurde er getrieben, einem verrückten König das Leben zu retten.

Rupert fand den verrückten König da, wo er besser von Anfang an hätte bleiben sollen, in Aquitanien. Richards Odyssee war nicht weniger abenteuerlich gewesen als Ruperts. Und diesmal schien er Ruperts Visionen Lüge zu strafen. Richard konnte sich ganz gut selbst helfen. Er brauchte ihn nicht dazu. Und wenn Lady Gwendolyn nicht gewesen wäre …

Diesmal entrang sich Ruperts Kehle ein leises Stöhnen. Gwendolyn! Sie war ebenfalls Teil seines Schicksals. Gwendolyn, die kleine Normannin, die mit dem Mut einer Wildkatze ihre Burg gegen marodierende fränkische Söldner verteidigte, die mit dem Schwert genauso geschickt umgehen konnte wie mit ihrer scharfen Zunge und die sich unsterblich in Rupert verliebt hatte.

Er musste zugeben, dass er zum ersten Mal eine ebenbürtige Frau getroffen hatte. Sie war klug, selbstsicher und wortgewandt, begeisterungsfähig und lernbegierig. Dass sie sich auf wundervolle Weise ergänzten, blieb auch König Richard nicht verborgen. Er machte ihnen ein besonderes Geschenk, indem er sie miteinander vermählte.

Rupert dachte jetzt noch mit einem Gefühl des ohnmächtigen Zorns daran. Niemals hatte er danach getrachtet, sich an einen anderen Menschen zu binden, nicht an einen König und nicht an eine Frau. Auf seine Weise liebte er Gwendolyn. Sie brachte ihm Widerstand entgegen, einen regen Geist, lieferte sich mit ihm einen Wettkampf des Wissens. Doch das alles war für ihn kein Grund zu heiraten.

Er hatte dem König dieses Geschenk schwer übelgenommen. Richard hatte nur darüber gelacht und war in sein Verderben gezogen. Während Rupert sich widerwillig in die ungeliebte Rolle des Ehemanns und Burgherrn fügte, starb Richard einen sinnlosen Tod. Rupert hatte es in seinen Visionen gesehen und hatte es nicht verhindern können.

Gwendolyn war wohl die Einzige, die ahnte, dass er etwas in seinem tiefsten Inneren verbarg. Dort hatte er die Vergangenheit begraben, unwiederbringlich, wie er glaubte – seine Liebe zu Rigana. Ja, er hatte diese Liebe so tief vergraben, dass er meinte, es habe sie nie gegeben. Aber Gwendolyn hatte es gespürt.

Und nun war er zurückgekehrt zu dieser Liebe, in seine Vergangenheit. Der Kreis hatte sich geschlossen.

Er lauschte auf Riganas gleichmäßige Atemzüge. Am liebsten hätte er aus Verzweiflung aufgeschrien, doch er hatte gelernt, Emotionen unter einer Schale aus Härte und Spott zu verstecken.

Für einen Augenblick war es so, als hätte es all die Jahre dazwischen nicht gegeben, nicht seine Lehre bei dem alten Druiden, nicht sein Leben als Arzt und Gelehrter, nicht den Kreuzzug mit Richard, nicht die Ehe mit Gwendolyn …

Doch da gab es Llewelyn, seinen Sohn. Seinen erwachsenen Sohn! Er machte Rupert deutlich, dass zwischen damals und heute ein ganzes Leben lag.

Vorsichtig streckte er die Hand aus und streichelte über Riganas Körper. Sie bewegte sich im Schlaf, murmelte etwas Unverständliches und drängte sich gegen ihn. Die Nähe ihres Körpers beruhigte sein rasendes Herz.

Er hatte nicht vergessen, wie sich ihr Körper anfühlte, welchen Duft sie verströmte, welche Wärme sie ausstrahlte und wie er sich zu ihr hingezogen fühlte. Ihr Haar war noch immer voll und lang, ihre Augen so grün wie das Laub des Waldes. Ihre Formen hatten sich gerundet, ihre Brüste waren voller, die Hüften breiter geworden. Sie besaß wohlgeformte, kräftige Arme, mit denen sie anpacken konnte, und muskulöse Waden.

Das Himmelreich zwischen ihren Schenkeln nahm ihn genauso freudig auf wie damals. Und doch, es hatte ihm auch seinen Sohn geboren. Vor vierundzwanzig Jahren!

Es war noch dunkel, als sich Rigana von ihrem Lager erhob. Mit traumwandlerischer Sicherheit bewegte sie sich im Raum, kleidete sich an, heizte die glimmende Glut der Feuerstelle an und goss Wasser in eine irdene Schüssel, um sich zu waschen. Rupert wandte sich um und suchte in der Dunkelheit nach dem grauen Viereck des mit Kuhhaut bespannten Fensters.

Dass er das Lager mit Rigana teilte, erinnerte ihn an vergangene Zeiten. Doch damals war er jung gewesen, zu jung, um zu begreifen, was für eine Frau Rigana war. Sie war einige Jahre älter als er. Damals erschien ihm dieser Altersunterschied von sechs oder sieben Jahren riesengroß. Er hatte es ihr übelgenommen, als sie ihn wegschickte. Erst später hatte er begriffen, dass sie ihm sein Lebensschicksal bereitet hatte.

Sein Leben … so viele Jahre auf der Suche. Nirgendwo war er geblieben. Erst als er seinem Sohn von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, wusste er, wohin er gehörte. Nicht auf seine normannische Burg, die ihm fremd geworden war, nicht zu Lady Gwendolyn, die ihr Leben ganz gut selbst im Griff hatte, sondern zu der Frau, die ihm einstmals das Leben zurückgegeben hatte – Rigana. Rigana hatte Größe gezeigt. Sie hatte ihn aufgenommen, als hätte es die vierundzwanzig Jahre dazwischen nicht gegeben. Sie war älter geworden, reifer und weiser. Und sie hatte ein Kind zur Welt gebracht – sein Kind!

Er drehte sich zur anderen Seite und zog die Decke über die Schultern. Rigana hatte den Sohn allein aufgezogen. Er hatte nicht einmal eine Ahnung von seiner Existenz gehabt. So, wie er vielen Menschen die Zukunft voraussehen konnte, so versagte diese Gabe bei ihm selbst. Dafür schien Rigana nicht überrascht, als sie ihn fragte, welchen Namen ihm damals der alte Druide gegeben hatte.

»Coll Diancecht1? Ich wusste, dass du ein guter Arzt werden würdest.«

»Ich bin kein guter Arzt geworden«, widersprach er. »Ich konnte nicht das tun, was ich tun wollte. Ich hatte gehofft, im Orient mein Wissen zu vervollkommnen.«

»Andere haben dich für ihre Interessen benutzen wollen.«

Er senkte den Kopf. »Dieser alte, weise Mann hatte mich davor gewarnt. Er hatte recht.«

Rigana lachte leise. »Natürlich hatte er recht. Er war nicht umsonst der weiseste Mann von ganz Irland. Er hat dir sein Wissen weitergegeben. Was du daraus machen wirst, liegt an dir selbst.«

»So hat er gesprochen. Warum hast du mich eigentlich zu ihm geschickt?«

»Du überschätzt mich«, gab sie lächelnd zurück. »Was ich weiß und kann, reicht gerade mal, um hier zu überleben.«

»Du hast Llewelyn aufgezogen und ihn alles gelehrt, was du mich auch gelehrt hast.«

»Es ist nicht genug. Der weise Mann lebt nicht mehr, aber du bist sein geistiger Erbe. Gib deine Weisheit an deinen Sohn weiter.«

»Wozu soll das gut sein? Dann wird er genauso benutzt, wie man mich benutzen wollte. Ich musste viel Kraft aufbieten, um mich dagegen zu wehren.«

»Auch Llewelyn wird sich dagegen wehren können. Warum bist du sonst zurückgekommen?«

»Weil du mich darum gebeten hast.«

Ihr Lachen war noch immer glockenhell und ansteckend. »Nein, weil du weißt, dass dein Platz hier ist.«

Er konnte Rigana nicht täuschen, und er wollte es auch nicht. Er hatte geglaubt, allen Herausforderungen des Lebens getrotzt zu haben. Doch was da auf ihn zugekommen war, damit hätte er in den kühnsten Träumen nicht gerechnet. Selbst sein zweites Gesicht hatte ihn im Stich gelassen. Keine noch so geringe Ahnung hatte es ihm verraten: Er hatte einen Sohn!

Diese Tatsache drückte auf seine Seele. Er konnte damit nicht umgehen. Llewelyn schlief nur einige Armlängen von ihm entfernt, oben auf dem Heuboden über dem Wohnraum.

Das Haus hatte sich verändert, wie alles in den vierundzwanzig Jahren. Die alten, bröckeligen Mauern waren durch dicke, mit Flechtwerk verstärkte Lehmwände ersetzt worden, glatt verputzt und mit Kalkschlamm geweißt. Am kurzen Ende des Hauses befand sich eine Rauchöffnung wie in den römischen Häusern. An den Wohnraum grenzte ein Stall für das Vieh, verbunden durch eine einfache Flechttür wie in den keltischen Langhäusern. Die Ziegen, die Hühner, der Maulesel hatten im Winter ein Dach über dem Kopf. Nun stand auch noch Djinn, sein arabisches Pferd, in diesem Stall.

Das Dach war frisch mit Rohr gedeckt und reichte fast bis zur Erde. Gleich daneben erhob sich ein quadratisches Vorratshaus auf Stelzen, um Mäuse und andere Schädlinge fern zu halten. Es gab einen großen Pferch für das Vieh, Wiesen, einen ausgedehnten Gemüsegarten und verschiedene Felder.

Auch im Haus hatte sich einiges verändert. Die Feuerstelle verströmte nicht nur Wärme, sie diente als Herd, besaß einen dicken Eisenrost und eine Aufhängung für einen Kessel.

Riganas primitive Liege existierte nicht mehr. Sie hatte einem breiten Bett aus ungeschälten Brettern Platz gemacht, die einen würzigen Holzduft verbreiteten. Rupert nahm an, dass dieses Bett noch nicht sehr alt war. Und er hatte Llewelyn daraus vertrieben. Sein Sohn hatte es vorgezogen, auf den Heuboden zu ziehen, unter das gewaltige Dach, wo nicht nur das Winterfutter für die Tiere lagerte, sondern auch unzählige Bündel von Kräutern hingen.

Rigana sammelte noch immer Kräuter. Manchmal kamen Leute zu ihr und baten um Hilfe bei verschiedenen Krankheiten. Sie galt als heilkundige Frau, doch Rupert wusste, wie schnell sich so ein Ruf ins Gegenteil verkehren konnte.

Beunruhigt setzte er sich auf, als Rigana sich ankleidete.

»Wo willst du hin? Was hast du vor?«

»Warum schläfst du nicht weiter? Ich gehe ins Dorf, um Kräuter und Pilze zu verkaufen.«

Rupert schleuderte die Decke beiseite. »Ins Dorf? In welches Dorf? Es ist dunkel, und du bist allein.«

Sie setzte sich zu ihm auf die Bettkante. »Natürlich ist es noch dunkel, weil das Dorf weit entfernt ist, eine halbe Tagesreise. Ich werde heute Abend wieder zurück sein. Seit vielen Jahren laufe ich dahin, anfangs mit Llewelyn auf dem Rücken, später allein. Ich habe immer allein für mich gesorgt.«

Rupert schluckte. »Das meine ich nicht. Es ist gefährlich, du musst durch den Wald laufen. Es gibt Räuber, die Soldaten des irischen Königs, Geister …«

Er spürte ihre Hand auf seiner Schulter. »Wer hat mich bis jetzt beschützt?«

»Jetzt bin ich da. Ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst.«

Ihr fröhliches Lachen durchbrach die Dunkelheit. »Du bist zurückgekommen, um deinem Sohn ein Lehrer zu sein, nicht mir ein despotischer Ehemann. Außerdem hörte ich, du seist bereits verheiratet.«

»Diese Ehe zählt für mich nicht, weil sie gegen meinen Willen geschlossen wurde.«

Sie lachte wieder. »Geschieht tatsächlich etwas gegen deinen Willen?«

»Wenn es der König befiehlt. Aber ich betrachte mich nach Richards Tod nicht mehr daran gebunden.«

Er spürte plötzlich ihre Lippen auf seiner Wange. »Ich auch nicht«, flüsterte sie. »Es tut mir gut, dass du da bist. Aber störe nicht meine Kreise.«

Sie erhob sich, schlang sich ein Tuch um die Schultern und nahm den Korb, den sie am Abend mit Kräutern, Pilzen und kleinen Arzneiflaschen gepackt hatte, auf ihren Rücken.

»Warte, ich werde dich begleiten.« Rupert sprang aus dem Bett und warf sich seine Sachen über. Er empfand es plötzlich als unerträglich, dass sich Rigana in Gefahr begab.

***

Die Tür öffnete sich, und Rupert trat aus dem Haus. Wie immer trug er seinen schwarzen Umhang. Er scherte sich nicht um irgendeine Mode oder Kleidervorschrift, wehrte sich gegen alle Vorschriften und Zwänge. Er tat, was er allein für richtig hielt.

Llewelyn hockte noch immer auf dem Baumstamm. Er presste die Lippen zusammen, als Ruperts Blick auf ihn fiel. Er blieb sitzen, während Rupert stehen blieb. Es war ein stummer Machtkampf, keiner kam dem anderen entgegen, keiner tat den ersten Schritt.

Rupert atmete tief durch. »Also gut«, sagte er. »Ich soll dich lehren. Das wolltest du doch, nicht wahr? Dann musst du es auch zulassen.«

»Ich weiß nicht, ob ich es jetzt noch will«, entgegnete Llewelyn.

»Weißt du überhaupt, was du willst?« In Ruperts Augen funkelte Unmut.

»Spotte nur. Wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen.«

Er bemerkte das überlegene Lächeln auf den Lippen seines Vaters. Seines Vaters! Sein Blick ging zu Rigana, die hinter Rupert trat. Er verdeckte sie fast mit seinem Körper, als müsse er sie vor Llewelyn beschützen.

Llewelyn würde sich nicht verdrängen lassen. Er erhob sich entschlossen.

»Ich helfe Mutter im Garten. So wie ich es immer getan habe.«

Mit erhobenem Haupt ging er an Rupert vorbei zu dem Stück Land, das sie dem Wald abgerungen hatten. Dort wuchs Gemüse, scharrten einige Hühner in der Erde nach Würmern, knabberten zwei Ziegen an den grünen Zweigen der Büsche. Es war ärmlich, es war erbärmlich, und er schämte sich, dass sie nicht mehr geschafft hatten in all den Jahren.

Er hätte seinen Vater so gern beeindruckt, ihm bewiesen, was er zu schaffen vermochte. Aber er war über diese verdammte Waldlichtung nicht hinausgekommen!

»Er ist genauso eigensinnig wie du«, bemerkte Rigana und strich sich eine Strähne ihres silbergrauen Haares aus dem Gesicht. Ihr Gesicht war immer noch schön, auch wenn sich viele kleine Fältchen in ihre Haut gegraben hatten. Das Grün ihrer Augen schimmerte wie ein Edelstein und erinnerte Rupert daran, dass es diese Augen waren, die ihn vor vielen Jahren in den Bann gezogen hatten. Er hatte fast sein ganzes Leben gebraucht, um zu der Erkenntnis zu gelangen, wie sehr er diese Frau liebte.

Er schenkte Rigana ein kleines Lächeln. Sie hielt ihr Haar mit einem schmalen Reif aus geflochtenen Weidenzweigen gebändigt. Die Enden hatte sie zu einem kunstvollen Knoten verschlungen. Rupert erinnerte sich, dass sie früher einen Gürtel mit einer spiralförmigen Schnalle getragen hatte.

Die Lichtung, auf der das Haus stand, hatte sich verändert. Sie war größer geworden, mehreren Feldern gewichen, auf denen Rigana und Llewelyn Getreide und Hülsenfrüchte anbauten. Überall am Rand fand Rupert Baumstümpfe, traurige Reste einstmals mächtiger Bäume. Es schmerzte ihn, weil für ihn jeder Baum eine Seele besaß. Rigana teilte diesen Glauben, doch sie musste einen Menschen mehr ernähren, seinen Sohn.

Rupert hatte bislang mit den schicksalhaften Wendungen des Lebens gut umgehen können. Das Problem war, dass sein Sohn mittlerweile erwachsen war. Rigana hatte ihm alles mitgegeben, wozu sie imstande war. Sie hatte eine gute Erziehungsarbeit geleistet. Und doch war ihm Llewelyn fremd. War es möglich, dass er ihm zu ähnlich war?

Rigana legte ihre Hand auf Ruperts Arm. »Kümmere dich um ihn«, sagte sie leise. »Er braucht deine Hilfe weitaus mehr als ich.« Dann drehte sie sich um und ging davon.

Rupert blickte ihr nach. Ihr Schritt war fest und sicher, ihr Gang geschmeidig und der Rücken gerade. Der Altersunterschied, der ihn damals irritiert hatte, war zusammengeschmolzen. Auch seine Schläfen waren inzwischen von silbernen Fäden durchzogen, die Falten im Gesicht hatten sich vertieft, und in kalten Nächten schmerzten seine Gelenke.

Ein warmes Gefühl durchströmte ihn, das er verwundert und ein wenig unwillig zur Kenntnis nahm. Mit zunehmendem Alter schwemmte es offensichtlich auch seine Empfindungen wieder an die Oberfläche.

Wie gewaltige grüne Finger schlossen sich die Kronen der Bäume über Ruperts Kopf zu einem mächtigen grünen Dom. Aus dem weichen Waldboden stiegen schleierförmige Dämpfe auf, verflüchtigten sich zu unsichtbaren Wesen, die den Eindringling umtanzten und beobachteten. Gleichzeitig verbreitete sich ein Duftgemisch nach Pilzen und vermoderndem Holz, nach würzigen Kräutern und herber Eichenrinde. Rupert liebte den Duft von Vergehen und neu entstehendem Leben. Der Wald war das eigentliche Heiligtum der alten keltischen Religion, der Ursprung des Lebens, wo Wasser und Erde, Luft und Feuer sich vermischten. Von fern hörte er das leise Plätschern des Bachs, wie sein kristallklares Wasser über die Steine sprang, sich drehte, überschlug, mit funkelnden Spritzern durch die Luft schleuderte, um wieder zurück in das Bett des Bachs zu fallen und seinem Lauf zu folgen, eilig, unstet und verworren.

Rupert glaubte, den Wald zu kennen, von damals, als er hier lebte. Doch in den Jahren hatte sich der Wald verändert, war dichter geworden. Junge Bäume drängten sich zwischen alte Eichen, reckten sich dem Himmel entgegen und nahmen den alten heiligen Bäumen Licht, Luft und Raum. Die Jungen verdrängten die Alten …

Je tiefer er in den Wald eindrang, umso dichter und dunkler wurde er. Jeder Baum besaß eine Seele, jedes Lebewesen, ob Pilz oder Käfer, ob Eichhorn oder Kauz. Es war die Göttlichkeit selbst, die ihn umfing. Erst hier fühlte er sich wirklich allein mit sich und seinen Gedanken.

Das Glück über die Rückkehr zu Rigana hatte einen matten Schimmer bekommen. Er fühlte sich verantwortlich für seinen Sohn, er fühlte sich auch verantwortlich für Rigana und vergaß dabei, dass die beiden vierundzwanzig Jahre ohne ihn gelebt hatten.

Mit einem tiefen Atemzug legte er den Kopf in den Nacken und blickte zwischen den knorrigen Ästen der Bäume hinauf in den Himmel. Er wollte Llewelyn sein Wissen vermitteln, doch er befürchtete, der würde ebenso daran scheitern wie er selbst und daran zerbrechen. Davor musste er seinen Sohn bewahren,

Ein Geräusch ließ ihn auffahren und störte seine Konzentration. Er sah eine gebeugte Gestalt mit zwei großen Körben zwischen den Bäumen laufen. Was wollte Llewelyn hier so tief im Wald?

Llewelyn schien ihn nicht zu bemerken. Er schleppte keuchend die beiden Bienenkörbe bis zum Bach. An seinem Ufer trat der Wald zurück und machte einer feuchten Blumenwiese Platz. Vom Himmel sickerte rotgoldenes Licht herab und vermengte sich mit der grünen Dämmerung des Waldes zu einer eigentümlichen Stimmung. Er stellte die beiden Körbe am Waldrand auf und zog die Stofffetzen, mit denen er die Einfluglöcher verschlossen gehalten hatte, heraus. Langsam trat er zurück und wartete, bis die ersten Bienen am Loch erschienen. In den Körben summte es aufgeregt. Die ersten Kundschafter würden alsbald ausfliegen.

Llewelyn ging hinunter zum Bach, stieg vorsichtig hinein und zog an einem Seil, das mit einem Ende an einen Baum geknotet war. Aus dem Wasser hoben sich mehrere locker geflochtene Körbe, in denen unzählige Aale wie ein Knäuel Schlangen zappelten.

Rupert war ihm gefolgt, ohne dass Llewelyn es bemerkte. Erst als er mit den Aalkörben zurückgehen wollte, prallte er beinahe gegen ihn. Ruckartig blieb er stehen. Sein Gesicht verfinsterte sich.

»Kontrollierst du mich?«

Rupert rührte sich nicht, so dass Llewelyn um ihn herumgehen musste.

»Hast du nicht gespürt, dass ich in deiner Nähe war?«

Llewelyn schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich? Ich war mit den Bienenkörben und den Aalfallen beschäftigt.«

Rupert nahm ihm die Aalkörbe ab und setzte sie auf den Boden. »He, das ist unser Abendessen«, begehrte Llewelyn auf. »Wenn Mutter zurückkommt, ist sie hungrig.«

»Du liebst deine Mutter sehr. Du fühlst dich als ihr Beschützer.«

»Natürlich! Sobald ich kräftig genug war, habe ich ihr die Unterstützung eines Mannes gegeben.«

»Und mich empfindest du als Eindringling, als Fremdkörper.«

Llewelyn errötete. Konnte Rupert Gedanken lesen? »Du bist doch mein Vater.«

»Du betrachtest mich nicht als solchen, und ich kann es dir nicht verdenken. Wieso spürst du nicht, dass ich in deiner Nähe bin? Spürst du, wenn Rigana oder ein anderer Mensch nahe ist?«

Llewelyn wandte den Kopf ab. »Warum fragst du? Wenn du unbedingt etwas Nützliches tun willst, dann hilf mir, die Aale zum Haus zu tragen.«

Schweigend gingen sie nebeneinander her. Die grüne Kathedrale des Waldes hielt sie umfangen, in den Wipfeln der Bäume zwitscherten die Vögel, und aus dem Dickicht erklang Wispern und Rascheln.

»Mutter hat mich gelehrt, was in Wald und Flur wächst, wozu man es verwendet und welche Wirkungen es hat. Ich kenne den Kreislauf der Natur, weiß ihre Zeichen zu deuten und gewisse Ereignisse vorauszusagen.«

»Welche Ereignisse?«

»Ob der Winter hart oder mild wird, ob Regen kommt oder wann die Lachse zu wandern beginnen.«

»Hast du Träume?«

Llewelyn warf Rupert einen belustigten Seitenblick zu. »Natürlich habe ich Träume. Manchmal sind sie gut, manchmal sind sie schlecht. Mutter sagt, Gut und Schlecht gehören zusammen. So ist eben das Leben.«

»Ahnst du, was in der Zukunft geschehen könnte?«

Llewelyn richtete den Blick wieder nach vorn. »Manchmal habe ich solche Ahnungen, aber ich traue ihnen nicht. Sie machen mir Angst. Ich will sie nicht haben.«

Rupert schwieg. Er selbst besaß dieses zweite Gesicht, Rigana auch. Sollte Llewelyn es nicht geerbt haben? Oder wehrte er sich nur dagegen, wie er selbst sich dagegen gewehrt hatte? Wie fremd war ihm sein Sohn eigentlich?

Das Gefühl, beobachtet zu werden, beschlich Rupert für die Dauer eines Herzschlags. Es war ein unbehagliches Gefühl, drohend und unheilverkündend. Im nächsten Moment krachte es im Unterholz, Äste barsten, Holz splitterte. Gleichzeitig ertönte ein ohrenbetäubendes Grunzen und Quieken.

Der Eber war mächtig. Rupert hatte noch nie so ein gewaltiges Tier gesehen. Er kam auch nicht dazu, darüber nachzudenken. Der Keiler stürzte auf sie zu. Seine elfenbeinfarbenen Hauer blitzten gefährlich aus den Seiten seines geöffneten Mauls. Er senkte den Kopf wie ein wütender Stier, seine Hufe wirbelten den feuchten Waldboden in dunklen Klumpen auf. Rupert sprang in einer instinktiven Reaktion beiseite. Er spürte den Körper des Keilers, streifte ihn. Das borstige Fell kratzte.

Llewelyn war viel zu überrascht, um reagieren zu können. Der Eber riss ihn um. Er stürzte, die Aalkörbe fielen durcheinander. Wie Schlangen wanden sich die Aale heraus und versuchten, über den feuchten Waldboden zu entkommen.

Der Eber stoppte abrupt, wirbelte mit einem zornigen Grunzen herum und griff erneut an. Auf dem Rücken liegend starrte Llewelyn ihm mit angstgeweiteten Augen entgegen.

Ruperts Hand fasste nach dem Messer in seinem Stiefel. In dem Moment, als der Eber erneut auf Llewelyn zustürmte, riss er das Messer hoch und bohrte es dem rasenden Tier in die Brust. Der infernalische Schrei des tödlich getroffenen Ebers gellte in ihren Ohren. Llewelyn glaubte, dieses Geräusch nicht ertragen zu können. Es bohrte sich in seinen Kopf, schmerzte wie die Schneide eines Messers. Er presste die Hände gegen seine Schläfen.

Der Eber überschlug sich mehrmals, wälzte sich über Llewelyn und blieb zuckend zwischen den Stämmen zweier Bäume liegen. Rupert starrte auf das sterbende Tier. Ächzend rappelte sich Llewelyn auf. Er spürte keinen Schmerz, schien unverletzt, nur ein schwerer Druck lastete auf seiner Brust und erschwerte ihm das Atmen.

Blut tropfte von Ruperts Hand. Es war das Blut des Ebers. Seine Finger hielten das Messer fest umschlossen. Llewelyns Augen konnten sich nicht von diesem Anblick lösen. Sein Vater hatte ihm das Leben gerettet – mit einer unglaublich mutigen und konsequenten Tat! Nicht einen Wimpernschlag hatte er gezögert, um sich zwischen ihn und das rasende Tier zu werfen. Er hätte dabei getötet werden können. Er hatte sein Leben für das seines Sohnes riskiert.

Gleichzeitig stieg Zorn in Llewelyn auf. Er selbst war kein schwacher Mann, er hatte viele Jahre seine Mutter beschützt und versorgt. Und nun kam Rupert und rettete ihm das Leben …

Tränen des Zorns verschleierten seinen Blick. Wie konnte er jemals die Größe seines Vaters erreichen, wenn er sich jetzt schon in seine Abhängigkeit begab?

»Du hast mir das Leben gerettet«, flüsterte Llewelyn mit erstickter Stimme. »Ich gehöre dir.« Es hörte sich an, als spreche ein Fremder die Worte.

Rupert erwachte aus seiner Erstarrung. »Unsinn«, knurrte er. »Niemand gehört irgendjemandem. Ich habe uns gerettet. Der Eber hätte uns beide töten können.«

Llewelyn beugte sich vor. Auch er trug ein Messer an seinem Unterschenkel, mit einem geflochtenen Lederband fest an die Haut gepresst. Aber er war nicht in der Lage gewesen, überhaupt danach zu greifen, geschweige denn, es dem wilden Tier ins Herz zu stoßen.

Wie konnte dieser über vierzig Jahre alte Mann so eine körperliche Gewandtheit aufbringen? Woher hatte er überhaupt gewusst, dass da ein Eber aus dem Dickicht brach?

Es gab nur eine Erklärung – Rupert hatte es gesehen, nicht mit den Augen, sondern mit dem Geist.

Llewelyn fröstelte. Seine Mutter hatte nicht übertrieben. Rupert besaß das zweite Gesicht, er war ein Zauberer, Magier, beseelt mit dem mystischen Wissen und Können einer anderen Zeit.

Ihn überkam der heftige Wunsch, diese Gabe auch zu besitzen, zaubern zu können, die Zukunft vorauszusehen, wenn auch nur, um einer Gefahr im richtigen Augenblick zu begegnen.

Im nächsten Augenblick jedoch zweifelte er. Magie, das war etwas Schwarzes, Böses, Unheimliches. Magie kam aus der Tiefe, der Hölle, vergiftete den Geist und brachte Unheil. Oft hatte er im Dorf von bösen Blicken gehört, die Kühe sterben ließen, von magischen Beschwörungen, die andere Menschen verhexten, von Wetterzauber und dem Anrufen von Geistern und Dämonen. Krankheiten brachen aus, die Ernte verdorrte, ein Kalb mit zwei Köpfen wurde geboren, und eine Bäuerin brachte ein totes, schwarzes Kind zur Welt.

Unerbittlich schob sich ein blutroter Nebel in seinen Kopf. Das Atmen fiel ihm schwerer, es stach in seiner Brust, als wäre er mit dem Messer durchbohrt worden.

Rupert blickte ihn scharf an. »Du hast Schmerzen«, stellte er fest. Llewelyn versuchte nicht, es zu leugnen.

»Zieh dich aus!« Rupert wischte das blutige Messer achtlos an seinem Mantel ab.

Mühsam zog Llewelyn sich die Kutte über den Kopf. Er konnte die Arme nicht richtig heben. Plötzlich spürte er Ruperts Finger tastend über seinen Brustkorb streifen. Es war ein seltsames Gefühl. Ihm wurde bewusst, dass sein Vater ihn zum ersten Mal berührte. Er wagte kaum zu atmen, weniger vor Schmerz als aus einem widerstreitenden Gefühl der Hingabe und Ablehnung. Er presste die Lippen zusammen und schloss sogar die Augen, um Ruperts Gesicht nicht so nah vor seinem zu sehen.

»Einige Rippen sind gebrochen«, stellte Rupert emotionslos fest. Llewelyn hatte weder Mitgefühl noch Wärme von ihm erwartet. Trotzdem keimte erneut Zorn in ihm auf. War er seinem Vater wirklich so gleichgültig? Warum hatte er ihm dann das Leben gerettet?

Rupert schnitt dünne Äste vom nächsten Strauch, kürzte sie auf die gleiche Länge, dann zerschnitt er Llewelyns Kutte in lange Streifen.

»Was tust du da?« erregte sich Llewelyn. »Diese Kutte hat mir meine Mutter genäht.«

Rupert warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Sie wird dir eine neue nähen. Wenn die Rippen nicht richtig zusammenwachsen, wirst du zum Krüppel.« Er scherte sich nicht um Llewelyns verbissene Miene, sondern trat hinter ihn und klemmte seine Arme unter Llewelyns Achseln. Dann bog er ihn langsam, aber unerbittlich nach hinten.

Llewelyn schrie auf. Der bohrende Schmerz im Brustkorb wurde beinahe unerträglich. Schweiß trat auf seine Stirn, doch er konnte besser atmen. Auf Ruperts Geheiß hin krallte er sich an einem überhängenden Ast fest.

»Bleib so stehen«, befahl Rupert und wickelte ihm mit den zusammengebundenen Stoffstreifen die dünnen, aber festen Zweige um den Oberkörper. Llewelyn kam sich vor wie in einem Folterinstrument. Er konnte nur noch steif und aufrecht gehen, aber er konnte gehen.

»So wirst du es bis nach Hause schaffen«, sagte Rupert sichtlich zufrieden.

»Was für eine Heimkehr!« Llewelyn schnaufte verächtlich. »Nicht einmal etwas zu essen können wir Mutter mitbringen. Sie hat darauf vertraut, dass ich die Aale …«

»Sie wird es verstehen.« Ruperts Gesicht verdüsterte sich. Dann beugte er sich zu dem toten Wildschwein nieder und schnitt ihm die Hinterkeule aus dem Fleisch. »Als Ersatz wird sie damit zufrieden sein. Den Rest holen sich die Wölfe und Krähen.«

Er schulterte die blutige Keule, die ein beträchtliches Gewicht besaß, scheinbar mühelos. Llewelyn lief hinter ihm her. Immer wieder ereilte ihn Schwäche, kalter Schweiß rann ihm von der Stirn. Doch er schwieg, klagte nicht, versuchte gleichmäßig zu atmen. Die Augen auf das herabtropfende Blut gerichtet, überschlugen sich seine Gedanken. Er war verwirrt von den Ereignissen, von seinen Gefühlen, von Ruperts Reaktionen. Er fühlte sich elend und hilflos, zornig und verzweifelt zugleich.

Ruperts Araberhengst stand auf der feuchten Waldwiese und hob seinen schönen Kopf. Aufmerksam hielt er ihn in den Wind, um dann laut zu wiehern. Rupert näherte sich und strich ihm beruhigend über den Hals. Djinn wirkte deplatziert im irischen Wald. Der Hengst war ein Geschenk Sultan Saladins und erinnerte Rupert an die Abenteuer, die sie gemeinsam im Heiligen Land durchstanden hatten. Er war geschaffen für die Wüste und die Hitze, für Kargheit und Durst. Auf der sumpfigen Wiese hatten sich seine Hufe verquollen, das fette Gras hatte zu Koliken geführt. Rupert sorgte sich um das wertvolle Tier. Die kräftigen normannischen Ritterpferde waren für das irische und englische Klima besser geeignet. Sie waren kraftvoll und robust, aber auch schwerfällig und benötigten viel Futter. Wenn man aus beiden Rassen etwas Neues züchten könnte, ein Pferd, das die Vorzüge von beiden in sich vereinte …

Aber Rupert war kein Bauer, kein Pferdezüchter, er kam sich schlichtweg überflüssig vor. Er wurde durchgefüttert wie ein nutzloses Haustier.

Kurz entschlossen streifte er dem Hengst die Trense über, sattelte ihn und schwang sich auf seinen Rücken. Erst als er die gleichmäßigen Bewegungen des Pferdekörpers unter sich spürte, kehrte Ruhe in ihm ein. Er beugte sich über den Pferdehals, nahm die Zügel fester und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen. Er verspürte den Duft des warmen Fells, das Arbeiten der Muskeln, das rhythmische Schnaufen. Djinns Hufe trommelten auf der Erde, seine schwarze Mähne flog wie eine Fahne. Doch statt der sandigen Wüstenluft atmete Rupert die feuchte Luft des Waldes.

So wie er das Pferd unter sich laufen ließ, ließ er auch seine Gedanken schweifen. Er hätte im Orient bleiben sollen. Irgendwie hätte er sich durchgeschlagen. Er hätte in einem arabischen Krankenhaus arbeiten können, oder in einem jüdischen, in einem christlichen.

Eigentlich war es gleichgültig, wo er sich befand. Er wollte etwas tun, etwas Sinnvolles, Vernünftiges, und nicht seiner Familie zur Last fallen.

Seine Familie …

Es war nicht seine Familie, zumindest nicht, wenn es nach seinem Gefühl ging. Aber auch das war trügerisch. Derzeit war er aufgewühlt, durcheinander. Er hatte seinen Platz in dieser Familie nicht gefunden, und er war sich nicht sicher, ob er ihn überhaupt finden würde oder finden wollte. Er wollte bei Rigana bleiben, ja. Ihre Nähe tat ihm gut. Etwas aber störte: Llewelyn!

Er schalt sich einen Narren, diese Gedanken überhaupt zuzulassen. Es war sein Sohn, sein Blut.

Blut! Vor seinem geistigen Auge sah er rote Flecken, die sich zu länglichen Rinnsalen formten. Es war Blut! Doch von wem? Wo?

Er zügelte sein Pferd und blickte sich um. Der Wald hatte sich gelichtet. Er war ohnehin nicht sehr dicht, hier, wo verkrüppelte Eichen wuchsen und dazwischen halbhohes Gras stand. Er konnte sich nicht erinnern, jemals hier gewesen zu sein, auch damals nicht. Er warf einen Blick zum Himmel, um den Sonnenstand festzustellen.

Wieder vermeinte er, rote Blutflecke zu sehen. Mit der Hand wischte er sich über die Augen, doch das Bild verschwand nicht. Für den Bruchteil eines Herzschlags sah er ein anderes Bild, zu kurz, um es deuten zu können. Die Blutflecke befanden sich auf einem groben Stoff. Er konnte nicht erkennen, ob es ein Kleidungsstück war und wer es trug. Dafür erkannte er einen hohen, dunkeln Turm und einen Stock, der durch die Luft wirbelte.

Zornig ballte Rupert die Fäuste. Er wollte nicht, dass es wieder begann. Und doch wusste er, dass jemand sich in Gefahr befand. Die Visionen waren zu unbestimmt, um Ort oder Person zu erkennen. Auch der Zeitpunkt dieser Gefahr war unbestimmt. Doch die Visionen hatten ihn noch nie getrogen.

Beunruhigt nahm er die Zügel auf und trieb das Pferd an. Djinn hob den edlen Kopf, blähte die Nüstern und wieherte. Dann spannte er die Muskeln an und schnellte wie ein Pfeil vom Bogen davon. Rupert beugte sich über den Pferdehals und ließ Djinn dahinstürmen. Vor ihnen breitete sich eine weite, hügelige Fläche aus, bewachsen mit Gras, Büschen und vereinzelten krüppeligen Bäumen.

Plötzlich tauchte vor ihnen eine Schafherde auf. Djinn scheute und wieherte. Rupert hielt sich im Sattel, griff die Zügel fest und beruhigte das erschrockene Pferd mit leisen Worten. Djinn spielte mit den Ohren und schnaufte aufgeregt. Gehorsam blieb er stehen, um sich dann langsam in Trab zu setzen.

Rupert blickte sich um. Wo Schafe weideten, gab es auch Menschen. Zwar konnte er keinen Hirten entdecken, doch die Schafe waren geschoren und hatten keine Scheu. Unbeirrt fraßen sie das kurze Gras ab.