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Clemens G. Arvay

FRISS ODER STIRB

Clemens G. Arvay

FRISS
ODER STIRB

Wie wir den Machthunger der Lebensmittelkonzerne brechen und uns besser ernähren können

 

 

 

 

 

 

 

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Clemens G. Arvay

Friss oder stirb

Wie wir den Machthunger

der Lebensmittelkonzerne brechen

und uns besser ernähren können

 

 

 

1. Auflage

© 2013 Ecowin Verlag, Salzburg

Porträtfoto Clemens G. Arvay: © Nadja Meister

Lektorat: Dr. Arnold Klaffenböck

Rechtliche Beratung: LANSKY, GANZGER + partner

Coverbild: Andrea Maria Dusl

Gesamtherstellung: www.theiss.at

Gesetzt aus der Sabon

Printed in Austria

ISBN 978-3-7110-5083-0

 

www.ecowin.at

Inhalt

Vorwort

I. Elf Wochen als Nomade in einer Welt der Dualität

Aufbruch

In einer Welt der Dualität

II. Aufs Bio-Huhn gekommen

„Wir werden hart durchgreifen!“ – Die Fürstenhof-Story

Von nackten Kannibalen

Der große Freiland-Bluff

Groß ist schlecht, Klein ist gut?

„Hier haben Sie meinen Schlüssel“

Das leistungsstarke „Designerhuhn“ im Ökolandbau

Die Bio-Industrie und ihre „höchsten Anforderungen“– Besuch beim deutschen Marktführer für Bio-Eier

Die „KellyBronze-Pute“ – eine „robuste Rasse“?

„Big 6“ und Antibiotika – was steckt im Bio-Putenfleisch?

III. Lost in the Supermarket

Von krummen Dingen

Ist die EU schuld?

Wie die Lebensmittelkonzerne ein Menschheitserbe aufs Spiel setzen

An der Nase herumgeführt

Das Rätsel der „biologischen Ursprungsgarantie“

Produktdesign oder Etikettenschwindel?

IV. Es geht auch anders

Artgerechte Hühnerhaltung

Die letzten Bauern

Bildteil

V. Let’s Feed the World – Plädoyer für ein dezentrales Lebensmittelsystem

Die kleinstrukturierte Landwirtschaft

Kann die kleinstrukturierte Landwirtschaft die Menschheit ernähren?

Die richtigen Alternativen finden und fördern

VI. Den schlafenden Riesen wecken

Kritische Konsumenten sind wichtig

Die Überwindung der Opferrolle und die Kündigung des Einverständnisses

Wir bestimmen über unsere Lebensmittel!

Die solidarische Landwirtschaft

Solidarische Landwirtschaft – mehr als Utopie!

Selbstversorgt:Wie wir unsere eigenen Lebensmittel erzeugen

VII. Auf den Punkt gebracht: Was Sie tun können, um die Macht der Lebensmittelkonzerne zu brechen und sich besser zu ernähren

VIII. Ein Gastbeitrag von Roland Düringer

IX. „Danke!“

X. Bücher, die zum Thema passen

Vorwort

 

 

Es geht (anscheinend) voran: Im Jahr 2012 griffen deutsche Verbraucherinnen und Verbraucher häufiger zu Bioprodukten als je zuvor. Der gesamte Bio-Umsatz in Deutschland hat mittlerweile die Sieben-Milliarden-Euro-Marke übersprungen und einen Marktanteil von 3,9 Prozent erreicht. In Österreich sind es circa 6 Prozent und in der Schweiz etwas mehr als 4 Prozent. Auch allgemein scheint der Verbraucher aufgeklärter und bewusster geworden zu sein: Gemäß dem Trend sind vor allem Handelsmarken gefragt, die Premium-, Bio- oder Regionalprodukte anbieten, zulasten der bislang expandierenden Discounter-Szene. Stehen wir womöglich vor einer Trendwende in der Landwirtschaft oder trügt der Schein?

Angesichts der rund 60 Milliarden Euro an Subventionen, die die Europäische Union allein in diesem Jahr in die Landwirtschaft stecken wird (knapp 40 Prozent des gesamten EU-Haushalts), ist eine Umverteilung hin zur Förderung ökologischer und kleinbäuerlicher Ansätze mehr als überfällig. Eine entsprechende Initiative des zuständigen EU-Kommissars zur EU-Agrarreform lässt hoffen. Er will Europas Bauern zwingen, wenigstens ein Mindestmaß an Klima- und Umweltauflagen zu erfüllen und sieben Prozent des Ackerlandes zu „ökologischen Vorrangflächen“ erklären, auf denen Gentechnik und Pestizide nichts zu suchen haben. Aber er hat die Rechnung ohne die mächtige – insbesondere deutsche – Agrarlobby der Lebensmittelkonzerne, Bauernverbände und der Chemieindustrie gemacht. Denen geht es nämlich vor allem um maximalen Profit. Sie wollen keine ernsthafte Reform, täuschen Aufgeschlossenheit vor und schmücken sich gern mit dem „grünen Mäntelchen“. Bio ist dabei nichts weiter als eine Marktnische, die es mitzunehmen gilt.

Was und wer verbirgt sich tatsächlich hinter dem Bio-Boom? Diese Frage wird viel zu selten gestellt und ehrlich beantwortet. Der Agrarbiologe Clemens G. Arvay blickt als einer der wenigen in diesem Thema arbeitenden Journalisten hinter die Kulissen und schaut sich vor Ort in den Hühnerställen und Fleischfabriken genauer um. Gerade in seinen unter die Haut gehenden Berichten und in seinen Interviews mit Insiderinnen und Insidern aus der Lebensmittelbranche und der Landwirtschaft liegen die Stärken des vorliegenden Buches. Er berichtet aus erster Hand von Zuständen in der „Bio“-Industrie, die er auf einer elfwöchigen Reise quer durch Europa aufgedeckt hat. Und er führt uns vor Augen, dass der Öko-Boom eben nicht von ernsthaften ökologischen Vorreitern, sondern zu einem überwiegenden Teil von der konventionellen Industrie und dem konventionellen Handel bedient und genutzt wird, was zur sogenannten „Konventionalisierung des Biolandbaus“ geführt hat. Vom ethischen Umgang mit Lebewesen oder einem ökologischen Kreislaufgedanken bleibt wenig übrig. Stattdessen stößt Arvay auf irreführende Werbung und systematische Fehlinformation der Konsumentinnen und Konsumenten. Der sich „ursprünglich“ nennende Handel, so deckt er auf, schwindelt sich die Wirklichkeit zu Werbezwecken zurecht, indem er sogar „Bürgen“ für regionale Produkte vorführt, die selbst nichts davon wissen.

Aber es geht auch anders: Im zweiten Teil des Buches trifft Arvay bei seiner Reise auf viele echte ökologische Vorreiter und Praktiker einer bewusst kleinstrukturierten Landwirtschaft, die alte und robuste Obst- und Gemüsesorten pflegen, solidarische und dezentrale Verteilungs- und Beschäftigungsbeispiele leben und eine tatsächlich nachhaltige Form der Landwirtschaft propagieren. Nur durch das bewusste Umdenken und Handeln eines aufgeklärten Verbrauchers und einer aufgeklärten Verbraucherin lässt sich die Macht der Lebensmittelkonzerne brechen, so das Plädoyer Arvays. Und nur eine kleinstrukturierte bäuerliche Landwirtschaft ist weltweit in der Lage, nachhaltig die Ernährung von Milliarden Menschen sicherzustellen.

Das Buch von Clemens G. Arvay öffnet die Augen.

 

Stefan Kreutzberger,

Investigativjournalist und Autor von „Die Öko-Lüge“

und „Die Essensvernichter“

Leserhinweis:

 

Beim Verfassen des vorliegenden Buches wurde auf geschlechtsneutrale Formulierungen geachtet. Da Sachtexte ein besonders hohes Maß an Übersichtlichkeit und Lesbarkeit beanspruchen, konnte diesem Vorsatz jedoch nicht immer Folge geleistet werden. Sofern es aus dem Kontext nicht anders hervorgeht, sind stets Frauen wie Männer gleichermaßen gemeint und angesprochen.

I. Elf Wochen als Nomade in einer Welt der Dualität

Aufbruch

Im August 2012 bereitete ich mich auf eine Reise vor. Ich erntete aus meinem Garten alles, was dieser hergab, und lagerte das Gemüse ein. Einen Teil der Erdenfrüchte verarbeitete ich zu haltbaren Konserven, zu Gewürzgurken und Tomatensaucen, Chutneys aus Zucchini und Kürbis, Pickles aus Paprika, Auberginen und Bohnen. Auf meinem Acker säte ich Phacelia tanacetifolia, die Rainfarn-Phazelie, die seit dem frühen 19. Jahrhundert kultiviert wird. Umgangssprachlich ist die Pflanze auch als „Büschelschön“ oder „Bienenfreund“ bekannt. Die beiden wohlklingenden Namen verdankt das Raublattgewächs seinen buschigen, violetten Blütenständen, die von Bienen mit Vorliebe besucht werden. Der Bienenfreund würde sich während meiner Abwesenheit bis in den Herbst hinein auf dem Acker ausbreiten, um mit seinem dicht verzweigten Wurzelsystem das Erdreich zu lockern und die Bodenstruktur zu verbessern. Es handelte sich um Gründüngung: Im Herbst würde ich die Pflanzen wieder in den Boden einarbeiten und so zum Aufbau des nahrhaften Humus beitragen.

Ich packte meinen Rucksack und brachte ihn gemeinsam mit der Film- und der Fotokamera in meinen Wagen. Da ich „nomadisch“ unterwegs sein wollte, gestaltete ich den hinteren Teil des alten, kastenförmigen Geländeautos zu einer Schlafkoje um. Das gab mir die Freiheit, völlig unabhängig und ohne die allabendliche Sorge um eine Unterkunft in die Fremde zu fahren.

Die feurige Sonne des Augusts glühte im tiefblauen, wolkenlosen Himmelszelt, als ich einen letzten Streifzug durch meinen Garten unternahm. Ich ließ mich von den warmen, energiegeladenen Sonnenstrahlen durchfluten und wusste, dass nach meiner Rückkehr nichts mehr sein würde, wie es war. Von den jetzt so saftig grünen, unbändig emporwachsenden und rankenden Gewächsen und ihren Früchten würde ich in jenem Jahr nicht mehr viel sehen – vielleicht noch die vertrockneten Stängel der kräftigen Moschuskürbispflanzen, die braunen Skelette der Stangenbohnen und der aztekischen Maispflanzen sowie die zu Grau verblassten, mächtigen Blütenstände der umgefallenen Sonnenblumen oder ein paar liegen gebliebene Früchte, aus denen schon die Samen herausquellen. Es war aber ein gutes Gefühl, zu wissen, dass meine Nachbarn sich reichlich an der Ernte bedienen und meine Kürbisse zur richtigen Zeit einlagern würden. Ich verließ mein Dorf im Hochsommer und würde erst wieder zurück sein, wenn der Herbst längst über das Land hereingebrochen war. Elf Wochen Abenteuer lagen vor mir – elf Wochen als Nomade in Europa.

 

 

Brief an meine Nachbarn vom 20. August 2012

 

Es ist so weit: Innerhalb der nächsten Tage werde ich abreisen. Ich werde Bäuerinnen und Bauern in verschiedenen europäischen Ländern besuchen und mir zahlreiche Initiativen und Projekte ansehen, bei denen es um eine sinnvolle, zukunftsfähige Produktion und Verteilung unserer Lebensmittel geht.

Nach dem Erscheinen meines letzten Buches „Der große Bio-Schmäh – Wie uns die Lebensmittelkonzerne an der Nase herumführen“[1] erreichten mich monatelang zahlreiche Anfragen von Leserinnen und Lesern, die sich das falsche Spiel der Supermärkte und Discounter nicht mehr bieten lassen möchten. Ich werde am laufenden Band gefragt, was man denn tun könne, um die Macht der Lebensmittelkonzerne zu brechen und sich vernünftiger zu ernähren. Und die Frage „Was kann man überhaupt noch kaufen?“ hörte ich sehr oft. Ein Mann schrieb mir in einer E-Mail, es fühle sich für ihn an wie „friss oder stirb!“, wenn er sich vor den Regalen der Supermärkte für ein Produkt entscheiden müsse.

Das ist eben das Problem, wenn Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion als reiner Kommerz betrieben werden, wo sie doch viel mehr sind. Die Landwirtschaft ist als Jahrtausende altes Kulturerbe die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft, und Nahrung ist die Voraussetzung für Leben überhaupt. Der allgemeine Zeitgeist des gnadenlosen wirtschaftlichen Wachstums, des Konkurrenzdenkens und der Dominanz des Profitstrebens in allen Lebensbereichen hat in die Landwirtschaft ebenso dramatisch Einzug gehalten wie überall sonst. Gibt es wirklich keine Alternativen zu grausamer Massentierhaltung und hoch industriellen Schlachtungsmethoden? Zu sinnloser Überschussproduktion und unfassbarer Lebensmittelvernichtung? Zu außer Rand und Band geratenen Warenflüssen und globaler Ungleichverteilung unserer Nahrung? Sollen wir die Ausbeutung von Mensch und Umwelt sowie die Erschaffung des falschen Scheins durch Werbung und PR wirklich hinnehmen und sogar akzeptieren, dass selbst „Bio“ heute oft nichts anderes mehr ist als ein gigantischer Bluff gegenüber den Verbrauchern?

Ich bin überzeugt davon, dass es auch anders geht. Ich mache mich nun auf, Antworten zu suchen und Ideen für konstruktive Lösungen zu finden. Ich werde durch ganz Deutschland, durch Österreich und die Schweiz reisen und mein Weg wird mich bis nach Großbritannien führen. Der entfernteste Punkt, den ich erreichen werde, liegt an der Küste von West-Wales. Dort gibt es zahlreiche Farmen, auf denen schon seit den 1970er-Jahren ökologisch gearbeitet wird – das sind echte Bio-Pioniere, die ihren Werten bis heute treu geblieben sind. Der wilden, mit Ginsterbüschen bewachsenen Küste von Wales, wo ich auch Freunde besuchen werde, fiebere ich regelrecht entgegen.

Natürlich werde ich auch diesmal wieder hinter die Kulissen der europäischen Lebensmittelindustrie blicken, um zu berichten, was sich dort so alles hinter den wohlklingenden Werbeversprechen und vor allem unter dem grünen „Bio-Mäntelchen“ verbirgt.

Seid doch so nett und seht in den nächsten Wochen ein wenig nach meinem Garten und dem Haus. Erntet, so viel ihr wollt, hebt mir aber bitte ein paar Kürbisse auf!

In einer Welt der Dualität

Einer der Ersten, der mir auf meiner Reise seine Gastfreundschaft schenkte, war Dr. Wolf-Dieter Storl. [Abb. 1] Der promovierte Ethnobotaniker und Kulturanthropologe lebt in den Bergen im Allgäu, wo ich ihn und seine Familie besuchte. In den Medien wurde der Autor zahlreicher Bücher als „Der Schamane aus dem Allgäu“ bekannt. Um das Haus der Storls zu erreichen, fuhr ich eine entlegene Forststraße entlang, die mich in Serpentinen den Berg hinauf führte. Nebelschwaden begleiteten mich. Sie durchzogen den ausgedehnten Wald.

Aus dem bläulichen Dunst tauchte ein mehrere hundert Jahre altes Haus auf, das – wie ich noch erfahren sollte – in einer ruhigen Phase des Dreißigjährigen Krieges von seinem damaligen Besitzer detailverliebt renoviert worden war. In der Eingangstüre wartete Christine Storl bereits auf mich und empfing mich warmherzig. Der mächtige alte Holzofen in der Stube faszinierte mich – auch er hatte mehrere hundert Jahre auf seinem gusseisernen Buckel. Umgeben von Kräutern, die zum Trocknen von der Decke herabhingen, fanden wir bei einem Glas Malzbier, das ganz in der Nähe gebraut worden war, rasch ein unerschöpfliches Gesprächsthema, das Wolf-Dieter Storl ebenso faszinierte wie mich selbst: alte Kulturpflanzensorten in Landwirtschaft und Garten. Üblicherweise nähere ich mich diesem Thema von der biowissenschaftlichen und der praktischen Seite. An diesem Abend brachte mir der Kräuterkundige aus dem Allgäu einen weiteren Zugang näher. Er erzählte über traditionelle symbolische Bedeutungen verschiedener Nutzpflanzen, die die Menschheit seit Jahrtausenden begleiten, und auch über Heilwirkungen der Acker- und Gartengewächse. Die Wurzelpetersilie, so erfuhr ich, die bereits auf eine lange Geschichte ihrer Kultivierung für den menschlichen Gebrauch zurückblickt, stand in der griechischen Mythologie symbolisch für Tod und Wiederauferstehung sowie für die Zeugungskraft des Mannes. Die Petersilie wurde daher als Grabschmuck verwendet. „Aber sie stand auch für die Überwindung des Chaotischen und den Sieg des Lebendigen“, ließ mich Wolf-Dieter Storl an seinem kulturhistorischen Wissen teilhaben. Über die Gurke lernte ich, dass ihre Samen als Wurmmittel Verwendung finden, und dass sie beispielsweise zur Blutreinigung und zur Ausleitung von Giften eingesetzt wird. Symbolisch steht die Gurke, die übrigens zu den Kürbisgewächsen zählt und deren Frucht in der Botanik den Beeren zugerechnet wird, für Ausgelassenheit sowie Fruchtbarkeit.

Am nächsten Morgen, nach erholsamem Schlaf und kurz nach Sonnenaufgang, gingen wir gemeinsam in den Garten. „Ich habe den Beruf des Biogärtners gelernt“, überraschte mich Wolf-Dieter Storl. „Unseren Garten habe ich für die Selbstversorgung angelegt. Es gelingt uns jedes Jahr, das Gemüse, das wir brauchen, und auch einen Teil des Obstes selbst anzubauen.“ Ich war außerordentlich erfreut darüber, dass sich unser Gespräch auf ganz natürliche Weise in die Richtung des Themas „Lebensmittel“ bewegte, das auch mich beschäftigte.

Auf dem Weg in den Garten kamen wir an einer Stelle vorbei, die dicht mit Karden bewachsen war. Das Kraut, unter Botanikerinnen und Botanikern als Dipsacus fullonum bekannt, streckte seine stacheligen Stängel mannshoch gegen den Himmel, an deren Spitzen die bereits vertrockneten, kopfförmigen Blütenstände saßen, die botanisch einer Ähre entsprechen. „Die Karde hat mich vor einigen Jahren von der Borreliose geheilt“, erinnerte sich der Pflanzenfreund Storl zurück und deutete dabei auf die buschigen Gewächse. Dass die Karde tatsächlich gegen diese bakterielle Erkrankung wirkt, wird von Ärztinnen und Ärzten angezweifelt. Wolf-Dieter Storls Begeisterung für diese Pflanze blieb davon aber unberührt: „Seit sie mich geheilt hat“, sagte er, „gedeiht sie hier in meinem Garten.“ Aus dieser Beobachtung zog er einen äußerst bemerkenswerten Schluss: „Der Geist der Pflanze entschied sich, bei mir zu bleiben, nachdem er mich gesund gemacht hatte.“ Obwohl ich mir als Biologe eine andere Erklärung für das Auftauchen der Karde im Storlschen Garten zurechtgelegt hatte, empfand ich die ungewöhnliche Deutungsweise als willkommene Gelegenheit, die Welt an jenem Morgen für ein paar Momente mit anderen Augen zu sehen.

Wir spazierten ein wenig im Garten umher. Zwischen knorrigen Apfelbäumen und hoch gewachsenen Stangenbohnen mit dichtem, dunkelgrünem Blätterkleid und wulstigen, langen Hülsen stieß ich auf allerlei Gemüsepflanzen und Beerensträucher. Am Rand des Gartens wucherten Heilkräuter mit unterschiedlichsten Blütenfarben und Wuchsformen. Dort, vor den dichten Reihen von Arzneipflanzen, vertieften wir uns schließlich in ein Gespräch, während sich die frühmorgendlichen Nebelschwaden, in die wir getaucht waren, langsam zu schwebenden, bläulichgrauen Fetzen zerteilten. Eine der Fragen, die ich dem Allgäuer Pflanzenkundigen stellte, lag mir besonders am Herzen. Von ihm als jemandem, der sich in seinem Leben intensiv mit philosophischen Fragen auseinandergesetzt hatte, wollte ich wissen, was er über das Berichten von Negativem in unserer Welt zu sagen hatte. Ich ahnte schon, dass meine bevorstehenden Besuche in der europäischen Lebensmittelindustrie – wie bereits in meinen vergangenen Recherchen – nicht allzu viel Erfreuliches mit sich bringen würden. Von einem war ich allerdings überzeugt: Wenn ich über konstruktive Lösungen für unsere in die Krise geratene Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung berichten wollte, dann musste ich auch darüber schreiben, was meines Erachtens derzeit alles schiefläuft. Denn um Lösungen zu finden, müssen wir zuerst die Probleme kennen.

Ich war gespannt darauf, zu erfahren, welchen Stellenwert mein Gesprächspartner dem Aufdecken von Missständen zusprechen würde. Also fragte ich ihn danach.

 

Clemens G. Arvay: Ist es aus Deiner Sicht legitim, den Konsumentinnen und Konsumenten einen Blick hinter die werbestrategischen Kulissen der Lebensmittelkonzerne zu ermöglichen, auch wenn das, was dabei zum Vorschein kommt, für manche schwer zu verdauen sein mag? Oder muss man sich dann den Vorwurf gefallen lassen, sich im Negativen zu verfangen?

 

Wolf-Dieter Storl: Ich würde sagen, dass ein Arzt genau ansehen muss, was dem Kranken fehlt. Er muss in die Wunde schauen, damit geheilt werden kann. Und genauso ist es auch in gesellschaftlichen Prozessen. Die Probleme wahrzunehmen ist nichts Negatives. Im Gegenteil: Alles andere wäre reine Schöngeisterei und sogar gefährlich. Sich nur mit dem Positiven zu beschäftigen ist im Grunde selbst wieder negativ, wenn man so blind durchs Leben läuft und immer nur das Schöne sehen will. Ich kannte eine Frau: Nachdem ein riesengroßes Stück Wald in den Bergen dem Erdboden gleichgemacht wurde, meinte sie: „Ich schaue da lieber gar nicht hin, ich möchte nur das Positive sehen.“ Ich hingegen schaute hin. Und ja, es war tatsächlich schrecklich. Aber nach einer Weile, da fing das Leben dort in der Grube wieder an. Und es wuchsen die Pionierpflanzen und auf einmal waren Pfützen da und Frösche und so weiter. Positiv und Negativ sind ja keine starren Gegensätze. Wir leben in einer Welt, in der diese Spannungen und diese Dualitäten nun einmal stattfinden.

 

Ich kramte in meiner Tasche und zog ein paar Fotos heraus. Es waren Aufnahmen von Legehennen in Deutschland, Österreich und Großbritannien. Die Bilder hatte ich selbst angefertigt und sie waren topaktuell. Sie zeigten dicht gedrängte Hennen in einer mit künstlichem Rotlicht beleuchteten Halle sowie Aufnahmen von Junghennen. [Abb. 2]

Auf den ersten Blick fand Wolf-Dieter Storl die Bilder nicht überraschend. „Man kennt ja diese schrecklichen Zustände in der Massentierhaltung“. Doch dann legte ich nach. „Das sind allesamt Aufnahmen von Bio-Hennen“, erklärte ich. Das, was zu sehen war, entsprach den EU-Richtlinien für die biologische Landwirtschaft. Die gezeigten Betriebe waren sogar Mitglieder bei Bio-Verbänden, die sich im Marketing für besonders hohe Standards rühmen.

Nachdem ich Storl verraten hatte, dass es sich um Bio-Hennen handelte, war der schamanische Biogärtner dann doch überrascht.

 

Clemens G. Arvay: Was geht Dir durch den Kopf, wenn Du solche Fotos siehst und erfährst, dass es sich um biologische Tierhaltung handelt?

 

Wolf-Dieter Storl: Wir bauen hier zwar unser eigenes Gemüse an, aber Eier, Milch und so weiter, das müssen wir alles im Geschäft kaufen. Wir sind einfach zu wenige hier oben, um Tiere zu halten. Und dann kaufen wir fast nur Bio-Produkte und man freut sich, dass es jetzt in beinahe allen Supermärkten Bio gibt. Aber wie diese Bio-Produktion aussieht, das weiß man gar nicht. Und dass es dort inzwischen schon fast so schlimm ist wie in der konventionellen Landwirtschaft, das erträumt man sich nicht einmal. Wenn die Unterschiede zwischen Bio und Konventionell im Wesentlichen nur mehr die Futtermittel und Betriebsmittel betreffen, dann ist das zu wenig. Tiere müssen artgerecht behandelt werden, damit sie gesund sind und sich wohlfühlen. Und das kann nicht geschehen, wenn ich sehe, dass auch Bio-Hühner im Stall zu sechs Stück pro Quadratmeter gehalten werden. Tiere haben doch eine Würde! Wenn man ihnen diese Würde abspricht, dann leidet darunter auch die Menschenwürde: Wer macht denn so etwas überhaupt?

 

Clemens G. Arvay: Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, es sind die Supermarkt- und Diskontkonzerne, die so etwas machen oder verursachen. Denn unter ihren Vorgaben kann kaum mehr anders gewirtschaftet werden als über große Mengen und massenhafte Warenflüsse, die auf möglichst wenigen Standorten produziert und gebündelt werden. Das ist dann eben auch bei „Bio im Supermarkt“ so.

 

Wolf-Dieter Storl: Es wird ja auch immer behauptet, man könne die riesigen Menschenmassen anders gar nicht mehr ernähren. Aber das stimmt nicht. Es gibt zahlreiche Studien, die ich gelesen habe und die sagen … nein, was heißt da „die sagen“? Ich weiß es ja selber aus meiner Erfahrung als Biogärtner, dass in der kleinteiligen Landwirtschaft am effizientesten gewirtschaftet wird. Es ist zwar arbeitsintensiv, aber das ist ja nicht schlimm. Ich finde es noch bedenklicher, dass Menschen herumsitzen und arbeitslos sind, nicht wissen, was sie tun sollen und womöglich zu Alkohol greifen oder den ganzen Tag vor dem Fernsehgerät verbringen, anstatt etwas zu schaffen, das ihnen selber wieder Würde gibt.

 

Clemens G. Arvay: Was können wir tun? Wo krankt unser Lebensmittelsystem und wie können wir es „heilen“?

 

Wolf-Dieter Storl: Es ist gut, hinzuschauen, denn dann kann man auch die Lösungen finden! Die Frage ist, wie die Lösungen aussehen können. Zentral geplante staatliche Lenkung halte ich nicht für den richtigen Weg. Die Menschen müssen selbst Verantwortung übernehmen, sie müssen vor Ort sein. Die Lösung muss lokal sein. Ich habe es auf meinen Reisen selber erlebt, zum Teil in Indien und viel früher auch in China: Die Menschen setzen sich ein, wenn es ihr Garten ist, ihr Feld oder wenn es ihre Kühe sind. Wir brauchen wieder mehr Beziehung zur Landwirtschaft und zu unseren Lebensmitteln, dann ist das nichts Abstraktes mehr.

 

Schließlich war die Zeit gekommen, unser Gespräch zu beenden, doch mein Abenteuer hatte gerade erst begonnen. Es waren diese Gegensätze, von denen Storl gesprochen hatte, denen ich mich stellen musste: dem Negativen und dem Positiven – der Dualität des Lebens.

Als ich entlang der Serpentinenstraße wieder ins Tal hinunterfuhr, lichtete sich die Nebeldecke über mir und legte die Schönheit der noch regennassen Allgäuer Berge frei. Ich würde in den nächsten Wochen den langsamen Wechsel der Landschaften miterleben, die Übergänge verschiedener Vegetationszonen in Europa. Ich würde Tausende von Kilometern zurücklegen, dabei zahlreiche motivierte und innovative Bäuerinnen und Bauern kennenlernen und neue Bekanntschaften mit Menschen schließen – Projektmitarbeiterinnen, Autoren, Wissenschaftlerinnen –, die sich mit unseren Lebensmitteln beschäftigen. Begleiten Sie mich auf dieser Reise, liebe Leserin und lieber Leser, und lassen Sie sich nicht davon abhalten, mit mir in eine Welt voller Licht und Schatten einzutauchen, in der wir das Negative zur Kenntnis und uns das Positive als Vorbild nehmen können.