ERIC BERG

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

bloomoon, München 2015

© 2015 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Eric Berg

Textlektorat: Svenja Hoffmann

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung

von Bildmaterial von © Getty Images/​Thinkstock

eBook Umsetzung: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978 - 3-8458 - 1115-4

ISBN Printausgabe 978 - 3-8458 - 0775-1

www.bloomoon-verlag.de

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Heiko

1

2

Monique

3

Felix

4

5

Nicole

6

Vanessa

7

Sylvia

8

Kati

9

Niko

10

Lennart

11

Ritchie

12

Mara

13

Simon

14

Jenny

Danksagung

Für Toni Richter

HEIKO

Scheiße gelaufen. Das ist das Erste und Letzte, was mir durch den Kopf geht, wenn ich daran denke. Scheiße gelaufen für Lulu und die anderen. Jetzt kann jeder sagen: Nicht gerade originell, fällt dem nichts anderes dazu ein, vielleicht ein bisschen Betroffenheit oder Reue? Aber so ist es halt. Was soll ich sagen? Ich hab einfach keine Lust, lange darüber nachzudenken, wie, was und warum, ob wir uns richtig oder falsch verhalten haben, was gewesen wäre, wenn, und so weiter und so weiter. Das kann man gefühllos oder kalt nennen oder was auch immer, ich will einfach nichts mehr davon hören, okay? Lasst mich endlich in Ruhe damit!

* * *

Einige sagen, dass Typen wie ich schuld sind, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Leute, die fast gar nichts darüber wissen, sind ja so schlau, so furchtbar schlau. Hinterher ist alles so easy zu durchschauen und ich und die anderen stehen wie Idioten oder Fieslinge da. Sucht es euch aus, mir ist es mittlerweile egal. Ehrlich, ich kann es nicht mehr hören.

* * *

Das ist nicht wie bei Brandstiftern oder so. Da gab es keinen, der das Feuerzeug unter die Gardine gehalten hat, und alles ging in Flammen auf. Das ist eher wie – wie – wie bei einer Brücke, über die 100.000 Laster fahren, und irgendwann stürzt sie ein. Kann man da sagen, der Laster mit der Nummer 16.915 ist schuld oder der Laster mit der Nummer 67.282? Oder 99.999? Eher nicht, oder?

* * *

Ich war nicht dabei, als es passierte. Hab nix davon mitbekommen und war einer der Letzten, der es erfahren hat. Lag daran, dass ich im Skatepark war. Der liegt ein bisschen abseits der Schulgebäude, viele Bäume zwischen dem sogenannten Ernst des Lebens und dem, was Spaß macht. Zuerst war ich ganz allein, dann kam Simon dazu. Ist ein komischer Typ, der Simon, ziemlich strange, hatte nie viel mit ihm zu tun, aber er kann verdammt noch mal skaten, und das ist doch das Wichtigste in einem Skatepark, oder? Wir haben uns wie üblich kaum unterhalten, mit Simon redet man nicht viel, trotzdem hab ich gemerkt, dass er an dem Tag irgendwie nicht gut drauf war. Hat sein Brett behandelt, als wollte er ihm wehtun. An dem Tag hat er nicht lange trainiert, was mich ein bisschen wunderte, weil er als einer meiner härtesten Konkurrenten bei den bevorstehenden Schulmeisterschaften gehandelt wurde. Den Meisterschaften, die dann niemals stattfanden … Scheiße. Eine Stunde später hat mir dann jemand erzählt, was passiert war.

* * *

Die Internatsleitung schickte uns alle nach Hause. Sie haben die Schule dichtgemacht, und dann haben sie gesagt, vielleicht für immer. Ich werd nie die Bittermiene vom Direktor vergessen, als er mit harten Lippen zu uns sagte: »Das habt ihr nun davon.« Zugegeben, ich bin weder ein großer Fan von Schule insgesamt noch speziell vom Haus Lombardi, seinen Lehrern und dem Direx gewesen. Aber was der da abgezogen hat, das war echt heftig. Ich hätt ihm am liebsten zugerufen: »Kehr lieber mal vor deiner eigenen Tür, du heuchlerischer Spießer!« Aber erstens wär das in dem Moment nicht angesagt gewesen, ich bin nämlich gar nicht so unsensibel, wie manche meinen. Und zweitens wär das wie ’ne billige Retourkutsche rübergekommen. Von wegen Schuld und so. Wir haben alle Mitschuld – und keiner.

So, mehr sag ich dazu nicht.

1

Lulu öffnete die Augen. Für einen Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand. Sie sah die Landschaft an sich vorüberfliegen, Bäume, Schafe, Wiesen und Strommasten. Dann fiel es ihr wieder ein. Sie saß im Zug. Das Rattern und das Kreischen der Bremsen waren bis in ihren Angsttraum vorgedrungen.

Erschöpft rieb sie sich über das Gesicht. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt. Der August war unbarmherzig. In der Regionalbahn schien sich die Hitze eines ganzen Sommers zu stauen, Schweißperlen hatten sich auf Lulus Haut gebildet. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass sie noch mindestens eine halbe Stunde bis an ihr Ziel brauchen würde. Ihr Ziel? Das war es nicht wirklich, oder?

Bäume, Schafe, Wiesen, Strommasten. Und diese Hitze. Obwohl sie es nicht vorhatte, fielen ihr die Augen wieder zu. Träumte oder dachte sie, als ihr die Bilder vom Ende des letzten Schuljahres durch den Kopf schossen? Aber spielte das überhaupt eine Rolle? Das vergangene Schulhalbjahr war so oder so ein Horrortrip gewesen, von dem sie nicht träumen und woran sie nicht denken wollte. Die Bilder wechselten. Im Traum tauchte von irgendwoher ihr Vater auf. Dann ihre Mutter.

»Ich gehe nicht zurück!«, hörte sie sich schreien. Doch die beiden schüttelten nur den Kopf, taub gegen jedes Argument, das sie vorbrachte. Sie hörten sie einfach nicht, so laut sie auch schrie. Und dann drehten sie sich um und gingen davon.

»Ich kann aber nicht, ich kann nicht zurück!«, schrie sie und wachte davon auf. Ihre Kehle brannte.

Wie oft hatte Lulu die Diskussion in der Realität mit ihren Eltern geführt? Sie hörte ihren Vater noch, der von dem Schulgeld sprach, das bereits gezahlt war. Ihre Mutter, die von der besten Schulbildung redete, die man in diesem Land genießen konnte. Ihr dagegen hatte niemand zugehört. In der Wirklichkeit genauso wenig wie im Traum.

Und nun kehrte sie eine Woche vor Ende der Sommerferien doch zurück ins Haus Lombardi und zu dem großen Problem, mit dem sie sich seit Monaten herumschlug.

Schluss, Lulu! Du wolltest doch nicht mehr daran denken.

Aber das war leichter gesagt als getan. Denn es ging ja nicht nur um das, was passiert war, sondern um das, was passieren würde. Um die Zukunft. Und Lulu hatte kein gutes Gefühl, was die nahe Zukunft anbelangte. Wie sollte sie es nennen? Ahnung, Bauchgefühl? Jedenfalls hatte sie Angst, dass alles den Bach runterging, ohne genau sagen zu können, was sie befürchtete.

Wieder kreischten die Bremsen, schmerzten in den Ohren und rissen Lulu aus ihren Gedanken. Im letzten Moment bemerkte sie das Bahnhofsschild, auf dem SOMMERFELD stand.

»Mist.« Sie schnappte sich den Koffer und hastete durch den Zug, rempelte dabei ein paar Leute an, rief andauernd »Sorry« und schaffte es gerade noch auf den Bahnsteig, bevor die Zugtür laut hinter ihr zuschlug.

Nachdem der Zug abgefahren war, wurde es verdammt still auf der kleinen Bahnstation. Kein Lüftchen wehte. Die Landschaft war ein Standbild: Kornfelder, Kiefernwald, Unkraut, in der Ferne ein Dorf, eine Pappelallee, die über einen Hügel hinweg zum Internat führte. Keine Menschen in Sicht außer einer rotmützigen Bahnwärterin, die in ihr hässliches Häuschen verschwand. Am Himmel näherte sich eine schwarze Wolkenwand. Lulu sehnte sich nach Abkühlung, nach einem Regen, der die schwüle Luft reinigte. Aber das Gewitter musste nicht ausgerechnet dann niedergehen, während sie den kurzen Weg zum Haus Lombardi zurücklegte. Sie beschloss, den Guss abzuwarten und sich neben dem Bahnwärterhäuschen unterzustellen.

Als sie um das quadratische Gebäude herumging, erkannte sie durch das Hitzeflimmern hindurch, dass der Bahnhof doch nicht so verlassen war, wie sie angenommen hatte. Am anderen Ende des Bahnsteigs sah sie die verschwommenen Umrisse eines Mädchens. Es war ungefähr so alt wie Lulu, saß auf seinem Koffer und beugte sich über einen Zeichenblock.

Lulu spürte, wie eine Welle der Erleichterung über sie hinwegschwappte. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie sich wirklich gut. »Jenny!«, rief sie. »Hey, Jenny! Was machst du denn schon hier?«

2

Lulu rannte auf ihre beste Freundin zu, mit der einen Hand zog sie dabei den Koffer hinter sich her, mit der anderen winkte sie fröhlich. Jenny reagierte nicht.

»Hey, Jenny«, wiederholte Lulu mit unsicherer Stimme, als sie bei ihrer Freundin angekommen war.

Jenny sah nicht hoch. Sie zeichnete, wobei ihr langes glattes rotes Haar fast den Block berührte. Wie oft hatte Lulu sie in dieser Haltung gesehen. Zeichnen war Jennys Leidenschaft – aber etwas war anders als sonst. Normalerweise ließ Jenny sich viel Zeit, ihre Motive abzubilden, ja, sie brauchte manchmal zwei, drei Minuten, bevor sie einen einzigen Strich machte. Heute bewegte sich ihr Kohlestift schnell wie die Nadel eines Seismografen. Und was sie da zeichnete … Einen Jungen, der sich vor einen fahrenden Zug warf. Ziemlich düster.

Mit einigen Sekunden Verzögerung schaute Jenny hoch. Als sie Lulu erkannte, breitete sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln aus. Sie sprang auf und umarmte die Freundin.

»Hey, Lulu.«

»Hey selbst. Du hast es also auch nicht mehr zu Hause ausgehalten. Aber warum sitzt du hier auf dem Bahnsteig herum?«

»Ich zeichne. Ich hatte gerade so eine Inspiration«, erwiderte Jenny.

»Das sehe ich … Ein Selbstmörder … ein ziemlich düsteres Motiv, findest du nicht?«

»Man kann ja nicht immer nur Landschaften malen. Wie geht’s dir? Etwas besser als vor den Ferien hoffentlich.«

Lulu war klar, worauf Jenny hinauswollte, aber sie mochte nicht darüber sprechen. Nicht jetzt.

»Einigermaßen.«

»Komm, lass uns gehen.«

»Wart mal, das Gewitter –«

»Ach, das zieht vorbei.« So war Jenny: immer spontan, nie lange grübelnd, obwohl sie sehr intelligent war. So eine Art Teenager-Pippi-Langstrumpf, aber modischer gekleidet. Dass sie ein Jahr jünger als Lulu war, spielte für beide Mädels keine Rolle, auch wenn sie nur wenige Gemeinsamkeiten hatten: Jenny zeichnete, Lulu sang lieber. Jenny war eher klein und unsportlich, Lulu war groß, schlank und ein Lauf-Ass. Jenny stand auf komische Typen, Sonderlinge wie Simon, Lulu mochte angesagte Jungs wie Lars. Was also verband die beiden? Sie mochten sich einfach, das war das ganze Geheimnis!

Sie machten sich auf den Weg. Tatsächlich behielt Jenny mal wieder recht – das Gewitter kam nicht näher. Allerdings verzog es sich auch nicht. Es schwebte in einiger Entfernung, so als würde es lauern und auf den richtigen Augenblick warten. Ein bleierner Schatten legte sich über die Felder und Donnergrollen rollte wie schwere Brandung heran. Aus schiefergrauen und schwarzen Geschwüren zuckten Blitze, die so weit weg waren, dass man sie schön finden konnte, und nah genug, um ihre tödliche Gewalt zu ahnen. Zuerst gingen sie die Pappelallee entlang, um auf schnellstem Weg ins Internat zu kommen, aber dann bog Jenny in einen kleinen Feldweg ein, der zum Dorf führte.

»Ich will noch ein paar Sachen einkaufen«, erklärte sie. »Knabberzeug, ein paar Breezer und so.«

Das Dorf Sommerfeld, umgeben von Wald und Kartoffeläckern, erweckte in vielen Stadtmenschen das leise Gefühl von Traurigkeit. Die meisten Häuser hätten mal einen neuen Anstrich vertragen – oder überhaupt einen Anstrich. Eine zum Fürchten hässliche evangelische Kirche, eine Autoreparaturwerkstatt und ein Tante-Emma-Laden gehörten zu den Highlights. Von den etwa zwölfhundert Einwohnern war an diesem brütend heißen Mittag kaum jemand auf der Straße. Ein dickbäuchiger Mechaniker schraubte mit seinem Lehrling an einem Motorrad herum, eine Greisin schnitt ihre welken Gartenblumen. Es herrschte absolute Stille.

»Das muss es sein, was die Leute Idylle nennen«, sagte Lulu, die sonst eigentlich nur ihre Joggingroute nach Sommerfeld führte. Sie hatte nichts für das Landleben übrig, hatte ihr ganzes junges Leben in Berlin zugebracht, bis sie vor zwei Jahren von ihren Eltern ins Haus Lombardi geschickt worden war. Kleine Dörfer, Wälder und weite Felder mochte sie nicht, sie machten ihr sogar ein bisschen Angst. Das lag an dieser großen Geräuschlosigkeit. Denn für das an Stimmengewirr und Verkehrslärm gewöhnte Hauptstadtkind Lulu waren Vogelgezwitscher, das Brausen des Windes und das Knarren der Bäume keine Unterbrechung der Stille, sondern eine Betonung derselben. Hinzu kam noch, dass sich über Sommerfeld eine fahle, gespenstische Dämmerung ausgebreitet hatte, die Schatten der Gewitterwolken.

»Mist!«, sagte Lulu, als sie an der Tür des Tante-Emma-Ladens rüttelte. Sie schaute auf die Kirchturmuhr. Es war erst kurz vor zwei, in Sommerfeld gab es noch die gute alte Mittagspause. Ladenschluss von zwölf bis drei.

»Ich hasse Dörfer«, murmelte Lulu. Als sie sich umdrehte, stand vor ihr ein Junge in ihrem Alter. Er war aus dem Dorf. Groß, dünn, aschblond, Mittelscheitel, Flaum auf der Oberlippe, und er trug einen Blaumann. So hatte sie sich Mechanikerlehrlinge immer vorgestellt. »Hi, ich bin Lennart.«

Lulu war so perplex, dass sie kein Wort herausbrachte. Sie kannte den Jungen nur vom Sehen, er hatte mal einen verlorenen Schlüssel von ihr gefunden und zurückgegeben. Sie mochte ihn trotzdem nicht. Warum, das war ihr nicht ganz klar. Er hatte etwas Verstörendes an sich … Die Art, wie er sie ansah … so fokussierend, durchdringend …

»Hi«, brachte sie endlich über die Lippen.

»Und du?«

»Was?«

»Wie heißt du?«

»Ich – äh – Lulu.«

Nach Jennys Namen erkundigte er sich nicht.

»Lulu«, flüsterte er vor sich hin, als wäre es der Musiktitel eines Nummer-eins-Hits. »Lulu. Lulu. Ist das ein Spitzname?«

»Ja.«

»Und dein richtiger Name?«

»Nur meine Oma nennt mich noch bei meinem Taufnamen.«

»Ich heiße Lennart.«

»Hast du schon gesagt. Mach’s gut.« Sie zupfte Jenny am Ärmel. »Komm, wir gehen.«

»Ihr wolltet was kaufen, oder?«, fragte er ungeachtet der Tatsache, dass sie sich schon einige Schritte von ihm entfernt hatten.

»Ja, aber es ist geschlossen«, sagte Lulu. »Tschüs.«

»Ich kann euch reinlassen«, rief er.

»Reinlassen?«

»Das Schloss ist kein Problem für mich. Ich bin Mechaniker, das ist ein Klacks! Die Alte, der der Laden gehört, kriegt das gar nicht mit.«

»Cool«, sagte Jenny. »Ein paar Breezer wären nicht schlecht. Und Cola und Bacardi vielleicht? Salzstangen, Chips … «

»Jenny«, mischte sich Lulu ein, »wir reden über einen Einbruch!«

»Quatsch. Wir können das Geld ja auf dem Tresen liegen lassen.«

»Trotzdem ist es Einbruch.«

Während Lulu mit Jenny diskutiert hatte, war Lennart erfolgreich gewesen. Die Ladentür stand offen.

»Klingeling«, rief er gut gelaunt. »Immer hereinspaziert. Was darf es sein?« Vielleicht hätte Lulu sich bei jemandem, den sie mochte, auf dieses Spielchen eingelassen. Aber das war hier nicht der Fall. »Jenny, ich mache da nicht mit«, sagte sie. »Aber du kannst natürlich tun, was dir gefällt.« Sie machte kehrt, aber nach ein paar Schritten holte der Junge sie ein.

»Ich hab’s nur gut gemeint«, sagte er traurig, und plötzlich tat er ihr ein bisschen leid. Vielleicht war sie ihm gegenüber nicht ganz gerecht gewesen. Außer dem Herumgeschraube an Motoren und Einbrüchen in Tante-Emma-Läden hatte er vermutlich wenig Abwechslung in seinem Leben. Lulu lächelte ihn freundlich an. »Schon gut, ich nehme es dir nicht übel.«

Sie wollte weitergehen, doch er versperrte ihr den Weg.

»Ich mach’s wieder gut. Eine Rundfahrt mit meinem Moped?«

»Nein, danke.«

»Essen in der Pizzeria?«

Lulu schüttelte den Kopf. Plötzlich ging ihr das alles furchtbar auf die Nerven: die drückende Hitze, das schwere Gepäck, das in der Ferne grollende Gewitter, die geschlossene Ladentür, zwei Glockenschläge des Kirchturms, der nervige Junge … Sie sehnte sich nach ihrem Zimmer im Haus Lombardi, einer kalten Dusche und einer ungestörten Stunde auf dem sauberen, weißen Bettlaken. Wäre es nur schon Abend. Wäre bloß schon die letzte Ferienwoche vorbei. Wäre bloß schon das neue Schuljahr geschafft, dann wäre sie achtzehn und könnte machen, was sie wollte – als Erstes die verhasste Schule verlassen!

»Hör mal – äh … «

»Lennart«, sagte er.

»Lennart. Du bist bestimmt ein lieber Kerl, aber ich habe einen Freund. Da kommen Ausflüge mit der Knatterbüchse und Candle-Light-Dinner bei Luigi nicht so gut an, verstehst du?«

Dafür, dass Lulu schlechte Laune hatte, war ihre Ablehnung freundlich gewesen, und endlich ließ er sie gehen, wenngleich er den beiden Mädchen nachschaute, bis sie außer Sicht waren. Jenny schritt schweigsam vorweg, Lulu trottete lustlos hinterher. Noch immer grollte das Gewitter. Über dem Wald hing ein grauer Regenschleier, aber es war nicht kühler geworden, sondern noch drückender. In der Ferne, über den Wiesen, stieg Dunst auf. Nach ein paar Hundert Metern kam das Schulgebäude in Sicht, ein traditionsschweres Herrenhaus. Immer wenn Lulu es nach einer Weile zum ersten Mal wieder erblickte, überkam sie ein depressiver Schauer. Ein paar Tropfen fielen vom Himmel, ohne dass es richtig regnete. Lulus Shirt war durchgeschwitzt, die Haare klebten an ihrer Stirn, ein Rad des schweren Rollkoffers klemmte und Lulu gab diesen Tag bereits vollständig verloren. Und das Schlimmste war, dass er vielleicht sogar zu den besseren der nächsten Zeit gehörte. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle in den Schatten eines Baumes gesetzt und ausgiebig geweint, um alles rauszukriegen, was an Frust und Mutlosigkeit in ihr war. Doch die Zukunft konnte man leider nicht einfach wegweinen oder mit Tränen besänftigen, man konnte sie nur durchstehen. Lulu riss sich die letzten Meter bis zum Haus Lombardi zusammen.

Jenny und sie gingen in eines der modernen Nebengebäude, das den weiblichen Schülern vorbehalten war. Dort trennten sich ihre Wege. Im komfortablen Haus Lombardi hatte jedes Mädchen ab sechzehn sein eigenes Zimmer.

»Willst du wirklich nicht reden?«, fragte Jenny vor dem Abschied.

Lulu verneinte stumm und rang sich ein verzweifeltes Lächeln ab. »Trotzdem, danke.«

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, überkam sie zum ersten Mal, seit sie vor drei Jahren ins Internat gekommen war, ein Gefühl der Fremdheit: Hier gehöre ich nicht hin. Das war sonderbar. Ursprünglich hatte sie sich gegen das Internat gesträubt, noch dazu am Ende der Welt, aber dann hatte sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen doch gut eingelebt, und mehr als das, sie war beliebt geworden – später sogar tonangebend, obwohl sie sich gar nicht vorgedrängt hatte. Sie wurde die gewählte Kapitänin der Frauen-Volleyballmannschaft des Hauses Lombardi, Schülersprecherin, Redakteurin der Schülerzeitung. Weil ihre Noten nur gut, aber nicht überragend waren, galt sie nicht als Streberin, und weil sie es vermied, sich nur einer einzigen Clique anzuschließen, hatte sie keinen Stress – außer mit dem Hausmeister, den sie mit spontan organisierten, nicht genehmigten Partys in der Turnhalle schrecklich nervte. Für alle anderen war sie so eine Art Schnittstelle, eine Instanz und für einige sogar ein Idol. Das alles passierte einfach ohne großes Zutun ihrerseits. Wenn sie jetzt zurückdachte, war es die beste Zeit ihres Lebens gewesen.