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Wolfgang Morscher
Berit Mrugalska

Die schönsten Sagen
aus Vorarlberg

© 2010
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at

Wolfgang Morscher/Berit Mrugalska

Die schönsten Sagen aus Vorarlberg

Die Stadtretterin Guta

In einer kalten Winternacht des Jahres 1408 beschlossen die Appenzeller in einem Gasthaus in Rankweil, die Landeshauptstadt Bregenz zu überrumpeln und seine Bewohner zu ihrem Bund gegen die Schwaben zu zwingen. Als sie alle Details für den Angriff ausführlich besprochen hatten, bemerkten sie, dass sich noch jemand im Raum befand. In der nur mit Kerzen beleuchteten Stube saß hinter dem Ofen eine zusammengekauerte alte Frau, die scheinbar schlief.

Diese hatte aber alles mitgehört und wusste nun über den gesamten Ablauf des Angriffs Bescheid. Da schrien die Appenzeller auf die Mitwisserin ein und wollten sie töten. Die zitternde Frau konnte sich jedoch mit Geschick herausreden und stellte sich halb taub. Noch dazu blieb sie fest dabei, dass sie in der Dämmerung hinter den Ofen geschlüpft und – von der Kälte halb erfroren – gleich eingeschlafen sei. Die Appenzeller wollten keine wehrlose alte Frau töten, so ließen sie sie schwören, dass sie keinem Menschen ein Wort der Unterhaltung verraten würde. Dann stießen sie sie aus dem Gasthaus, zurück in die kalte Nacht.

Nun trollte sich die Alte schnell in einen Stall, wo sie sich in Sicherheit wusste, und versuchte einen klaren Gedanken zu finden. „Ich muss die Stadt Bregenz warnen“, sagte sie sich und überlegte, wie sie dies schaffen könnte. So schnappte sie sich schließlich einfach ein Pferd aus dem Stall und ritt trotz grimmigster Kälte und bei völliger Dunkelheit auf tiefverschneiten Pfaden in Richtung Bregenz. Als sie endlich völlig entkräftet beim Rathaus ankam, erbat sie sich Zutritt zum Amtmann. Der Amtmann und die in der Ratsstube versammelten Herren wollten wissen, wer sie war und was sie so Dringendes um diese späte Uhrzeit mitzuteilen habe.

„Ich heiße Guta, und alles nennt mich ‚die alte Guta‘ “, antwortete sie, und sie habe eine lebenswichtige Nachricht für die Stadt. Da sie aber geschworen hatte, keinem Menschen von dem Gehörten zu erzählen, stellte sie sich vor den Ofen und berichtete alles dem Feuer. Auf der anderen Seite des Ofens aber, in der Ratsstube, saßen die Herren und konnten alles mit anhören. So brach die alte Guta ihren Eid nicht und die Bregenzer wurden über die Angriffspläne der Appenzeller informiert. Die Stadt Bregenz konnte durch dieses Wissen Hilfe holen und bis zum Tag des Gefechts, dem 13. Jänner 1408, wurden achttausend Mann, Ritter und Knechte, zur Rettung der Stadt herangezogen.

Als die Ratsherren Guta schließlich fragten, was ihre Belohnung sein sollte, verlangte sie einzig eine Bleibe und regelmäßiges Essen in Bregenz, was ihr gerne gewährt wurde. Über 400 Jahre lang wurde der tapferen Guta auch im abendlichen Nachtwächterruf „Ehret Guta“ gedacht, und bis heute ist sie als Stadtretterin von Bregenz unvergessen.

Die Nonne in der Klosterkaserne

Nach dem Umbau des ehemaligen St. Anna-Klosters in Bregenz in eine Kaserne (diese wurde 1979 abgerissen) sah man in der Nacht eine Klosterfrau in weißem Gewand und mit einem Schlüsselbund durch die Gänge wandeln. Manche sagen, sie hätte einen Gürtel mit vielen angehängten Schlüsseln um die Taille getragen. Diese Nonne soll zu ihren Lebzeiten Speisen in die Latrine geworfen haben und muss nun im Tod den Weg ihrer Freveltat, von der Küche zum Abtritt hin, in der Nacht abgehen.

Zu Allerheiligen im Jahr 1848 zog das erste Militär in die Annakaserne ein. Aber schon der erste Wachposten sollte die Bekanntschaft mit der geisternden Nonne machen. Von der Dachbodenstiege herab kam eine Klosterfrau und ging in die Küche und dann durch den Gang zur Pforte, wo der Soldat Posten stand. Dieser lief zitternd in die Wachstube und erzählte seinen Kameraden von der Begegnung mit der Klosterfrau. Da stand einer auf und sagte:

„I furcht mi voar nix! Um a paar Budele Schnaps stand i de Posto!“

Der diensthabende Soldat zahlte ihm gerne den Schnaps und war um sein Leben froh, dass ihn einer ablöste. Kaum stand der tapfere Mann auf seinem Posten, als die Klosterfrau den Gang daherkam, sich umdrehte und ihm fest ins Gesicht sah. Sofort nahm der Soldat das Bajonett und stach es dem Geist mit solcher Kraft durch die Brust, dass die Spitze an die Wand stieß und die Klinge abbrach. Dabei aber hatte den Soldaten ein solcher Schauder erfasst, dass er ohnmächtig zu Boden fiel. Auf das Geräusch hin eilten alle Soldaten aus der Wachstube und trugen den bewusstlosen Kameraden hinein. Gleich wurden Arzt und Sanitäter gerufen, aber erst nach acht Tagen konnte der Soldat erzählen, was er erlebt hatte. Vierzehn Tagen später starb der Mann.

Bald darauf erschien die Klosterfrau in der Nacht einem anderen Wachtposten und schritt beim Auf- und Abgehen neben ihm her, bis dem Soldaten vor Angst und Grauen übel wurde. Vorher hatte er aber noch gerufen:

„Wer da!? Gewehr heraus!“

Im Jahre 1852 erschien die Nonne abermals einem diensthabenden Wachtposten. Der Soldat schoss auf die Klosterfrau, aber schon im gleichen Moment war sie verschwunden. Die Kugel schlug in eine Tür ein und noch lange Zeit danach war das Einschussloch sichtbar. Auch dieser Soldat erholte sich nicht von seinem Schrecken, er starb sechzehn Tage nach dem Vorfall.

Bei den Umbauarbeiten des St. Anna-Klosters in eine Kaserne wurde auch eine Kantine eingerichtet. Da hatte einmal ein Kellermeister mit seinem Lehrling im Keller der Kaserne zu arbeiten. Auf einmal rief der Lehrling:

„Moaster, hond er it die Klosterfrau mit dem grosse Schlisselbund seahe det ussarku?“

Dabei wies er auf eine Tür und den Gang, wohin er sie verschwinden gesehen hatte. Der Meister hatte die Nonne nicht bemerkt, verließ aber mit seinem Lehrling sofort den Keller, denn es war ihm furchtbar unheimlich geworden.

Die Bregenzerwälderinnen schlagen die Schweden

Vor dem Schwedenkrieg, dem Dreißigjährigen Krieg, hatten die Trachten und Kleider der Bregenzerwälderinnen zwar dieselbe Form und Gestalt, aber nicht dieselbe Farbe wie heutzutage. Während sie jetzt eine glänzend schwarze, faltenreich bis zu den Knöcheln hinabfallende Juppe und eine kegelförmige Kappe tragen, war die Farbe aller Kleidungsstücke damals weiß.

Als die Schweden Bregenz eingenommen hatten, wollten sie in ihrem Siegesrausch auch den Bregenzerwald erobern. Ein Verräter zeigte ihnen nur Einheimischen bekannte Schleichwege und bekam dafür ein goldenes Kegelspiel als Lohn, an dem er aber keine Freude haben sollte, sondern vielmehr noch nach seinem Tod danach suchen musste. Als die Feinde nun auf ihrem Marsch bis hinter das Dorf Alberschwende kamen, erblickten sie auf einmal über sich an den Berghängen eine große Schar weiß gekleideter Wesen, die mit geschwungenen Waffen auf sie herabstürzten.

Die Schweden wurden von Staunen und Schrecken erfasst, worauf sie fliehend umkehrten. Sie hielten die weißen Gestalten für himmlische Wesen, die gegen sie zum Kampf heranrückten. Es waren aber nur Frauen und Mädchen aus dem Bregenzerwald, die den Schweden entgegenzogen, als sie von deren Anmarsch hörten. Wie Heldinnen ergriffen sie Hauen, Pickel, Sensen, Heugabeln und alles, was ihnen in die Hände kam, und jene Schweden, die sie auf der Flucht einholten, wurden ohne Umschweife erschlagen. So wurde ein Heer von bezahlten Kriegern von couragierten Frauen geschlagen, die lieber selber die Initiative ergriffen, als sich abschlachten zu lassen.

Als man den Bregenzerwälderinnen später sagte, dass sie in ihren weißen Trachten den Schweden wie himmlische Wesen vorgekommen seien, hielten sie die Sache selbst für ein großes göttliches Wunder und gelobten zum Dank, die weißen Kleider abzulegen und gegen dunklere zu tauschen. Noch vor einigen Jahren war im Gasthaus „Engel“ in Bezau ein solches weißes Gewand zu sehen und die Wirtin war sich sicher, dass es aus der Zeit vor dem Schwedenkrieg stammte.

In den drei Pfarreien, aus welchen die Siegerinnen stammten, wurde übrigens zum ewigen Andenken an den Sieg der Bregenzerwälderinnen zur Siegesstunde um zwei Uhr nachmittags mit einer Glocke geläutet.

Die Stelle, an der die Schweden den Frauen in die Hände gefallen waren, lag am Fallenbach und wurde nach der durch das viele Blut der erschlagenen Schweden rot gefärbten Erde das rote Egg genannt, und so heißt sie noch heute.

Die Wilden Leute auf der Oden Alp

Am Mittelberg hauste vor langer Zeit ein Zwergenvolk. Als aber die Walser ins Tal kamen, wichen die kleinen Leute in die engsten Täler und Spalten des Gebirges und auf steile, einsame Höhen aus. Am Heuberg wohnten sie noch lange, bei schönem Wetter sah man sie dort oft ihre Wäsche trocknen. Aus Baumrinden und Moosschollen bauten sie sich ihre Hütten, und in der Öde hatten sie sogar ein ganzes Dorf angelegt. Das war ein Ort, wo sicher kein Mensch auf den Gedanken gekommen wäre, sich anzusiedeln. Die Öde war ein von herabgestürzten Felsblöcken übersäter Talkessel zwischen den grauen Ifer Fluhen und den rauen Hängen der Schwarzwasseralp.

Manchmal kamen die Wilden Leute, wie man sie nannte, dem Lauf des Schwarzwasserbaches nach heraus, doch nie weiter als bis zum Kesselschwand oder Schröflesegg, und nur sehr selten zu den Gletschermühlen. Von Gestalt waren es kleine, ja beinahe winzige Leute, und die Weiblein kann man fast als schön – mit langem, hellem Haar – bezeichnen. Da sie selbst die steilsten Berghalden im Laufschritt hinaufeilten und ihre Kinder immer neben ihnen herliefen, banden sie diese an ihren Armen und Handgelenken fest, sodass sie ihnen nicht entgleiten konnten.

Alle Geheimnisse von Kräutern und Wurzelwerk waren ihnen bekannt und die Gämsen waren ihre Viehherden. Oft hörte man an Sommerabenden ein helles Pfeifen von Wand zu Wand tönen. Vom Heuberg hallte es hinüber zum Fellhorn und wieder zurück zum Kürenwald und weiter zur Rauhe und zum Öntschelspitz. Das waren die Wilden Männlein, welche die Gämsen zum Melken riefen. Stundenlang hörte man den feinen, hohen Klang. Gegenüber den Menschen aber waren die kleinen Leute sehr scheu und flohen, wenn nur einer aus dem Tal herannahte.

Einmal jedoch kam ein Männle mit gar jämmerlichen und eindringlichen Gebärden bis zu den Häusern von Mittelberg und ließ mit dem Bitten nicht nach, bis ihm eine Bäuerin folgte. Eilig führte es sie durch Gesträuch und Gestrüpp steil hinauf an den Heuberg, wo in einer Rindenhütte sein Weiblein in den Wehen lag. Die Wilde Frau brauchte eine Hebamme, und die Bäuerin stand ihr als solche bei und blieb drei Tage zur Pflege. Zu essen brachte ihr das Wilde Männlein Beeren und kleine, süße Käselaibe, die es aus Gamsmilch gewonnen hatte. Als sie dann wieder nach Hause ging, füllte es ihr die Schürze mit glänzenden Silbersteinen, so dass sie ihr Lebtag lang reich genug war. Daher wird vermutet, dass bei den Eifersgunten ein Silberbergwerk lag, das die Wilden Leute kannten.

Das Fräulein von Ruggburg

Vor einiger Zeit lebte auf der Ruggburg ein Ritterfräulein, das weitum als eine „gute Partie“ bekannt war. Es stammte nicht nur aus einer wohlhabenden Familie, sondern war auch noch gebildet und überaus reizend. So mancher Ritter hielt um seine Hand an, doch es „hat nicht wollen mannen“.

Eines Abends traf es auf einem Spaziergang eine Bettlerin, die auf einer Bank strickte. Diese klagte dem jungen Fräulein ihre Not und erzählte, was sie schon alles in ihrem Leben mitgemacht hatte.

„Ihr tätet’s nicht glauben, edle Dame, was ich in meinem Leben schon gelitten habe, und Ihr könntet es auch gar nicht nachfühlen, da Ihr nicht wisst, was Kummer und Sorgen sind.“

Doch das Fräulein antwortete ihr: „Na, dann erklär mir doch, was Kummer und Sorgen sind“, und reichte dem Weiblein ein „Bießle“ (Zehnkreuzerstück).

Daraufhin gab die Bettlerin der jungen Adeligen einen Knäuel Garn und sagte: „Da, traget den Knäuel in den Tannenwald hinauf, bis ihr die Seel findet vom Knäuel – dann erfahrt Ihr bestimmt, gnädiges Fräulein, was Kummer und Sorgen sind.“

So ging das Ritterfräulein selbstbewusst in den Tannenwald hinauf und wand den Knäuel ab. Dabei fing es langsam an zu dämmern und mit der Dunkelheit ging auch der Knäuel aus und die Dame hielt eine Baumnuss – die Seele des Knäuels – in der Hand. Nun stand das zarte Fräulein mutterseelenallein im schwarzen Tannenwald und wusste keinen Weg zum Schloss zurück. Es bekam Hunger und Durst und schlussendlich Kummer und Sorgen, denn es wollte schlafen, hatte aber kein Bett, es wollte sich wärmen, hatte aber keine Stube. Da fing es an zu weinen und versprach, wenn es wieder unter Leute käme, würde es ins Kloster gehen. Daraufhin ging die junge Frau immer weiter durch Tannen und Föhren und betete vor sich hin, und die kalte Nachtluft zerzauste ihr die Locken. Mit einem Mal sah sie Licht durch die Tannen flimmern und schrie auf vor Freude. Sie ging auf dieses Hoffnung erweckende Licht zu und gelangte zu einer Hütte, wo sie „klockete“.

Eine alte, bucklige Frau mit einer Laterne in der Hand öffnete die Tür.

„Lasst mich doch über Nacht bei Euch bleiben“, bat das Fräulein verzweifelt, „ich habe mich verlaufen und finde den Weg heim nicht mehr!“

„No, so sei es“, sagte die Frau und führte das Mädchen in die Stube, „aber du bist auch hier nicht sicher, denn es könnte sein, dass der Jäger kommt. Der ist ein wilder, ungehobelter Kerl und kann keinen Menschen leiden. Nur mir tut er nichts zuleide, denn ich sei schon geschlagen genug, sagt er, mit meinem Buckel. Tagelang geht er fort und pirscht auf das Hochwild, und – so Gott will – kommt er heute Nacht nicht mehr.“

Gebannt hörte ihr das Mädchen zu und stöhnte voll Kummer und Sorgen. Auf einmal hörte man es draußen bellen – der Jäger stand vor der Hütte und fluchte. Das Fräulein erstarrte vor Schreck, sprang dann auf und wollte fliehen, aber bei der Tür kam es dem Jäger in die Quere. Dieser zog seinen Säbel und haute zu – und die schönen, langen Haare des Fräuleins flatterten zu Boden. Schnell schlüpfte die junge Frau aus der Tür und rannte in den Wald hinein, sie war froh, mit heilem Kopf davongekommen zu sein.

Das alles geschah an einem Herbstabend, doch dem Jäger wurde seither nicht mehr wohl. Als sein Zorn vergangen war, konnte er das Bild von jenem Mädchen, das er beinahe getötet hatte, nicht mehr aus dem Kopf bringen. Er sammelte fein säuberlich das abgeschlagene Haar vom Boden auf, machte daraus einen Kranz und weinte. Seiner buckligen Wirtschafterin schluchzte er entgegen:

„Weible, mich reißt es weiter, ich gehe und suche mir das Fräulein, ohne diesen Engel kann ich nicht mehr sein.“

Und so zog der Jäger mitten im Winter fort, von Schloss zu Schloss, aber nirgends fand er sein „Schätzle“. Endlich kam er im Schwabenland zu einem Kloster und bettelte um eine Suppe – und wer gab ihm diese? Das Mädchen von Ruggburg, sein „Schätzle“! Kalkweiß wurden beide, und die Klosterfrau schlug schnell wieder die Tür zu. Der Jäger aber lag am anderen Morgen erfroren vor der Klosterpforte.

Der Jolerbühel

Am oberen Ende des Dorfes Bezau erhebt sich mitten auf dem Feld der Jolerbühel. Wo heute jedoch der Hügel steht, da befand sich vor langer Zeit ein reiches Bauernhaus, umgeben von einem schönen Feld. Einmal kam ein unbekannter Bettler und bat den Bauern um eine kleine Gabe. Der Bauer aber war geizig und hatte kein Herz und wies dem Bettler die Tür. Da drehte sich das unbekannte Männlein noch einmal um und sagte mit drohender Miene:

„Warte nur, wenn auch du mir nichts gibst, so werde halt ich dir dafür etwas bringen!“

Kaum war das Männlein verschwunden, so schwärzte sich der Himmel. Bald hörte man von den Bergen her, aus dem Greberntobel herab, ein fürchterliches Tosen, und ehe man sich versah, schoss das Wasser in Strömen aus dem Tobel, führte große Steine und Tannen mit und überschwemmte und überschüttete die Felder. Mitten in den tobenden Fluten erschien das unbekannte Männlein mit einem großen Drachen, den es an einer roten Schnur führte, und blieb oberhalb vom Haus des Bauern stehen. Der Drache begann nun mit seinem Schwanz zu schlagen und stieß alle vom Wasser herabgerollten Felsblöcke und Baumstämme direkt auf das Haus des Bauern, so dass es mit Mann und Maus verschüttet wurde und noch ein ganzer Hügel sich drüber-häufte.

Nachdem das Männlein so die Lieblosigkeit des geizigen Bauern vergolten hatte, führte es zur größten Verwunderung der Leute den Drachen an der roten Schnur mitten durch das Dorf hinab, schlug den Weg gegen Andelsbuch ein und wurde nie wieder gesehen. Keine Seele erfuhr jemals, woher das Männlein gekommen und wohin es mit dem Drachen gezogen war. Der Jolerbühel aber breitet sich mit seinem langgestreckten Rücken noch heute mitten im Feld aus als Beispiel und Warnung, wie Hartherzigkeit und Geiz zuweilen schon auf Erden bestraft werden.

Das kluge Hirtenbüblein

Ein schwäbischer Bauer, welcher einen Hirten brauchte, fuhr auf den Markt von Ravensburg, wohin alljährlich im Frühling die Kinder armer Leute aus den Tälern Tirols und Vorarlbergs gebracht wurden, um sich im Schwabenlande den Sommer über als Hirten zu verdingen. Er fragte so ein „Schwabenkind“, das ihm besonders gut gefiel, was es bis zum Herbst fürs Hüten verlange. Der Bregenzerwälder Bub antwortete:

„Jo, zehe Gulde und a Paar Schueh.“

Dem Bauern war’s recht und er nahm den Hirten auf seinem Fuhrwerk mit nach Hause. Dieser hütete nun das Vieh seines Dienstgebers und half auch sonst bei der Arbeit fleißig mit. Als der Herbst heranrückte, wollte der Bub aber nicht nach Hause zurückkehren, denn seine Mutter sei sehr arm und könne ihn nicht erhalten.

„Mir ist’s recht, wenn du auch den Winter über bei mir bleibst“, sagte der Bauer, „ich gebe dir dafür ein neues Gewand. Aber in die Schule wirst im Winter auch gehen müssen.“

Von der Schule jedoch wollte der Bub nichts wissen, lieber arbeitete er den ganzen Tag.

„Wenn’s ohne die Schul geht, ist’s mir auch recht“, meinte der Bauer.

Bald aber kam der Lehrer des Ortes zum Bauern und verlangte, dass der Bub die Schule besuchte.

„I gang nit i d’Schuel, was Ihr wissed, woaß i ou“, sagte dieser zum Lehrer.

Nun fragte ihn der Lehrer über alles aus, was in der Schule den Kindern gelehrt wurde, und der Bub blieb zum größten Erstaunen des Schulmeisters keine Antwort schuldig. Als dies der Herr Pfarrer erfuhr, ließ er den gescheiten Buben zu sich kommen und riet ihm dringend, er solle studieren, die Kosten werde er selbst schon für ihn bestreiten. Der Bub aber sagte, er wolle lieber arbeiten als studieren. Im weiteren Verlauf des Gespräches fragte ihn der Pfarrer, wie viele Schafe er zu hüten habe. Der Hirtenbub antwortete:

„Noch amol so viel als d’Hälfte so viel als der dritte Teil und eins, dann sind’s hundert.“

Der Pfarrer kam nicht sofort auf die Lösung, wie viele Schafe er damit meinte, und da sagte der Bub:

„Seahed er? So viel Ihr wissed, woaß i ou. I bruch nit studiere!“

Der Weinzapfer

Es ist schon einige Jahrhunderte her, da trieb sich in dem dichten Gebüsch der Erlen und Weiden der Rheinauen ein Weindämon herum. Zu dieser Zeit war der Rhein noch nicht reguliert und floss in seiner natürlichen Form; meistens wurde die seltsame Gestalt in der Nacht von Schmugglern oder Holzarbeitern gesehen. Nur ganz selten sah man den Geist auch am Tag, und wenn er einen Menschen erblickte, verschwand er blitzschnell im Dickicht. In den Beschreibungen um diesen Dämon stimmen alle in einem Detail überein – er trug immer ein großes, langes Messer mit sich herum. Wenn er nämlich durstig war – und das war er eigentlich immer –, ging er zu einem großen Baum, einem ‚Felben‘, und machte mit dem Messer längs des Stammes einen tiefen Schnitt in die Rinde. Durch den Schnitt mit seinem magischen Messer floss Wein aus der Kerbe. Er fing ihn mit seinem großen, schwarzen Schlapphut auf und trank, so viel er trinken konnte. Hatte er seinen Durst gestillt, griff er wiederum nach dem Messer und machte einen zweiten Schnitt in den Stamm, so dass beide Schnitte ein Kreuz bildeten. Augenblicklich hörte der Wein zu fließen auf. Der Wein aber, den der Weinzapfer trank, der kam zwar aus dem Baum heraus, lagerte in Wirklichkeit jedoch im Weinkeller eines Wirts. Wenn dann der Schaden beim Wirt bemerkt wurde, weil sich die Vorräte mal wieder auf unnatürliche Weise deutlich verringert hatten, dann sagte man:

„Der Weinzapfer hat wieder einmal Durst gehabt.“

Ein Waldbruder wandelt über den Bodensee

Einst lebte in den damals noch rauen und zerklüfteten Bergen südlich des Bodensees ein Klausner, der tat allerhand Wunder. Dieser Mann hatte keine hohe Schulbildung und war ein einfacher Geselle, der früher ein mühseliges und arbeitsreiches Leben geführt hatte. Dann aber ließ er sich vom inneren Geist führen und sehnte sich nach einem Leben in Stille und Frieden und zog sich schließlich in die Einsamkeit zurück. Nach einiger Zeit bemerkte er, dass er ein Talent besaß, das er in den früheren Jahren nie an sich bemerkt hatte.

Den Kranken, denen er Zuversicht zusprach, wurde wohler und wohler und zuletzt gesundeten sie sogar. Selbst die Tiere des Waldes, die Vögel und das Wild versammelten sich bald um seine Hütte und suchten seine Nähe und die Worte, die er zu ihnen sprach. Mit der Zeit kam es ihm dann so vor, als wenn er ihre Sprache verstehen könnte. Sie teilten ihm mit, was sie durch ihr freies Umherschweifen im Land wussten, und so konnte er wiederum die Menschen vor dem herannahenden Feind oder anderen schlimmen Dingen warnen. Es sollen dann noch andere Wunder mit ihm geschehen sein, die von den weit entfernt lebenden Menschen, also seinen Nachbarn, wahrgenommen wurden. Bald wurde er in der gesamten Umgebung als ein besonders frommer und gottesfürchtiger Mann angesehen und beeindruckte alle mit seinem freundlichen Wesen und der Hilfe, die er jedem Bedrängten leistete. Mit den formellen Vorschriften und dem Latein der Kirche kannte sich der einfache, alte Mann allerdings wenig aus.

Bald gelangte sein Ruf als „Wundermann vom Bodensee“ bis zum Bischof von Passau, der beschloss, diesem der Kirche bisher unbekannten Waldbruder einen Besuch abzustatten und ihm genauer auf den Zahn zu fühlen. Lebte dieser Klausner nach den frommen Vorschriften der Kirche oder nach seinen eigenen Regeln und Gesetzen?

So reiste der Bischof an den Bodensee, mietete sich in Buchhorn ein Schifflein und fuhr mit seinem Gefolge an das Südufer hinüber, wo er in Richtung Berge zog. Als er dann am nächsten Tag die Hütte des Klausners erreichte, fragte er sich, was wohl dieser einfältige Alte für Wunder vollbringen konnte. In größter Bescheidenheit empfing der Einsiedler den hohen Kirchenmann, und als ihn der Bischof fragte, welches Gebet er denn zu sprechen pflege, antwortete er:

„Misere me Dominus!“

Da hatte der Bischof genug gehört und gesehen und konnte nur schwer ein Lachen unterdrücken. Wie sollte wohl einer Wunder vollbringen können und von Gott besonders gesegnet sein, der in den drei Worten seines armseligen Gebetes gleich drei Fehler machte!

Er klopfte dem Alten freundschaftlich auf die Schulter und sagte ihm:

„Lieber, das ist ja ganz falsch, was du da betest, es muss heißen: ‚Miserere mei, Domine!‘ “

Demütig wiederholte der Waldbruder die drei Worte im richtigen Latein und gelobte dem Bischof, dass er künftig so zum Herrn beten wolle.

Schon auf dem Rückweg begann der Bischof mit seinen Begleitern über das Geschwätz der Leute zu lachen, das einem einfältigen, ungebildeten Mann, der nichts von der Welt gesehen hatte, Wunderheilungen und andere übernatürliche Werke andichten wollte. Am See stieg der Bischof wieder in das Schifflein, um so schnell wie möglich wieder zu seinem Bischofssitz in Passau zu kommen und keine weitere Zeit mit dieser unnützen Ausfahrt zu vergeuden.

Als sie an der tiefsten Stelle im See angekommen waren, stieß der Steuermann plötzlich einen Schrei aus. Er hatte rückwärts geschaut, und alle anderen im Schiff sahen nun ebenfalls in diese Richtung. Da erblickten sie etwas auf sie übers Wasser zukommen, und als es immer näher kam, konnten sie ihren Augen nicht trauen. Es war der Einsiedler vom südlichen Gebirgsufer, der schnell über das Wasser gelaufen kam und ihnen winkend deutete, dass sie anhalten sollten. Das taten sie auch, aber nicht nur wegen des Winkens, sondern vor Staunen waren den Männern die Ruder aus den Händen gefallen und alle im Boot staunten den Heraneilenden mit offenen Mündern an.

Der Alte hatte nun das Schiff erreicht, lehnte sich über die Bordwand und fragte den Bischof voll Ehrfurcht und Eifer, er möge ihm doch noch einmal die richtigen lateinischen Worte sagen, damit er richtig beten könne. Er hätte in seinem alten Kopf die wahren Worte bereits wieder vergessen und wisse sie nur, wie er sie immer gebetet hatte.

Da wurde der Bischof ganz still und ernst und lachte nicht mehr über den einfachen alten Mann. Er hob seine Hand zum Segen über den demütig Gebeugten und sprach:

„Bete nur so weiter wie bisher! Denn du betest besser als ich.“

Der Geist auf der Kanisfluh

Einmal war ein Männle neidisch auf seinen Nachbarn, da der die schöneren Kühe besaß. Vor Ärger hätte es fast gelb und grün werden können, wenn es die prächtigen Tiere auf der Weide sah. Nach und nach aber ging ihm das ‚Neidhäfele‘ über, und es legte heimlich frisch geschälte Tannenrinden auf den Weg, auf dem des Nachbars Kühe gewöhnlich zur Tränke gingen. Als dann eine der Kühe auf die Rinden stieg, so ist sie geschlipft und über den Weg hinausgetrolet – über einen Bühel hinab, und dabei brach sie sich das Kreuz. Das Männle kam daraufhin aus seinem Versteck heraus und sah nach, ob die Kuh auch ganz sicher mausetot war. Da er nun aber den gleichen Weg wie die Kuh nahm, rutschte auch der Übeltäter auf den von ihm gelegten Rinden aus, kugelte über den Abhang hinunter und brach sich das Kreuz.