Für Isabell Schmitt-Egner,
Längst überfällig und so was von verdient <3
Shane
Bisher läuft die Europa-Tournee, nett ausgedrückt, beschissen. Ich gebe mir echt alle Mühe, die Band bei Laune zu halten, und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich gegen Windmühlen kämpfe. Gibt es da nicht diese Geschichte von dem Typ, der das echt probiert hat? Oder der zumindest dachte, dass er es täte. Das sollte ich mal googeln. Mike und Leo sind cool, entspannt wie immer. Aber unser Publikumsliebling Drew ist erst mal über eine Box geflogen, hat sich den Schädel aufgeschlagen und sich dann auch noch ständig mit seinem besten Freund in die Haare bekommen. Tony und er waren schon befreundet, bevor es mit WrongTurn losging. Normalerweise sind sie unzertrennlich, aber seit Drew Gefühle für ihn entwickelt hat, geraten sie immer aneinander. Tony hat keine Ahnung, dass so etwas wie das Geschlecht keine Rolle für Drew spielt und er Hals über Kopf in ihn verliebt ist. Nur ich arme Sau darf mir das Gejammer anhören, denn der Rest der Band, ach was rede ich, der ganzen Welt, ist ebenfalls ahnungslos. Wobei … Nein, Drews Mom weiß wohl auch Bescheid. Das glaube ich zumindest. Nachdem er mitbekommen hat, dass ich ab und an auch nichts gegen einen Mann im Bett habe, hat er sich mir und ihr gegenüber geoutet. Und jetzt habe ich den Salat … Dass unsere Fans irgendwie Lunte gerochen haben und die beiden als »Anton« – abgeleitet von Andrew und Tony – shippen, hilft auch nicht unbedingt weiter. Cassie, unsere Managerin, versucht die Gerüchte im Keim zu ersticken, aber Drew, der verliebte Trottel, kann die Finger nicht von seinem heterosexuellen, besten Freund lassen und ich glaube, Tony fühlt sich langsam ziemlich erdrückt. Jedenfalls guckt er ständig wie das Leiden Christi. Genau wie eben auf der Stadtrundfahrt, die wir mit einem Kamerateam durch Hamburg gemacht haben. Ich mag die Deutschen, sie benennen eine ganze Stadt nach dem verdammt noch mal besten Essen der Welt; wobei mir gerade nicht einmal mehr danach zumute ist. Wir haben heute Mittag an einer Raststätte Pommes gegessen und die liegen mir noch schwer im Magen. Ich werfe Drew einen mahnenden Blick zu. Er weiß, was das zu bedeuten hat: Geh zu deinem besten Freund und kläre, was immer ihr zu klären habt, bevor wir heute Abend auf die verdammte Bühne treten. Autsch, mein Bauch tut weh … Ich bleibe stehen und lege eine Hand dorthin, wo sich mein Magen einen Kampf mit den Fritten liefert.
»Ey, Frank?« Mein Bodyguard heißt eigentlich Luke, aber ich nenne ihn meistens Frank wie Frank Farmer aus dem Film Bodyguard. Er rollt mit den Augen und atmet tief durch. Ja, ja, mit mir hat man es nicht leicht. »Von hier aus schaffe ich es alleine.« Wir sind schon auf unserem Stockwerk. Um uns nicht zu stören, hat das Management gleich den ganzen Flur gebucht. »Könntest du mir eine Tasse Pfefferminztee besorgen?« Es ist nicht mehr viel Zeit, bis wir in den Bus und zur Halle müssen. Vielleicht kann ich meinem Magen im Kampf gegen das ranzige Fett helfen.
»Hartes Rockstarleben. Was, Rachel?« Er grinst mich an. Mit seinem Iro und der kleinen Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen sieht er ulkig aus, solange er lacht – seinen Killerblick möchte ich nicht abbekommen.
»O Frank«, stöhne ich gespielt und werfe mich in seine Arme. Er fängt mich gekonnt auf und sieht auf mich herunter. Ich hebe einen Arm und beginne zu singen: »And I… iaaaahhh… iaaaah«
»Wo kommt denn der Esel her?«, fragt Luke.
Ich lache und stelle mich wieder auf. »Aua, mein Bauch.«
»Ich mache mich auf den Weg.« Mein Bodyguard schüttelt lachend den Kopf, während er zum Aufzug geht und ich die Keycard aus meiner Hosentasche krame. Welche Nummer war noch mal meine? Tony braust an mir vorbei und Drew folgt ihm. Ui, die werden sich gleich zoffen. Ich verkneife mir den Kommentar, der mir auf der Zunge liegt, und mache mich auf die Suche nach meinem Zimmer. Um es spannender zu gestalten, mache ich die Geräusche eines Metalldetektors nach, während ich meine Keycard hochhalte und die Ziffern an den Türen nach meiner absuche.
»Piep … piep … piep …«
Jemand klopft mir auf die Schulter. Leos lachendes Gesicht kommt in mein Blickfeld. »Du schaffst das«, versichert er mir und öffnet die Tür rechts neben mir. »Ich gebe dir einen Tipp: schräg gegenüber.«
»Piep, piep, piep«, mache ich jetzt noch schneller, als ich die Keycard vor besagte Tür halte. Ich stecke sie in den Schlitz und ein grünes Licht verrät mir, dass ich eintreten darf. Vorsichtig stoße ich die Tür auf und gebe ein lupenrein gesungenes und langgezogenes »Aaaaaa« von mir, als hätte ich gerade eine Erleuchtung, deren Erkenntnis mich vor Verzückung singen lässt. Ich höre, wie Leo schnaubt und die Tür ins Schloss fällt. Meine lasse ich offen stehen. Mein Tee müsste ohnehin gleich kommen.
»Hallo, Zimmer«, begrüße ich den Raum. Auf Tour kann man so verdammt einsam sein. »Hallo, Sessel, hallo, Bett, hallo, Fernseher, hallo, …«
Es klopft an meine noch geöffnete Tür. Ich zucke erschrocken zusammen und drehe mich um. Uiiii … Hallo, Hotelpage! Was haben wir denn da?
»Guten Tag«, begrüße ich ihn auf Deutsch und gebe mir Mühe, die Härte dieser Sprache zu treffen.
»Guten Tag, Herr Jenkins.« Jeez, ruft die Süßigkeiten-Polizei, ihnen ist ein Sahneschnittchen entlaufen. Er ist gut einen Kopf kleiner als ich, hat brünettes Haar und grüne Augen. Letztere sind so groß, dass man ihn mit einem dieser Stofftiere verwechseln könnte, die meine Schwester zurzeit sammelt. Wenn seine Iriden glitzern würden, könnte sie ihn zu ihrer Sammlung stellen. Glubschis heißen die, glaube ich. Ein hübsches Exemplar dieser Sorte steht gerade vor mir. In Uniform. Das macht mich schwach. Mein Bauchweh ist wie weggeblasen. Vielleicht reicht meinem Magen auch schon der Duft des Pfefferminztees, den der hübsche Page in zitternden Händen hält.
»Wohin sollen ich stellen?«, fragt er mich in gebrochenem Englisch und ich deute auf ein Sideboard zu seiner Rechten. Erst jetzt lese ich sein Namensschild: Fabian Müller. Fay-bee-an. Bee. Biene. Ob das kleine Bienchen sticht, wenn man es anfasst? Ich pirsche mich näher an ihn heran.
»Hi«, raune ich und ziehe die Augenbrauen hoch. So wie er den Blick über meinen Körper gleiten lässt, könnte ich Chancen haben. »Wie spricht man deinen Namen aus?«
»Fabian Müller.«
Das klingt ja komisch. »Fah-biii-an«, versuche ich es nachzumachen und halte ihm die Hand hin. »Ich bin Shane.«
Er reicht mir seine weiß behandschuhte Hand. »H-hi.« Sein Händedruck ist warm und überraschend kräftig. Seine kleinere Hand schmiegt sich hervorragend in meine. Ich nehme ihm die klappernde Tasse ab, bevor er sie mir noch über die Brust kippt. Nah genug wäre ich mittlerweile.
»Danke, Fay«, sage ich und nehme vorsichtig einen Schluck Tee. Ich lasse ihn dabei nicht aus den Augen. Der süße Page bleibt wie hypnotisiert stehen. O ja, der betet in meiner Kirche. »Sag mal«, wage ich mich vor und senke meine Stimme auf Schlafzimmerniveau, »stehst du auf groß, blond und blauäugig und hast du heute Nacht schon etwas vor?«
Shane
»Kommst du noch mal mit ins Hotel?«, fragt Tony, nachdem wir endlich in Los Angeles gelandet sind. »Oder fährst du direkt zu deiner Familie?«
Er gefällt mir nicht. Die Europa-Tournee und der Streit mit Drew haben ihn ausgemergelt. Es wurde nicht besser, im Gegenteil. WrongTurn hat soeben die nervenaufreibendste Tour der Bandgeschichte hinter sich gebracht und ich will nur noch nach Hause. Spätestens nach der Evakuierung wegen einer Bombendrohung in Hamburg hätte mir klar sein sollen, dass das alles dieses Mal nix mehr wird mit Spaß on the road.
»Familie«, antworte ich. Es wird auch höchste Zeit. Meine sonst superengen Klamotten rutschen und seit Wochen begleiten mich Kopfschmerzen, die sich nur noch mit Tabletten bekämpfen lassen. Ich brauche jetzt meine Mutter. Ja, ich bin mittlerweile einundzwanzig Jahre alt und weltberühmt, aber nichts geht über Moms Essen und ihre Fürsorge. Nirgends kann man nach einer anstrengenden Tournee besser stranden. Nicht wie ein Wal, eher wie ein unterernährter Schiffbrüchiger. Es dauert nicht mehr lange und ich beginne auch mit Bällen zu reden. Dieser Schiffbrüchige hier wird sich jedoch jetzt erst mal ein schickes Auto mieten, um damit die nächsten Wochen durch L.A. und Umgebung cruisen zu können. Ich verabschiede mich von Tony, Mike und Cassie und schlendere begleitet von Paparazzi, die grundsätzlich am LAX laueren, zum Autoverleih.
»Was hast du während der kurzen Pause vor?«, höre ich immer wieder von allen Seiten. Als ob ich so blöd wäre das zu verraten. Ich flüchte zum Autoverleiher meines Vertrauens und werde auch sofort bedient. Man kennt mich bereits. Oder das fette Konto meines Managements.
»Was darf es dieses Mal sein?« Die junge Frau im schicken Kostüm kann sich mit knapper Not davon abhalten, mir ihre Brüste ins Gesicht zu drücken. Holy shit, was ein Ausschnitt. Da guckt Mann doch gerne mal hin. Grinsend gebe ich eine Antwort, die ich von mir selbst nicht erwartet hätte: »Ein deutsches Auto.« Moment … »Habt ihr so was da?«
»Ja, wir haben hier ein paar Volkswagen stehen. Zum Beispiel einen Touareg mit Luxusausstattung. Darin kommen Sie sich vor, als würden Sie in Ihrem Wohnzimmer umherfahren.«
»Den nehme ich.« Lange überlegen muss ich da nicht, ich will nach Hause. Außerdem, wer will kein fahrendes Wohnzimmer? Daheim muss ich mir über ein paar Dinge Gedanken machen. Warum ich zum Beispiel seit Wochen gedanklich in Deutschland festhänge. Gut, ich weiß warum. Ich hatte dort den besten Sex meines Lebens. Dieser Hotelpage mit dem eigenartigen Namen geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Was verrückt ist, denn das ist gar nicht meine Art. Ich bin niemand, der sich emotional an jemanden klammert. Aber Fay … Er tanzt mir durch den Kopf. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er hat mir erzählt, dass er tanzt und das hat man gemerkt. Diese Kraft … die Gelenkigkeit. Vielleicht sollte ich in meiner freien Zeit mal eine Tanzschule aufsuchen und mir eine Tänzerin suchen? Denn eins steht für mich außer Frage: Ich schlafe gerne mit einem Mann, aber eine Beziehung kann ich mir nur mit einer Frau vorstellen. Ich will mal heiraten. So richtig, mit eigenen Kindern und allem. Hund, Gartenzaun und was halt so dazugehört. Ich will der Kerl in der Beziehung sein, das Geld verdienen und wenn ich daheim bin, die gute Erziehung der Kinder, in die meine Frau viel Energie und Kraft gesteckt hat, ruinieren, indem ich sie gnadenlos verwöhne. Allesamt. Meine Frau natürlich auch. Versteht mich nicht falsch, ich habe absolut überhaupt gar nichts gegen alternative Lebensarten. Ganz im Gegenteil, ich feiere die Vielfalt. Aber hier geht es um das, was ich mir für mich wünsche. Und das ist erschreckend konservativ.
»Hier ist Ihr Schlüssel«, sagt die nette Dame mit dem noch viel netteren Dekolleté, als wir an dem Auto angekommen sind. Ich nehme ihn entgegen und lasse mir eine kurze Einweisung geben. Den Papierkram haben wir schon erledigt und das ist der letzte Punkt, dann darf ich endlich nach Hause düsen. Mein Schädel dröhnt und mein Magen ist verwirrt. Ihm wurde Moms Essen versprochen, doch aus der Tüte, die ich mir auf dem Weg zum Parkhaus noch schnell gekauft habe, strömt Fastfood-Duft. Es dauert noch zwei Stunden bis nach Hause und ich will nicht, dass mir schwarz vor Augen wird. Brüste schweben auf Augenhöhe vor mir, während sich die Dame vom Verleih zu mir herunterbeugt und mir allen Ernstes die Scheibenwischer erklärt. Die hätte ich unter Umständen auch selbst gefunden.
»Danke, ich denke, ich komme jetzt klar«, unterbreche ich sie, bevor sie mir noch erzählt, wie man Gas gibt. Sie lächelt verführerisch und streicht sich eine nicht vorhandene Strähne hinters Ohr. Dabei sind ihre Haare zu einem strengen Dutt am Hinterkopf zusammengefasst.
»Gute Fahrt«, wünscht sie mir und ich starte den Motor.
Ich bedanke mich artig und lenke das Auto hinaus auf den Freeway. Endlich! Ich lasse das Radio aus und genieße die Stille. Das Einzige, was ich mache, ist mir immer wieder eine Fritte in den Mund zu schieben und einen Schluck aus dem Cola Becher zu nehmen, den es gratis dazu gab.
»Auf nach Hause, Sauerkraut«, sage ich zu dem Auto und tätschele kurz das Lenkrad, bevor ich es wieder fest umfasse. Grüne Augen tauchen in Gedanken vor mir auf. Scheu blicken sie mich an, als suchten sie nach Halt in einer verrückten Welt, die sie nicht verstehen. Ich schüttele mich. Vielleicht sollte ich lieber mal Drew anrufen und hören, wie es ihm in New York geht. Mein Handy ist mit dem Computer des Autos gekoppelt, weshalb ich seine Nummer auf dem großen Display des Wagens auswählen kann.
»Hey«, meldet er sich und klingt verschlafen.
»Sorry, habe ich dich geweckt?« Ich nehme noch eine Fritte und stopfe sie mir in den Mund.
»Ja, aber ist schon okay. Ich treffe mich gleich mit einer Bekannten. Wir wollen ausgehen, den Kopf freibekommen. Du weißt schon … Wie geht’s Tony? War was während des Flugs?«
»Super, Drew. Erst den Kopf freibekommen und dann den Bogen direkt wieder zurück zu Tony spannen«, quatsche ich mit vollem Mund. Hier sieht mich ja niemand.
»Komm schon … Alles gut gewesen?«
»Ja, wieso auch nicht? Es ist ja nicht so, als wären wir über Kriegsgebiet geflogen, und Tony schläft doch eh immer.«
»Er fliegt nicht gerne«, eröffnet mir Drew.
»Echt? Wieso? Ich meine, er bekommt doch kaum etwas mit.«
»Ich fühle mich schlecht, es dir zu sagen, aber er hat Angst vorm Fliegen.« Drews Stimme ist kaum da, als wäre es nur sein Geist, mit dem ich telefoniere.
»Warum hat er nie etwas gesagt?«, frage ich verwirrt von dieser neuen Information. Wir hätten ihm alle helfen können. Ich verstehe Tony in letzter Zeit nicht mehr. Irgendwas stimmt mit dem Jungen nicht. Aber von meiner neuesten Vermutung, nämlich dass Tony vielleicht doch was für Männer übrighaben könnte und heimlich für Drew schwärmt, will dieser nichts hören. Deswegen erspare ich mir die Diskussion auch. Das Hämmern in meinem Kopf ist so schon schlimm genug, ich muss mir meine Kraft einteilen.
»Egal. Hör zu, ich gehe jetzt duschen.«
»Du solltest dich lieber wieder hinlegen«, mahne ich, doch das geht bei Drew gerade bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus. »Ich melde mich später bei dir. Übertreib es nicht, okay?«
»Ja, Mama.«
»Bye, Drew.«
»Bye, Shane.« Er legt auf und es wird wieder still in meinem Auto. Ich streichele erneut über das Lenkrad. Deutsche Qualität, höre ich meinen Uropa Franz über sich selbst sagen. Der Gute ist sechsundneunzig geworden. Am Ende war er so Banane, dass Oma gedroht hat ihn mit der Schaufel zu erschlagen, wenn er die Augen nicht bald für immer schließt. Ich mochte Uropa Franz. Na ja, ich war noch klein und fand die Dinge lustig, die er am Schluss so von sich gegeben hat. Ich glaube, die Erwachsenen sahen das anders.
»Bin ich froh jetzt etwas Freizeit zu haben, Sauerkraut.« Dann schalte ich doch das Radio an, weil der Wagen nicht antwortet. Mit jeder Meile merke ich, wie meine Arme und Beine, genau wie mein Kopf, immer schwerer werden. Es ist, als müsse man mal und je näher man der Toilette kommt, desto dringender wird es. Nur drückt mich nicht die Blase, sondern meine Augenlider wollen zufallen. Es fühlt sich an, als wären meine Wimpern aus Blei. Ich kann mich nicht daran erinnern, je nach einer Tour so erschöpft gewesen zu sein. Als ich schließlich in die Straße einbiege, in der mein Elternhaus an einem Wendehammer steht, fühle ich mich wie kurz vor einer Ohnmacht. Doch wie es aussieht, erwartet man mich. Der Wendehammer steht voll mit den Autos meiner Verwandten, die mit Sicherheit hinten im Garten mit Barbecue und Bier auf mich warten. Ich parke Sauerkraut in der freien Lücke in der Einfahrt, die meine Eltern wohlwissend für mich reserviert haben. Für einen Moment lehne ich mich in das Leder des Autositzes zurück, schließe die Augen und atme tief durch. Ich freue mich auf meine Familie, ich bin nur so müde. Ein Klopfen an der Scheibe der Fahrertür lässt mich zusammenzucken. Ein rundliches Gesicht, umringt von mittlerweile blond gefärbten Locken, strahlt mich an. Moms Lachen verschwindet, als ich sie ansehe. Sie öffnet die Tür.
»Mom«, seufze ich erleichtert, steige aus dem Auto und falle ihr um den Hals. Was nicht sonderlich schwer ist: Meine Mutter geht mir gerade mal bis zur Brust, aber trotzdem ist genug an ihr zum Liebhaben und Drücken dran. Meine Mutter war schon als Kind dick, die schlanke Figur habe ich von meinem Vater geerbt. Haarfarbe und Augen dagegen von Mom und, wenn man meiner Familie glaubt, ihr sonniges Gemüt. Letzteres war wohl auch der Grund, warum sich Dad Hals über Kopf in sie verliebt hat. Jedenfalls erscheinen noch heute kleine Herzchen in seinen Augen, wenn sie lacht.
»Shane, du siehst furchtbar aus«, stellt Mom fest und streicht über meine Wangen.
»Was?«, empöre ich mich. »Das ist physikalisch überhaupt nicht möglich. Schau mich an! Diese unglaubliche Gen-Zusammenstellung, perfektioniert in einem Astralkörper und garniert mit einem Zehntausend-Volt-Lächeln.« Ich zeige ihr meine Zähne, doch Mom rollt mit den Augen. »Bin nur müde«, gebe ich mich geschlagen. Was eine Untertreibung ist. Ich könnte im Stehen einschlafen.
»Komm«, sagt Mom und zieht mich ins Haus. Sauerkraut verschließt sich angeblich von selbst, sobald ich mich von ihm entferne, darauf vertraue ich einfach, als mich Mom die Treppe nach oben schiebt.
»Aber … warten die anderen nicht unten im Garten auf mich?«, protestiere ich kraftlos, als Mom die Tür zu meinem Zimmer aufstößt.
»Schuhe und Hose aus …«
»Aber, Mom«, spiele ich den Geschockten. »Das ist in sämtlichen Staaten verboten, außerdem …«
»Leg dich ins Bett«, befiehlt sie mir ungerührt und fährt mir ins Wort.
»Lizzy wird enttäuscht sein. Ich muss wenigstens kurz …« Mit einem Gähnen unterbreche ich mich dieses Mal selbst.
»Nein.« Mom lächelt mich an. »Du bist hier zu Hause, Shane. Hier ist es nicht wichtig, dass du funktionierst, nur dass es dir gut geht.«
Ich sehe sie an, doch ich bin so müde, dass ich Schwierigkeiten habe, geradeaus zu schauen. Erst recht, wo doch mein Bett … nicht irgendeins … nein, MEIN Bett auf mich wartet. Ich setze mich auf die Matratze und bin kurz davor, einfach seitlich wegzukippen, als Mom mich auffängt und mir aus den Schuhen hilft.
»Gütiger Gott«, staunt sie besorgt, doch ich bin eingeschlafen, ehe ich die Hose ausziehen kann. Das Letzte, was ich mitbekomme, ist, dass es warm um mich wird.
Ich betrachte die strubbelig braunen Haare, die ich im Eifer des Gefechtes so zugerichtet habe. Das dazugehörige Gesicht sieht mich an … So rein und perfekt, als hätte man es gemalt. Oder gephotoshopt. Ein komisches Gefühl macht sich in meinem Bauch breit. Ich will ihn nicht gehen lassen, doch das sollte so nicht sein. Eine Nacht. So war es immer und so muss es auch dieses Mal sein.
»Wie alt bist du eigentlich?«, frage ich, während ich eine Strähne aus seiner Stirn streiche.
Er lächelt und zeigt mir seine perfekten weißen Zähne.
»Warum? Bist du ängstlich, dass ich könnte sein minderjährig?« Fays grüne Augen funkeln amüsiert auf. Sein Kauderwelsch-Englisch klingt so süß, dass man Zahnweh bekommen könnte.
»Nein, du wärst hier sicherlich nicht angestellt, zumindest nicht für die VIPs, wenn du Minderjährig wärst. Es ist nur … du hast so einen Peter-Pan-Vibe.«
Fays Augen verengen sich. »Wir hatten zu viele Kranke. Normalerweise die VIPs nicht mein … äääh … Gebiet?«
Mein Herz klopft wie verrückt. Das Konzert, dieser wahnsinnige Sex … ich sollte schlafen.
»Shane?«
»Hm?«
»Werde ich sehen dich wieder?«
Die Worte verhallen in meinem Kopf …
Ich öffne die Augen und reibe sie. Müde angele ich nach meinem Handy in der Hosentasche, um herauszufinden, ob es immer noch oder schon wieder hell ist. So erschöpft, wie ich mich fühle, muss es … oh. Es ist acht Uhr am nächsten Morgen. Gähnend lege ich das Handy auf den Nachttisch. Drew hat geschrieben, aber mir fallen erneut die Augen zu.
Ich hebe sein Kinn an. Die traurigen Augen machen mich fertig.
»Mach’s gut, Fay«, hauche ich ganz nah an seinem Gesicht. Ich kann seinen Atem an meiner Wange spüren. Meine Lippen berühren seine. »Bleib artig, ja?« Ich zwinkere ihm zu.
Er nickt und bemüht sich um ein Lächeln.
Fuck … das sollte mir nicht so nah gehen.
Meine Augen fliegen auf. Verdammt, ich bin wieder eingepennt. Dafür habe ich jetzt eine völlig andere Art von Kopfweh und mein Handy verrät mir, dass bereits Nachmittag ist. Mom hat mir etwas zu essen und zu trinken neben das Bett gestellt. Ich greife zuerst nach dem Wasser und trinke, als hätte ich einen Ritt durch die Wüste hinter mir.
»Wann denn?«, höre ich die Stimme meiner Schwester. Sie ist neun Jahre alt und der spät erfüllte Wunsch eines Geschwisterchens.
»Liz, lass deinen Bruder ausschlafen. Er ist ja jetzt ein paar Tage hier und wenn er in L.A. aufnimmt, wird er uns bestimmt auch öfter besuchen kommen.« Mom versucht anscheinend sie davon abzuhalten, das Zimmer zu stürmen.
»Lizzy?«, rufe ich amüsiert und die Tür fliegt sofort auf. Eine Prinzessin im rosa Sommerkleid mit goldblonden Haaren stürmt auf mich zu und wirft mich zurück ins Kissen. Ich drücke sie an mich und küsse ihr Gesicht. Eine Pause mache ich nur, um ihren Geruch nach Zuhause einzuatmen. Ihr Kinderduft nach Saft und Keksen lässt mich lächeln.
»Shane, ich habe ein Lied auf dem Keyboard für dich geübt«, beginnt sie zu plappern. »Soll ich dir das vorspielen?«
»Lass deinen Bruder erst mal duschen«, befiehlt Mom und stemmt resolut die Hände in die Hüften. »Euer Vater ist in einer halben Stunde daheim, dann können wir zusammen was essen.«
Ich ziehe eine Schnute und ahme damit Liz’ Gesicht nach.
»Aber ich will erst das Lied hören«, protestiere ich, als wäre ich neun Jahre alt. Liz rollt sich von mir runter und rennt davon, vermutlich, um ihr Keyboard zu holen. Das gibt mir Gelegenheit, meine Schläfen zu massieren.
»Zu lange geschlafen, was?«, gluckst Mom. »Geh nach dem Lied direkt duschen und dann essen wir etwas, danach wird es wieder gehen.«
Kein: Shane, nimm die Tablette und weiter geht es. Das ist sehr erfrischend. Genau wie die Dusche, die ich mir nach Lizzys Geklimper gönne. Leider habe ich sie zu sehr gelobt, weshalb sie weiterspielt. Ich kann unseren Hit »Loving your love« bis in die Dusche und durch das rauschende Wasser hören. Leise summe ich mit. Mann, ich vermisse die Jungs schon irgendwie, auch wenn sie mir in den letzten Wochen auf die Nerven gegangen sind. Nachdem ich mich wieder angezogen habe, wandere ich nach unten und stelle erst jetzt fest, dass alles so ist, wie ich es verlassen habe. Gestern war ich dazu viel zu müde, doch jetzt wärmt es mir die Brust. Ein bisschen Beständigkeit tut gut. Da unten am Treppenabsatz sieht man, getarnt von einer Topfpflanze, sogar immer noch den kleinen Penis, den ich als Jugendlicher als Zeichen meiner Rebellion an die Wand gemalt habe. Meine Schwester glaubt bis heute, dass es sich dabei um eine Schlange handelt, die aus dem Ei schlüpft. Mom war schon immer kreativ mit Ausreden. Liz hopst an mir vorbei und quasselt etwas von einer Schulfreundin und irgendwelchen Barbiepuppen. Ich komme nicht mit, denn ein Gedanke trifft mich, als ich Mom durch den Flur hinweg in der Küche werkeln sehe. Was würde sie sagen, wenn ich Fay hierher bringen würde? Meine Eltern wissen noch nicht, dass ich mich mit beiden Geschlechtern im Bett vergnüge. Wozu auch? Für eine Beziehung kann ich mir ohnehin nur eine Frau vorstellen. Aber was wäre, wenn ich Fay doch wiedersehen … ihn hierher mitbringen würde? Moment, wieso denke ich darüber nach? Nur weil ich von ihm geträumt habe? Er war ein One-Night-Stand. Nicht mehr und nicht weniger. Ich sollte meinen Kopf freibekommen.
»Willst du da wie ein Fremder stehen bleiben oder deckst du den Tisch?«, ruft mir Mom zu und erlöst mich von meinen Gedanken. Zumindest für eine kurze Zeit, denn nachdem Dad nach Hause gekommen ist, ich ihn ausgiebig begrüßt und ihm während des Essens von der Tour berichtet habe, wandern meine Gedanken wieder zu dem jungen Mann aus Hamburg. Was er wohl gerade macht? Wieso habe ich mir seine Handynummer nicht geben lassen? Oh … verdammt. Ich habe Drew vergessen!
Fabian
Fouetté en tournant, erinnere ich mich selbst an die nächste Drehung, doch ich bin nicht bei der Sache. Seit Wochen schon nicht mehr. Ich muss mich konzentrieren, wenn ich den Job behalten möchte. Es ist keine große Sache, aber es bringt mir Geld ein und Gott weiß, das kann ich gerade gut gebrauchen. Ich beginne mich zu drehen, versuche die störenden Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Nur am Rande bekomme ich mit, wie zwei meiner Kolleginnen den Raum betreten.
»Ich finde ja eher Shane heiß«, höre ich eine der beiden sagen und gerate ins Straucheln. Mein Sprung misslingt und noch bevor ich den Schmerz in meinem Knöchel spüren kann, sind meine Kolleginnen bei mir. Nein, nein, nein, … Fuck! Verdammt! Wieso? Wieso ausgerechnet jetzt?
»Fabian!« Jasmin ist neben mir in die Knie gegangen. Ich presse die Augen zusammen und lasse mich zur Seite fallen. Der Schmerz ist überwältigend und ich bin den Tränen nahe.
»Zeig mal her.« Ivetta berührt mein Bein und ich möchte schreien. Vor Schmerz. Und vor Wut. »Er muss zum Arzt. Der Knöchel schwillt an.«
»Ich hole was zum Kühlen.« Damit rennt Jasmin davon.
Ich rappele mich auf und betrachte meinen linken Knöchel, den Ivetta vorsichtig auf ihre Oberschenkel gebettet hat. Scheiße, er schwillt wirklich an. Ich kann nicht anders als mich einem Schluchzen hinzugeben. Das darf nicht wahr sein … Wie viel Pech kann ein einziger Mensch, haben?
»Das tut mir so leid, Fabi«, höre ich Ivetta sagen, doch ich höre sie kaum. Tränen füllen meine Augen.
Das war’s, ich bin geliefert. Etwas Kaltes wird auf meinen Fuß gelegt. Ich zische leise und lege mich auf den harten Boden zurück, um mir über das Gesicht zu reiben. Kann das beschissene Leben nicht mal auf jemand anderem herumtrampeln?
»Soll ich irgendwen anrufen?«, will Jasmin wissen, doch ich bekomme kein Wort heraus. Alles, was meiner Kehle entringt, sind Schluchzer.
»Ich habe die Nummer seiner Mitbewohnerin«, sagt Ivetta und holt ihr Handy hervor.
Sarah … Sie enttäusche ich mal wieder am allermeisten. Dieser Job hier hätte meine Mietschulden bei ihr begleichen sollen. Doch ich Trottel versaue selbst das, was ich am besten kann. Tanzen.
»Hi, Sarah. Hör zu, Fabi ist gestürzt. Sein Knöchel schwillt an, jemand muss ihn zum Arzt fahren, würdest … alles klar. Ich gebe ihm Bescheid.« Ivetta legt das Handy beiseite. »Sarah ist unterwegs!«
***
Ich sitze auf dem Sofa und starre den Verband um meinen Fuß an. Das alles kommt mir immer noch wie ein Albtraum vor. Sarah ist mir nicht böse, aber ich bin es mit mir selbst.
»Magst du reden?«, fragt sie und reicht mir eine Tasse mit dampfendem Erdbeer-Käsekuchen-Tee.
»Acht Wochen. Mindestens«, wiederhole ich die KO-Worte des Arztes. Wir haben ewig in der Ambulanz gesessen und ich fühle mich wie gekaut und ausgespuckt. Noch mehr als üblich.
»Du bist ganz schön durch den Wind seit …« Shane. Sie spricht seinen Namen extra nicht aus, lässt ihn wie ein Damoklesschwert in der Luft hängen. Nie wieder werde ich mich verlieben. Nie, nie wieder. Erst recht nicht in so kurzer Zeit und so … intensiv. Aber, was sollte ich tun? Ich hatte keine Ahnung von WrongTurn. Ja, ich kannte die Musik, aber die Jungs dahinter waren mir herzlich egal. Doch dann stand er vor mir. Groß, schlank, blond und mit blauen Augen, die mir mit nur einem Blick so viel erzählten, dass ich Gänsehaut bekam. Es war … seine Art. Noch nie habe ich mich bei irgendwem so angenommen gefühlt. So sicher. So beschützt. Ich habe alle Ängste vergessen, sie einfach über Bord geworfen. Doch er ist ein Musikgott, den alle anbeten und ich bin nur … Fußvolk, das außer Tanzen nichts kann. Und jetzt nicht mal mehr das. Kaputtes Fußvolk. Aus irgendeinem idiotischen Grund habe ich gehofft, dass er mir seine Nummer geben würde. Oder nach meiner fragen. Doch ich war nur ein One-Night-Stand und ich Vollidiot habe mich Hals über Kopf verliebt.
Sein Lächeln … Die Art, wie er mich gehalten hat, während wir uns geliebt haben. Zumindest habe ich das getan, er hatte vielleicht einfach nur Sex. Es war … mein erstes Mal. Nicht direkt, aber das erste Mal, dass ich es wollte. Dass ich mich nicht zwingen musste. Dass ich die Augen dabei nicht geschlossen und versucht habe gedanklich an einen anderen Ort zu kommen. Ich nehme mein Handy in die Hand und rufe Twitter auf.
»Du willst jetzt aber nicht wieder die Videos von ihm unter der Dusche und als Spice Girl ansehen, die du zum Spaß für die Band gefilmt hast?« Sarah klingt unendlich traurig. »Bitte, Fabi, hör auf dich selbst zu geißeln.« Sie hat in erster Reihe mitbekommen, wie ich völlig neben mir gestanden habe. Da war zum ersten Mal ein Mann, der mir gefiel, der freundlich war und er ist für immer aus meiner Reichweite verschwunden. Sarah hat recht. Ich lasse mein Smartphone aufs Sofa fallen und trinke stattdessen von dem Tee. Er schmeckt weder nach Erdbeere noch nach Käsekuchen. Mehr wie ein ganz normaler Früchtetee. Ich positioniere meinen verletzten Fuß neu und zische leise. Sarah kuschelt sich an mich und legt ihren Kopf an meine Schulter.
»Tut es sehr weh?«
»Ja, trotz der Tablette.« Missmutig starre ich auf meinen Fuß. Wie konnte das nur passieren? Nur weil jemand seinen Namen genannt hat? Was mache ich jetzt? »Ich finde etwas anderes, womit ich Geld verdienen kann.«
Sarah sieht auf. »Wegen mir? Schatzi, ich bekomme das hin. Ich möchte nicht noch einmal erleben, dass du dich heimlich wochenlang nur von Toastbrot ernährst!«
Meine Wangen werden rot. Das wird sie mir wohl ewig vorhalten. Aber nur auf diese Weise konnte ich das Geld für die Miete zusammenkratzen. Außerdem übertreibt sie. Wenn es nur Toast gewesen wäre, wäre ich aufgegangen wie ein Hefekloß von dem ganzen Weißmehl. Sarah hat mich daraufhin zum Arbeitsamt geschickt und ich musste Sozialhilfe beantragen. Das war furchtbar. Leider hatte ich aber bis zu diesem Zeitpunkt schon eine Menge Mietschulden bei ihr angesammelt. Sie hatte mich mit sechzehn bei sich aufgenommen, nachdem mein Vater mich rausgeschmissen hatte. Ich ging noch zur Schule oder besser gesagt, sie schickte mich wieder dorthin und ich konnte deshalb kaum etwas zur Miete beitragen. Jetzt kann ich ihr wenigstens die laufenden Kosten zahlen, aber viel bleibt da nicht übrig. Etwas von dem angesammelten Schuldenberg abzutragen, wäre mein Wunsch für das Geld gewesen, das ich verdient hätte, wenn ich nicht gestürzt wäre. Den Job im Hotel, den ich über einen Freund bekommen habe, konnte ich nicht lange halten, weil mein Englisch so mies ist. Ich meine, ich verstehe es eigentlich richtig gut, aber wenn ich selbst Worte finden und dann auch noch in die richtige Reihenfolge bringen muss, hört es bei mir auf. Ich weiß ja, was ich sagen will, aber ob der Englischsprachige das auch tut, ist immer so eine andere Sache. Gewundert hat mich der Rauswurf nicht, eher dass man mir überhaupt eine Chance gegeben hat. Wäre ich doch nur nie hingegangen, dann hätte ich ihn nie kennengelernt. Nie diese unvergessliche Nacht mit ihm verbracht und mein Herz wäre noch heil. Während er sich auf der Tour sicher quer durch Europa gevögelt und mich längst vergessen hat, habe ich mir die Augen, aber nicht ihn, aus dem Kopf geheult. Das Schlimme ist, dass er überall zu sehen ist oder ich höre seine Stimme im Radio. Es ist schwer, jemanden zu vergessen, wenn er dich ständig sexy gekleidet angrinst oder seine Traumstimme dir Liebesbekundungen ins Ohr säuselt. Ich würde gerne weinen, aber das will ich Sarah nicht antun. Das hebe ich mir fürs Bett auf, wenn ich alleine bin.
»Ich hätte ihn dir so sehr gegönnt«, seufzt meine Freundin, die genau weiß, bei wem ich in Gedanken bin. »Du hättest etwas Glück verdient.«
»Ich durfte ihn ja haben. Für eine Nacht. Einen leuchtenden Stern wie Shane kann man nicht länger halten.« Jetzt kann ich nicht mal mehr tanzen, um den Kopf freizubekommen. Nicht, dass das funktioniert hätte. Shane begleitet mich überall mit hin. Taucht in den unpassendsten Momenten vor meinen Augen auf. Manchmal werde ich nachts wach und glaube, sein Parfum zu riechen. Vielleicht war es auch Aftershave. Ich reibe mir über das Gesicht. Das ist nicht mein Tag. Nicht meine Woche, mein Monat oder Jahr. Ach was, das ist nicht mein Leben.
»Gilmore Girls?«, fragt Sarah und ich nicke erschöpft von dem Ambulanzabenteuer und den Schmerzen in Fuß und Herz.
»Ja … und Fridolin.« Mein Stofftier-Einhorn.
»Ich hole ihn dir.« Sarah lächelt. Nach kurzer Zeit kommt sie zurück und überreicht mir das kleine Einhorn, das mich auf ewig mit ihr verbinden wird. Sie startet unsere Lieblingsserie und kuschelt sich wieder zu mir. Den Tee an den Lippen streifen meine Gedanken zurück zu dem Tag, an dem sie mich fand. Ich nehme einen Schluck und versuche vergebens die Erinnerung loszuwerden. Sie war neunzehn, also knapp drei Jahre älter als ich, und im letzten Jahr ihrer Ausbildung zur Schreinerin, als sie mich im Büro ihres Chefs fand. Ich kniete vor ihm und hatte sein bestes Stück im Mund. Nachdem ich mein Geld erhalten hatte, rannte ich den Tränen nahe aus der Schreinerei. Sie fing mich ab, fragte mir ein Loch in den Bauch. Kurzerhand stopfte sie mich in ihr Auto und nahm mich mit zu sich. Auf dem Rücksitz saß Fridolin. Ein Geschenk für die Tochter der Schwester ihres damaligen Freundes Marcel. Ich griff danach, um es mir anzusehen und brach in Tränen aus. Ab da gehörte Fridolin mir und ich hatte ein neues Zuhause gefunden. Sarah meldete mich an einer Schule an, kaufte mir alles, was ich brauchte, obwohl sie selbst kaum Geld besaß und wechselte nach Beendigung ihrer Ausbildung den Betrieb. Einen Chef, der kleine Stricher für seine Lust bezahlte, wollte sie nicht haben. Leider ging ihre Beziehung daran zu Bruch, dass Marcel mich nicht leiden konnte. Ich weiß bis heute nicht genau, was sie in mir gesehen hat. Oder was sie dazu bewegt hat, mich mitzunehmen. Und zu behalten. Wenn ich sie danach frage, sagt sie immer nur, dass ich so süß gewesen sei, dass sie unter Zuckerschock gehandelt habe. Immer wieder hat sie versucht Kontakt zu meinem Vater aufzunehmen, aber er weigert sich bis heute mit mir zu reden. Irgendwann wurde mir klar, dass ich Sarah eine Menge koste und habe angefangen Buch zu führen. Sarah hält mich für verrückt, weil ich ihr das Geld zurückzahlen will, aber ich brauche das für mein ohnehin schon geschundenes Selbstwertgefühl. Mittlerweile bin ich zwanzig Jahre alt und dass der Staat zurzeit meinen Unterhalt finanziert, macht mich, gelinde gesagt, fertig. Am liebsten würde ich auch dort alles zurückzahlen. Das allumfassende Gefühl, ein absoluter Verlierer zu sein, lässt mich seufzen.
»Was ist los, mein kleines Einhorn?« Sarah lächelt mich an, doch dann wird ihr Blick ernst. »Was tut mehr weh: Der Fuß oder das Herz?«
»Das Herz«, antworte ich ehrlich. Als sie nicht hinsieht, gehe ich auf Shanes Twitterseite und gebe seinem aktuellen Tweet ein Herz. Mein echtes hat er ohnehin schon. Danach schmeiße ich die Twitter-App von meinem Handy. Das muss jetzt aufhören.
Shane
Dad textet mich mit den Fakten seiner neuesten Errungenschaft zu. Ein Gasgrill von der Größe eines Kleinwagens. Ich stehe neben ihm und gebe hoffentlich an den passenden Stellen beeindruckte Laute von mir. Mit dem Fleischwender in der Hand fuchtelt er vor dem Ungetüm herum und ich frage mich, ob er vorhat für eine ganze Footballmannschaft zu grillen.
»Aaaah«, staune ich über die höchste Gradzahl, die das Ding erreichen kann. Großvater gesellt sich zu uns und ich sehe ihn Hilfe suchend an. Er und Granny sind nach dem Essen vorbeigekommen, um mich zu Hause zu begrüßen. Grandpa legt eine Hand auf meine Schulter. Ich glaube, er sieht mir an, dass ich mit Dads Geschwafel nichts anfangen kann. Leise beginne ich Justin Timberlakes »Can`t stop the feeling« zu summen und bewege meinen Oberkörper dazu.
»Shane!«, ruft Dad und gibt mir mit dem Fleischwender einen sanften Klaps auf den Bauch. »Hörst du mir überhaupt zu?«
»Aua, das ist Misshandlung Schutzbefohlener!«, protestiere ich. »Ich habe eine Armee teurer Hollywood-Anwälte.«
»Und ich habe deine Mutter.« Er starrt mich an und ich gaffe zurück.
»Scheiße«, seufze ich. »Du hast gewonnen.« Ich klammere mich an meinen Großvater. »Beschütze mich, Grandpa!«
»Man muss eher die Menschheit vor dir bewahren«, seufzt Dad und sieht kurz zu seinem Grill, bevor er mich wieder ins Visier nimmt. »Was ist jetzt, hast du zugehört?«
»Na klar.« Shit …
»Lass den Jungen in Ruhe«, hilft mir Grandpa. »Du kennst ihn doch, nur Musik im Kopf.« Er wuschelt mir durch die Haare.
»Wenigstens verdient er Geld damit.« Dad zwinkert mir zu und der Stolz, den ich in seinem Gesicht sehe, steht im Kontrast zu seinen Worten und bereitet mir Gänsehaut. »Unser Träumer.«
Ich lächele. Es ist schön, daheim zu sein. »Jedenfalls ist das ein fettes Teil, Dad. Ich hätte gerne einen Hamburger.« Den aus Hackfleisch und den aus Deutschland, erinnert mich ein leises Stimmchen. Oh, besonders Letzteren.
Etwas blitzt in Dads Augen auf. »Frau?«, ruft er nach Mom. »Frau!«
»Ja?«, kommt es aus dem Haus.
»Fahr zum Metzger und hol Hackfleisch. Shane will, dass ich Burger grille.« Dad schaut aus wie ein Krieger, der in den Kampf ziehen wird. Als hätte man ihm die wichtigste Aufgabe überhaupt übertragen.
»Wir haben doch gerade erst gegessen!« Mom erscheint in der Terrassentür. Oma kommt ebenfalls hinaus und lässt sich in einen Gartenstuhl fallen. Ohne uns zu beachten, streckt sie die Füße aus und hält ihr Gesicht in die Sonne.
»Mäuschen«, mischt sich Grandpa ein und bedenkt Mom mit einem liebevollen Blick. »Was denkst du, warum dein Mann Shane rausgeschleift hat und ihm seit einer halben Stunde einen Vortrag über das Ding hier hält?«
Mom seufzt hörbar, dann lächelt sie. »Ich mache mich auf den Weg. Kommst du mit, Mom?«
»Mach du mal«, winkt Granny die Sache ab. Liz kommt mit einem pink glitzernden Springseil in der Hand herausgehopst. Ihre Freundin Shannon ist dabei und winkt mir fröhlich zu.
»Ich hoffe, das Teil hält, was es verspricht«, sage ich und klopfe Dad auf die Schulter.
»Wirst schon sehen.« Stolz glüht in seinen Augen und ich muss darüber schmunzeln. Er hat immer viel gearbeitet, ich gönne ihm die Freude über den Grill von ganzem Herzen. Während er das Ding schon mal in Gang setzt und Grandpa ihn über die Grills aus seiner Jugend in Kenntnis setzt – vermutlich musste er noch Steine aneinanderschlagen, um einen Funken zu erzeugen –, schmeiße ich mich in die Hängematte und schaue eine Weile den Mädels beim Springseilspringen zu.
»Machst du mit, Shane?«, ruft mir meine Schwester irgendwann zu. Damit hätte ich rechnen müssen. Ich erhebe mich ächzend aus der Hängematte.
»Ja, ja, die alten Knochen, was?«, zieht Grandpa mich auf, der gerade noch die Vorgänge an der Grillfront beobachtet hat.
»Ich sag es dir«, stimme ich zu und greife mir an den Rücken, bevor ich mich strecke.
»Shane!«
»Ich bin ja unterwegs, ein alter Mann ist doch kein D-Zug.«
Liz lacht und blinzelt gegen die Sonne an, um mir ins Gesicht zu sehen. Das schiefe Grinsen zeigt dabei eine Zahnlücke zwischen den Backenzähnen.
»Du bist doch kein alter Mann«, sagt sie. »Du bist zwar alt, aber nicht wie Grandpa.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Äh, danke?« Grinsend deute ich auf das Glitzerseil. »Was muss ich tun?«
Ich weiß nicht woher, aber meine Schwester zaubert noch so ein Springseil hervor und drückt es mir in die Hand. Es scheint länger zu sein.
»Du und Shannon lasst es immer so kreisen.« Sie macht mir vor, was sie meint. »Ich springe dann in der Mitte. Wir wechseln uns ab.« Wie die beiden Mädchen das Seil hoch genug für mich schlagen wollen, ist mir nicht ganz klar, aber ich lasse mich überraschen. Irgendwann legt sich eine alte, zierliche Hand auf meine Schulter.
»Möchtest du auch einen Kaffee? Oder was Härteres?«, fragt Granny und ich muss lachen.
»Nein danke.« Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn, den sie mit einem seligen Grinsen entgegennimmt und dann im Haus verschwindet.
»Tauschen!«, verlangt Liz und wir lassen jetzt Shannon springen. Meine Schwester schaut mich glücklich von ihrer Seite des Seils an und mir wird klar, wie sehr ich die kleine Kröte auf Tour vermisst habe. O verdammt, Drew! Ich sollte sehen, ob er geschrieben hat.
»Mädels? Ich muss eben was erledigen.«
Die Mädchen ziehen Schnuten, doch Liz wäre nicht meine Schwester, wenn ihr nicht sofort ein anderes Spiel einfallen würde. Ich gehe zurück zu meiner Hängematte und zücke mein Handy. Drew hat nicht mehr geantwortet. Vermutlich hat er eine dicke Birne. Der Kerl macht mir echt Sorgen. Kurz überlege ich, ob ich ihn anrufen soll, entscheide mich dann aber dagegen. Ich öffne Twitter, will sehen, was Fans und Presse so schreiben, vielleicht auch, was meine Bandkollegen so treiben, doch was ich sehe, trifft mich unvorbereitet:
Fabian Müller
Zwei Worte, ein Name, der mir tief unter die Haut geht.
Er und drei Millionen andere haben meinen Beitrag gelikt.
Ich setze mich hastig auf und die Hängematte beginnt zu wackeln. Keine Ahnung, wie lange ich da hocke und wie ein Grenzdebiler auf das Display starre. Dieser Name brennt sich förmlich in meine Netzhaut. Kann es sein …? Ist er das? Ich komme zu Verstand und drücke auf seinen Namen. Mein Herz beginnt zu rasen, doch der Rest von mir wird ganz still, als ich das Schwarz-Weiß-Bild betrachte. Ich habe keine Ahnung von Ballett und weiß nicht, wie die Pose heißt, in der er sich da gerade befindet, aber ich habe noch nie etwas Schöneres gesehen. Unverkennbar … mein Fay. Gänsehaut überzieht meinen ganzen Körper und ich muss etwas Speichel herunterschlucken.
Fabian.
Sein Anblick ist Balsam für meine müden Augen und er ist sogar noch hübscher, als ich ihn in Erinnerung habe. Für einen Moment schließe ich die Lider und versuche meinen rasenden Puls zu beruhigen. Scheiße, was ist mit mir los? Ich öffne die Augen und dann eine private Nachricht an ihn. Warum zittern meine Hände so? Eine Welle des Glücks erfasst mich und ich glaube, ich grinse mein Handy genauso dämlich an wie Dad seinen Grill.
Fay.
Mein Fay.
Ich bin so wahnsinnig froh ihn gefunden zu haben. Dabei ist das total verrückt. Ach, was soll’s, ich schreibe einfach mal locker aus der Hüfte.
Shane Jenkins @Shane_WrongTurn
Hey Fay, wie geht es dir?
Ich tippe noch mehr, lösche aber immer wieder alles, weil es mir zu dumm vorkommt. Ich klinge wie ein japanisches Schulmädchen, das vor seinem angebeteten Jungen mit dem Hintern wackelt und »Notice me, Senpai!« ruft. Noch während ich mir vorstelle, wie das aussähe, kommt Mom mit dem Hackfleisch zurück und reicht mir ein Glas mit eisgekühlter Limonade. Ich sende die kurze Nachricht schnell ab und stecke das Handy weg. Mom grinst mich wissend an.
»Jemand Besonderes?« Sie rührt mit dem Strohhalm in ihrer Limonade und die Eisklümpchen klackern gegen das Glas. Ich mache es ihr nach.
»Wieso?«, frage ich unschuldig.
»Nur so.« Sie schlürft ihr Getränk und ich überlege. Mom ist cool, ich denke, ich kann ihr erzählen, was los ist. Vielleicht nicht gerade jetzt und hier, aber wenn ich sie mal ganz für mich alleine habe.