Seine Arbeit ödet ihn an, seine Ehe ist schon seit Jahren eine Qual - der Journalist Vatanen schleppt sich von einem Tag zum nächsten. Bis ihm auf der Heimfahrt von einem seiner üblichen langweiligen Pressetermine ein junger Hase vors Auto hoppelt … und Vatanens ehemals so hübsch geordnetes Leben zum Abenteuer wird, das ihn quer durch Finnland führt.
Arto Paasilinna, 1942 im lappländischen Kittilä, Nordfinnland geboren, ist einer der populärsten Schriftsteller Finnlands. Seine Romane werden in über dreißig Sprachen übersetzt. Er gilt als »Meister des skurrilen Humors« und wurde für seine Romane mit zahlreichen nationalen und internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet. Der finnische Kultautor hat inzwischen rund 40 Romane mit großem Erfolg veröffentlicht und weltweit eine große Fangemeinde.
Arto Paasilinna
Das
Jahr des
Hasen
Roman
Aus dem Finnischen von
Regine Pirschel
BASTEI ENTERTAINMENT
Digitale Erstausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © Arto Paasilinna and WSOY
First published by Weilin+Göös in 1975 with the Finnish Title Jäniksen Vuosi
Published by arrangement with Bonnier Rights Finland, Helsinki.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1975 by Arto Paasilinna, Finnland
Titel der finnischen Originalausgabe: Jäniksen Vuosi
Für diese Ausgabe:
Copyright © 1999/2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
unter Verwendung von Motiven © shutterstock: lynea | Merggy
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-3154-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Zwei Männer fuhren zur Mittsommerzeit eine Sandstraße entlang. Sie waren übermüdet, und die untergehende Sonne, die durch die staubige Frontscheibe drang, blendete sie. Die finnische Landschaft zog an ihnen vorüber, aber die Schönheit des Abends ließ sie vollkommen gleichgültig.
Sie waren dienstlich unterwegs, ein Redakteur und ein Fotograf, zwei unglückliche, zynische Menschen. Beide waren um die vierzig, und die Hoffnungen ihrer Jugend hatten sich nicht erfüllt, nicht einmal annähernd. Beide waren sie betrogene und enttäuschte Ehemänner, beide litten sie an einem Magengeschwür, und beide waren sie von den Sorgen des Alltags gezeichnet.
Sie hatten sich gerade darüber gestritten, ob sie heute noch bis Helsinki fahren sollten oder ob es besser wäre, in Heinola zu übernachten. Jetzt redeten sie nicht mehr miteinander. Steif und stur fuhren sie durch den schönen Abend und merkten nicht, wie erbärmlich das war. Eine anstrengende Fahrt.
Auf einem sanften Hügel tummelte sich ein junger Hase in der Sonne. Vom Sommer berauscht machte er mitten auf der Straße Männchen. Die rote Sonne umrahmte ihn wie ein Gemälde.
Der Fotograf, der am Steuer saß, bemerkte das kleine Wesen, aber sein Hirn reagierte nicht schnell genug. Der staubige Halbschuh trat schwer auf die Bremse, doch zu spät. Das erschreckte Tier sprang vor der Kühlerhaube in die Höhe, schlug mit einem dumpfen Knall gegen die Frontscheibe und flog in hohem Bogen in den Wald.
»He, wir haben einen Hasen überfahren!«, sagte der Redakteur.
»Verfluchtes Vieh, beinahe wär die Scheibe kaputt gewesen.« Der Fotograf hielt an und fuhr rückwärts zum Ort des Geschehens. Der Redakteur stieg aus.
»Siehst du ihn?«, fragte der Fotograf gleichgültig. Er hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt, ließ den Motor aber weiterlaufen.
»Was?«, rief der Redakteur aus dem Wald.
Der Fotograf zündete sich eine Zigarette an und saugte mit geschlossenen Augen. Er fand erst in die Wirklichkeit zurück, als ihm die Zigarette die Finger verbrannte. »Komm schon, ich habe keine Zeit, wegen eines blöden Hasen hier herumzustehen!«
Der Redakteur lief zerstreut durch das lichte Gehölz, gelangte an eine kleine Wiese, sprang über einen Graben und starrte in das dunkelgrüne Gras. Dort saß das Häschen.
Sein Hinterlauf war gebrochen. Die Pfote hing kläglich herab und bereitete dem Tier solche Schmerzen, dass es nicht weglief, obwohl es einen Menschen kommen sah. Der Redakteur hob das verschreckte Häschen hoch. Er brach einen Zweig ab und schiente den Hinterlauf mit Stoffstreifen, die er von seinem Taschentuch riss. Das Häschen barg Schutz suchend den Kopf zwischen den kleinen Vorderpfoten, sein Herz klopfte so stark, dass seine Löffel bebten.
Von der Landstraße tönten nervöses Motorengebrumm, zwei gereizte Hupsignale und der Ruf: »Komm endlich! Wir schaffen es nie bis Helsinki, wenn du noch lange in dem verdammten Wald rumläufst. Los jetzt, oder sieh zu, wie du allein nach Hause kommst!«
Der Redakteur antwortete nicht. Er hielt das kleine Tier im Arm. Anscheinend war es ansonsten unverletzt, und allmählich beruhigte es sich.
Der Fotograf stieg aus dem Auto und starrte wütend in den Wald. Von seinem Kollegen keine Spur. Er fluchte, zündete eine Zigarette an und lief unruhig auf und ab. Da sich im Wald nichts rührte, zertrat er die Zigarette und schrie: »Dann bleib hier, du Blödmann. Viel Spaß!«
Er lauschte noch einen Moment, und als keine Antwort kam, stieg er wutentbrannt ins Auto, legte mit hektischen Bewegungen den Gang ein und fuhr los. Der Schotter knirschte unter den Rädern. Kurz darauf war das Auto verschwunden.
Den Hasen im Arm, saß der Redakteur am Grabenrand, und er glich einer alten Frau, die mit dem Strickzeug im Schoß ihren Gedanken nachhängt. Das Motorengeräusch verebbte in der Ferne. Die Sonne ging unter.
Er setzte das Häschen ins Gras und fürchtete einen Moment, das Tier würde die Flucht ergreifen, aber es blieb zwischen den Halmen sitzen, und als er es wieder aufhob, hatte es keine Angst mehr.
»Da sitzen wir nun«, sagte der Mann zum Hasen.
Dies war der Stand der Dinge: Er saß allein mitten im Wald, an einem Sommerabend, im Jackett. Eigentlich war er regelrecht ausgesetzt worden.
Was macht man gewöhnlich in einer solchen Situation? Der Redakteur sagte sich, dass er auf die Rufe des Fotografen hätte antworten müssen. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als zur Landstraße zurückzugehen und auf das nächste Auto zu warten, er musste auf eigene Faust nach Heinola oder Helsinki gelangen.
Der Gedanke gefiel ihm ganz und gar nicht.
Er sah in seine Brieftasche. Sie enthielt ein paar Hunderter, den Presseausweis, die Krankenversicherungskarte, ein Foto seiner Frau, einige Münzen, Kondome, einen Schlüsselbund, ein altes Mai-Abzeichen; ferner Stifte, einen Schreibblock, den Ehering. Auf den Schreibblock hatte sein Arbeitgeber drucken lassen: Kaarlo Vatanen, Redakteur. Laut Kennzahl auf der Versicherungskarte war Kaarlo Vatanen 1942 geboren.
Vatanen stand auf, betrachtete das letzte Sonnenlicht hinter den Bäumen, nickte dem Hasen zu. Er blickte zur Landstraße hin, tat aber keinen Schritt in diese Richtung. Er hob den Hasen hoch, verstaute ihn vorsichtig in der Seitentasche seines Jacketts und ging über die Wiese auf den Wald zu. Es wurde schon dunkel.
Der Fotograf war immer noch wütend, als er Heinola erreichte. Dort tankte er und beschloss, in das Hotel zu gehen, das der Redakteur zum Übernachten vorgeschlagen hatte.
Er nahm ein Zweibettzimmer, legte die staubigen Kleider ab und ging unter die Dusche. Nachdem er sich gewaschen hatte, ließ er sich im Hotelrestaurant nieder. Er sagte sich, der Redakteur werde sicher bald auftauchen, dann könnten sie die Sache in Ordnung bringen. Er trank ein paar Bier, und als er gegessen hatte, ging er zu härteren Sachen über.
Vom Redakteur keine Spur.
Spät in der Nacht saß der Fotograf noch immer in der Hotelbar. Er starrte auf den schwarzen Tresen und beklagte grimmig sein Schicksal. Den ganzen Abend über hatte er nachgedacht und eingesehen, dass es ein Fehler gewesen war, seinen Kollegen in einer fast unbewohnten Gegend im Wald zurückzulassen. Vielleicht hatte sich der Redakteur das Bein gebrochen, sich verirrt oder war in einem Moorloch ertrunken. Denn sonst wäre er doch nach Heinola gelangt, notfalls zu Fuß.
Der Fotograf beschloss, Vatanens Frau in Helsinki anzurufen.
Sie antwortete verschlafen, Vatanen sei nicht bei ihr, und als sie merkte, dass der Anrufer betrunken war, legte sie den Hörer auf. Der Fotograf wählte ein zweites Mal die Nummer, aber niemand nahm ab. Die Frau hatte offenbar den Stecker herausgezogen.
Noch vor Morgengrauen bestellte sich der Fotograf ein Taxi. Er wollte nachsehen, ob der Redakteur noch an dem Ort war, an dem er ihn zurückgelassen hatte. Der Taxichauffeur fragte seinen betrunkenen Fahrgast, wohin er fahren wolle.
»Einfach hier die Straße lang, ohne besonderes Ziel. Ich sage Bescheid, wo Sie anhalten sollen.«
Der Chauffeur warf einen Blick nach hinten. Eine Fahrt auf nächtlicher Straße in Richtung Wald, ohne besonderes Ziel also. Er holte unauffällig die Pistole aus dem Handschuhfach und legte sie zwischen seine Knie. Beunruhigt musterte er den Fahrgast.
Auf einer Anhöhe sagte dieser: »Hier halten!«
Der Chauffeur griff nach der Waffe. Der Betrunkene stieg jedoch ruhig aus dem Auto und rief in den Wald:
»Vatanen, Vatanen!«
Der dunkle Wald antwortete nicht einmal mit einem Echo.
»Vatanen, he, Vatanen!«
Der Mann zog seine Schuhe aus, krempelte die Hosenbeine bis zu den Knien hoch und ging barfuß in den Wald hinein. Bald war er in der Dunkelheit verschwunden. Immer wieder rief er nach Vatanen.
Komischer Vogel, dachte der Chauffeur.
Nachdem der Fahrgast eine halbe Stunde im finsteren Wald herumgelärmt hatte, kehrte er zur Straße zurück. Er bat um einen Lappen und wischte sich den Schlamm von den Füßen, dann zog er die Schuhe auf die bloßen Füße, die Strümpfe steckten in seiner Jackentasche. Sie fuhren nach Heinola zurück.
»Vermissen Sie jemanden, der Vatanen heißt?«
»Ja. Ich habe ihn abends dort bei dem Hügel zurückgelassen. Da ist er aber nicht mehr.«
»Nein. Ich habe ihn auch nicht gesehen«, sagte der Chauffeur teilnahmsvoll.
Als der Fotograf am nächsten Tag gegen elf im Hotel erwachte, hatte er einen schlimmen Kater, sein Kopf dröhnte, ihm war übel. Da kam ihm in den Sinn, dass der Redakteur verschwunden war. Er musste dringend Vatanens Frau auf der Arbeit anrufen.
Er erzählte ihr: »Er lief in den Wald, um einen Hasen zu suchen, und ist nicht wieder rausgekommen. Ich hab nach ihm gerufen, aber er hat nicht geantwortet. Schließlich hab ich ihn zurückgelassen. Er wollte wohl selber dort bleiben.«
Die Frau fragte: »War er blau?«
»Nein.«
»Wo ist er denn, er kann doch nicht einfach so verschwinden.«
»Anscheinend doch. Zu Hause ist er nicht?«
»Nein, zum Teufel, der macht mich noch wahnsinnig! Soll er doch selber zusehn. Hauptsache, er kommt nach Hause, sag ihm das.«
»Wie soll ich ihm etwas sagen, wenn ich nicht weiß, wo er ist?«
»Dann treib ihn auf, und er soll mich sofort im Dienst anrufen. Und sag ihm, es wäre das letzte Mal, dass er solche Zicken macht. Da kommt Kundschaft, er soll mich anrufen, mach’s gut.«
Der Fotograf rief in der Redaktion an.
»Da ist noch etwas, Vatanen ist verschwunden.«
»Wo ist er denn hin?«, fragte der Chefredakteur. Der Fotograf erzählte ihm die Geschichte.
»Er wird schon wieder auftauchen. Eure Story ist nicht so wichtig, die kann man verschieben. Wir bringen sie, wenn Vatanen zurück ist.«
Der Fotograf deutete an, dass Vatanen etwas zugestoßen sein könnte.
Die Kollegen in Helsinki beruhigten ihn. »Komm schon. Was sollte ihm passiert sein? Außerdem wäre das sein Problem.«
»Ob ich es der Polizei melde?«
»Das kann seine Frau machen, wenn sie will. Weiß sie schon Bescheid?«
»Ja, aber es ist ihr ziemlich egal.«
»Uns geht die Sache eigentlich auch nichts an.«
Früh am Morgen wurde Vatanen in einer Scheune von Vogelgezwitscher geweckt. Es duftete angenehm nach Heu. Der Hase lag in seinem Arm, er schien die Schwalben zu beobachten, die unter den Dachbalken verschwanden; sie bauten wohl ihr Nest oder flogen deshalb so eifrig aus und ein, weil sie schon Junge hatten.
Die Sonne schien durch die Ritzen, das Heu vom Vorjahr war schön warm. Vatanen lag etwa eine Stunde gedankenverloren da, dann raffte er sich endlich auf und ging mit dem Hasen auf dem Arm nach draußen.
Hinter einer blühenden Wiese plätscherte ein kleiner Bach. Vatanen setzte den Hasen am Ufer ab, zog sich aus und badete in dem kalten Wasser. Kleine Fische schwammen in dichtem Schwarm stromaufwärts, sie erschraken bei jeder seiner Bewegungen, hatten aber die Angst sogleich wieder vergessen.
Vatanen musste an seine Frau in Helsinki denken. Er wurde missmutig.
Vatanen mochte seine Frau nicht. Sie war in gewisser Weise boshaft, oder besser gesagt: egoistisch, die ganze Ehe hindurch. Sie hatte die Gewohnheit, sich hässliche Kleidung zu kaufen, hässlich und unpraktisch, und sie trug sie immer nur kurze Zeit, denn sie gefielen ihr auf die Dauer auch nicht. Vatanen hätte sie sicher auch ausgetauscht, wenn das so einfach gewesen wäre, wie die Garderobe zu wechseln.
Zu Beginn ihrer Ehe hatte sie zielstrebig das gemeinsame Heim, das Nest, eingerichtet. Ihre Wohnung war eine seltsame Mischung aus allerlei Einrichtungstipps von Frauenzeitschriften geworden, oberflächlich und geschmacklos; große Poster und unbequeme Sessel beherrschten die Räume, man konnte sich kaum darin aufhalten, ohne sich irgendwo zu stoßen. Die verschiedenen Einrichtungsgegenstände vertrugen sich nicht miteinander. Die Wohnung war ein Abbild von Vatanens Ehe.
Irgendwann im Frühjahr war seine Frau schwanger geworden und hatte das Kind schleunigst abgetrieben. Ein Kinderbett hätte die Harmonie der Einrichtung zerstört, sagte sie als Begründung, aber den wahren Grund erfuhr Vatanen erst später: Das Kind war nicht von ihm.
»Bist du eifersüchtig wegen eines toten Embryos, du Trottel?«, fragte sie, als Vatanen die Sache zur Sprache brachte.
Vatanen setzte den Hasen so dicht an den Bach, dass er trinken konnte. Das kleine Langohr tauchte die Schnauze in das klare Wasser, es hatte für seine Größe einen erstaunlichen Durst. Nachdem es getrunken hatte, begann es energisch Blätter zu fressen. Die Hinterpfote tat ihm noch weh.
Ich müsste wohl nach Helsinki zurück, sagte sich Vatanen. Was sie wohl in der Redaktion über sein Verschwinden dachten?
Eine schöne Arbeit, die er da hatte! Diese Zeitschrift deckte lauter Missstände auf, schwieg aber wohlweislich über alle Grundfehler der Gesellschaft. Auf der Titelseite Woche für Woche die verwöhnten Gesichter von Stars und Sternchen, Misses, Mannequins, die Babys bekannter Musiker. In jüngeren Jahren war Vatanen als Reporter einer großen Zeitung zufrieden gewesen, besonders dann, wenn er jemanden interviewen konnte, dem Unrecht widerfahren oder der – im besten Falle – vom Staat unterdrückt worden war. Da glaubte er, gute Arbeit zu leisten, weil er wenigstens diesen einen Missstand an die Öffentlichkeit brachte. Aber jetzt, nach all der Zeit, bildete er sich nicht mehr ein, etwas Sinnvolles zu tun. Er beschränkte sich auf das, was man von ihm verlangte und verzichtete auf kritische Kommentare. Seine Kollegen machten es nicht anders: Sie waren mit ihrer Arbeit unzufriedene und zynische Menschen geworden. Jeder kleine Marketing-Mitarbeiter durfte einem Redakteur sagen, welche Storys der Verleger erwartete, und die wurden dann geschrieben. Die Zeitschrift hatte Erfolg, aber Wissen wurde nicht vermittelt, es wurde verwässert, verschleiert, in oberflächliche Unterhaltung verwandelt. Schöner Beruf!
Man zahlte Vatanen zwar ein recht gutes Gehalt, trotzdem war er ständig in Geldnot. Die Miete betrug im Monat fast tausend Mark, Wohnen war teuer in Helsinki. Eine Eigentumswohnung würde er sich niemals leisten können. Er hatte sich ein Boot gekauft, aber auch dafür musste er noch Raten zahlen. Außer Bootfahren hatte Vatanen so gut wie keine Hobbys. Seine Frau sprach manchmal von Theaterbesuchen, aber er wollte nicht mit ihr ausgehen, allein der Klang ihrer Stimme brachte ihn zur Weißglut.
Vatanen seufzte.
Der Sommermorgen wurde immer strahlender, aber Vatanen hatte sich mit seinen Grübeleien alle Freude verdorben. Erst als er den gesättigten Hasen wieder in der Tasche verstaut hatte, verließen ihn die trüben Gedanken. Er ging nun zielstrebig nach Westen, in dieselbe Richtung, die er gestern Abend nach Verlassen der Landstraße eingeschlagen hatte. Die Bäume rauschten fröhlich, und Vatanen summte ein Lied. Aus seiner Jackentasche lugten die Hasenohren.
Nach ein paar Stunden gelangte Vatanen in ein Dorf. Er wanderte die Dorfstraße entlang und fand zu seinem Glück einen Kiosk. Ein junges Mädchen machte sich davor zu schaffen. Sie schien im Begriff, den kleinen Laden zu öffnen.
Vatanen trat näher, grüßte, setzte sich auf die Veranda.
Das Mädchen klappte die Fensterläden auf, ging in das Häuschen hinein, schob die Glasscheibe zur Seite und sagte: »Der Kiosk ist offen. Was darf’s sein?«
Vatanen kaufte Zigaretten und eine Flasche Limonade.
Das Mädchen musterte ihn aufmerksam und fragte dann: »Bist du ein Verbrecher?«
»Nein. Hast du Angst vor mir?«
»Nee, das nicht. Ich dachte bloß, weil du aus dem Wald kommst.«
Vatanen holte den Hasen hervor, setzte ihn auf die Bank.
»He, du hast ja ein Karnickel«, freute sich das Mädchen.
»Es ist kein Kaninchen, sondern ein Hase. Ich hab ihn gefunden.«
»Ach, der Arme, sein Bein ist ja verletzt! Ich hol ihm ein paar Mohrrüben.« Das Mädchen verließ den Kiosk, lief in ein nahe gelegenes Haus und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Bündel erdiger vorjähriger Mohrrüben zurück. Sie spülte sie mit Limonade ab und hielt sie eifrig dem Hasen hin, aber der fraß nicht. Das Mädchen schien enttäuscht.
»Die mag er wohl nicht.«
»Er ist ein bisschen krank. Gibt es hier im Dorf einen Tierarzt?«
»Ja, den Mattila, aber der ist nicht von hier, der kommt immer nur im Sommer, den Winter verbringt er in Helsinki. Sein Haus steht da drüben am Seeufer. Wenn du aufs Kioskdach steigst, zeig ich dir, welches Haus es ist.«
Vatanen kletterte aufs Kioskdach. Das Mädchen stand unten und erklärte ihm, wohin er blicken musste und welche Farbe das Haus hatte. Vatanen befolgte die Anweisungen und erkannte die Villa des Tierarztes. Dann kletterte er wieder herunter, das Mädchen stützte ihn am Hintern.
Der Tierarzt Mattila gab dem Hasen eine kleine Spritze und verband sorgfältig den Hinterlauf.
»Er hat einen Schock erlitten. Der Lauf wird wieder gesund. Falls Sie ihn in die Stadt mitnehmen, besorgen Sie ihm frischen Salat, den frisst er. Den Salat gut abspülen, damit das Tier keinen Durchfall bekommt! Und zu trinken nur frisches Wasser!«
Als Vatanen zum Kiosk zurückkehrte, saßen dort ein paar Männer herum. Das Mädchen stellte Vatanen vor: »Hier ist er, der Mann mit dem Hasen.«
Die Männer tranken Bier. Der Hase interessierte sie sehr, sie erkundigten sich eingehend nach ihm und versuchten, sein Alter zu schätzen. Einer der Männer erzählte, er gehe immer vor dem Heumachen durch die Wiesen und rufe dabei laut, um die im Gras versteckten Junghasen zu warnen.
»Sie geraten sonst in die Mähmaschine. Einen Sommer waren es drei Stück. Bei dem Ersten waren die Ohren abgeschnitten, bei dem Zweiten die Hinterpfoten, der Dritte war in zwei Teile geteilt. Wenn ich sie vorher verscheucht habe, ist nie einer in den Mäher gekommen.«
Das Dorf gefiel ihm so sehr, dass Vatanen viele Tage blieb und in einer Dachkammer wohnte.
Vatanen bestieg den Linienbus nach Heinola, denn auch im freundlichsten Dorf soll man nicht endlos herumlungern.
Vatanen saß ganz hinten mit dem Hasen im Korb. Vor ihm saßen ein paar Bauern und rauchten. Als sie den Hasen sahen, knüpften sie ein Gespräch an: Es gebe in diesem Sommer ungewöhnlich viele Junghasen, und ob der hier wohl ein Männchen oder Weibchen sei. Schließlich fragten sie Vatanen, ob er den Hasen schlachten und aufessen wolle, wenn er ausgewachsen wäre. Vatanen verneinte entschieden. Darauf wurde entgegnet, dass ja auch keiner seinen eigenen Hund schlachte, und dass man sich manchmal eher an ein Tier als an einen Menschen gewöhne.
Vatanen nahm ein Hotelzimmer, wusch und rasierte sich und ging nach unten, um etwas zu essen. Es war Mittag, aber das Restaurant war leer. Er setzte den Hasen auf einen Stuhl neben sich.
Der Ober, der die Speisekarte brachte, sprach ihn an: »Eigentlich ist der Aufenthalt von Tieren hier verboten.«
»Er ist nicht gefährlich.«
Vatanen bestellte ein Gericht für sich und für den Hasen frischen Salat, geriebene Möhren und frisches Wasser. Der Ober sah Vatanen missbilligend an, als er den Hasen auf den Tisch vor die Salatschüssel setzte, sagte aber nichts mehr.
Nach der Mahlzeit rief Vatanen von der Hotelhalle aus seine Frau in Helsinki an.
»Aha, du bist es!«, schrie sie wütend. »Aus welchem Loch rufst du an? Komm sofort nach Hause!«
»Ich wollte eigentlich überhaupt nicht mehr nach Hause kommen.«
»Was du nicht sagst! Du bist übergeschnappt, dir wird nichts anderes übrig bleiben, als herzukommen. Mach keine Zicken! Du verlierst noch deinen Job! Antero und Kerttu wollen uns heute Abend besuchen, was soll ich denen bloß sagen?«
»Sag, ich bin von zu Hause weggelaufen, das ist wenigstens nicht gelogen.«
»Das kann ich doch nicht sagen, was sollen sie denken? Glaub bloß nicht, dass ich einer Scheidung zustimme, falls du das erreichen willst! Du kommst mir nicht so einfach davon, wo du mein ganzes Leben zerstört hast. Acht Jahre habe ich durch dich verloren! Ich war verrückt, dich zu nehmen!«
Sie fing an zu weinen.
»Heul schneller, das Gespräch wird teuer genug.«
»Wenn du nicht sofort kommst, geh ich zur Polizei, dann wirst du sehen, was passiert, wenn man einfach von zu Hause abhaut!«
»Die Polizei wird sich kaum dafür interessieren.«
»Dass du’s weißt, ich rufe sofort Antti Ruuhonen an, ich stehe keineswegs allein.«
Vatanen legte auf.
Dann rief er seinen Freund Yrjö an.
»Du, Yrjö, ich würde dir das Boot verkaufen.«
»Tatsächlich? Von wo rufst du an?«
»Aus der Provinz, aus Heinola. Ich will in nächster Zeit nicht nach Helsinki kommen, und ich brauche Geld. Kaufst du das Boot?«
»Na klar. Gibst du’s mir für fünfzehntausend?«
»Abgemacht. Du kannst dir die Schlüssel in der Redaktion abholen, sie liegen im Schreibtisch in der untersten Schublade links, zwei Schlüssel an einem blauen Plastikring. Frag nach Leena, das heißt, du kennst sie ja, sie kann dir die Schlüssel geben. Sag, in meinem Auftrag. Bist du flüssig?«
»Bin ich. Ist der Liegeplatz im Preis mit drin?«
»Ja. Mach jetzt Folgendes: Geh sofort auf die Bank und löse meinen Wechsel ein, bleiben zwölftausend Mark in bar. Dann gehst du zu meiner Frau, gibst ihr fünftausend, und die restlichen siebentausend schickst du per Eilüberweisung an die Genossenschaftsbank in Heinola. Glaubst du, dass sich das machen lässt?«
»Krieg ich auch deine Seekarten?«
»Ja, die sind bei meiner Frau. Setz das Boot nicht auf Grund, fang vorsichtig an, damit es keine Schäden gibt.«
»Verrat mir mal, warum du dich von deinem Boot trennst. Ausgeflippt?«
»Könnte man so sagen.«
Am folgenden Tag ging Vatanen mitsamt seinem Hasen in leichtem, sorglosem Schritt zur Bank von Heinola.
Man redet viel vom sechsten Sinn des Menschen, und je näher Vatanen der Bank kam, desto deutlicher spürte er, dass etwas nicht stimmte. Er näherte sich vorsichtig dem Gebäude, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, welche Gefahr ihm dort drohen mochte. Er vermutete, die paar Tage Freiheit hätten seine Sinne geschärft. Der Gedanke amüsierte ihn, und er betrat lächelnd die Bank.
Sein Instinkt hatte ihn zu Recht gewarnt.
Im Schalterraum, mit dem Rücken zur Tür, saß seine Frau. Vatanens Herz krampfte sich zusammen, Wut und Angst packten ihn. Sogar der Hase erschrak.
Vatanen stürzte auf die Straße. Er rannte davon, so schnell ihn seine Füße trugen. Die Passanten starrten verblüfft dem Mann nach, der aus dem Bankgebäude flüchtete, mit einem Korb in der Hand, aus dem kleine Hasenohren lugten. Vatanen rannte bis ans Ende des Häuserblocks, bog in eine Nebenstraße ein und entdeckte die Tür eines kleinen Wirtshauses. Er stürmte hinein, völlig außer Atem.
»Sie sind sicherlich Redakteur Vatanen«, sagte der Ober und blickte den Hasen an wie einen alten Bekannten. »Sie werden schon erwartet.«