Guido M. Breuer
Nach alter Mörder Sitte

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

All die alten Kameraden

Altes Eisen

Alte Narben

Nach alter Mörder Sitte

Guido M. Breuer wurde 1967 in Düren geboren. Er wuchs in Düren und in der Nordeifel auf. Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann und anschließendem Wirtschaftsstudium arbeitete er als selbstständiger Unternehmensberater und lebt heute als Autor in Bonn. Seine Tatorte finden sich vornehmlich in seiner Nordeifeler Heimat, den Tälern und Höhen von Nideggen bis Monschau. Dort ermittelt auch sein Lieblings-Protagonist Opa Bertold, der sich erstmals im Frühjahr 2009 mit All die alten Kameraden in das kriminalistische Geschehen der rauen Eifel einschaltete und 2012 bereits seinen vierten Fall zu lösen hat.

Guido M. Breuer

Nach alter
Mörder Sitte

Originalausgabe

»... clamore et fletu omnia complerentur.«

(Der ganze Schauplatz war von Jammern
und Geschrei erfüllt.)

Gaius Iulius Caesar, De bello Gallico V, 33

»… noctu ad unum omnes desperata salute se ipsi interficiunt.«

(In der Nacht brachten sie sich alle selbst um, weil sie an
ihrer Rettung verzweifelten.)

Gaius Iulius Caesar, De bello Gallico V, 37

1. Kapitel

Die schwere Metalltür hatte sich hinter ihm geschlossen. Das Klacken des Riegels im Schloss war zwischen den dicken Mauern des weiten Raumes ein paar Sekunden hin und her geworfen, dann immer mehr verschluckt worden und endlich ganz verhallt. Nun stand er in völliger Dunkelheit. Und Stille.

Es roch nach kaltem Stein. Er schaltete die Taschenlampe an. Das sterile blaue Licht aus winzigen LEDs wirkte künstlich, unpassend für das uralte Gemäuer. In dem schwachen Strahl schwebte feiner Staub. Die Partikel tanzten umher, in Unruhe versetzt durch den kurzen Luftzug, den sein Eintreten bewirkt hatte, und beruhigten sich dann bald wieder. Der Mann atmete stoßweise aus, um zu sehen, wie die Punkte erneut durcheinandergewirbelt wurden. Sein dampfender Atem stand einen Augenblick in dem Korridor aus fahlem Licht. Er wunderte sich, wie kalt es in der Basilika war. Draußen war es lau, geradezu warm für eine Julinacht in der Nordeifel. Mit dieser Kälte im Inneren des romanischen Kirchenbaus hatte der heimliche Besucher nicht gerechnet. Er beschloss, sich nicht länger als unbedingt nötig hier aufzuhalten. Dieser Gedanke erzeugte bei ihm einen schalen Geschmack der enttäuschten Vorfreude. Aber andererseits – sein Tun würde die beabsichtigte Wirkung ohnehin erst später entfalten, und er würde es erleben. Langsam und ohne auf dem Steinboden ein Geräusch von Schritten zu erzeugen, ging er durch die leeren Holzbänke. Er stieg über das Seil, das die Apsis vom Mittelschiff der Basilika Sankt Johannes Baptist trennte, und stand dann vor dem Altar. Sorgfältig legte er dort das Paket ab, das er bis dahin in der Linken gehalten halte. Leicht war es, aber großflächig. Behutsam löste er die Umhüllung ab, bis das freilag, um dessentwillen er den nächtlichen Einbruch in die Basilika verübt hatte. Nicht zu stehlen hatte er vor. Nein, im Gegenteil, er wollte etwas hier zurücklassen. Etwas, von dem er wusste, dass es Aufsehen erregen würde. Langsam und zärtlich glitten seine Fingerkuppen über die glatte Oberfläche. Das künstliche Licht ließ die Farben falsch aussehen, aber der Betrachter wusste, wie sie in Wahrheit aussahen. Er atmete noch einmal tief ein, dann löste er sich vom Altar und ging zum Eingang der Kirche zurück. Bevor er die Tür öffnete, schaltete er die Taschenlampe aus. Niemand durfte ihn hier beobachten. Vorsichtig sah er sich um. Einsam lag das alte Gemäuer auf dem Burgberg über Nideggen. Um diese nachtschlafende Zeit war hier kein Mensch unterwegs. Der Mann bewegte sich im Schatten der Basilika in Richtung Burgruine. Um sicherzugehen, nicht doch noch jemandem zu begegnen, würde er sich durch den Wald davonschleichen.

2. Kapitel

Kommissar Wollbrand spürte jeden Knochen in seinem Leib. Und er wusste nicht, ob er das schrecklich oder im Gegenteil sogar gut finden sollte. Vielleicht versuchte sein Körper ihm zu sagen, dass er in der vergangenen Nacht nicht gestorben war. Der Alte beschloss, seinen müden Gliedern dafür dankbar zu sein.«

Lorenz Bertold murmelte diese Worte leise vor sich hin, während er den langen Flur hinunterschlurfte. Er hatte sich in der letzten Zeit angewöhnt, deutlich später als die meisten seiner Mitbewohner aufzustehen. Doch an diesem Morgen war er früh unterwegs. Die Sonne hatte sich gerade erst über die grünen Hügel der Rureifel erhoben und sendete ihre noch etwas matten Strahlen flach durch das Fenster am Ende des Ganges. Lorenz strebte dem anderen Ende zu und betrachtete den langen Schatten, den er auf den Boden warf. Selbst diesem flüchtigen Abbild seines Körpers war das Unbehagen anzusehen, das ihn erfüllte. Zaghaft und unsicher schob sich die graue Silhouette vorwärts. Der Alte wischte mit seinem Gehstock durch die Luft, als könne er damit seinen Schatten des Weges verweisen, und murmelte leise: »Der Kommissar hatte keine Ahnung, was ihn in der vergangenen Nacht am Schlaf gehindert hatte. War etwas geschehen, von dem er noch keine Kenntnis hatte und das dennoch bereits seinen Schatten vorauswarf?«

Es war nicht das erste Mal, dass er sich nach einer durchwachten Nacht lustlos durch die Gänge der Seniorenresidenz Burgblick schleppte. Dabei war er am Vorabend in der Hoffnung ins Bett gegangen, tief und fest zu schlafen. Er hatte sich zu einer Veranstaltung überreden lassen, die sich Kräftigungsgymnastik schimpfte. Nach anfänglichem Widerwillen hatte es ihm sogar gefallen. Was er sich natürlich nicht hatte anmerken lassen. Die ungewohnte sportliche Betätigung hatte eine angenehme Bettschwere ausgelöst. Doch dann hatte er wider Erwarten kein Auge zugetan. Nun spürte er Stellen an seinem Körper, die er vorher gar nicht an sich gekannt hatte. Oder vielleicht doch – vor langer Zeit.

Lorenz befürchtete, dass seine nächtliche Unruhe keineswegs den drohenden Schatten kommender Ereignisse geschuldet war. Vielmehr schien es, als sei viel zu lange gar nichts geschehen, als ob sich dies womöglich auch gar nicht mehr ändern könnte. Er war nun fünfundsiebzig Jahre alt, verwitwet und Insasse eines beschaulichen Seniorenheimes. Sollte es das nun gewesen sein?

Die Vorstellung war beängstigend. Ein wenig Animation, regelmäßige Spaziergänge und die Obacht darauf, dass der Stuhlgang möglichst ebenso regelmäßig vonstattengeht. Der Alte schüttelte sich und versuchte, die unangenehmen Gedanken abzuschütteln. Dann blieb er vor einer Tür stehen, an der ein nüchternes Schild mit der Aufschrift Sprechzimmer Dr. Ziany nichts Angenehmes erwarten ließ. Der Alte hob eine Hand, um anzuklopfen, dann hielt er zögernd inne. Natürlich hatte er in Wahrheit seit dem Zubettgehen an kaum etwas anderes denken können als den morgendlichen Termin zur Blutabnahme. Er durfte noch nichts gegessen haben, also musste es vor dem Frühstück sein. »Kommissar Wollbrand war sich der Gefahr, in die er sich nun begab, wohl bewusst. Die Wissenschaftlerin des Syndikats wartete sicherlich bereits mit spitzer Nadel darauf, seine Körperzellen einer eingehenden Untersuchung zukommen zu lassen. Wollte man womöglich einen Superbullen klonen? Oder etwa im Gegenteil den perfekten Verbrecher? Welche Bösartigkeiten verbargen sich in diesem Laboratorium? Der erfahrene Ermittler wusste genau, er konnte das Geheimnis nur lüften, indem er durch diese Tür gehen würde.«

Durch diese Vorrede ermutigt klopfte Lorenz an und öffnete die Tür. Die Ärztin saß hinter einem riesigen Schreibtisch, neben dem ein menschliches Skelett stand. Sie sah von einer Patientenakte auf, von der Lorenz vermutete, dass es sich um die seine handle.

»Guten Morgen, Herr Bertold«, sagte sie lächelnd. »Nehmen Sie doch bitte gleich da vorn Platz.« Sie wies auf einen etwas abseits stehenden Stuhl, der verdächtig nach dem Ort medizinischer Eingriffe aussah. »Sind Sie auch nüchtern?«

Lorenz sah die noch ziemlich junge Frau von der Unterkante ihres weißen Kittels bis zu den Augenbrauen über den Rand seiner Brille hinweg an. »Liebe Frau Doktor Zyankali, wann trafen Sie mich zuletzt betrunken an?«

Das Lächeln der Ärztin wurde bemühter. »Mein Name ist Ziany, wie Sie wissen, lieber Herr Bertold. Und Sie wissen weiterhin genau, was ich mit nüchtern meine. Sie haben also noch nicht gefrühstückt?«

»Wenn ich behaupten würde, ich käme gerade gesättigt aus dem Speisesaal, werde ich dann vorzeitig entlassen?«

Die Ärztin, die die Art des Alten sehr wohl kannte und diesem Termin mit ähnlichem Unbehagen entgegengesehen hatte wie Lorenz, seufzte nur wortlos und stand auf, um ein Desinfektionsspray aus dem Schrank zu nehmen. Lorenz setzte sich auf den ihm zugewiesenen Stuhl und beobachtete die Frau, wie sie eine Spritze aus der sterilen Verpackung schälte und auf einem silbernen Tablett bereitlegte. »Dann machen Sie mal einen Arm frei.« Sie hielt plötzlich, ohne dass Lorenz sie danach hätte greifen sehen, eine Schnalle zum Abbinden des zu perforierenden Körperteils bereit. Er krempelte einen Hemdsärmel hoch und bot seine bloßgelegte Armbeuge dar.

»Dann schauen Sie mal, ob Sie hier meines Lebenssaftes habhaft werden können.«

Wieder sparte sich die Ärztin eine Entgegnung und begann, den Arm eingehend aus der Nähe zu betrachten. Sie drückte etwas herum, klopfte einmal hier und da, dann ließ sie ein leises »Hm« vernehmen. Lorenz spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Was heißt hier ›hm‹? Hier wird nicht ›hm‹ gemacht. Ich dachte, Sie wären ein Profi. Walten Sie Ihres Amtes, und entnehmen Sie bitte kurz und schmerzlos meinem Körper, was Sie benötigen. Ausdrücke der Unsicherheit werden vom Patienten nicht gern vernommen.«

»Lassen Sie mal stecken, Herr Bertold«, sagte die Ärztin leicht gereizt. »Ich muss nur eine geeignete Vene finden. Das ist bei Ihnen nicht ganz so einfach.«

»Mein Körper hat im Laufe der Jahrzehnte Abwehrmechanismen gegen seine gewaltsame Öffnung entwickelt. Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, und wo Sie es tun.« Mit diesen Worten lehnte Lorenz sich zurück, schloss die Augen und überließ sich der Ärztin und seinem Schicksal. Er ließ Kommissar Wollbrand fieberhaft nachdenken, wie er diese gefährliche Situation zu meistern gedachte. Es schien sowohl dem Kommissar als auch Lorenz, dass der einzige Weg zur Lösung der Situation war, die Blutabnahme geschehen zu lassen. Er spürte, wie das Desinfektionsspray seine Armbeuge kühlte, und hörte die Ansage: »Jetzt gibt es einen kleinen Pieks.« Lorenz wollte entgegnen, wie albern diese Vorwarnung sei, doch sein Mund fühlte sich plötzlich zu trocken an, um etwas zu sagen. Dann spürte er das Eindringen der Nadel. Von der Einstichstelle ging ein unangenehmes Ziehen durch seinen Arm, welches sich dann in den ganzen Körper fortpflanzte. Geduldig wartete er mit geschlossenen Augen auf das Ende der Prozedur. Nach ein paar Sekunden vernahm er erneut ein »hm«. Lorenz öffnete die Augen und sah, dass sich das Röhrchen noch mit keinem Tropfen Blut gefüllt hatte. »Da will nichts kommen«, kommentierte die Ärztin.

Lorenz versuchte ein Grinsen und meinte: »Haben Sie denn ernsthaft erwartet, in diesen alten Adern würde noch Blut fließen?« Dann wollte er noch etwas sagen, doch jener ziehende Schmerz hatte irgendwie den Weg von der Armbeuge bis hinter seine Stirn gefunden. Es wurde dem Alten schwarz vor Augen. Er spürte noch, wie er die Körperspannung und den Kontakt zur Sitzfläche des Stuhles zu verlieren begann. Dann schwanden ihm die Sinne.

Als Lorenz wieder zu sich kam und die Augen öffnete, sah er in das Gesicht von Benny Bethge. Der junge Pfleger setzte ein schelmisches Grinsen auf. »Na, wer hat da zuerst schlappgemacht – Opa Bertold oder Kommissar Wollbrand?«

»Ist es vollbracht?«, antwortete der Alte matt. »Im Himmel kann ich wohl kaum gelandet sein, wenn dein Frätzchen das Erste ist, was ich sehe.«

Bennys Grinsen wurde breiter. »Alles klar, Frau Doktor«, sagte er. »Opa Bertold ist völlig in Ordnung.«

Lorenz richtete sich auf, und mit der Hilfe des Pflegers stand er bald wieder auf seinen Beinen, wenn auch noch etwas unsicher. Die Ärztin wies auf die leere Spritze. »Wenn Sie sich gut fühlen, erholen Sie sich noch eine Minute, und dann versuchen wir es noch einmal.«

»Junge Frau«, erwiderte der Alte und hob seine Stimme an. »Ich weiß nicht, was Sie während meiner Bewusstlosigkeit alles mit mir versucht haben, aber falls Sie das meinen, was ich noch mitbekommen habe: Denken Sie nicht mal dran! Ich gehe jetzt frühstücken. Meine Körpersäfte stehen Ihnen heute nicht zur Verfügung. Was zu beweisen war.« Zu Benny gewandt sagte er: »Junge, gib mir meinen Stock und geleite mich aus diesem Höllenlaboratorium. Das Syndikat muss ohne meine DNA auskommen.«

Er warf Doktor Ziany noch einen grimmigen Blick zu, den der junge Pfleger mit einem Grinsen begleitete. Dann waren die beiden hinaus und ließen – nicht zum ersten Male – eine ratlose und frustrierte Medizinerin zurück. Benny konnte sich ein lautes Lachen nicht verkneifen. »Tut mir leid, Opa Bertold, aber du bist ein wirklich schräger Vogel. Die arme Zyankali.«

»Einen armen Arzt habe ich in fünfundsiebzig Jahren Patientendasein noch nicht getroffen«, entgegnete Lorenz. »Warum studierst du nicht auch Medizin?«

»Willst du mich loswerden?«, fragte Benny zurück. »Die Büffelei bis zum Abi hat mir echt gereicht. Hier gefällt es mir. Zumindest solange Kommissar Wollbrand in der Eifel ermittelt.«

Der Alte lächelte still vor sich hin, während sie dem Speisesaal der Seniorenresidenz Burgblick entgegenstrebten. Er wusste sehr wohl, dass alles Menschliche endlich war, doch warum sollte er das dem jungen Mann an diesem sonnigen Morgen erläutern? Mochte er dies selbst im Laufe eines hoffentlich langen und erfüllten Lebens herausfinden.

Im Frühstücksraum herrschte bereits reger Betrieb. Lorenz raunte: »Wenn der in Ehren ergraute Ermittler noch einen Beweis für das Massenphänomen der senilen Bettflucht gebraucht hatte, so lag er hier vor seinen Augen.«

Dann suchte er in der Masse der speisenden Senioren nach seinen Freunden. Das kupferfarbene Haar Bärbel Müllenmeisters leuchtete ihm von einem Tisch entgegen, der nah am Panoramafenster stand und während des Frühstücks einen schönen Ausblick auf den hauseigenen Park ermöglichte. Bärbel erhob sich, als Lorenz und Benny herangekommen waren.

»Bitte behalten Sie doch Platz, Gnädigste«, lächelte Lorenz, der wieder einmal über die Freundlichkeit Bärbels in allen Kleinigkeiten des täglichen Miteinanders staunte. »Wir müssen in Gegenwart unseres jungen Freundes aufpassen, dass wir nicht zu höflich miteinander umgehen, ansonsten nimmt der Bengel am Ende noch Gewohnheiten an, die ihm das moderne Leben in seiner eigenen Generation unmöglich machen.«

Bärbel ließ ihr helles mädchenhaftes Lachen durch den Speisesaal schallen, sodass einige erstaunt von ihrem Frühstück aufblickten. »Sei nicht albern, Lorenz. Ein bisschen Höflichkeit schadet in keinem Kreise. Und in so schlechter Gesellschaft hält sich unser Benny doch ohnehin nicht auf, oder?«

»Weiß nicht«, grinste der Pfleger. »Ich habe von Kommissar Wollbrand gelernt zu schweigen, wenn ich mich selbst belasten könnte.«

Lorenz klopfte mit seinem Gehstock auf den Boden. »Hört hört, der Junge nimmt tatsächlich Lehre an. Ich bin beeindruckt.«

Benny winkte lachend ab. »Ich lass euch besser mal allein, wünsche guten Appetit. Frau Klinkenberg hat mich in die Verwaltung befohlen, da darf ich die Chefin nicht lange warten lassen.«

»So ist es recht«, meinte Lorenz. »Und denke unbedingt daran, ihr Gelegenheit zu geben, dich ernst zu nehmen!«

»Aber so was von!«, grinste Benny und eilte hinaus.

»Darf ich dir einen Kaffee einschenken?«, fragte Bärbel, während sie bereits die Kanne in der Hand hielt, um eine Tasse zu füllen.

»Gerne.« Lorenz freute sich auf den ersten Schluck, sein Magen verlangte nach etwas Warmem. Er überlegte, Bärbel von seinem Missgeschick bei der Ärztin zu erzählen, entschied sich dann aber, die unrühmliche Episode für sich zu behalten. Stattdessen fragte er: »Wo ist denn Gustav? Ist der etwa noch nicht auf?«

»Oh doch«, antwortete Bärbel und goss nun auch sich selbst einen Kaffee ein. »Ich habe ihn eben schon kurz gesehen. Er wollte noch einen Neuankömmling begrüßen, den er offenbar schon kennt, und dann zu uns stoßen.«

Lorenz wartete, bis Bärbel die Kanne abgestellt hatte, und trank dann einen Schluck. »Oh ja«, meinte er dann. »Das hab ich jetzt gebraucht.«

Auch Bärbel genoss ihren Kaffee. »Hast du eine gute Nacht gehabt? Du siehst etwas müde aus, wenn ich das sagen darf.«

»Du darfst«, brummte Lorenz. »Weil es halt stimmt. Ich habe kein Auge zugetan, obwohl ich gestern so angenehm müde war.«

»So was kommt und geht«, meinte Bärbel. »Manchmal weiß ich auch nicht, warum ich so gut schlafe, obwohl mich etwas bedrückt, und andersherum finde ich auch manchmal keinen Schlaf, obwohl es mir gut zu gehen scheint.«

»Da lobe ich die Gottesgabe unseres Gustav. Der wandert einfach im Schlaf herum und weiß nachher nix.«

»Zumindest nichts, was ich nicht vorher auch schon nicht gewusst hätte«, warf Gustav Brenner ein, der in diesem Moment an den Tisch trat.

»Wenn man vom Teufel spricht ...«, meinte Lorenz.

»So hat man meist den Schwanz schon in der Hand«, ergänzte Gustav. »Ihr Lieben, darf ich euch Alexander Grosjean vorstellen?«

Er wies auf einen hochgewachsenen, sportlich wirkenden Herrn, der hinter ihm gewartet hatte und nun, da sein Name genannt wurde, einen Schritt nähertrat. »Guten Morgen«, sagte er mit einer Stimme, die sehr geschmeidig klang. Beinahe samten, dachte Lorenz und schalt sich sofort im Stillen einen Narren, bei einem Mann an solche Ausdrücke zu denken.

»Guten Morgen«, erwiderte Bärbel, stand auf und reichte Grosjean die Hand. »Bitte, setzen Sie sich doch zu uns. Wir wollten gerade das Frühstück beginnen.«

»Sehr freundlich, vielen Dank«, erwiderte der Neuankömmling und nahm auf einem freien Stuhl Platz, wobei er sich mit der Linken durch das volle, dunkle Haar fuhr. Bestimmt gefärbt, dachte Lorenz. Auch Gustav setzte sich. »Alexander und ich haben uns gestern Abend schon zufällig bei einem Spaziergang getroffen. Er erzählte mir, dass er hier einzieht.«

»Dann seien Sie herzlich willkommen«, sagte Bärbel. »Ich bin Bärbel Müllenmeister, und dieser bärtige alte Kauz, der mir gegenübersitzt, ist Lorenz Bertold.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte Alexander Grosjean. »Gustav hat mir schon so einiges über Sie erzählt. Und da ich auch schon in der Zeitung über Sie gelesen habe, war ich zugegebenermaßen neugierig. Sie sind ja so etwas wie ein weithin bekannter privater Ermittler, wenn ich das so sagen darf.«

»Jetzt haben Sie es ja schon gesagt, ohne zu wissen, ob Sie das dürfen«, entgegnete Lorenz.

»Nehmen Sie das dem alten Brummbär nicht übel!« Benny Bethge war in den Speisesaal zurückgekehrt. »Er hat eben bei der Blutabnahme den sterbenden Schwan markiert und ist jetzt entsprechend bissig.«

»Was soll denn das?«, fragte Lorenz. »Hat die Klinkenberg dich etwa zurückgeschickt, um hier zu petzen?«

»Hoppla«, grinste Benny. »Er hat es euch nicht erzählt, oder?«

»Hat er nicht«, meinte Bärbel. »Lorenz, was ist denn passiert?«

»Wo bleibt denn das Rührei, verdammt?« Lorenz schien nicht gewillt, der neuen Gesprächswendung zu folgen.

»Iss doch lieber Obst und Müsli zum Frühstück.« Bärbel blieb hartnäckig. »Dann würde es dir bestimmt bessergehen. Und nun sag, was ist bei der Blutabnahme geschehen?«

Da Lorenz keine Anstalten machte, etwas zu erzählen, sprang Benny ein. »Keinen Tropfen Blut hat die Ärztin aus ihm herausbekommen. Der Kreislauf hat komplett gestreikt, und Opa Bertold ist k. o. gegangen und hat die Fliesen unfreiwillig geputzt. Als ich vorbeikam, machte er gerade die Äuglein wieder auf.«

»Verräter«, knurrte Lorenz.

»Das hört sich aber sehr unangenehm an«, bemerkte Alexander Grosjean. Lorenz lag eine scharfe Bemerkung auf der Zunge, doch er verwarf diese und suchte nach einer weniger bösartigen Formulierung. »Nicht so unangenehm, wie Sie vielleicht glauben«, sagte er schließlich. »Für einen Beau wie Sie mag es vielleicht eine schreckliche Vorstellung sein, blutleer zu Füßen einer Ärztin zu liegen, aber ich mache so was beinahe täglich.«

»Lorenz!« Bärbel schüttelte missbilligend den Kopf, konnte sich eines Lächelns aber dennoch nicht erwehren. »Herr Grosjean ist doch kein Beau, was immer du damit meinen magst. Was soll er denn von uns denken, kaum dass er hier angekommen ist?«

»Das ist unserem bissigen alten Kater sicherlich wurscht«, kommentierte Gustav.

»Ich bin dann mal wieder weg!«, fügte Benny Bethge flott hinzu und eilte von dannen.

»Ich hab Hunger«, sagte Lorenz. »Herr Groschen, Sie sehen aus, als wären Sie Zimmerservice gewohnt, aber hier ist Selbstbedienung angesagt. Spart Kosten und hält die alten Glieder auf Trab.« Damit erhob er sich und ging zum Buffet, um sich eine große Portion Ei und Speck aufzuladen. Und da er wusste, dass Bärbel sicherlich wieder seine Essenswahl rügen würde, packte er noch ein paar Würstchen dazu. Das macht vital, wenn es mich nicht umbringt, dachte er. Der Neue soll nicht denken, ich sei ein Schlappschwanz. Dann kehrte er an den Tisch zurück. Überrascht stellte er fest, dass Grosjean nicht mehr dort saß. Er raunte Gustav zu: »Dein neuer Freund scheint ja ein ganz vitaler Bursche zu sein. Dem sprudelt es bestimmt nur so aus der Vene, wenn die Zyankali ihn ansticht. Ist er schon zu ihr unterwegs, um ihr zu zeigen, dass es hier noch starke Männer gibt?«

Gustav grinste. »Man könnte meinen, du wärest eifersüchtig auf Alexander. Also, wenn ich es nicht besser wüsste ...«

»Weißt du aber halt nicht«, maulte Lorenz zurück und ließ sich nieder. Dann begann er zu essen und wunderte sich, dass Bärbel das ganz kritiklos hinnahm.

Gustav meinte: »Alexander ist nicht etwa vor deiner Grobheit geflohen, sondern weil er einen Gesprächstermin mit Frau Klinkenberg hat. Sie möchte ihn begrüßen, da sie gestern Abend keine Gelegenheit dazu hatte.«

»Da wird sie sich sicher freuen«, grummelte Lorenz kauend. »Jetzt hat sie unter ihren greisen Schäfchen auch noch ein Model.«

Bärbel seufzte. »Du hast aber wirklich eine schlechte Nacht und einen schlimmen Morgen hinter dir. Jetzt iss erst mal in Ruhe, und dann machen wir einen Spaziergang durch Nideggen. Ja?«

»Gute Idee, macht ihr das mal«, sagte Gustav, während Lorenz schweigend an einem kleinen Rostbratwürstchen kaute. »Ich habe Alexander für gleich eine Führung durchs Haus versprochen.«

Lorenz zog es vor, weiterhin nichts zu sagen. Insgeheim schalt er sich für seine schlechte Laune. Andererseits, und das war auch die feste Meinung des alten Kommissar Wollbrand, hatte er als Insasse eines Altenheimes, der gerade einen Schwächeanfall und dessen schonungslose Offenlegung vor einem Fremden hinter sich hatte, das Recht auf ein paar kleine Grobheiten. Als er sich zu diesem Gedanken durchgerungen hatte, begann ihm auch das Essen zu schmecken, und er bemerkte die wärmenden hellen Sonnenstrahlen, die über den Park der Seniorenresidenz und durch die Fenster fluteten. Er nahm einen Schluck Kaffee und räkelte sich ungeniert auf dem Stuhl. Jetzt könnte die Zyankali ihm problemlos im Vorbeigehen einen halben Liter Blut abzapfen, dachte er und war dennoch froh, dass die Ärztin dies in der nächsten Zeit vermutlich nicht mehr versuchen würde.

3. Kapitel

Es herrschte bereits geschäftiges Treiben auf der Zülpicher Straße in Nideggen. Auf dem Kopfsteinpflaster klackerten die Absätze eiliger Damen. Die Schritte der männlichen Passanten schienen Lorenz nicht nur leiser, der Machart der Schuhe geschuldet, sondern auch langsamer zu sein. Frauen hatte er immer schon als das gehetztere Geschlecht wahrgenommen. Immer in Eile, immer die nächste Pflicht im Kopf und im Blick.

Bei Bärbel war das anders. Lorenz schaute zur Seite, wo die Freundin entspannt und wie fast immer lächelnd schlenderte, hier und da ein bekanntes Gesicht grüßend, an manchen Auslagen der Geschäfte staunend, als hätte sie dies nicht schon hundertmal gesehen. Als sie am Marktplatz angelangt waren, nahmen sie, ohne dies abgesprochen zu haben, den Weg zum Burgberg hinauf. Vielleicht hatte Lorenz seine Schritte zuerst dorthingelenkt, und Bärbel war sofort darauf eingegangen. Es mochte aber auch umgekehrt sein, das war auf eine angenehme Art gleichgültig. Sie bemerkte seinen Blick und wandte sich ihm zu. »Es scheint dir ja endlich besserzugehen. Da ist wieder etwas Farbe in deinem Gesicht.«

»So? War ich zu blass heute Morgen?«

Bärbel lachte. »Du bist ein unverbesserlicher Brummbär. Natürlich sahst du blass aus. Eine schlechte Nacht, dann eine Ohnmacht, verzeih, ich meinte ein Kreislaufproblem bei der Blutabnahme, und dann der Herr Grosjean, mit dem unser Gustav so schnell Freundschaft geschlossen zu haben scheint. Das war offensichtlich ein bisschen zu viel für dich. Was ist sonst noch schlimm daran?«

»Wenn das alles so offensichtlich ist, brauchen wir ja glücklicherweise nicht weiter darüber zu sprechen«, entgegnete Lorenz und spürte bei dem langen Satz, dass der steile Anstieg in der Burggasse ihm etwas den Atem zu nehmen begann. Unwillkürlich strich er mit der Hand, die nicht mit der Führung des Gehstockes beschäftigt war, über den Bauch, der sich über dem Gürtel spannte. Bärbel bemerkte natürlich auch diese kleine Geste und konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen: »Bedauerst du jetzt doch deine Speiseauswahl? Was sagen die Würstchen, der Speck und die Eier zu der Steigung?«

»Sie sagen, dass sie da sind, wo sie hingehören, und dass daneben kein Platz mehr war für Müsli und Obst.«

Lorenz konnte dies so sagen, obwohl er wusste, dass Bärbel selbst vegetarisch lebte und das Essen von Tieren strikt ablehnte. Dennoch war er sich ihrer liebevollen Toleranz sicher, sonst hätte er sich vielleicht nicht so ausgedrückt. Er wollte noch etwas hinzufügen, das etwas milder klang, als Bärbels Mobiltelefon sich meldete und sie den Anruf annahm. »Hallo Benny«, sagte sie leicht erstaunt. Dann lauschte sie dem, was der junge Pfleger ihr mitzuteilen hatte, und entgegnete dann mit noch mehr Erstaunen in ihrer Miene: »Lorenz und ich sind gerade zufällig in dieser Richtung unterwegs. Wir sind in wenigen Minuten dort.« Damit steckte sie das Handy wieder ein und sagte zu Lorenz: »Stell dir vor, der Pfarrer hat bei unserer Verwaltung angerufen und wollte mich sprechen. Er wartet in der Kirche.«

»Was hat er denn so Wichtiges?«, fragte Lorenz, dessen Neugier sofort geweckt war.

»Das hat er Frau Klinkenberg und Benny nicht sagen wollen. Er wollte, dass ich mir etwas ansehe. Und es sei dringend und dulde keinen Aufschub.«

Das Lächeln war aus Bärbels Gesicht verschwunden. Lorenz wusste, dass sie solcherart Überraschungen nicht liebte, da es nicht ganz unwahrscheinlich war, dass der Hintergrund sich eher unangenehm ausnehmen würde. Er dagegen war sofort begeistert von der überraschenden Wendung, die dieser Morgen zu nehmen schien. Unwillkürlich schritt er kräftiger aus.

Bärbel folgte seinem schnelleren Tempo und sah ihn von der Seite an. »Das scheint dir ja schon wieder Spaß zu machen.«

»Aber ja«, entgegnete Lorenz. »Vielleicht hat der Pfarrer etwas Interessantes für uns?«

»Aber wenn es etwas Schönes wäre, hätte er doch am Telefon schon was sagen können, oder nicht?«

Lorenz grinste. Auch Bärbel konnte halt nicht aus ihrer Haut. »Warten wir einfach mal ab, was er hat. Es muss ja nicht gleich etwas Kriminelles sein. Sonst hätte er ja auch eher nach mir gefragt, oder etwa nicht?«

Bärbel nickte nachdenklich. Jedoch schien die Logik des Alten sie nicht so ganz zu beruhigen. Und so waren beide aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus froh, als sie den Anstieg durch die malerische Gasse bewältigt und die Nideggener Pfarrkirche erreicht hatten.

Lorenz öffnete das patinagrüne Bronzetor und ließ Bärbel eintreten. Er folgte ihr auf dem Fuße. Linker Hand gleich am Eingang befand sich das Grabmal des Grafen Wilhelm und seiner Gattin Ricarda. Lorenz erinnerte sich noch lebhaft an sein Abenteuer, das mit dem Leben dieses mittelalterlichen Fürstenpaares verbunden gewesen war. Lorenz atmete die kühle Luft ein, die in der Basilika stand, und ließ die Atmosphäre des romanischen Bauwerks auf sich wirken. Er hatte dazu jedoch nicht viel Zeit, denn schon kam ihnen der Pfarrer eilig entgegen und reichte ihnen die Hand, die sich feucht verschwitzt anfühlte.

»Frau Professor Müllenmeister«, begrüßte er Bärbel leicht hektisch. »Wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten.«

»Wir waren gerade auf einem Spaziergang in der Nähe«, sagte Bärbel. Auf die Nennung ihres Titels – Lorenz wusste, dass sie dies nicht sonderlich mochte – entgegnete sie nichts.

Der Pfarrer wies in Richtung Altar und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Lorenz fiel auf, dass die Geste eigentlich nur Bärbel galt und der Pfarrer ihn überhaupt nicht beachtete, aber das ärgerte ihn nicht. Vielmehr zeigte es ihm, dass der Geistliche durch irgendetwas ziemlich aus dem Gleichgewicht gebracht worden sein musste, denn ansonsten hätte er sich, höflich wie Lorenz ihn kannte, auch ihm zugewandt. Sie gingen zwischen den leeren Holzbänken hindurch und betraten das Sanctuarium, in dessen Zentrum sich der Altar befand. Dahinter wölbte sich das Halbrund der Apsis, wo ein Fresko den thronenden Christus, flankiert von seiner Mutter und Johannes dem Täufer, zeigte.

»Bitte, Frau Professor, sehen Sie sich das an. Dies lag heute Morgen so auf dem Altar.« Bärbel und Lorenz traten näher, mit ihren Augen der Handbewegung des Pfarrers folgend. Ihr Blick fiel auf ein rahmenloses Bild, das, wie es Lorenz schien, in sehr altem Stil und mit religiösem Hintergrund gemalt war. Er wartete nun, da er Bärbel den Vortritt gelassen hatte und keine Details erkennen konnte, ebenso wie der Pfarrer auf Bärbels Einschätzung. Die ließ dann auch nicht lange auf sich warten.

»Das ist interessant«, begann sie. »Das lag hier so auf dem Altar?«

»Ja, zusammen mit diesem Zettel hier.« Der Pfarrer kramte in seiner Tasche und holte ein Papier hervor, auf dem offenbar via Computer gedruckt stand: »Fragen Sie Frau Professor Bärbel Müllenmeister, Seniorenresidenz Burgblick zu Nideggen, nach der Herkunft dieses Kunstwerkes.«

»Das muss jemand in der Nacht hier hingelegt haben. Ich fand die Tür heute Morgen offen, obwohl ich ganz sicher bin, sie gestern Abend abgeschlossen zu haben.«

Lorenz ärgerte sich, dass er seine Brille vergessen hatte, und verkniff sich eine Bemerkung über Glaubensangelegenheiten.

Bärbel betrachtete das Bild und murmelte, mehr für sich selbst als die beiden wartenden Männer, vor sich hin: »Also. Es handelt sich um Öl auf dünnem Holz. Das Material sieht sehr alt aus, die Farbe extrem gut erhalten. Der Stil ist ganz eindeutig aus der Schule des Stephan Lochner, das Bild kenne ich sogar. Fünfzehntes Jahrhundert. Es zeigt drei Heilige, links die Katharina, in der Mitte Hubertus und die Figur rechts – da müsste ich nachschauen. Unten, sehr viel kleiner, ist der Stifter des Bildes zu sehen, das hat man früher – oh mein Gott!«

Die letzten Worte hatte Bärbel voller Entsetzen ausgerufen. Lorenz war wie elektrisiert. »Was ist? Was hast du?«, fragte er hastig.

»Das kann doch nicht sein«, stammelte Bärbel, sichtlich fassungslos.

»Nun sag schon«, drängelte Lorenz. Bärbel sah ihn an, darauf musterte sie nochmals angestrengt das Bild, dann wieder ihn. Schließlich sagte sie: »Die Stifterfigur stellt, wenn mich nicht alles täuscht, dich dar, lieber Lorenz.«

»Nein!« Lorenz drängte sich dichter an den Altar und beugte sich über das Bild. Der vor den hohen Gestalten der Heiligen kniende Mann trug eine braune Mönchskutte, das Gesicht war von einem weißen Vollbart bedeckt, zwischen den zum Gebet gefalteten Händen hielt er einen Gehstock. Auch wenn Lorenz keine Brille trug, konnte er erkennen, dass dieser Mann ihm glich.

»Nun«, sagte er. »Da kann schon eine Ähnlichkeit sein, aber so genau ist das doch nicht zu sagen.«

Der Pfarrer sah nun auch genau hin, betrachtete dann Lorenz’ Gesicht und meinte: »Entschuldigung, aber Frau Professor Müllenmeister hat recht. Das Antlitz des Stifters auf dem Bild ist nicht etwa nur ähnlich, sondern es gleicht dem Ihren bis ins letzte Detail.«

»Damit wissen wir auch schon, dass es sich um eine Fälschung handelt«, sagte Bärbel, deren kühl wissenschaftliche Wortwahl so gar nicht zu dem entsetzten Ausdruck auf ihrem blassen Gesicht passen wollte.

»Nun bist du es aber, die etwas weiß um die Nase ist«, meinte Lorenz, dem selbst auch nicht so ganz wohl in seiner Haut war.

»Um Gottes willen, Lorenz«, stieß Bärbel hervor. »Wie kannst du dabei nur so gelassen sein? Das ist doch unheimlich, oder?«

»Irgendwie schon. Zu dumm, dass ich meine Brille nicht dabeihabe. Ich kann keine Details erkennen.«

»Glaube mir, das bist ganz sicher du.«

Der Pfarrer fragte: »Dann ist das Bild also kein Original von Stephan Lochner?«

»Völlig unmöglich«, antwortete Bärbel. »Es sei denn, vor fünfhundert Jahren hat es einen Auftraggeber für den Maler gegeben, der unserem Opa Bertold bis aufs letzte Barthaar glich. Auch die Farben sind eindeutig frisch. Dermaßen gut restauriert kann ein so altes Bild gar nicht sein. Erstaunlich ist aber, dass jemand, der über diese künstlerischen Fähigkeiten verfügt, sich die Mühe macht, eine offensichtliche Fälschung anzufertigen.«

Lorenz raunte leise: »Der erfahrene Ermittler spürte, dass hier etwas oberfaul war. Warum war er auf einem gefälschten alten Meisterwerk abgebildet, und wer hatte das Bild zu welchem Zweck in der Nideggener Pfarrkirche abgelegt?« Und laut sagte er: »Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Pfarrer, nehmen wir das Bild zu näheren Untersuchungen mit. Auch den Zettel brauchen wir dringend. Ich hoffe, Sie haben nicht zu sehr daran herumgefummelt.«

»Wie meinen Sie das?« Der Geistliche blickte unsicher drein.

»Ich meine das natürlich im Hinblick auf etwaige kriminaltechnische Untersuchungen, was denn sonst?«

Lorenz wollte kopfschüttelnd noch einiges an die Adresse des Pfarrers loswerden, hielt aber dann inne und beobachtete erstaunt, was Bärbel nun tat. Sie nahm ihr Mobiltelefon, machte einige Fotos von dem Bild und klickte dann an den Tasten des Handys herum. »Was machst du da?«, fragte Lorenz neugierig.

»Moment«, sagte Bärbel. »Ich muss jemanden anrufen.« Dann lauschte sie einen Augenblick und sprach dann: »Hallo Justus, hier Bärbel. Ich habe dir eine MMS gesandt. Schau dir das Bild mal genau an, und melde dich dann bitte so schnell du kannst bei mir. Danke. Tschüss.«

»Was hast du jetzt gemacht?«, fragte Lorenz wieder.

»Nun, ich habe einem ehemaligen Kollegen, genauer gesagt meinem Lehrstuhlnachfolger in Düsseldorf, ein Foto des Bildes zukommen lassen. Bin gespannt, was er dazu sagt. Ich habe ihm bewusst keine weiteren Informationen gegeben.«

»Beeindruckend, was du alles kannst«, staunte Lorenz.

»Ich finde es auf eine beunruhigende Weise beeindruckend, was der Erschaffer dieses Bildes kann«, entgegnete Bärbel. »Ich kenne die Arbeiten Stephan Lochners nicht alle im Detail, aber es ist offensichtlich, dass hier ein Kenner der mittelalterlichen Malerei mit großer Kunstfertigkeit zugange war.«