Omar Khir Alanam:

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 edition a, Wien

Cover: Bastian Welzer

Gesetzt in der Premiera

1    2    3    4    5    —    24    23    22    21

ISBN 978-3-99001-548-3

Omar Khir Alanam

Feig, faul & frauenfeindlich

Was an euren Vorurteilen stimmt und was nicht

Hallo,

danke, dass du mein Buch gekauft hast!

Ich wünsche dir viel Freude beim Lesen.

Über ein cooles Foto mit dem Buch auf Instagram oder Facebook oder eine andere Rückmeldung würde ich mich sehr freuen. :-)

Auch wenn du Freunden von dem Buch erzählst, freue ich mich.

Hoffentlich sehen wir uns einmal bei einer Lesung oder einfach so.

Alles Liebe

Omar Khir Alanam

    Omar Khir Alanam

Mail: omar.khiralanam@gmail.com

Website: www.omarkhiralanam.com

Inhalt

Liebesgedichte

Der doppelte Omar

Muttersöhnchen

Leben mit dem Feind

Sprich Deutsch, Oida!

Das Kopftuch: Frauen tragen es, Männer reden darüber

Eine Geschichte über fünf Freunde

Familienbande

Danke – aber wofür?

Morgen ist schöner

Für die Sonne!

Die Sonne ist nichts als eine Metapher.
Das wahre Gesicht ist das des Gedichtes. Deins!

Liebesgedichte

Alles, das Glück und der Schmerz, die Lieder und die Schüsse, die Lachenden und die Toten, die Verfolgung und die Flucht – das alles begann mit einem Liebesgedicht.

Ich war 16 Jahre alt, als ich meinen Lehrer zu einer Lesung ins al-Assad-Kulturzentrum begleitete. Hätte ich es mir aussuchen können, wäre ich in ein anderes Kulturzentrum gegangen, aber in Syrien waren alle großen Einrichtungen, egal ob Sportstätten, Bildungseinrichtungen oder eben Kulturzentren, nach Baschar al-Assad benannt. Überall wurden wir daran erinnert, dass Assad mehr war als ein Mensch. Er war der Vater unseres Landes, Bewahrer des Friedens und Beschützer unserer Heimat vor den bösen Anderen, vor Israel, Amerika und dem Westen überhaupt. So wie bereits bei seinem Vater, der vor ihm regiert hatte, galt auch Baschar al-Assads Regentschaft als gottgewollt. Nur wenige Jahre später versuchte ich zusammen mit tausend anderen Syrern, diese Regentschaft zu beenden.

Doch an diesem Nachmittag ging es mir nicht um Revolution oder Kunst. Ehrlich gesagt ging es mir nur darum, bessere Noten zu bekommen. In Syrien ist es ähnlich wie in Österreich: Wenn dich ein Lehrer mag, hast du bessere Chancen auf eine gute Note. Und die hatte ich dringend nötig. Also opferte ich einen ganzen Nachmittag, den ich sonst mit meinen Freunden in irgendwelchen Cafés in der Innenstadt von Ost-Ghouta, einer Stadt in der Nähe von Damaskus, verbracht hätte, und hörte mir an, wie ein älterer Dichter seine Liebesgedichte vorlas.

In dem kleinen, stickigen Raum waren einige Stuhlreihen aufgestellt worden. Etwa zwanzig oder dreißig Leute waren anwesend. Darunter entdeckte ich nur zwei Frauen. Der Dichter las über die vielen verschiedenen Variationen der Liebe, über das Verlieben und Sichverlieren, über das Geliebtwerden, das Erwidern der Liebe und die Trauer darüber, wenn diese Erwiderung ausbleibt. Er schrieb auch über die körperliche Liebe, was später zu einer hitzigen Diskussion führte. Wie konnte er solche anrüchigen Stellen in der Gegenwart von Frauen vorlesen? Über Erotik sollte ein Mann nur mit anderen Männern sprechen!

Wider Erwarten gefielen mir die Gedichte. Sie berührten mich. Als Jugendlicher, der ängstlich nach seinem Platz in dieser Welt suchte, gaben sie mir eine Möglichkeit, meine Identität abzutasten. Denn in der Liebe lernen wir viel über uns selbst. Wir lernen, was andere Menschen für uns bedeuten, und über die Grenzen unserer Empfindungen. Wie tief können wir uns in den anderen hineinfühlen? Wir erkennen, dass wir über den Schmerz der geliebten Person weinen, als wäre er unser Schmerz, und wie das Herz springt, wenn sie Freude empfindet. Wir haben plötzlich weniger Angst, weil uns die Welt weniger fremd vorkommt. Die Liebe gibt uns eine Sprache, mit der wir zu uns selbst wie zu anderen sprechen können.

Bereits am nächsten Tag saß ich in dem kleinen Laden, in dem ich damals nach der Schule Solaranlagen verkaufte, und schrieb an meinen ersten eigenen Gedichten.

Das Geschäftsleben funktioniert in Syrien anders als in Europa. Die Läden haben den ganzen Tag über offen, außer am Freitag, wenn wir beten. Doch es kann vorkommen, dass der Verkäufer mal auf einen Kaffee zu seinem Nachbarn geht. Dann muss man warten, bis er wiederkommt, bekommt als Entschädigung dafür aber auch einen Kaffee angeboten. Manchmal hat ein Laden bis Mitternacht offen, wenn viel los ist, und am nächsten Tag schließt er um fünf Uhr. Geschäftszeiten sind wie unsere Launen: Sie ändern sich täglich.

Ich hatte immer schon gerne verkauft. Ich mochte den Kontakt mit Menschen. Und wenn gerade keine da waren, saß ich hinter dem Ladentisch und hing meinen Gedanken nach. Doch an diesem Tag war ich froh über jede Minute, in der ich meine Ruhe hatte. Denn ich schrieb an meinen ersten eigenen Liebesgedichten. Sie waren sehr kindisch, wie Liebesgedichte von 16 Jahre alten Jungen eben sind. Ich schrieb über Mädchen, in die ich mich verliebt hatte, und über Schmerz und Einsamkeit, die ich noch gar nicht wirklich kannte. Doch ich fühlte ein Ziehen und Drängen in meinem Herzen, das sich durch die Fasern meines Körpers schlich und über meine Poren nach außen dringen wollte. Das war die Sehnsucht nach dem Verliebtsein.

Ich wuchs in einer Gesellschaft auf, die auf die Trennung der Geschlechter besonders achtete. Sex vor der Ehe entehrte eine Frau und ihre ganze Familie. Ihre Ehre war immer an ihr Geschlechtsorgan gebunden. Liebe auszuprobieren, dafür gab es keinen Platz. Die Verantwortung, die auf der Liebe lastete, erdrückte sie wie eine Flamme, der man den Sauerstoff entzieht. Ich kannte einige Jungs, die zwar geheime Liebschaften mit Mädchen aus der Stadt hatten, aber darauf bedacht waren, dass ihren eigenen Schwestern kein Junge zu nahe kam. Es war verwirrend und irritierend. Mein Körper, meine Gefühle und mein Gewissen schienen sich nicht verständigen zu können. Ihr Gesang rauschte in meinen Ohren wie das Musikstück eines Orchesters ohne Dirigenten. Diesen rauschenden, betäubenden Gesang versuchte ich in die Schönheit arabischer Schriftzeichen zu verwandeln.

Meine Freunde wussten nichts von meiner neuen Leidenschaft. Ich hatte zu große Angst, dass sie mich deswegen vielleicht auslachen würden. In Syrien ist die Liebe eine komplizierte Sache. Alle Jungs in meinem Alter verzehrten sich nach ihr, dachten Tag und Nacht darüber nach. Doch sie wollten geliebt werden, nicht lieben. Denn lieben bedeutete, sich verletzlich zu machen, sich zu öffnen und sich herzugeben. Lieben bedeutete, hinauszutreten vor andere Menschen und zu sagen: »Seht her, so bin ich. Akzeptiert mich oder nicht.«

Das erforderte Mut, viel Mut, mehr Mut, als die meisten Burschen in diesem Alter aufbringen konnten. Wenn sie die Liebe anriefen, dann versteckten sie dieses Bedürfnis oft hinter Gejohle und Gelächter. Hinter dem, was sie »cool« fanden. Bloß keine Schwäche zeigen. Sie würden bald Männer sein und der Mann muss mit der ganzen großen, weiten, feindseligen, beängstigenden Welt fertigwerden. In Syrien ist diese Welt sogar noch etwas beängstigender als anderswo. Er kann sich keine Schwäche leisten.

Vielleicht aber, denke ich heute, ist die Liebe in Syrien auch nicht komplizierter als in Europa.

Als ich zwei Jahre später an die Universität in Damaskus kam, wusste kaum jemand von meiner heimlichen Liebe zur Dichtung. Bis ich eines Tages mit zwei Mädchen in der Mensa saß, für uns etwas zu trinken holte und meinen Rucksack unbeaufsichtigt ließ. Ich schwöre, dass es keine Absicht war! Mein Notizheft schaute heraus, die Mädchen konnten ihre Neugierde nicht unterdrücken, dachten vielleicht, es wäre ein Tagebuch, und begannen, darin zu lesen. Als ich zurückkam, blickten sie mich verwundert an.

»Wir wussten gar nicht, dass du dichtest, Omar«, sagten sie. Es lag allerdings kein Spott in ihren Stimmen. Sie waren verständnisvoll. Seit diesem Tag konnte ich zumindest mit ihnen über meine dichterischen Versuche sprechen.

Dann kam das, was hier im Westen als Arabischer Frühling bezeichnet wird. Tausende Menschen, viele in meinem Alter, gingen auf die Straße, um für Demokratie und Menschenrechte zu demonstrieren. Sie forderten etwas, so elementar und so überwältigend, dass ein Wort dafür kaum ausreicht: Sie forderten Freiheit. Freiheit, zu denken und auszusprechen, was ihnen auf dem Herzen lag. Freiheit von der Armut und der Unterdrückung, von politischer Willkür und religiösem Fanatismus.

Ich sang und tanzte mit den Menschen, versteckte mich mit ihnen auf Dächern und in Hinterhöfen, ging Seite an Seite mit ihnen durch die Straßen, ohne ein Hemd auf meiner Brust, um zu zeigen: Wir wollen nicht kämpfen. Unsere Revolution war nicht von jener Gewalt getragen, die Assad benutzte, um das Land unter seiner Kontrolle zu halten. Sie wurde getragen von der Liebe zu unseren Mitmenschen.

Zu dieser Zeit erkannte ich, dass meine Liebesgedichte kindliche Versuche gewesen waren, weil sie von nichts anderem als meinem Schmerz und meiner Sehnsucht sprachen. Doch wer über die Liebe schreiben will, muss sie in ihrer ganzen Dimension erfassen. Liebe ist etwas, das eben nicht nur eine einzige Person einschließt. Sie gehört nicht mir allein. Ich muss sie teilen, muss sie weitertragen, verschenken und darauf hoffen, sie auch zu erhalten.

Liebe ist immer politisch. Sie ist die einzige Möglichkeit, den Schüssen des Regimes zu begegnen, ohne uns in das zu verwandeln, wogegen wir kämpfen. Sie allein rettet kein Leben, wenn die Panzer von Assads Truppen durch die Straßen rollen. Doch sie verleiht diesem Leben Bedeutung.

Ich begann, politische Lieder und Gedichte zu schreiben. Meine Kunst hatte nun eine Mission. Sie war noch immer getragen von der Liebe, aber nun hatte sie einen ganz bestimmten Zweck. Ich las auf Demonstrationen und auf Begräbnissen, in geschlossenen Kaufhäusern und in den Zimmern von Freunden. Ich dichtete nicht mehr bloß für mich, sondern für alle, mit denen ich gemeinsam tanzte und trauerte, lachte und litt.

Das ging einige Zeit lang gut. Meine Familie musste zurück nach Ost-Ghouta fliehen, aber ich blieb in Damaskus. Ich wurde getragen von der Hoffnung, etwas ausrichten zu können. Alles schien möglich in diesen Tagen. Ich erlebte unvergleichlich schreckliche Dinge ebenso wie die höchsten Glücksgefühle. Ich erlebte alles wie durch ein Vergrößerungsglas, in nie gekannter Intensität. Alle Farben, Gerüche, alle Sätze und Berührungen schrieben sich in mich ein wie die schlanken Schriftzeichen, die ich täglich in meine Notizhefte malte.

Eines Tages kam ich vom Einkaufen zurück und wollte mit vollgepackten Taschen in die Wohnung meines Onkels. Ich bemerkte sie zu spät. Sie traten zu mir, bevor ich die Eingangstür erreichte. Sie fragten nach meinem Onkel: »Wohnt er hier?«

Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete. Ob ich überhaupt etwas antwortete.

Sie stülpten mir einen Sack über den Kopf und schmissen mich in ein Auto. Ich weiß nicht, warum sie an diesem Tag gekommen waren und wie viel sie über meine Aktivitäten wussten. Das war auch egal. In dieser Zeit waren Gründe und Logik bereits dem Rauch und dem Donner der Kanonen gewichen.

Als ich am nächsten Tag auf einer staubigen Straße ausgesetzt wurde, kam es mir vor, als hätte ich in dieser einen Nacht ein ganzes Leben zurückgelassen. Mir wurde klar, dass ich bald zum Heer eingezogen werden würde, um für jene Menschen zu kämpfen, die ich verantwortlich machte für unser Leid. Ich hätte mich entscheiden müssen, zu töten oder getötet zu werden. Es war der Moment, in dem ich mich dazu entschloss, dieses Land, für dessen Freiheit ich gekämpft hatte, zu verlassen.

Aus Angst, mit ihnen erwischt und dann hingerichtet zu werden, ließ ich alle meine Texte im Haus meiner Eltern zurück. Über den Libanon, die Türkei und die Balkanroute gelangte ich 2014 mit vielen anderen Menschen nach Österreich.

Ich hatte alles in Syrien zurückgelassen: meine Familie, meine Freunde, meine Sprache. Das Einzige, was ich hierher hatte retten können, war meine Zukunft. Ich kam nach Graz, in eine fremde Stadt mit hohen, schneebedeckten Bergen, Pflastersteinen und stillen Gassen. Ich suchte nach Dingen, die mir vertraut waren, und landete in einem Schreibworkshop.

Ich verstand, dass ich in diesem Land eine Stimme haben konnte. Eine Stimme, um Dinge zu sagen, für die ich in Syrien im Gefängnis gelandet wäre. Doch für diese Stimme brauchte ich eine Sprache. Und diese Sprache musste, darauf wiesen mich etliche Plakate und Menschen immer wieder hin, Deutsch sein. Also setzte ich alles daran, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen. Mit YouTube-Videos brachte ich mir Wörter bei, ihre Fälle und Zeiten, lernte die langen Sätze der deutschen Sprache kennen. Sie wirkte fremd, hart und kalt, voller Ecken und Kanten, an denen man sich die Zunge aufschneiden konnte. Nichts war in ihr zu spüren von dem Fluss des Arabischen, der Klarheit und Musikalität meiner Muttersprache. Aber egal, wie musikalisch das Arabische war, im Supermarkt konnte ich mir damit trotzdem nichts kaufen. Also wollte ich so schnell wie möglich Deutsch lernen.

Schon bald begann ich, Gedichte und Texte auf Deutsch zu schreiben. Zuerst nur wenige Seiten, mit denen ich bei Poetry-Slams antrat und die von jenen Themen handelten, die mich bereits in Syrien beschäftigt hatten: Liebe, Identität, Heimat. Doch bald erkannte ich, dass diese Formate nicht genug waren. Ich wollte auch meine Erfahrungen, die ich als geflüchteter Syrer in Europa täglich erlebte, zum Ausdruck bringen. Also schrieb ich zwei Bücher über meine Eindrücke. Sie handeln von den Unterschieden und den Gemeinsamkeiten zwischen dem Leben in Syrien und jenem in Europa und ich hoffe, dass sie meinen Lesern, woher sie auch kommen, zeigen, wie nahe das Fremde oft dem Eigenen ist. Wenn man ihm nur eine Chance gibt.

Seit ich in Österreich lebe, sind mir auf diese Bücher ganz verschiedene Reaktionen begegnet. Ich habe Gastfreundschaft und Wärme erfahren, von Menschen, die mich nicht kannten und mir trotzdem helfen wollten. Genauso begegneten mir rassistische Vorurteile, Ignoranz und sogar Hass.

Mein erstes Buch hieß Danke!. Ich bedankte mich darin bei jenen Österreichern und Österreicherinnen, die mich hier aufgenommen und willkommen geheißen haben. Die mir halfen und mich nicht als Eindringling betrachteten. Für viele Menschen mag das selbstverständlich sein. Warum sich für etwas bedanken, das eigentlich ganz normal sein sollte? Ist es nicht das erste Gebot der Menschlichkeit, Menschen, die vor einem Krieg fliehen und mit nichts ankommen, zumindest eine helfende Hand zu reichen? Ja, eigentlich schon. Aber eigentlich ist eines dieser deutschen Spezialwörter. Damit wird ausgedrückt: So könnte die Welt aussehen, wenn wir nur etwas mehr Glück hätten.

Die Realität sieht nun mal anders aus. Also entschied ich mich dafür, ein Buch der Liebe und der Dankbarkeit zu schreiben. Weil ich Menschen Hoffnung machen wollte. Sowohl den Europäern, dass ihre Unterstützung nicht umsonst ist, als auch Geflüchteten, dass dieses Land hier ihre neue Heimat werden kann.

Die Reaktionen auf das Buch erstaunten mich. Vielen Menschen schien es aus dem Herzen zu sprechen. Ich wurde in TV-Shows eingeladen, zu Podiumsdiskussionen und zu zahlreichen Lesungen. Offenbar fanden es die Menschen erfrischend, einmal nicht nur über die zahlreichen Probleme zu lesen, die es nach wie vor im Umgang mit Geflüchteten gibt, sondern darüber, wie man eine neue Heimat finden kann.

Doch nicht alle Reaktionen auf das Buch waren positiv. Die Einladungen zu Poetry-Slams wurden weniger. Europäer und Europäerinnen, die sich nach außen für die gleichen Dinge wie ich einsetzten, warfen mir plötzlich so etwas wie »Verrat« vor. Wie konnte ich mich, als Syrer, bei den Österreichern und Österreicherinnen bedanken? Sind das nicht alles fremdenfeindliche und islamophobe Rassisten?

Auch in der arabischen Community sahen es einige Leute ähnlich. Nach Erscheinen des Buches war ich in Wien auf einem kleinen Straßenfest, bei dem auch eine Band aus Syrien spielte. Ich kannte einen der Musiker. Wir saßen zusammen und unterhielten uns, sprachen über unsere Familien, unsere Heimat und unser neues Leben hier in Österreich. Das führt bei uns immer unweigerlich dazu, dass der eine den anderen nach Hause einlädt. Da die Wohnung meines Freundes gleich um die Ecke lag, gingen wir zu ihm. Dort lernte ich seine ganze Familie kennen. Es wurde gekocht und es gab Tee. Als wir beim Tee saßen, sprach mich der Musiker auf mein Buch an.

»Du bedankst dich also bei den Österreichern?«, fragte er voller Spott. »Wofür? Sie beschimpfen uns auf den Straßen, beleidigen unsere Religion und ihre Lebensweise ist haram.«

Dass der Mann so redete, machte mich wütend. Die von ihm beschriebenen Erfahrungen hatte auch ich gemacht. Aber ich dachte an meine österreichischen Freunde, vor allem an Alena, in die ich mich verliebt hatte, und Ruth, ihre Mutter, die mich wie einen Teil ihrer Familie behandelte. Er meinte doch sicherlich nicht diese Österreicher?

Kurz erschrak ich ein wenig über mich selbst. Verteidigte ich, als Syrer, Österreicher gegen meine eigenen Landsleute? War das der »Verrat«, der mir vorgeworfen wurde?

Doch das stimmte nicht. Ich hatte meine syrischen Freunde unzählige Male gegen Österreicher verteidigt – gegen Türsteher, die »Typen wie uns« nicht in Clubs lassen wollten, gegen Polizisten, die meinten, solche wie wir hätten sicher etwas angestellt, gegen rechte Politiker, die uns am liebsten allesamt aus dem Land schicken würden, gegen alte Männer in Supermärkten, die uns erklärten, mit diesen Haaren und dieser Hautfarbe gehörten wir nicht hierher.

Und plötzlich wurde mir klar, dass beide Seiten auf genau die gleiche Weise argumentieren konnten: Es waren die Araber, die allesamt feig, faul und frauenfeindlich waren. Und alle Österreicher waren rassistisch, verweichlicht und ungläubig.

Diese Erkenntnis brachte mich schließlich dazu, dieses Buch zu schreiben. Es sind Vorurteile und Verallgemeinerungen, die von beiden Seiten, sowohl der arabischen Community wie auch den Europäern, genutzt werden, um jede Diskussion zu beenden, noch bevor sie überhaupt anfangen konnte. Wie die anderen sind, das weiß man sowieso. Man braucht sich gar nicht die Mühe machen, einen genaueren Blick auf sie zu werfen.

In meinem zweiten Buch Sisi, Sex und Semmelknödel tastete ich mich vor in die österreichische Seele, die einige Überraschungen für mich bereitgehalten und von der ich seit meiner Ankunft einiges aufgenommen hatte.

Nun war es an der Zeit, mich mit meiner eigenen, der arabischen, Community auseinanderzusetzen. Das ist ein heikles Thema, denn wir Araber sind in Europa eine Minderheit. Das bedeutet nicht bloß, dass wir zahlenmäßig viel weniger sind. Es bedeutet auch, dass wir öfter Diskriminierung ausgesetzt sind – egal ob in der Schule, dem Beruf oder einfach auf der Straße. Ein Mensch namens Huber wird einen Job tendenziell eher bekommen als ein Mensch namens Alanam, auch wenn sie die gleichen Qualifikationen besitzen. Ein Omar wird tendenziell schneller angeklagt als ein Josef und taucht somit eher in einer Statistik auf. Das sind Fakten, die mittlerweile gut untersucht sind.

Wir müssen ständig gegen Vorurteile ankämpfen, die oft wie selbsterfüllende Prophezeiungen wirken. Sie zwängen uns in ein Lebensmodell, das von anderen für uns entworfen wurde.

Laut dem Integrationsbarometer 2021, das vom Österreichischen Integrationsfonds erstellt wird und für das 1.000 österreichische Staatsbürger ab dem 16. Lebensjahr zweimal im Jahr zu verschiedenen Themen befragt werden, steigt die Wichtigkeit von Integrationsthemen wieder an. Nach dem Klima ist die Migration das große Thema der nächsten Jahre. Nach dem Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan und der instabilen Lage dort wird Europa bald erneut mit Zuwanderung konfrontiert sein.

Doch wie denken die Menschen in Österreich darüber? Vor allem die »Verbreitung des politischen Islam« und die »Integration von Flüchtlingen und Zuwanderern« erfüllen sie mit Sorgen. Das Zusammenleben zwischen Österreichern und Migranten wird vermehrt als schlecht wahrgenommen. Als größtes Problem gilt die Stellung der Frau, aber auch kulturelle und sprachliche Unterschiede, Gewaltbereitschaft und Kriminalität spielen eine Rolle. 72 Prozent der Befragten gaben gar an, dass es in Österreich eine Parallelgesellschaft gibt.

Auch danach, was »gute Integration« ausmacht, wurden die Menschen gefragt. Ihre Antworten: Anerkennung der Gesetze, Arbeit zu haben, die »österreichischen Werte« zu akzeptieren und die deutsche Sprache zu beherrschen. Die Befragten gaben auch an, dass islamischer Religionsunterricht verstärkt vom Staat kontrolliert werden sollte.

Genau auf diese Sorgen möchte ich mit meinem Buch reagieren. Dabei möchte ich sie einer kritischen Betrachtung unterziehen. Kritisch prüfen, was nicht stimmt, aber auch aufzeigen, was davon reale Probleme darstellt. Denn viele Politiker sehen die Lösung darin, Probleme totzuschweigen oder unsere Community für heilig zu erklären. Ich verstehe, woher diese Angst kommt. Aber damit überlassen wir das Feld völlig den rechten Politikern, die damit in den letzten Jahren große Erfolge gefeiert haben. Und langfristig ist das die schlimmste Alternative.

Denn wir sind nicht bloß arme Opfer. Diese Sichtweise entmenschlicht uns genauso, wie uns Araber für alles verantwortlich zu machen, was in diesem Land schiefläuft. Selbst in Coronazeiten war das so: Immer wenn die Fälle anstiegen, musste das mit Leuten zu tun haben, die entweder aus ihrer »eigentlichen« Heimat wieder nach Österreich zurückkamen und das Virus einschleppten. Oder es handelte sich um Menschen, die zwar in Österreich lebten, aber nichts von der österreichischen Hygiene verstanden. Die ist ja weltberühmt, dafür muss man nur in Ischgl nachfragen.

Dass Araber oder andere Menschen mit Migrationshintergrund schuld daran sind, dass die Zahlen steigen, ist völliger Blödsinn. Doch es stimmt, dass in der arabischen Kultur das soziale Zusammenleben eine größere Rolle spielt als in der europäischen. Das führt oft zu viel Kontakt. Dieser Kontakt ist ein Netz, das uns absichert und uns hilft. Doch in Coronazeiten konnte dieses Netz auch zu einer Falle werden.

Dieses Beispiel zeigt gut, wie aus einem Aspekt unseres Zusammenlebens ein Vorurteil entsteht. Niemand macht sich die Mühe, die Gründe dafür zu erfragen. Alles, was bleibt, ist die bösartige und falsche Botschaft: Die Ausländer sind am Anstieg von Corona schuld.

Genau solche Vorurteile vergiften das Zusammenleben zwischen Europäern und Arabern. Sie führen dazu, dass die gegenseitige Ablehnung immer stärker wird und das gemeinsame Zusammenleben immer schwieriger. Ich werde den Versuch wagen, solche Vorurteile näher zu betrachten und als Araber zu sagen, was dran ist und was nicht. Wie feig, faul und frauenfeindlich sind Araber wirklich?