Phoenixgirl
von
Natasha Doyle
Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, geschilderten Schauplätze, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden.
Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Ereignissen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Covergestaltung: Tom Jay - bookcover4everyone / www.tomjay.de
Copyright für das Bild: © Jag_cz - Fotolia.com
KAPITEL 1
„Milch.“ Ich reiche sie ihm. „Gib mir mal bitte die Milch“ oder wenigstens ein Blick, der mir gilt und nicht der Zeitung, sind zu viel erwartet.
Es ist, als wäre ich nicht da oder vollkommen egal, ob ich es bin oder irgendwer anders, solange er seine Milch bekommt. Selbst die Kaffeetasse bekommt mehr Aufmerksamkeit als ich – seine Ehefrau.
„Heute Abend wird es spät, warte nicht auf mich. Ich habe da noch ein Treffen mit Kollegen.“
Hält er mich tatsächlich für so dumm? Einen Moment will ich fragen, ob heute Diana oder Kelly an der Reihe ist, aber das würde nur zu Streit führen. Vor allem würde es nichts ändern.
Mein Mann ist Arzt. Um genau zu sein – Schönheitschirurg. Ein sehr erfolgreicher. Er ist jeden Tag umgeben von Geld, Schönheit und Jugend. Letzteres in Form von Krankenschwestern und Assistentinnen, von denen er mit jeder Einzelnen schon irgendwann mal was hatte.
Es ist eine gut laufende Klinik und sie gehört ihm. Eric hat sie von seinem Vater geerbt. Arzt in der dritten Generation.
Mein Vater ist auch Arzt, ein normaler Chirurg. Genauso erfolgreich, aber nur wohlhabend und nicht reich. Die Männer verstehen sich großartig. Mich versteht keiner von beiden. Aber es ist ihnen auch nicht wichtig. War es nie.
„Und kauf nicht wieder diese Frühstücksflocken, die sind widerlich.“
Die liebevolle Mitteilung erreicht mich, kurz bevor sich die Haustür schließt. Nicht eine Frage zu meinen Tagesplänen oder meinem Wohlbefinden, keine Begrüßung, keine Verabschiedung und erst recht kein Kuss.
Ich trinke den letzten Rest meines Kaffees aus und räume dann den Tisch ab. Wir haben keine Haushaltshilfe. Selbstverständlich könnte sich Dr. Langley eine leisten und das würde er auch gern. Aber das ist so ziemlich der einzige Streit, den ich für mich entschieden habe.
Ich werde keine seiner Liebschaften in meinem Haus dulden. Natürlich könnte ich darauf bestehen, dass die Frau älter wäre und genauso unattraktiv wie ich, aber ich brauche keine Zuschauer bei dem Theaterstück, das sich mein Leben nennt.
Wieso ich mich als unattraktiv bezeichne? Das tue ich gar nicht, sondern Eric und das jeden Tag. Ich glaube, das erste Mal war in unserer Hochzeitsnacht.
Ich bin einen Meter fünfundsechzig groß und wiege inzwischen achtzig Kilo. Fett, über dessen Absaugung mein Mann mir gerne einen Vortrag hält. Der Hauptteil davon ist aus Frust entstanden. Das ist zu viel für die öffentliche Meinung und ganz sicher zu viel, um für einen Schönheitschirurgen vorzeigbar zu sein. Ich bin dick, aber das macht mich doch nicht hässlich.
Bevor ich geheiratet habe, hatte ich eine Menge Verehrer. Nicht jeder steht auf 'Skelett im Bett'. Damals waren es nur zehn bis fünfzehn Kilo mehr, als die Medien vorgaben, aber das hat mich nie gestört. Dann kam Eric und auch er hat gesagt, dass er mich schön findet. Und er hat gesagt, dass er mich liebt.
Das war der Grund, aus dem ich seinen Antrag angenommen habe. Für mich kam immer nur eine Liebesheirat infrage. Die Hochzeit war unglaublich romantisch und genauso wie ich mir das immer vorgestellt habe. Fünf Jahre lang lief alles sehr gut und wir waren glücklich.
Nein, das stimmt so nicht. Ich war glücklich. Bis ich herausgefunden habe, dass mein Mann mich seit Monaten betrügt.
Eric ist zehn Jahre älter als ich, also einundfünfzig, und die sieht man ihm auch an. Er hat einen sehr sichtbaren Bauchansatz und der wird auch nicht verschwinden. Mein Mann hasst Sport und er würde sich nie operieren lassen. Schon gar nicht in seiner eigenen Klinik. Aber bei ihm scheinen die überschüssigen Pfunde keine Rolle zu spielen. Weder aus seiner Sicht, noch aus Sicht irgendeines anderen Menschen. Ich schätze, reich und ein Mann zu sein, relativiert eine Menge.
Vor einundzwanzig Jahren, als wir uns kennenlernten, war er fast zu schlank und er kam nie zur Ruhe. Ist ständig hin und her gerannt und hat alle mit seiner Hektik angesteckt. Wir sind uns in meinem Krankenhaus begegnet. Nein, es gehört mir nicht. Ich arbeite da nur.
Ich war Schwester – das bin ich auch heute noch – und er wurde als Facharzt zu einem Verbrennungsopfer hinzugezogen, das ich betreut habe. Da ich die ausgeglichenste Person von uns Schwestern war, hat man mich gebeten, mich um den Stressarzt zu kümmern. Und so kam es denn, dass wir mehr miteinander zu tun hatten, als das normalerweise der Fall gewesen wäre. Ich habe ihn dazu gebracht, mit mir zu reden - sowas kann ich gut - und habe ihm zugehört.
Das Hauptproblem war sein Vater, der ihm Druck machte, ins Familienunternehmen einzusteigen. Eric wollte das damals nicht. Er hatte große Ideale, wollte etwas bewirken und Gutes tun. Zum Beispiel in Kriegsgebiete fliegen und entstellten Opfern ihr Gesicht zurückgeben. So hat er sich ausgedrückt. Oder in Afrika den Ärmsten helfen, Babys mit offenem Rachen zum Beispiel. Das hat mich beeindruckt und ich überlegte sofort, ob ich dazu bereit wäre.
Dr. Langley Senior waren Kriegsopfer und afrikanische Babys vollkommen egal. Sein Leben drehte sich ausschließlich um die Klinik und das hatte bei seiner Familie gefälligst genauso zu sein. Das war etwas, das ich nur zu genau kannte. Meinem Dad gehörte zwar keine Klinik, aber als Chirurg war er ständig auf Abruf und dem hatten wir uns unterzuordnen.
Kurz: Ich verstand Eric tatsächlich und wir redeten viel. Wir gingen miteinander essen, spazieren und tanzen. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, aber wir wuchsen einander ans Herz und daraus entwickelte sich dann irgendwann etwas Größeres. Ein Jahr später haben wir geheiratet.
Eric hatte sehr klare Vorstellungen von unserem Eheleben. Leider hatte er mir die vorher nicht mitgeteilt, sonst hätten wir vermutlich nicht geheiratet. Der Einfluss unserer Eltern ist groß, sie haben uns erzogen und uns ihre Werte mitgegeben. In unserem Fall bedeutete das, als Arztfrau bekommst du Kinder, kümmerst dich um den Haushalt und um deinen Gatten und bleibst zuhause. Wo du natürlich wahnsinnig glücklich bist.
Auch das war und ist bei meinen Eltern genauso. Allerdings hat deren Vorbild bei mir dazu geführt, dass ich gleich nach der Schule eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht habe. Ich wollte nicht wie meine Mutter enden. Denn, egal was sie erzählt, sie war nie glücklich mit ihrer Rolle im Leben.
Ich habe noch einen großen Bruder, der natürlich Arzt ist. Er ist nach New York gegangen und fühlt sich da sehr wohl. Seine Frau ist auch Ärztin und allein damit hat er den Teufelskreis der elterlichen Konditionierung durchbrochen. Sie sind Partner, treffen sich auf Augenhöhe und haben gemeinsame Ziele. Sie haben zwei Kinder, denen sehr viel gesündere Werte beigebracht wurden als uns.
Eric und ich haben keine Kinder. Wahrscheinlich ist das Teil dessen, was zum Versagen unserer Ehe beigetragen hat. Ich kann keine bekommen. Umso glücklicher war ich, dass ich meine Arbeit habe. Ich kam mir nie nutzlos vor, weil ich den Anforderungen nicht entsprach. Ich war traurig, aber letztendlich arbeite ich im medizinischen Bereich und da lernt man, sich damit abzufinden, dass es Grenzen gibt. So wie nicht jeder geheilt werden kann, ist eben auch nicht jede Frau dazu in der Lage Kinder zu bekommen.
Adoption kam für Eric nicht infrage. Es ging schließlich um die Weitergabe seiner Gene und nicht darum, ein Kind zu lieben und eine Familie zu sein. Da habe ich das erste Mal darüber nachgedacht, was er eigentlich in mir sah. Ob er mich überhaupt sah.
Den ersten richtigen Streit hatten wir, als ich mich weigerte, alles auszuprobieren, was die Medizin bot, um doch schwanger zu werden. Gegen verengte, muskelschwache Eileiter kann man nicht viel machen. Das ist angeboren. Ich hatte in meiner Jugend recht häufig Eierstockentzündungen und das hat sich auch auf die Eileiter ausgewirkt. Die haben sich verschlossen, was man operieren kann. Stundenlange mikrochirurgische Eingriffe mit fraglichem Erfolg.
Außerdem hätte das nichts an den restlichen Bedingungen geändert und die Wahrscheinlichkeit dann ein Kind austragen zu können, war sowieso nicht sehr hoch. Ich wollte mir das alles nicht antun und habe mich damit abgefunden, kinderlos zu sein. Ich habe Patienten, die ich umsorge, wer braucht da Kinder?
Und genau die warten auf mich. Ich liebe meinen Job und meine Schicht beginnt in einer Stunde. Zeit, sich fertig zu machen und alle persönlichen Querelen für den Moment zur Seite zu schieben. Ich habe darin viel Übung, ich mache das schließlich seit fünfzehn Jahren.
***
„Du sollst dich in der Notaufnahme melden“, sagt Stephanie, Kollegin und beste Freundin. „Dein Lieblingspatient ist da und er will unbedingt von dir verbunden werden.“
„Lewis Coster?“, frage ich nach, obwohl es da eigentlich keinen Zweifel gibt.
Steph grinst. „Genau der. Dein Pirat wartet, holde Jungfrau.“
„Ich hätte dir das nicht erzählen sollen“, sage ich und sehe sie böse an. Das hält aber nicht lange, ich bin ja nicht böse auf sie. Vor allem nicht, weil sie recht hat.
Ich lese Unmengen von diesen Piraten-Liebesromanen. Vor allem die, in denen der wilde Kerl die Lady rettet und mitnimmt. Die Lady lebt in einer lieblosen Ehe und ihr Mann hat sie sowieso nicht verdient. Viele Parallelen zu meinem Leben? Genau deswegen lese ich das ja. Bisher ist mir nur noch kein rettender Pirat untergekommen. Was nicht nur deswegen schwierig ist, weil wir sehr fern von großen Gewässern leben.
„Los jetzt, bevor der Mann verblutet oder was auch immer sein Wehwehchen ist.“ Sie lacht und gibt mir einen leichten Schubs.
Vor ungefähr einem Jahr war Lewis Coster angeschossen worden, was ihm einen Leberriss eingebracht hatte. Er wäre fast gestorben. Ein paar Tage sah es wirklich nicht gut aus und der zuständige Arzt hat ihn in ein künstliches Koma versetzt. Mr. Coster hat überlebt, was ich in erster Linie seiner Dickköpfigkeit zuschreibe.
Die bringt mich jetzt auch dazu, schleunigst in die Notaufnahme zu laufen, bevor der Kerl irgendein Körperteil verliert, weil er außer mir niemanden an sich heranlässt.
Ich sehe ihn durch die Glastür auf einer Pritsche sitzen. Um seine Hand hat er ein blutiges Handtuch gewickelt. Die Augen sind geschlossen und die Falten in seinem Gesicht sehen tiefer aus als üblich. Er hat Schmerzen. Dummer, dummer Mann, warum lässt du dir nicht helfen?
Mein Ego schlägt allerdings Purzelbäume und nicht nur das. Ich fürchte, ich habe mich ein bisschen in den Kerl verguckt.
Coster ist nicht schön, aber unglaublich männlich. Trotz seiner siebenundfünfzig Jahre strahlt er Kraft und Selbstsicherheit aus. Eigentlich mag ich es nicht, wenn Männer lange Haare haben, aber bei ihm passt es. Sie sind ja auch noch sehr dicht und sein Zopf kein Rattenschwanz, sondern definitiv mit dem eines Pferdes vergleichbar.
Bei Schwanz und Pferd komme ich plötzlich auf ganz andere Ideen, für die ich mich schämen sollte. Immerhin bin ich verheiratet und Mr. Coster ein Patient. Auch wenn ich schon sehr oft von ihm geträumt habe – auch im Piratenoutfit.
„Mister Coster, was haben Sie sich diesmal antun lassen?“, frage ich gutgelaunt, sobald ich das Behandlungszimmer betrete. Wenn er was Gefährliches hätte, hätte keiner der Ärzte mit sich diskutieren lassen und er wäre auch ohne mich behandelt worden.
Die Augen gehen sofort auf und ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen. Er lächelt selten und ich habe ihn noch nie lachen hören. Der Mann hatte hier ja auch nicht viel zu lachen.
„Du hattest versprochen, mich Lewis zu nennen“, sagt er, wickelt das Handtuch ab und hält mir seine Hand hin.
Hatte ich, aber ich trau mir nicht über den Weg, was ihn betrifft. Ihn beim Vornamen zu nennen, schafft zusätzliche Nähe und heizt meine Träume vermutlich weiter an.
Als ob das überhaupt möglich wäre. Du hast gestern geträumt, dass er dich an einen Baum drückt und von hinten nimmt - in einem öffentlichen Park, mit einer Menge Besucher. Und du hast es geliebt.
Ich verdränge diese Erinnerung, bevor sie mir die dazu passenden Bilder offeriert und schalte in den Schwesternmodus. Vorsichtig nehme ich seine Hand in meine und sehe sie mir an. Ein kurzer, aber sehr tiefer Schnitt, quer über die Handfläche.
„Das muss genäht werden“, sage ich. „Aber das hat Ihnen der Doktor sicher schon gesagt.“
Er nickt. „Mach du es.“
Keine Frage, sondern eine Anweisung. Aber es stört mich nicht, obwohl ich normalerweise keine Befehle von Patienten entgegennehme.
Da es noch ein bisschen blutet, hole ich Mull und drücke ihn auf den Schnitt.
„Bin gleich wieder da.“
Ich suche mir einen der Ärzte und hole mir die Erlaubnis ein, nähen zu dürfen.
„Gott sei Dank, ja bitte, tun Sie das. Wir haben gerade mehrere Verletzte reinbekommen.“ Er ist schon halb den Gang runter, da dreht er sich nochmal um. „Autounfall.“
Lewis Coster gehört also ganz mir.
Ich gehe zurück zu ihm, bleibe aber nochmal vor der Glastür stehen, um ihn einfach nur anzusehen.
Die letzte Rasur scheint ein paar Tage her zu sein. Ein dunkler Schimmer liegt auf Kinn und Wangen. Eric würde nie mit Bartstoppeln aus dem Haus gehen. Lewis‘ Augenbrauen sind buschig und genau wie bei seinem Zopf von Grau durchzogen. Die Nase ist das Markanteste in seinem Gesicht, groß und kühn geschwungen. Seine Augenfarbe ist ein dunkles Braun, umgeben von schwarzen Wimpern. Das Grau hat es noch nicht bis hierhin geschafft. Mir gefällt alles an ihm, am besten aber sein Mund.
Erics Lippen sind schmal und wenn er sie wütend aufeinanderpresst, wirkt es manchmal, als ob er überhaupt keine hätte. Lewis' Mund ist groß und passt zur Nase. Ich denke, selbst wenn er die Lippen zusammenpressen würde, wäre noch genug zu erkennen, um ihn nicht merkwürdig aussehen zu lassen.
Ich weiß, dass er für sein Alter ziemlich muskulös ist und er hat eine kleine Speckrolle, aber wen stört das? Mich jedenfalls nicht. Während meiner Nachtwache an seinem Bett habe ich ihn stundenlang betrachtet. Ich kenne jede einzelne Linie in seinem Gesicht. Da ich ihn auch gewaschen habe, weiß ich sogar, wie der Rest seines Körpers aussieht. Zumindest der obere Teil.
Die Notoperation hat ihm eine Narbe beschert, direkt unterhalb der Rippen. Da, wo die Leber sitzt. Es ist nicht seine Einzige. Abgesehen von Narben hat er ein paar Tattoos. Unter einem Schriftzug, der Devils forever lautet, ist ein Teufelskopf abgebildet. Keine Ahnung, welche Bedeutung das hat. Aber es scheint ihm wichtig zu sein, denn es befindet sich genau da, wo sein Herz ist.
Ich gebe zu, ein paar Mal war ich in Versuchung, die Pyjamahose anzuheben und nachzusehen, wie es darunter aussieht. Aber das wäre ein Übergriff, der sexuellem Missbrauch viel zu nahe kommt. Man benutzt keine hilflose Person, um seine Neugierde zu befriedigen. Man benutzt Menschen überhaupt nicht. Punkt.
Entschlossen öffne ich die Tür und trete ein.
„Und?“, fragt Lewis.
„Erlaubnis wurde erteilt“, sage ich zackig und lächle ihn an. „Es wird nicht lange dauern. Haben Sie irgendwelche Allergien?“
Ich könnte in seiner Patientenakte nachsehen, aber so geht es schneller.
Er schüttelt den Kopf und gibt dann zögernd, aber mit großer Inbrunst, zu: „Ich hasse Spritzen.“
„Hass oder Angst?“
Seine Lippen verziehen sich wieder zu einem kleinen Lächeln. Er sieht mir direkt in die Augen und sagt: „Es gibt so gut wie nichts, das mir Angst macht, Kate.“
Ich weiß nicht, was es ist – wie er meinen Namen ausspricht, die Stimme oder dass er behauptet, furchtlos zu sein -, aber mir läuft ein erregender Schauer den Rücken herunter.
Irgendwas stimmt nicht mit dir, denke ich und bin ein wenig entsetzt über meine Reaktion.
Anstatt die Sache auf sich beruhen zu lassen, mache ich die Spritze fertig, drehe ihm dabei den Rücken zu und frage: „Was macht Ihnen denn Angst?“
„Lass die Förmlichkeiten, Kate. Frag mich nochmal.“
Ich merke, dass ich die Schultern hochziehe, lockere sie bewusst und wiederhole meine Frage.
„Was macht dir Angst, Lewis?“
„Dass ich jemanden, den ich liebe, nicht retten kann.“
Pirat.
Ich unterdrücke ein breites Grinsen und bin sehr froh, dass ich immer noch mit dem Rücken zu ihm stehe. Länger kann ich meine Vorbereitungen nicht ausdehnen, also gehe ich zu ihm zurück, meine Gesichtszüge fest unter Kontrolle.
Die Spritze erträgt er, ohne sich zu rühren, wendet aber den Kopf ab. Beim Nähen dagegen sieht er interessiert zu. Also keine Probleme mit Blut, registriere ich sachlich.
Während der Behandlung reden wir nicht. Es dauert nicht lange, bis ich fertig bin. Schade. Eigentlich will ich mich nicht von ihm trennen.
Da stimmt was ganz gewaltig nicht mit dir.
Lewis nimmt seine Lederjacke und eine Weste?, drapiert sie über seinem Arm und greift nach meiner Hand.
„Falls du mal Abwechslung brauchst – oder ein Abenteuer“, sagt er grinsend, „ruf mich an.“
Dann schreibt er mit einem Kugelschreiber seine Telefonnummer auf meinen Unterarm, zwinkert mir zu und geht.
Abwechslung oder ein Abenteuer. Meint er, was ich denke, dass er meint?
Wenn ja, hat er mir gerade angeboten, meinen Mann zu betrügen. Dass ich verheiratet bin, ist nicht zu übersehen. Ich trage einen sehr auffälligen Ring an dem entsprechenden Finger.
Er weiß es. Aber es ist ihm egal.
Pirat, denke ich und diesmal muss ich mein Grinsen nicht verstecken.
Ich nehme mein Telefon und übertrage die Zahlen. Nachdem ich sie mehrfach kontrolliert habe, entferne ich sie von meinem Arm. Obwohl ich sie gerne da gelassen hätte. Wie ein verrückter Fan, der das Autogramm seines Idols für immer auf seiner Haut haben will.
„Schwester Kate“, sage ich streng zu mir. „Du wirst ihn nicht anrufen.“
Den restlichen Tag denke ich an nichts anderes, als an ein Abenteuer mit dem Mann, von dem ich regelmäßig träume.
KAPITEL 2
LEWIS
Vor dem Krankenhaus wartete Runner auf ihn. Sein Sohn hatte ihn hergebracht, aber keine Lust drinnen zu warten. Stattdessen lümmelte er auf einer der Bänke herum.
„Alles noch dran?“, fragte er und nickte zu Lewis' Hand, die in einem Verband steckte.
Er hielt das für eine überflüssige Maßnahme, aber Kate hatte sehr nachdrücklich darauf bestanden und Lewis hatte keinen Grund gesehen, sich mit ihr deswegen zu streiten. Obwohl er in Versuchung geraten war, die Frau dazu zu bringen, ihre professionelle Ruhe abzulegen. Lewis wollte wissen, wie es darunter aussah. War sie so leidenschaftlich, wie er glaubte?
„War nur ein Kratzer“, sagte Lewis und drehte sich zum Wagen um. Er wollte nach Hause.
Runner folgte ihm.
„Du hättest auch einfach sagen können, dass du keinen Bock auf Gartenarbeit hast“, bemerkte er grinsend und stieg auf der Fahrerseite ein. Lewis grummelte unverständlich und setzte sich auf den Beifahrersitz.
Er hatte einen Ast entfernen wollen, war mit der Säge abgerutscht und hatte sie sich in die Hand gehauen. Das passierte, wenn man nicht hundertprozentig bei der Sache war. Er wollte sich nicht vor der Arbeit drücken, er war sogar sehr gern im Garten. Da quatschte einen niemand voll und man sah am Ende des Tages, was man erledigt hatte.
Nebenbei übers Älterwerden nachzudenken, war nicht seine beste Idee gewesen. Aber ab und zu überfielen ihn diese Gedanken. Besonders seit dem Vorfall mit Shussler. Das Leben konnte von einem Moment auf den anderen zu Ende sein. Nicht, dass ihm das bisher nicht schon klar gewesen war. Aber die Sache hatte es in den Vordergrund gerückt.
Lewis war für einen kurzen Augenblick tot gewesen. Sowas veränderte einen Mann. Es ließ einen auch ein paar Gewohnheiten infrage stellen. Sein Sexleben zum Beispiel.
Das war zwar in den letzten Monaten deutlich ruhiger geworden - zuerst hatte er damit zu tun gehabt sich zu erholen und daran keinen Gedanken verschwendet -, aber sobald er körperlich wieder in der Lage gewesen war, hatte sein kleiner Freund Bedürfnisse angemeldet. Lewis war der älteste Devil in Twin Falls, aber so alt dann doch wieder nicht, dass es nicht eine Anzahl Freiwillige gegeben hätte, um diese zu stillen.
Er hatte also eins von den Mädchen mit in sein Bett genommen. Technisch war alles in Ordnung gewesen und es war auch nett. Besonders nach der langen Durststrecke. Allerdings war ‚nett‘ nicht wirklich befriedigend. Dann hatte er sich ihr Geplapper anhören müssen und gemerkt, dass er dafür ganz sicher zu alt war.
Wann hatte er das letzte Mal mit einer Frau geschlafen, die älter als fünfundzwanzig war? Und wo er gerade dabei war, wann hatte er mit einer geredet? Womit mehr als 'ich nehm einen Burger und Pommes' gemeint war.
Gedanklich landete er immer wieder bei Schwester Kate. Sie hatte ihn wochenlang gepflegt. Gut, dafür wurde sie bezahlt, aber sie hatte auch mit ihm gesprochen. Über Dinge, die ihn interessiert hatten. Dass sie ihn körperlich anzog, kam noch dazu.
Die Mädchen im Club waren alle schlank, beinahe dünn. Selbst wenn er sich die 'dickste' von ihnen aussuchte, konnte er immer noch die Rippen unter seinen Händen spüren. Ein dämlicher Modetrend, der kein Ende zu nehmen schien.
Lewis hatte schon immer Frauen bevorzugt, die auch wie welche aussahen. Üppige Brüste, ein Hintern, der locker beide Hände füllte und eine Taille, in die man so richtig reingreifen konnte. Kate war sein wahr gewordener Traum.
Dazu war sie verheiratet, was sie in seinen Augen geradezu perfekt machte. Kate würde von ihm nicht mehr wollen als eine Affäre. Wenn sie sich denn darauf einließ. Lewis hatte den Anfang gemacht, der Rest lag ganz allein bei ihr.
***
Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich auf die Stelle auf meinem Arm starre, wo die Telefonnummer gestanden hat - aufgeregt und ängstlich. Natürlich werde ich ihn nicht anrufen. Ich bin verheiratet und egal, wie meine Ehe aussieht, ich habe meinem Mann Treue geschworen.
Er dir auch und das ist ihm seit Jahren scheißegal.
Ich ignoriere den berechtigten Einwand der Region in meinem Gehirn, die seit dem Treffen mit Lewis Transparente ausrollt und Fahnen schwenkt, weil sie total dafür ist, mich auf ein Abenteuer einzulassen.
Mein Kleid habe ich anscheinend mit dem Gedanken an meinen Patienten ausgewählt. Es ist dunkelrot und enganliegend. Es betont jede Kurve meines Körpers und auch die Stellen, die mein Mann als 'fette Schwimmringe' bezeichnet. Würde Lewis mich mit Bewunderung ansehen oder mit der gleichen Abwertung wie Eric?
Ich betrachte den Gesamteindruck im Spiegel. Meine Beine sind schön, das sagt selbst der Mann, der immer etwas an mir auszusetzen hat. Meine Haare sind lang, sie enden auf der Hälfte des Rückens. Ein uninteressantes Hellbraun, aber ich halte nichts davon künstlich zu ändern, was einem die Natur mitgegeben hat. Sie sind fein und seidig, es ist schwer, sie zu flechten. Deshalb trage ich sie meist offen oder mache einen einfachen Pferdeschwanz, wenn ich arbeiten muss zum Beispiel.
Früher war ich unzufrieden. Ich wollte dicke Haare, am besten Locken. Aber man will ja immer das, was man nicht hat.
Mein Gesicht sieht aus wie mit zwanzig. Bis auf die kleinen Krähenfüße in den Augenwinkeln. Aber irgendwo muss man mir die einundvierzig Jahre ja ansehen. Ich kenne gleichaltrige Frauen, die den Hauptteil ihres Lebens mit Diäten verbracht haben. Manche von ihnen sehen sehr viel älter aus als sie sind. Ich schätze, der Körper mag es nicht, so gequält zu werden.
Ich habe eine Stupsnase, die aber gut zu den runden graublauen Augen passt und dem herzförmigen Mund. Selbst meine Sommersprossen und ich haben sich mit der Zeit arrangiert. Es hat zehn Jahre oder mehr gebraucht, bis ich soweit war, mich nicht mehr unter Make-up zu verstecken.
Mit einem Mann, der einen nicht mehr oft mit Begehren ansah, war es letztendlich dann doch sehr einfach und vor allem befreiend. Als hätte ich endlich eine Maske abgelegt, von der ich nicht einmal wusste, dass ich sie trug.
„Du willst doch nicht etwa in dem Aufzug zu deinen Eltern fahren?“, durchbricht Erics entsetzte Stimme meine Gedanken.
Essen bei Dr. Parson und Gattin.
„Genau das habe ich vor.“
„Denkst du nicht, es wäre besser, wenn du etwas aussuchst, was dein Übergewicht kaschiert, anstatt einen darauf hinzuweisen? Da schämt man sich ja.“
Ich habe das schon so oft gehört und trotzdem tut es immer noch weh. Verletzt will ich ihm meine Wut ins Gesicht schleudern. Ihm sagen, dass ich genug habe von seinen Affären, die er nicht mal besonders gut versteckt. Dass er ja nicht mit mir zusammen irgendwo hingehen muss, wenn es ihm so peinlich ist, mit mir gesehen zu werden. Ich will den Respekt einfordern, den ich verdient habe und ihm am liebsten mit meinen Fingernägeln das überhebliche Lächeln aus dem Gesicht kratzen. Ich will ihn anschreien und genauso verletzen wie er mich.
Stattdessen sage ich erstaunlich ruhig:
„Möchtest du die Scheidung?“
Das nimmt Eric eine Sekunde den Wind aus den Segeln. Er sieht dümmlich erstaunt aus, was mich ein bisschen mit der ganzen Situation versöhnt.
„Du weißt genau, dass das nicht geht“, sagt er verärgert und sieht mich an, als wäre ich außer hässlich auch noch dumm.
Es geht sehr wohl. Aber das würde ihn eine Menge kosten – Geld und gesellschaftliches Ansehen. In seinen Kreisen lässt man sich nicht scheiden. Ja seine, ich habe mich noch nie dazugehörig gefühlt.
„Du weißt, was deine Mutter zu diesem … Kleid sagen wird“, versucht er es mit wenig subtiler Manipulation.
Das Wort 'Kleid' spuckt er aus, als wäre es irgendetwas Widerliches. Und schon deswegen würde ich mich nicht umziehen. Es ärgert ihn.
„Ja“, sage ich lediglich und schlüpfe in meine bordeauxroten Samtschuhe mit den halbhohen Absätzen.
Das sind meine Lieblingsschuhe, ich habe aber selten Gelegenheit, sie zu tragen. Da kann Eric sagen, was er will und meine Mutter auch. Und sie wird eine Menge dazu zu sagen haben. Leider habe ich bisher keine Möglichkeit gefunden, an diesen Familientreffen nicht teilzunehmen, sonst wäre ich seit Jahren nicht mehr hingegangen.
„Wir müssen los“, sage ich zu meinem Mann, ohne ihn anzusehen, und gehe zur Tür.
In der Zufahrt parkt seine Corvette Z06 Cabriolet in Silber. Ich hasse den Wagen, aus mehreren Gründen. Er ist für eine Frau mit meinen Proportionen unbequem und einengend. Ich halte ihn für das Aushängeschild eines über Fünfzigjährigen, der jugendlich wirken will, und für ein Lockmittel für Frauen, das schreit 'Ich habe Geld'. Außerdem kann ich Cabrios generell nicht leiden.
Ich öffne die Autotür und versuche, so einzusteigen, dass es nicht lächerlich aussieht. Was nicht so einfach ist.
Eric schwingt sich auf den Fahrersitz – was leider wirklich elegant aussieht - und startet den Motor. Aus dem Radio plärrt mich irgendein Rap-Mist an. Auch das wohl ein Zeichen seiner Jugendlichkeit. Hat er mal auf die Texte geachtet?
Bis zu meinen Eltern brauchen wir ungefähr fünfundvierzig Minuten. Eine dreiviertel Stunde, in der ich immer wieder überlege, ob es nicht besser wäre, spontan krank zu werden.
Ich liebe meine Eltern. Auch wenn sie mir noch nie zugehört haben und aus mir immer etwas anderes machen wollten, als ich bin.
Chester, mein Bruder, war das perfekte Kind. Gutaussehend, klug, Kapitän der Schulmannschaft und König beim Abschlussball. Danach hat er Medizin studiert, geheiratet und zwei Kinder in die Welt gesetzt. Eine geradlinige Bilderbuchentwicklung, die Eltern glücklich macht. Nach New York zu ziehen war in den Augen meiner Eltern sein einziger Makel. Der wird ihm auch bei jedem Telefonat und Besuch vorgehalten. Und da wundert sich meine Mutter, dass Chester und seine Familie so gut wie nie nach Twin Falls kommen.
Das andere Kind war ich. Unsportlich, alles andere als Modelmaße, durchschnittliche Schulergebnisse und weit davon entfernt Abschlussballkönigin zu werden. Ich war eine Enttäuschung. Und ich bin es noch. Ich bin keine Vorzeigeehefrau und ich habe nicht einmal ein Kind. In den Augen meiner Mutter ist das alles meine Schuld.
Ich habe ihr erzählt, dass Eric mich betrügt und habe weinend auf ihrem Sofa gesessen. Das Einzige, was sie dazu gesagt hat, war: „Nimm ab, geh jede Woche zur Kosmetik und kündige endlich deinen Job. Dann wird sich dein Mann auch wieder für dich interessieren.“
Weil es nämlich nur darum im Leben einer Frau geht, eine gute Partie zu machen und ab da eine gute Ehefrau zu sein. Betrogen zu werden gehört dazu, es zu akzeptieren auch. „Kind, das liegt eben in der Natur der Männer. Sie können nicht treu sein.“
Das hat mir mehr über die Ehe meiner Eltern verraten, als ich jemals wissen wollte. Kein Wunder, dass Eric und mein Dad sich so gut verstehen. Das einzig Positive an dem damaligen Gespräch mit meiner Mutter war die Erkenntnis, dass ich nie so sein will wie sie. Vielleicht genügt es ihr ja wirklich, nicht mehr als die Frau von Dr. Parson zu sein.
Soweit ich das beurteilen kann, hat sie sich gut in ihrem Leben eingerichtet und allzu viel machen die beiden nicht miteinander. Sie schlafen seit Ewigkeiten in getrennten Zimmern. Wieso schlafe ich eigentlich immer noch mit Eric in einem Bett? Wenn er denn mal nach Hause kommt. Was nicht besonders oft vorkommt.
Mein Vater ist achtundsechzig. Ob er meine Mutter immer noch betrügt? Die Vorstellung, diese Situation weitere siebzehn Jahre ertragen zu müssen, verursacht mir Übelkeit. Jetzt wäre ich tatsächlich krank genug, um umzukehren. Aber wir sind gerade am Haus meiner Eltern eingetroffen. Zu spät.
Eric stürmt die Treppe hoch, ohne auf mich zu warten. Früher hat er mir mal die Wagentür geöffnet und mir hinausgeholfen. Die guten alten Zeiten. Ich schlage die Autotür mit mehr Kraft zu, als notwendig wäre, und sichere mir damit seine zweisekündige Aufmerksamkeit. Ein finsterer Blick und Zähnefletschen.
Das verändert sich sofort zu einem strahlenden Lächeln, als mein Vater vor ihm auftaucht. Auch der interessiert sich nicht für mich, sondern legt seinem Schwiegersohn einen Arm um die Schultern und die beiden verschwinden im hochtrabend bezeichneten Raucherzimmer. Das dürfen nur die Männer betreten. Sie genehmigen sich eine wohlverdiente Zigarre – selbstverständlich kubanisch -, trinken einen teuren Whisky – mindestens fünfzehn Jahre alt – und reden über wichtige Männerdinge, die wir Frauen sowieso nicht verstehen.
Mein Vater ist der Überzeugung, dass Frauen größere Zusammenhänge nicht begreifen, weil der göttliche Plan das nicht vorsieht und ihr Gehirn dazu nicht in der Lage ist. Und der Mann ist Arzt. Frauen sind für den Haushalt zuständig und sollen ihrem Ehemann dienen – was wir übrigens auch Gott verdanken.
Als ich klein war, sind wir regelmäßig in die Kirche gegangen. Ich habe jeden Abend gebetet und war glücklich, zu wissen, dass jemand über mich wacht.
Als die Hänseleien wegen meines Gewichts begannen, habe ich mich das erste Mal gefragt, ob Gott wirklich will, dass wir alle gleich aussehen und schlank zu sein sozusagen eine Bedingung ist, um ihm gerecht zu werden. Mit zwölf habe ich den Reverend gefragt, ob Gott mich weniger liebt, wenn ich nicht so bin wie alle anderen. Er hat gesagt, dass es auf die inneren Werte ankäme.
Damit habe ich eine Weile gut gelebt, bis mir mein Umfeld das Gegenteil bewiesen hat. Dafür gebe ich nicht dem Reverend die Schuld und auch nicht Gott. Aber irgendwann habe ich für mich entschieden, dass weder der eine noch der andere eine große Hilfe ist, wenn man zum wiederholten Mal auf seinem Spind 'fette Sau' zu stehen hat.
'Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.'
Das ist das Einzige in meinem Leben, was noch annähernd mit Religion zu tun hat.
Wenigstens sind wir nicht katholisch, dann käme eine Scheidung naturgemäß nie infrage. Aber momentan habe ich auch nichts Derartiges vor.
„Wie siehst du denn aus?“, begrüßt mich meine Mutter mit hochgezogenen schmalen Linien, die früher mal vollwertige Augenbrauen waren.
Ich bin gespannt, wann die ganz verschwinden und mit einem Stift gezogene Streifen die Stelle einnehmen müssen, weil auch das letzte Härchen den Widerstand gegen wöchentliche Kosmetiksalon-Besuche aufgegeben hat.
„Dein Vater will erst in einer halben Stunde essen. Ich hoffe, die neue Köchin lässt nichts anbrennen. Bis dahin gehen wir am besten in den Garten.“
In meinem Elternhaus nimmt Dad die Stelle von Gott ein. Es spielt keine Rolle, ob irgendwer vielleicht jetzt schon gerne essen würde oder das Essen fertig und perfekt ist. Dr. Parson entscheidet, wann gegessen wird. Wir hatten ein Uhr vereinbart. Jetzt wird es ein Uhr dreißig, weil er mal eben alles ändert.
Und warum? Weil er es kann und beweisen will, dass alles und jeder sich nach ihm zu richten hat.
Ich weiß gar nicht, warum mich das ausgerechnet heute so ärgert. So war es schon immer und ich sollte daran gewöhnt sein. Bin ich auch, aber das macht es nicht besser.
„Ich würde dir ja eins von meinen Kleidern anbieten, aber ich habe nichts, was dir passen könnte“, sagt meine Mutter mit gespieltem Bedauern.
Sie hat nie genug davon, mir unter die Nase zu reiben, wie schlank ihr Körper noch ist. Sie ist ohnehin kleiner als ich und wiegt ungefähr die Hälfte. Auch das war schon immer so und es ist auch nicht das erste Mal, dass sie „unglücklich“ darüber ist, mir nichts von ihren Sachen borgen zu können.
Als ob ich das jemals gewollt hätte. Helen Parson ist erheblich älter als ich und ihr Geschmack entsprach auch nie meinem. Aber sie ging immer davon aus, dass ich eine jüngere Ausgabe ihrer selbst sein müsste. Zu ihrer absoluten Enttäuschung war ich das nie und werde es auch nie sein. Was meine Mutter nicht daran hindert, es weiterhin zu versuchen. Sie ist sehr, sehr geduldig und bei allen Charakterschwächen, ist Aufgeben keine.
Manchmal macht mich das alles so verdammt müde.
Sie schwatzt ununterbrochen, bringt mich bezüglich Klatsch und Tratsch auf den neuesten Stand und hat nicht eine Frage an mich. Ich hoffe die neue Köchin ist gut, sonst war der ganze Tag ein Reinfall.
Meine Mutter bleibt abrupt stehen und zwingt mich dadurch auch zum Anhalten.
„Hast du mir zugehört?“, will sie mit verkniffenem Mund wissen.
Meinen Mund habe ich von Dad geerbt und dafür bin ich Gott tatsächlich dankbar.
„Nein“, sage ich ehrlich.
Ich habe mir schon vor Jahren abgewöhnt, ihren gesellschaftlichen Normen zu entsprechen. Verdammt, sie ist meine Mutter und nicht Präsidentin der Vereinigten Staaten.
Sie öffnet den Mund, aber ich hindere sie mit einer zugegeben rüden Handbewegung daran, etwas zu sagen. „Hast du jemals daran gedacht, dich scheiden zu lassen?“
Allein für ihr entsetztes Gesicht hat sich die Frage gelohnt.
„Natürlich nicht“, sagt sie pikiert. „Dein Vater und ich sind sehr zufrieden.“
Ich glaube sofort, dass Dad zufrieden ist. Aber wie kann sie es sein? Ist das wirklich alles, was sie jemals wollte?
„Das freut mich für dich. Ich bin es nicht. Also finde ich, dass eine Scheidung eine Überlegung wert ist.“ Die Entscheidung habe ich vor ungefähr zwei Minuten getroffen.
„Was denkst du dir? Dein Mann ist Arzt. Mehr kann man nicht verlangen“, empört sie sich.
Wirklich nicht? Was ist mit Spaß, Aufregung, Liebe?
Dann folgt sehr viel ruhiger: „Warum willst du dich scheiden lassen?“
Hat sie mir in den letzten Jahren nicht zugehört? „Er hat Affären.“ Sie winkt ab. „Und er respektiert mich nicht.“
„Was hat denn Respekt mit einer Ehe zu tun?“
Ich starre sie verblüfft an. Sie meint das vollkommen ernst.
„Äh, alles?“, sage ich.
„Er hat dir seinen Namen gegeben, ein Haus und die richtige soziale Stellung. Dass du daraus nichts machst, ist allein deine Schuld.“
Na bitte, zurück auf gewohntem Terrain.
„Tun wir mal so, als würdest du akzeptieren, dass mir nichts davon etwas bedeutet und ich mit der Situation unzufrieden bin und mich nicht damit arrangieren kann, dass er Zwanzigjährige in sein Bett holt. Und spinnen wir den Faden einfach weiter. Du versetzt dich an meine Stelle. Was würdest du machen?“
Mit Rätseln kann man meine Mutter kriegen. Und machen wir uns nichts vor, ich bin für sie ein Rätsel. Sie hat ständig eins dieser Hefte vor der Nase oder spielt etwas im Internet, das mit dem Suchen nach Lösungen zu tun hat. So unmodern ist sie also gar nicht, wie man immer glaubt.
Ihr Gesichtsausdruck bekommt etwas Listiges. Es sollte mir Angst machen. So kenne ich sie nicht, aber es fasziniert mich.
„Eine Scheidung muss über einen längeren Zeitraum geplant werden. Zuerst einmal brauchst du Geld für dein Leben danach. Er wird versuchen, dich mit nichts vor die Tür zu setzen, weil sein Stolz das verlangt. Also legst du nach und nach etwas zurück. Vom Haushaltsgeld, von Geld, das er dir für Kleider gegeben hat oder indem du Schmuck verkaufst, an den er sich nicht mehr erinnert. Du brauchst ein Konto, von dem er nichts weiß und das auch seine Anwälte nicht finden können.“
Meine Mutter läuft sich gerade erst warm und meine Augen werden immer größer.
„Am besten ist, wenn eine Immobilie auf deinen Namen läuft. Ein unbedeutendes Sommerhaus zum Beispiel. Überzeuge ihn davon, dass es wegen der Steuern einfacher ist. Dann machst du das Gleiche noch mit ein paar anderen Dingen, die du hinterher verkaufen kannst – ein Auto, Kunstgegenstände, eben alles, was einen nennenswerten finanziellen Wert hat.“
Mir liegt die Frage auf der Zunge, wie weit sie mit ihren Vorbereitungen ist, will sie aber nicht unterbrechen.
„Dir muss klar sein, dass die Gesellschaft dich danach meiden wird. Du wirst eine Ausgestoßene sein. Also ziehst du am besten woanders hin.“
„In das unbedeutende Sommerhaus?“, kann ich mich nun doch nicht zurückhalten.
„Zum Beispiel.“ Ihre Wangen sind vor Aufregung ganz rosa und sie reibt sogar die Handflächen gegeneinander. „Richtig gut vorbereitet bist du, wenn du irgendwo ein bisschen Geld angelegt hast, das nicht nachverfolgt werden kann und das ein regelmäßiges Einkommen erzielt.“
„Was wäre das?“
Sie lächelt triumphierend. „Stille Teilhaberin in einer aufstrebenden Firma zu sein, wäre eine gute Idee.“
Mutter, ich bin beeindruckt.
„Oder einen eigenen Beruf zu haben“, ergänze ich.
Sie winkt ab. „Ja, das geht auch. Aber so ist es viel besser.“
„Und wann willst du Dad verlassen?“, frage ich geradeheraus.
Das Lächeln verschwindet und ich habe wieder die elegante Gattin des Chirurgen vor mir. „Ich bin zu alt, um ein neues Leben anzufangen.“
Ich denke nicht, dass man jemals zu alt ist, um sich von etwas zu befreien, das einen zerstört. Außerdem klang es, als sei sie bestens vorbereitet. Aber ich bin sicher, das will sie gerade nicht hören. Es wird andere Gelegenheiten geben, jetzt, wo ich Bescheid weiß.
Wir gehen ein Stück, ohne zu reden. Dann sage ich: „Kannst du mich wirklich nicht verstehen?“
Meine Mutter bleibt stehen und lächelt mich traurig an. „Ich habe dich immer verstanden.“
Es scheint der Tag der verblüffenden Geständnisse zu sein. Bevor ich darauf eingehen kann, sagt sie: „Dein Vater will jetzt essen.“
Der Moment, der uns das erste Mal in meinem Leben miteinander verbunden hat, ist vorbei.
Kurz bevor wir das Haus betreten, dreht sie sich noch einmal um. „Such dir eine Affäre, was Unkompliziertes. Gleiches Recht für alle.“ Sie zwinkert mir zu und ist für eine Sekunde noch einmal die Frau aus dem Garten.
***
Eine Affäre. Natürlich hatte Mom bei mir damit offene Türen eingerannt. Ich war danach die ganze Zeit abgelenkt und habe darüber nachgedacht, wie das gehen könnte. Eric und meinem Vater ist es natürlich nicht aufgefallen, meiner Mutter sehr wohl. Ab und an hat sie mich betrachtet und dann versteckt gelächelt. Ich glaube, sie hätte sogar Freude daran, wenn ich meinen Mann betrüge. Denn soweit ist sie vermutlich nie gegangen. Ist man mit über sechzig wirklich zu alt für die Liebe? Ist man dafür jemals zu alt?
Auf jeden Fall wird es komplizierter den passenden Mann zu finden, der es mit all den Macken aushält, die man Jahrzehnte kultivieren konnte. Aber das wäre ja andersherum genauso. Auch der Mann hätte Eigenarten, mit denen man sich arrangieren müsste und die nicht unbedingt alle als liebenswert bezeichnet werden können.
Aber es geht ja nicht um Liebe, sondern um eine Affäre. Unkomplizierter Sex und vielleicht mal ein Essen. Funktioniert das so oder geht es nur um Sex? Dann eben kein Essen. Ich könnte mich mit Lewis sowieso nicht öffentlich blicken lassen. Irgendein Kollege von Eric könnte mich sehen oder eine dieser Schwestern, die ihm sein Bett wärmen und dann hätte ich ziemliche Probleme. Also müsste es geheim bleiben.
Mit dem Gedanken daran, mir demnächst mal einen Tag frei zu nehmen und mir ein eigenes Zimmer einzurichten, schlafe ich sehr zufrieden ein.
KAPITEL 3
Wenn man mit ein paar Scheinen wedelt, werden einem sogar am selben Tag noch Möbel geliefert. Ich habe mir zwei Tage frei genommen, um in aller Ruhe umzuräumen. Wie der Zufall es will, ist Eric auf einer Tagung. Wahrscheinlich stimmt das nicht, aber es ist mir vollkommen egal.
Das Wichtigste an meinem neuen Zimmer sind das Bett, in das nur eine Person passt, und ein großes Bücherregal, in das ich gerade eine peinliche Menge Piratenliebesromane einsortiere. Außerdem wichtig ist, dass ich die Einzige bin, die einen Schlüssel zu dem Raum besitzt.
Meine Mutter hat auf jeden Fall in einem Punkt recht, eine Trennung muss gut vorbereitet werden. Ich werde mir kein geheimes Konto anlegen. Das ist auch nicht nötig, ich habe ein geregeltes Einkommen und das geht sowieso auf ein Konto mit meinem Namen. Da mir Status und teure Kleidung egal sind, würde das ausreichen, um ein neues Leben anzufangen. Eins, in dem ich auf niemanden angewiesen bin.
Ich würde ungern wegziehen. Aber das muss ich auch nicht. Die Gesellschaft, in der ich mich gerne bewege – Stephanie und meine anderen Kollegen – würden mich nicht verstoßen. Das wäre auch ziemlich schwierig, denn an Personal herrscht immer Mangel und sie können nicht auf mich verzichten. Moralische Überlegenheit könnten auch nur wenige anführen. Die Hälfte der Leute hat schon eine Scheidung hinter sich. Und wirklich niemanden interessiert es, ob die Frau vom Bezirksstaatsanwalt mich schneidet.
Zwischen Kisten, Möbeln und Büchern denke ich über ein Abenteuer mit Lewis nach. Über den Punkt, ob ich eine Affäre mit ihm haben will, bin ich bereits hinweg. Ich will. Momentan dreht sich alles um das Wie. Und natürlich das Wann. Aber das ist eigentlich leicht, heute oder morgen. Solange Eric auf seiner „Tagung“ ist. Also stünden der heutige und auch der morgige Abend zur Verfügung und auch die Nächte, wenn Lewis mich nicht gleich nach Erledigung des Jobs vor die Tür setzt.
Meine Güte, ich habe sogar Schwierigkeiten, es im Kopf deutlich auszusprechen. Ich probiere also ein paar Wörter, die es eindeutiger beschreiben.
Nach dem Vögeln… nach dem Ficken… Oh Gott, nein, das kann ich nicht mal in Gedanken sagen. Lesen kann ich es, aber da sind es ja nicht meine Worte.
Bin ich prüde? Vielleicht einfach nur zu gut erzogen.
Lewis sieht nicht aus, als wären gute Manieren bisher für ihn wichtig gewesen. Er sagt bestimmt Wörter wie ‚Ficken‘ und ‚Schwanz‘ und dann werde ich zusammenzucken und ruiniere die Stimmung.
Du kannst das nicht. Du bist nicht in der Lage, mit jemandem ins Bett zu gehen, den du nicht wirklich kennst. Du hast sogar Angst, dass er schmutzige Wörter benutzen könnte.
Wie machen andere das? Mal abgesehen davon sich bei der Arbeit oder in einer Bar kennenzulernen, gibt es doch auch die, die sich von vornherein ausschließlich mit einer bestimmten Absicht verabreden.
Ja, die kriegen dann normalerweise Geld dafür. Du solltest bei deinen Büchern bleiben.
Vielleicht sollte ich das.
***
Ich trinke gerne Wein. Besonders den Teuren, der ausgezeichnet schmeckt. Für meine jetzigen Zwecke würde allerdings alles genügen, das genug Alkohol enthält. Ich bin dabei, mir Mut anzutrinken. Für ein Telefonat.
Ich will mich nicht betrinken. Nur so viel, dass ich lockerer werde und nicht über jedes einzelne Wort nachdenke, das ich sage.
„Mein Gott, nimm endlich das verdammte Telefon und ruf den Mann an.“
Ich trinke noch schnell einen Schluck, greife mir das Handy und drücke auf grün. Vorbereitet ist es schon seit Stunden. Während es klingelt springe ich auf und laufe nervös im Zimmer auf und ab.
„Ja?“, werde ich unfreundlich angeherrscht.
„Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich gestört habe“, stammle ich und will gerade auflegen, da sagt er sehr viel freundlicher: „Kate?“
„Ja, tut mir leid. Ich hätte nicht anrufen sollen.“
„Doch, genau das hättest du schon vor einer Woche machen sollen. Ich habe darauf gewartet.“
Meine Knie werden weich und ich plumpse ungeschickt aufs Sofa. Gut, dass er mich nicht sehen kann.
„Was hast du heute noch vor?“
„Äh … Mich mit dir treffen?“, quetsche ich undeutlich heraus.
„Richtig. Ich schicke dir meine Adresse. Ist zehn Uhr gut?“
„Sicher“, sage ich überrumpelt.
„Dann bis zehn.“ Er legt auf und gleich danach signalisiert mein Telefon den Eingang einer Nachricht.
Das war erheblich einfacher, als ich mir vorgestellt hatte und mit meinen Überlegungen habe ich immerhin den ganzen Tag verschwendet.
Ich habe noch knapp zwei Stunden, um das richtige Kleid zu finden. Schminken oder nicht? Und was ist mit den Haaren?
Das ist die dümmste Idee, die ich je hatte.
***
Pünktlich um zehn stehe ich vor einem unauffälligen Haus mit dunkler Fassade, einer schwarzen, zerkratzten Tür und einem Vorgarten, der den Namen wirklich nicht verdient hat. Die Gegend hat nicht den allerbesten Ruf, aber auch keinen wirklich schlechten. Mir fällt gerade ein, dass Stephanie gar nicht so weit weg von hier wohnt.
Kate Langley, du bist ein Snob.
Ich suche vergeblich nach einer Klingel und entschließe mich dann zwangsläufig zu einem Klopfen. Das Erste scheint zu leise zu sein, denn es passiert nichts. Also lege ich nach und haue einmal mit der Faust gegen das Holz.
Innen höre ich Bewegung. Zu spät zum Umkehren, aber das will ich ja auch gar nicht.
Lewis öffnet die Tür und ich starre ihn überrascht an. Ich kenne ihn mit Jeans und T-Shirt. Diesmal trägt er eine weite Hose mit Unmengen von Taschen. In jeder scheint irgendetwas zu stecken.
Er sieht aus wie ein übergroßes Beuteltier. Eins ohne Schuhe und mit einem Muscleshirt, was seine Oberarmmuskeln sehr gut zur Geltung bringt. Ich glaube nicht, dass das der Grund ist, warum er es anhat. Im Gegensatz zu mir scheint er sich einfach keine Gedanken über sein Aussehen gemacht zu haben. Irgendwie trifft mich das.
„Willst du da draußen stehenbleiben?“, fragt er und reißt mich damit aus meiner Starre.
„Äh, nein“, sage ich und trete ein.
Ich stöckle in meinen weinroten Schuhen an ihm vorbei. Nach vielem Rumprobieren habe ich mich für das entschieden, was ich beim Essen mit meinen Eltern anhatte. Wahrscheinlich in der Hoffnung, dass ich hier auf jemanden treffe, der meine Aufmachung zu würdigen weiß. Und wie gesagt, ich finde mich schön.
Der Flur ist schmal und lediglich durch eine kleine Lampe erleuchtet. Wobei ‚erleuchtet‘ übertrieben ist. Es genügt, um größere Dinge auf dem Fußboden zu erkennen und nicht darüber zu stolpern. Am Ende ist eine Tür, die ins Wohnzimmer führt.
Das Erste, was mir dazu einfällt, ist ‚chaotisch‘. Es ist nicht schmutzig, nur extrem unordentlich. Überall liegt etwas herum. Im ersten Moment bin ich etwas pikiert. Räumt man nicht normalerweise auf, wenn man Besuch erwartet? Dann ärgere ich mich über mich und meine Arroganz.
Ist es nicht genau das, was mich an meiner Mutter immer so gestört hat? Die vielen Regeln wie man Dinge tut und wie man sie nicht tut. Es ist sein Haus und ich bin aus einem bestimmten Grund hier. Und für den braucht man kein ordentliches Wohnzimmer, sondern ein Bett. Sieht es in seinem Schlafzimmer auch so aus? Spielt das eine Rolle?
„Willst du ein Bier?“, reißt er mich aus meinen unwillkommenen Gedanken.
„Ein Wein, weiß, wäre mir lieber“, sage ich, als wäre ich auf einem Empfang und hätte endlos Auswahl.
Er grinst. „Nur Bier. Aber, wenn‘s wichtig ist, schreib mir ‘nen Namen auf. Dann besorg ich den fürs nächste Mal.“
„Tut mir leid.“ Ich bin so eine Idiotin. „Bier ist gut.“
Er geht durch eine Tür, hinter der ich die Küche vermute. Vorsichtig schiebe ich ein paar Kleidungsstücke zusammen und setze mich auf die freigewordene Stelle.
Was mache ich hier? Ich sollte nach Hause gehen. Das ist alles Unsinn. Ich passe hier nicht her.
Als er zurückkommt, sitze ich mit zusammengepressten Oberschenkeln auf dem Sofa, die Finger fest in der Handtasche verkrallt.
„Musst nicht nervös sein“, sagt Lewis freundlich und reicht mir eine Bierbüchse. „Wir können auch einfach nur reden.“
Unentschlossen drehe ich die Büchse zwischen meinen Fingern. Er nimmt sie mir ab, öffnet sie und gibt sie mir zurück. Ich trinke halbherzig einen Schluck und bin überrascht. Gar nicht so übel. Ich glaube nicht, dass ich schon jemals Bier getrunken habe. Anscheinend ist mir da etwas entgangen.