Gestresst?
Gelassen!
Stressbewältigung (nicht nur)
für Hochsensible
© Copyright Festland Verlag e.U., Wien 2021
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Umschlaggestaltung und Satz: Thomas Schwendemann, Wien
Coverillustration: Venita Oberholster (ArtsyBee) auf www.pixabay.com
Gedruckt und gebunden durch FINIDR, Tschechische Republik
ISBN 978-3-903234-20-8
Hinweis:
Dieses Buch stellt eine Orientierungshilfe dar und ist zur Selbsthilfe gedacht. Es ist jedoch keine Therapie und kann den Besuch bei Ärzt*in, Psychiater*in, Psycholog*in oder Psychotherapeut*in keinesfalls ersetzen. Alle Übungen sind für psychisch gesunde Menschen konzipiert; im Zweifelsfall holen Sie bitte vor der Lektüre und Durchführung der Übungen ärztlichen/therapeutischen/psychotherapeutischen Rat ein. Personen mit akuten oder latenten Psychosen, Schizophrenie oder schweren Depressionen sollten die Übungen keinesfalls eigenmächtig absolvieren!
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Gestresst?
Gelassen!
Stressbewältigung (nicht nur)
für Hochsensible
EINFÜHRUNG – Hochsensibilität und Stress
1. Was ist Hochsensibilität?
2. Was ist Stress?
3. Die drei Stufen der Stressentstehung
3.1 Der Stressor
3.2 Persönliche Stressverstärker
3.3 Die Stressreaktion
4. Warum Hochsensible besonders anfällig für Stress sind
4.1 Überreizung
4.2 Stressauslösende Glaubenssätze und soziale Normen
4.3 Lebensdrama versus Lebensvision
4.4 Secondhand-Stress
4.5 Disposition für chronischen Stress
5. Strategien zur Stressbewältigung
5.1 Stress verhindern oder reduzieren
5.2 Die eigene Haltung oder Bewertung verändern
5.3 Beruhigung, Entspannung, Regeneration
6. Erläuterungen zum Praxisteil des Buches
6.1 Meditationen und Visualisierungen
6.2 Achtsamkeit und Selbstmitgefühl
6.3 Affirmationen
6.4 Reflexionen und Schreibübungen
6.5 Körperübungen und Bewegung
PRAXIS – Stressbewältigung für Hochsensible
1. Für den Morgen
Körperübung: Bäumchen, schüttle dich
Meditation: Krafttanken am Morgen
Schreibübung: Unterstützen statt sabotieren
Affirmationen für einen wunderbaren Tag
2. Kraft schöpfen zwischendurch
Kurze Tiefenentspannung des Körpers
Körperübung: Tanzen und nachspüren
Achtsamkeitsübung: Genuss intensiv
Schreibübung: Energieräuber, Kraftspender, Lösungsmöglichkeiten
Meditation: Gedankenkinder
3. Bei Überreizung der Sinne
Schreibübung: Mein Ruheplatz in der Natur
Meditation: Mondlicht atmen
Meditation für Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln
Achtsamkeitsübung: Diese eine Blume
Reflexion: Reize bewusst wahrnehmen und umbewerten
4. Bei chronischer Zeitnot
Reflexion: Wichtigkeit und Dringlichkeit
Reflexion: Tagesplanung für Hochsensible
Schreibübung: Der wundervolle Nein-Tag
Schreibübung: Brief aus der Zukunft
Körperübung: Langsames und schnelles Gehen
Meditation: Wolken beobachten
Meditation: Das große Ganze
5. Am Abend
Meditation: Geerdet wie ein Berg
Schreibübung: Dankbarkeitstagebuch
Übung vor dem Zubettgehen: Gedanken schließen
Impulse für den Umgang mit Schlafstörungen
6. Vor aufregenden und potenziell überwältigenden Situationen
Schreibübung: Heldenreise
Visualisierung: Meine schützende Hülle
Körperübung: Stark, stolz und selbstbewusst
Achtsames Selbstmitgefühl: Ein Freund an meiner Seite
7. Für schwierige Zeiten
Schreibübung: Friede und Stille
Meditation: Licht und Duft
Achtsames Selbstmitgefühl: Liebevoll zu mir selbst
Reflexion: Secondhand-Stress erkennen und entschärfen
8. Bei körperlichem Unwohlsein oder Schmerzen
Meditation: Goldenes Licht
Achtsamkeitsübung: Bodyscan
Visualisierung: Die Angst umarmen
9. In Phasen des Weltschmerzes
Meditation der liebenden Güte
Visualisierung: Mein persönlicher Helfer
Schreibübung: Vertrauen und Zuversicht
Achtsames Selbstmitgefühl: Ein Lichtlein in der Dunkelheit
Reflexion: Freudvolles Engagement
10. Bei Stress durch Perfektionismus
Schreibübung: Scheitern mit Happy End
Affirmationen: Ich bin genug
Praktische Übung: Ein Selbstfürsorge-Ritual etablieren
Reflexion: Den eigenen Perfektionismus hinterfragen
11. Der Notfallkoffer
Die „Eine-Minute“-Übung
Drei Atemzüge
Energielenkung durch Beine und Arme
Affirmationen für den Notfall
SOS-Meditation
12. Den Weg weitergehen
Reflexion: Mein „Wofür“
Schreibübung: Engelskreis
Meditation: Ein herrlicher Stern
13. Zum guten Schluss: Glücklich hochsensibel!
Meditation: Glücksmomente kultivieren
Empfehlenswerte Literatur zur Vertiefung
Ausgewählte Meditations-App
Hilfreiche Websites
Seit einigen Jahren scheint Hochsensibilität in aller Munde zu sein.
Wurden hochsensible Menschen früher belächelt, nicht ernst genommen oder gar als Mimosen abgewertet, hat sich der Wind in letzter Zeit gedreht: Hochsensibel zu sein, ist fast schon ein Trend! Immer mehr Menschen bezeichnen sich selbst als hochsensibel – oft jedoch, ohne genau zu wissen, was damit eigentlich gemeint ist. Und dies kann allerlei Verwirrung und Missverständnisse mit sich bringen.
So muss beispielsweise nicht jeder Mensch mit einer Lärmempfindlichkeit automatisch gleich hochsensibel sein. In einigen Fällen liegt der Lärmempfindlichkeit eine rein körperliche Ursache zugrunde, etwa eine Verletzung des Innenohrs oder die Nachwirkung einer Krankheit; zuweilen handelt es sich auch um ein Symptom von Stress, Überforderung oder Traumatisierung.
Hochsensibilität jedoch umfasst mehr als ein einzelnes Symptom! Sie ist keine singuläre Überempfindlichkeit, keine Krankheit und natürlich auch kein Makel, sondern eine spezielle, vermutlich angeborene Veranlagung, die das gesamte Erleben beeinflusst. Der Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität e. V. (IFHS) erklärt diese Veranlagung so: „Hochsensible Menschen besitzen eine besondere Art der Informationsverarbeitung. Aufgrund besonderer Eigenschaften ihres Nervensystems nehmen Hochsensible mehr und intensiver wahr als andere Menschen. Dies hat manche Vorteile, führt allerdings auch zu früherer Erschöpfung und scheinbar geringerer Belastbarkeit.“ [1] Hochsensible unterscheiden sich von anderen Menschen somit dadurch, dass sie Informationen und Reize grundsätzlich ungefilterter aufnehmen, sie tiefer empfinden und auch gründlicher verarbeiten (wobei die Reizempfindlichkeit in bestimmten Bereichen natürlich ausgeprägter sein kann als in anderen).
Ein weiteres, wichtiges Merkmal hochsensibler Menschen ist ihre starke Empathiefähigkeit. Hochsensible fühlen sich mühelos in andere ein, können Körpersprache sehr gut lesen und Stimmungslagen intuitiv erfassen. Hier lässt sich übrigens ein maßgeblicher Unterschied zur Traumatisierung feststellen, die ansonsten ganz ähnliche Merkmale aufweisen kann wie die Hochsensibilität: Traumatisierte sind nämlich „häufig nicht empathisch bzw. können es nicht sein, da sie in ihrer überwältigenden inneren Wahrnehmung gefangen sind.” [2]
Zwar verfügen Hochsensible ebenfalls über eine starke innere Wahrnehmung, ihre Fähigkeit zur – sogar sehr intensiven und differenzierten – Außenwahrnehmung wird dadurch aber in der Regel nicht beeinträchtigt.
Die spezielle Weise hochsensibler Menschen, mit der Welt und ihren Reizen umzugehen, hat auf ihr Erleben natürlich Folgen.
So neigen viele Hochsensible zum intensiven Nachdenken oder sogar Grübeln. Situationen und Gespräche, denen Normalsensible kaum Bedeutung beimessen würden, können Hochsensible lange beschäftigen, da sie auch die Stimmung, das Ungesagte und die Zwischentöne sozialer Interaktionen sehr genau wahrnehmen und all diese Informationen dann innerlich miteinander abgleichen. Die Hochsensiblen-Expertin Susan Marletta Hart schreibt hierzu: „Alles im zwischenmenschlichen Bereich wird wahrgenommen und intensiv verarbeitet. Hochsensible können kaum nichtspüren oder nichtwahrnehmen. Das ist das Hauptkennzeichen der hochsensiblen Persönlichkeit. Es ist eine Gabe und eine Last.“ [3] Dieses „Hauptkennzeichen“ kann mitunter sehr anstrengend werden, und so verwundert es nicht, dass Small Talk, Partys und große Veranstaltungen eher nicht zu den bevorzugten Beschäftigungen der meisten Hochsensiblen zählen!
Schon ein einfaches Gespräch kann in einem hochsensiblen Menschen stark nachhallen. Kommen dann noch laute Umgebungsgeräusche, grelles Licht oder starke Gerüche hinzu, fühlen Hochsensible sich rasch überstimuliert und entsprechend unwohl. Das Thema Reizüberflutung ist deshalb eines der häufigsten Probleme, vor das sich Hochsensible in ihrem Alltag gestellt sehen: Eigentlich unspektakuläre Tätigkeiten und Erlebnisse – wie ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, ein Kindergartenfest zu besuchen oder nach einem langen Arbeitstag noch mit Freunden auszugehen – können sich für Hochsensible nicht nur schlecht anfühlen, sondern sogar zu körperlichen und seelischen Erschöpfungssymptomen führen.
Manche Hochsensible reagieren zudem auf Medikamente, Alkohol, Kaffee etc. deutlich stärker als Normalsensible. Auch ist ihre Schmerzschwelle oft niedriger, und ihre feinen Sinne sorgen dafür, dass kratzende Kleidung, scheuernde Etiketten oder zu enge Schuhe als regelrecht unerträglich empfunden werden.
Wie bereits erwähnt, können Hochsensible sich besonders gut in andere Lebewesen einfühlen. Diese Empathie ist im Grunde eine wunderbare Fähigkeit, kann im Übermaß aber leider auch negative Auswirkungen haben: Gelingt es nämlich nicht, sich ausreichend von schlimmen Nachrichten, Leid und Grausamkeit in der Welt abzugrenzen, kann das Mitfühlen schnell in ein deprimierendes, lähmendes Mitleiden umschlagen. Und auch weniger dramatisches Mitempfinden kann bei mangelnder Abgrenzungsfähigkeit zu Problemen führen, so zum Beispiel, wenn der Stress des Partners so stark gespürt wird, als sei es der eigene, sodass entsprechende Stresssymptome ausgelöst werden.
Aber keine Sorge – das intensive Wahrnehmen und Erleben ist nicht nur anstrengend und schwierig! Im Gegenteil: Da alles intensiver wahrgenommen wird, gilt dies natürlich auch für alles Positive. Nicht nur Unbehagen und Leid werden also stärker empfunden, sondern ebenso Wohlbefinden und Glück!
Deshalb kennen die meisten Hochsensiblen wunderschöne, intensive Gefühle von Liebe und Verbundenheit. Große Visionen sind ihnen ebenso wenig fremd wie sprudelnde Kreativität, und oft besitzen sie einen besonders wachen Blick für die Schönheiten unserer Welt. Viele verspüren eine große Liebe zur Natur und das Herzensbedürfnis, anderen Lebewesen – Menschen, Tieren, Pflanzen – nach Kräften zu helfen. Stumpf vor sich hinleben, können Hochsensible nicht: Die persönliche Sinnsuche und eine tiefe Spiritualität gehören für die meisten ganz selbstverständlich zu ihrem Sein.
Aus alldem lässt sich ersehen: Hochsensible Menschen haben die besten Voraussetzungen dafür, ein wunderbares, kraftvolles, sinnerfülltes Leben zu führen! Dank ihrer großen Empathie und ihrer besonderen Fähigkeiten können sie ein Segen sein – für sich selbst, ihre Familien, ihre Umgebung und die Welt.
Doch die Voraussetzung dafür ist, dass sie von dieser Welt mit ihrer Fülle an Reizen nicht überrollt werden! Und deshalb müssen Hochsensible mehr noch als andere Menschen lernen, gut für sich selbst zu sorgen. Dies gilt bereits für den normalen Alltag; vor allem aber gilt es für diejenigen Momente und Phasen im Leben, die als stressig empfunden werden, denn unter Stress leiden hochsensible Menschen nicht nur öfter, sondern auch massiver und länger anhaltend als weniger reizempfindliche Menschen. Das ist auf Dauer alles andere als gesund!
Was aber ist Stress denn nun eigentlich genau?
„War das wieder stressig heute!“
„Ich bin so im Stress, können wir unser Treffen bitte
verschieben?“
„Lass das, du stresst mich damit total!“
Jede*r von uns weiß, wie sich Stress anfühlt. Stress ist eine häufige Antwort auf die Frage nach unserem Befinden, und das ist kein Wunder, scheint er doch überall in unserer Welt zu lauern: im Büro, in der Schule, im Verkehr, in zwischenmenschlichen Beziehungen … Sogar den Freizeitstress gibt es. Was aber ist Stress denn nun genau?
Im Grunde nichts anderes als eine Alarmreaktion: Ein Reiz aus der Umwelt trifft auf eine Person und versetzt sie in eine erhöhte Wachsamkeit. Das Nervensystem dieser Person wird auf eine „Fight-or-Flight-Reaktion“ vorbereitet, also auf Kampf oder Flucht. [4] Das geschieht, indem Stresshormone ins Blut geleitet werden, das Herz schneller schlägt und die Konzentration sich auf diesen einen Reiz fokussiert, sodass alles, was nichts mit der (vermeintlichen) Gefahr zu tun hat, in den Hintergrund tritt.
Diese – hier etwas verkürzt dargestellte – Reaktion einer Person auf den Umweltreiz ist zunächst einmal nichts Schlechtes. Denn wenn ihr ein hungriges Raubtier oder ein aggressiver Betrunkener gegenübersteht, tut die Person durchaus gut daran, alles aufs eigene Überleben zu setzen und sich voll und ganz auf die gefährliche Situation zu konzentrieren! Nur: Wie oft geraten wir wirklich in eine solche Situation? Ist es überhaupt nötig, zu kämpfen oder zu fliehen, wenn uns im Alltag irgendetwas unangenehm reizt?
Oder wäre es nicht doch sinnvoller, wenn gerade wir Hochsensiblen es lernen würden, etwas gelassener mit all den Stress auslösenden Reizen umzugehen, mit denen wir uns konfrontiert sehen?
Um diesen Fragen nachzuspüren, stellen wir uns als Beispiel Maria vor: eine hochsensible Frau, die mit der U-Bahn zur Arbeit fährt. Maria ist sehr geruchsempfindlich, und in der vollen U-Bahn ist sie vielfältigen Geruchsreizen ausgesetzt: Da ist der Mann neben ihr, der offenbar seit Tagen nicht geduscht hat; die junge Frau mit dem schweren, aufdringlichen Parfum; das Kleinkind, das dringend eine frische Windel bräuchte; und mittendrin, eingequetscht zwischen diesen und weiteren Menschen, steht Maria, die sich von all den Gerüchen regelrecht bombardiert fühlt.
Sie empfindet die Situation spontan als Bedrohung: Es stinkt und das ist Maria schrecklich unangenehm! Sie muss die Gerüche aber aushalten, da sie ja weiter mit der U-Bahn zur Arbeit fahren möchte.
Doch Maria hasst schlechte Gerüche … und schon fängt das Gedankenkarussell an, sich zu drehen:
Kämpfen oder fliehen! Die müffelnden Mitreisenden also weit von sich stoßen oder die U-Bahn so schnell wie möglich verlassen. Und um ihr dies zu ermöglichen, bereitet ihr fürsorglicher Körper schon einmal alles für Maria vor: Er erhöht ihre Muskelspannung, lässt Maria schneller atmen und ihr Herz schneller schlagen.
Aber das nützt ihr leider nur wenig! Denn natürlich beginnt Maria weder, mit ihren Mitreisenden zu kämpfen, noch flieht sie Hals über Kopf aus der U-Bahn. Stattdessen harrt Maria aus – und leidet jetzt nicht mehr nur unter den Gerüchen um sie herum, sondern zusätzlich unter ihrer eigenen Reaktion darauf. Diese zeigt sich zuerst als ein diffuses körperliches Unwohlsein, steigert sich aber bald schon, da Maria zunehmend nervös wird, immer mehr panische Gedanken entwickelt und ihr prompt der Schweiß ausbricht. Als Maria schließlich ihr Fahrtziel erreicht hat und endlich aussteigen darf, ist sie zittrig, durchgeschwitzt und erschöpft – mit anderen Worten: total gestresst.
Und all das nur, weil es in der U-Bahn schlecht gerochen hat!
Die Stressreaktion, eigentlich ein wichtiger Überlebensmechanismus, hat sich in Marias Fall nicht nur als nutzlos herausgestellt – weder Kampf noch eine Flucht auf die U-Bahn-Gleise wären eine sinnvolle Reaktion auf die Geruchsbelastung gewesen –, sondern sogar als kontraproduktiv. An der Situation selbst hat sich nämlich nichts verändert, Maria aber hat zunehmend gelitten, und zwar nicht mehr nur unter dem unangenehmen Reiz (den Gerüchen), sondern auch unter ihren eigenen körperlichen und mentalen Reaktionen darauf (u.a. dem Schweißausbruch und den panischen Gedanken), die von ihren persönlichen Stressverstärkern ausgelöst bzw. verschärft wurden (Marias Bewertung der Gerüche als widerlich, ihrer Einschätzung, dem hilflos ausgesetzt zu sein, sowie ihrer tief sitzenden Angst vor Kontrollverlust und Ablehnung, konkret: sich vor aller Augen zu übergeben und damit bei ihren Mitreisenden Ekel auszulösen).
An diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, dass Stress nichts ist, was auf einen einzelnen, objektiven Faktor reduziert werden kann. Er ist nicht einfach da, und wir sind ihm auch nicht hilflos ausgeliefert wie einer dunklen, feindlichen, unbezwingbaren Macht.
Stress baut sich vielmehr auf – und unser eigenes Zutun spielt eine wichtige Rolle dabei! Denn das, was wir Stress nennen, besteht bei näherem Hinsehen aus drei Elementen: dem Stressor, unseren persönlichen Stressverstärkern und unserer Stressreaktion. Diese Elemente bilden die drei Stufen der Stressentstehung, die wir uns nun etwas genauer ansehen wollen. [5]
Wir selbst haben Anteil daran, dass Stress in uns ausgelöst wird? Zugegeben, das zu hören, ist zunächst einmal unangenehm! Wenn wir jedoch wissen, dass wir einen nicht zu unterschätzenden Part in unserem Stresserleben spielen, dann sind es auch wir selbst, die etwas dagegen unternehmen können! Wir sind den schwierigen Umständen, der hektischen Welt, dem fordernden Chef oder eben der Geruchsbelastung in der U-Bahn gar nicht so hilflos ausgeliefert, wie wir immer dachten. Und das ist doch eine tolle Nachricht, oder?
Wie wir oben gesehen haben, ist der Stressor ein Reiz, der auf eine Person trifft. Dieser Reiz kann ganz unterschiedlich daherkommen: als bedrohlicher Mensch, als übler Geruch, als knurrender Hund, als komplizierte Aufgabe, als Wäscheberg, als grelles Licht, als schreiendes Baby.
Dabei ist der gleiche Reiz aber nicht für jeden Menschen auch ein Stressor: Eine lebensbedrohliche Erkrankung, ein Umzug oder ein Unfall werden wohl von den meisten Menschen als Stressoren empfunden; doch ein verlegtes Portemonnaie regt die eine weniger auf als den anderen, und eine große Party kann sowohl als lustig und anregend empfunden werden, als auch hochgradigen Stress auslösen.
Wie ist es bei Ihnen? Vervollständigen Sie doch einmal den folgenden Satzanfang: „Ich fühle mich gestresst, wenn …“
Nehmen Sie sich dafür bitte etwas Zeit. Legen Sie das Buch beiseite und überlegen Sie, wann Sie persönlich in Stress geraten:
Seien Sie dabei bitte ehrlich zu sich selbst; nichts ist zu groß oder zu klein, um auf die Liste gesetzt zu werden.
Lesen Sie sich die so entstandene Liste nun noch einmal durch: All dies sind Ihre persönlichen Stressoren. Und da Sie dieses Buch lesen und somit vermutlich hochsensibel sind, werden etliche Reize dabei sein, die andere Menschen kaum wahrnehmen, geschweige denn sich davon stressen lassen: die angespannte Stimmung in einem Raum, ein leichtes Hungergefühl oder, wie in unserem Beispiel mit Maria, das Potpourri an Gerüchen in der U-Bahn.
Welcher Reiz als Stressor empfunden wird, ist also kein Naturgesetz, sondern sehr subjektiv! Was bei dem einen Menschen massiven Stress auslöst, kann einen anderen völlig kalt lassen. Zwischen dem potenziellen Stressor und der eigenen Stressreaktion liegt gewissermaßen eine Brücke – und diese Brücke besteht aus unseren persönlichen Stressverstärkern.
Ob ein Reiz zum Stressor wird, der in der Folge eine Stressreaktion auslöst, hängt maßgeblich von unserer Einschätzung der Situation ab. Entscheidend ist also nicht der Reiz an sich, sondern seine Bewertung durch uns. Wenn der Reiz uns erreicht, ordnen wir ihn nämlich blitzschnell ein: Ist er positiv, irrelevant oder negativ?
Erachten wir den Reiz als positiv oder irrelevant, ist eine Stressreaktion für uns unnötig und wird deshalb auch nicht ausgelöst. Erachten wir den Reiz allerdings als negativ (und das kann auch ganz unbewusst geschehen), erfolgt eine zweite Bewertung: Gehen wir davon aus, die durch den Reiz entstehende Belastung bewältigen zu können? Werden unsere Ressourcen ausreichen, um die Herausforderung zu meistern?
Falls wir uns selbst hier die Antwort „Ja“ geben können, ist alles in Ordnung.
Doch falls auch diese zweite Bewertung ungünstig ausfällt, wir also befürchten, dass sich unsere Ressourcen oder Fähigkeiten als ungenügend erweisen werden, ist die Brücke gebaut: Wir haben den Reiz als Stressor eingestuft und beantworten ihn mit einer Stressreaktion.
Illustrieren wir diesen Vorgang zum besseren Verständnis mit unserem Beispiel der hochsensiblen Maria: Wenn Maria die volle Windel des Kleinkinds in der U-Bahn riecht, ordnet sie diesen Geruchsreiz in einem ersten Schritt als negativ ein („Der widerliche Geruch stört mich.“), um in einem zweiten Schritt ihre Ressourcen und Kompetenzen abzuklopfen (kein Geld für ein Taxi; kein Platz, um Abstand zwischen sich und das Kleinkind zu bringen; keine innere Gelassenheit, den Geruch einfach zu akzeptieren). Schließlich kommt Maria zur Einschätzung: Der Geruchsreiz ist eine Bedrohung! Er ist zum Stressor geworden, und als solcher führt er Maria auf die letzte Stufe der Stressentstehung: Er löst eine Stressreaktion bei ihr aus.
Noch etwas anderes kommt bei Maria hinzu: ihre Angst vor Kontrollverlust und Ablehnung. Diese Angst äußert sich in Marias panischem Gedanken, dass sie sich bestimmt gleich vor den Augen aller übergeben müsse – eine Vorstellung, die ihren Puls sofort in unangenehme Höhe treibt. Marias Ängste und Sorgen feuern ihre Stressreaktion somit erst so richtig an! Und wie Maria geht es uns allen manchmal: Jede*r von uns hat nämlich Einstellungen, Glaubenssätze, Ängste und Verhaltensweisen, die stressverschärfend wirken – oder einen Reiz überhaupt erst zum Stressor machen.
Häufige Stressverstärker sind zum Beispiel:
In einer milden Ausprägung sind die Prinzipien, die diesen Stressverstärkern zugrunde liegen, eigentlich nichts Schlechtes. Harmonisch mit anderen zusammenzuleben beispielsweise macht definitiv mehr Freude, als sich ständig zu streiten! Bedenklich wird es jedoch, wenn unsere Motive, Einstellungen und Glaubenssätze überzogen und extrem werden. Dann nämlich sind Stressverstärker entstanden, mit denen wir uns selbst unter Druck setzen und die uns nicht guttun.
Um diese Stressverstärker zu entschärfen, müssen wir sie ehrlich anschauen. Das braucht allerdings Mut, denn zuweilen führt eine solche Auseinandersetzung mit sich selbst in dunkle und schmerzhafte Tiefen. Es kann betroffen machen und das Innerste eines Menschen berühren, wenn ihm klar wird, dass sein Perfektionismus, sein übergroßes Harmoniebedürfnis, sein Pessimismus oder sein Wunsch, unter allen Umständen von sämtlichen Menschen gemocht zu werden, einen erheblichen Beitrag zu seinem Stresserleben leistet. Viel komfortabler erscheint es, die Gründe für den eigenen Stress im Außen zu suchen statt im Inneren!
Und doch: Gerade die Erkenntnis, dass wir selbst einen bedeutenden Anteil an der Entstehung unseres Stresses haben, eröffnet uns die heilsame Möglichkeit, etwas zu verändern – in uns und für uns.
Dass zwischen Stressor und Stressreaktion die Brücke der persönlichen Stressverstärker liegt, soll nun übrigens nicht zu der Schlussfolgerung verführen, dass ein gestresster Mensch „irgendwie selbst schuld“ sei an seiner Misere. Es geht hier mitnichten um die Frage der Schuld! Es geht lediglich um das Bewusstsein dafür, dass wir dem Stress in unserem Leben nicht ohnmächtig ausgeliefert sind. Anstatt in der Opferrolle zu verharren, dürfen und sollten wir uns Handlungsmöglichkeiten erschließen – aber dafür müssen wir zunächst einmal erkennen, was uns stresst, warum es uns stresst und was uns helfen könnte, damit es uns weniger stresst. Denn nur, wenn wir das wissen, können wir uns auf die Suche nach individuell passenden Lösungen machen und unseren Stress schlussendlich erfolgreich bewältigen.
Ist ein Reiz für uns zum Stressor geworden, so beantworten wir ihn schließlich mit einer Stressreaktion. Diese, wir erinnern uns, hat den ursprünglichen Sinn, den Körper zu aktivieren und rasch Energie bereitzustellen, damit wir der (vermeintlichen) Gefahr unverzüglich durch Flucht oder Kampf begegnen können. Was so simpel klingt, ist jedoch ein höchst komplexes Zusammenspiel von körperlichen Vorgängen, Verhaltensweisen, Gefühlen und Gedanken.
So zeigt sich eine Stressreaktion auf der körperlichen Ebene folgendermaßen: