Allgemeiner Teil
Historia Canaria, Anatomie, Haltung, Krankheiten, Ernährung, Zucht
Spezieller Teil
Gesangskanarien
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-743168-82-4
© 2016, Norbert Schramm, „Kompendium – Kanarienvögel“, Band 1
© 2018 – 2. Überarbeitete Auflage
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
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Satz und Gestaltung: Norbert Schramm
Einband: Norbert Schramm
Die Kanarienzucht mit ihren sehr unterschiedlichen Facetten ist eine der ältesten und weltweit verbreitetsten Vogelzucht, die ungebrochen ihre Liebhaber findet. Deshalb ist es an der Zeit, eine kompakte Zusammenfassung des Wissens um die Kanarienzucht zu erstellen.
Das vorliegende Kompendium der Kanarienzucht soll dem geneigten Leser einen Überblick über die Geschichte der Kanarienvögel, deren Anatomie, Haltung und Pflege, Vererbungsmechanismen und Zucht geben. Dabei werden in mehreren Bänden alle heutigen Zuchtrichtungen – Gesangskanarien, Farbenkanarien und Finkenmischlinge sowie die Positurkanarienzucht betrachtet.
Seit der Veröffentlichung meines Buches „Farbenkanarien“ im Jahr 2008 habe ich viele Hinweise und Anregungen erhalten und bin selbst zu einigen neuen Erkenntnissen gelangt, die in diesem Werk einfließen.
Im Laufe meiner mehr als 40-jährigen Mitgliedschaft in dem traditionsreichen Dresdner Vogelzüchterverein „Dresdner Kanarienzüchter 1880 und Exotenzüchter e.V.“ habe ich viele Züchterfreunde kennengelernt und ihr Wissen aufgesaugt. Darunter waren auch so namhafte Gesangskanarienzüchter wie Paul Köhler, Eugen Reinicke, Erich Schäfer und Heinz Vogt, die mir tiefere Einblicke in die Zucht und Ausbildung der Harzer Roller gaben. Auch wenn sie heute nicht mehr unter uns weilen, habe ich mich beim Schreiben dieses Buches oft an sie erinnert.
Ich freue mich sehr, dass ich für diesen ersten Band des Kompendiums Spezialisten gewinnen konnte, die sich auf einzelnen Gebieten wesentlich besser auskennen als ich. Nur mit ihrer Hilfe ist dieses Projekt überhaupt möglich geworden.
Ganz besonders möchte ich mich bei den Züchterfreunden Dr. Karl-Heinz Eibel, Norbert König und Josef Sandfort bedanken, die ihr umfangreiches Fachwissen, speziell in der Zucht der Gesangskanarien, preisgaben.
Den Veterinären, Frau Dr. Meike Buschmann und Frau Dr. Monika Rinder, danke ich herzlich für die Durchsicht und den wertvollen Hinweisen zum Thema Krankheiten.
Roland Albrecht und Dr. Ludwig von Hörmann danke ich für die Genehmigung, ihre kurzweiligen und interessanten Artikel aus der Gesangskanariengeschichte Tirols abdrucken zu dürfen.
Dem Leiter des Harzer Roller-Kanarien-Museum in Sankt Andreasberg, Jochen Klähn, sei herzlich gedankt für seine Genehmigung, von Original-Exponaten Fotografien machen zu dürfen.
Für die Bereitstellung von aussagefähigen Bildern möchte ich mich ganz herzlich bedanken bei Frau Edeltraut Schneider – Mitarbeiterin und Witwe des Vogelzüchters und Autors Bernhard Schneider, die darüber hinaus noch viele wichtige Hinweise geben konnte.
Danksagen möchte ich den Züchterfreunden Josef Dahlmans, Dr. Karl-Heinz Eibel, Jürgen Fränzel, Norbert König, Dr. Franz Robiller, Hans-Peter Roeloffs und Josef Sandfort, die ihre Bilder für dieses Werk zur Verfügung gestellt haben.
Herzlichen Dank auch an all die ungenannten Zuchtfreunde, deren Vögel ich auf Bewertungsschauen fotografieren durfte.
Einen ganz besonderen Dank an dieser Stelle auch an meine liebe Annegret, die mein zeit- und kostenintensives Hobby seit nunmehr 40 Jahren mit Geduld und Verständnis begleitet hat.
Norbert Schramm
Dresden, Sommer 2016
Nach vorherrschenden Expertenmeinungen entwickelten sich die Vögel im Erdmittelalter – vor etwa 200 Millionen Jahren – aus kleinen Raubdinosauriern (Theropoda). Ob diese Saurier den Boden bewohnten und sich schnell auf den Hinterbeinen fortbewegten, oder ob es Baumbewohner waren, die von Baum zu Baum sprangen oder segelten, ist unter den Wissenschaftlern umstritten.
In der Sauriergattung der zweibeinigen Theropoden waren vermutlich auch warmblütige Arten vertreten. Der populärste Vertreter dieser Gattung ist der Tyrannosaurus rex, der – nach neuesten Forschungen – als Jungtier ein Federkleid hatte, das er im Laufe seines Lebens jedoch verlor.1 Es wird angenommen, dass sich aus diesen frühen Dinosauriern ein eigenständiger Stammbaumzweig herausgebildet hat, der über warmblütige, befiederte Saurier zu den urtümlichen Vögeln führte.
Im 150 Millionen Jahre alten Solnhofer Plattenkalk (Altmühltal Bayern) fand man 1860 das erste Exemplar eines „Urvogels“ Man gab ihm den Namen Archaeopteryx, was so viel wie „alte Feder“ oder „alter Flügel“ bedeutet.
Er galt lange Zeit als Bindeglied zwischen Reptilien (Sauriern) und den „modernen“ Vögeln, zeigt er doch Merkmale beider Tierklassen. Die lange Schwanzwirbelsäule, der bezahnte Kiefer, das fehlende Brustbein und andere Skelettteile sind Reptilienmerkmale. Die zu einem Gabelbein verschmolzenen Schlüsselbeine, die hohlen Knochen und die modern anmutenden asymmetrischen Schwungfedern sind Merkmale heutiger Vögel. Diese Merkmale fand man jedoch später auch bei anderen Theropoden. Bis heute hat man 10 Exemplare des Archaeopteryx gefunden und eingehend untersucht.
In den Augen einiger Wissenschaftler stellt sich der Archaeopteryx nicht mehr als das gesuchte Bindeglied in der Entwicklung vom Reptil zum Vogel dar, sondern er wird als ein ausgestorbener Zweig im Stammbaum befiederter Saurier betrachtet.
In Afrika, in der Republik Niger, fand man kürzlich Fußspuren von Raptoren – kleine Raubsaurier – die vor etwa 170 Millionen Jahren lebten, also 20 Millionen Jahre vor dem Archaeopteryx. Diese auf den Hinterextremitäten laufenden Raptoren gelten als Urahnen der Vögel.2
Bild 1: Die Evolution der Vögel
Einige Fossilien urtümlicher Vögel – nur wenig jünger als der Archaeopteryx – besaßen ebenfalls einen bezahnten Schnabel, andere Arten hingegen nicht.
In den letzten 20 Jahren wurden – vor allem in China – eine ganze Reihe vogelähnlicher Saurier (oder saurierähnlicher Vögel) gefunden. Unter anderem der Caudipteryx – Federschwanz – (Alter etwa 125 bis 110 Millionen Jahre) mit unbezahntem Schnabel, Armschwingen und einem vergleichsweise kurzen Schwanz. Die Federn waren noch symmetrisch aufgebaut und ähnelten Dunenfedern, wie wir sie auch heute bei flugunfähigen Vögeln finden können.3
Ebenfalls in China sind bis heute etwa 1000 Exemplare der urtümlichen Vogelgattung Confuciusornis gefunden worden, die vor 125 bis 110 Millionen Jahren lebten. Auch bei diesen Arten findet man bereits wesentlich mehr Merkmale heutiger Vögel – und weniger Merkmale der Reptilien – als es beim Archaeopteryx der Fall ist. Die Federn waren bereits unsymmetrisch aufgebaut, wie wir es von den heutigen flugfähigen Vögeln kennen. Nach neuesten Erkenntnissen besaßen sie ein weiß, schwarz und orange-braun geflecktes Federkleid.4
Bild 2: Bislang war die Farbgebung bei Dinosaurier-Darstellungen reine Vermutung – über das Aussehen des Sinosauropteryx haben Forscher sich nun Klarheit verschafft
Bild 3: So könnte der Federschwanz (Caudipteryx) ausgesehen haben
Vor etwa 105 bis 115 Millionen Jahren, und damit etwas jünger, lebte der Wasservogel Gansus yumenensis, den man 2006 in Nordwest-China fand. Er besaß wesentlich mehr moderne Merkmale und kann als ein direkter Vorfahre der heute lebenden Vögel gelten.5
Die heute lebenden Vögel (Aves) werden – gemeinsam mit den Amphibien (Amphibia), Reptilien (Reptilia) und Säugetieren (Mammalia) – in die Reihe der Landwirbeltiere (Tetrapoda) eingeordnet. Nach neueren Auffassungen gehören die Vögel und die Reptilien gemeinsam in eine Unterreihe Sauropsida (Reptilia + Aves) innerhalb der Landwirbeltiere. So gesehen sind die Saurier gar nicht ausgestorben! Ihre Nachkommen fliegen, laufen und schwimmen als Echse und als Vogel in unserem heutigen Zeitalter munter weiter.
Bild 4: Confuciusornis sanctus mit Greifkrallen an den Flügeln
Alle uns heute bekannten Haustiere und unsere Nutzpflanzen sind aus wildlebenden Tier- und Pflanzenarten hervorgegangen. Die Menschen der Frühzeit jagten Tiere und sammelten Pflanzen. Nach und nach, im Laufe vieler Jahrtausende, wurden diese Tätigkeiten durch die gezielte Vermehrung der Tiere und Pflanzen ersetzt. Die Menschen mussten nun nicht mehr den Tieren hinterher ziehen und durch den Anbau von Pflanzen konnten sie sesshaft werden.
Der Haushund ist vermutlich das älteste Haustier der Menschen. Wissenschaftler schätzen, dass die Haustierwerdung (Domestikation) des Wolfes in Europa vor etwa 25.000 Jahre begann.6 Eine genetische Berechnung zeigt, dass sich Hund und Wolf vor mindestens 135.000 Jahren als Art getrennt haben, sodass man davon ausgehen muss, dass der Wolf sehr viel länger als Hund ein Begleiter der Menschen ist.7
Die Vielfalt der heutigen Hunderassen ist auf das unbewusste Anwenden genetischer Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. In manch einem Hundewurf waren Welpen dabei, die sich von ihren Eltern ein klein wenig in der Gestalt oder in ihrem Wesen unterschieden. So waren einzelne Hunde vielleicht eifriger bei der Jagd, trotzten besser Kälte oder Hitze oder waren in den Augen der Menschen einfach schöner. Je nach Wertigkeit dieser Eigenschaften wurden vor allem Hunde mit diesen Merkmalen zur weiteren Zucht verwendet.
Was mit dem Wolf begann, wurde in späteren Jahrtausenden auch mit anderen Tieren versucht. Langsam, Schritt für Schritt, bildeten sich auf diese Weise aus verschiedenen Tier- und Pflanzenarten einzelne Rassen heraus. Ganz ohne Wissenschaft, nur auf Erfahrungswerte gestützt – die sicherlich auch mündlich überliefert wurden – konnten wünschenswerte Eigenschaften gefestigt und verbessert, unerwünschte verdrängt werden.
Vögel üben auf uns Menschen schon seit vielen Jahrtausenden eine überaus starke Faszination aus. In allen Völkern der Erde nehmen sie seit Urzeiten einen besonderen Stellenwert ein.
Vögel können fliegen, bewegen sich frei in der Luft und haben damit den uralten Menschheitstraum vom Fliegen begründet. So ist es nicht verwunderlich, dass Vögel in den Mythen der Völker eine große Rolle spielten und heute noch spielen. Vögel sind oft Ausdruck und Verehrung der unsterblichen Seele, himmlische Engel oder Götterwesen.
Die oft sehr prächtigen Vogelfedern dienen als Körperschmuck und werden bei Kulthandlungen verwendet. Vögel hielten Einzug in die Kultur aller Völker und sind in der Heraldik, Musik, bildenden Kunst und in Sprachbildern eng verwurzelt. Wer kennt nicht die Ausdrücke „schlau wie ein Rabe“ oder „stolz wie ein Schwan“.
Bild 5: Eine typische Sing-Sing-Szene der Ureinwohner von Papua-Neuguinea mit Federschmuck
Vögel werden gejagt und gegessen, ihr Kot als Dünger verwendet (Guano) und seit einigen Jahrtausenden als Fleisch-, Eier- und Federlieferanten zu Haustieren domestiziert. Sie stellen noch heute einen wichtigen Wirtschaftszweig dar.
Viele Vogelarten zeichnen sich durch melodische Rufe und Gesänge aus oder haben anmutige oder drollige Verhaltensweisen. All diese Eigenschaften bewegen uns, Vögel als Haus- und Heimtiere in Obhut zu nehmen, zu zähmen, zu vermehren und zu züchten. Sie wurden zu unseren engen Gefährten.
Bild 6: Kleiner Alexandersittich
Bild 7: Das Japanische Mövchen ist die erste Vogelart, die in Menschenobhut der Zierde wegen gezüchtet wurde
Die Haltung und Zucht von Ziervögeln dient weniger den leiblichen Bedürfnissen, sondern dem seelischen Ausgleich ihrer Besitzer. Zu diesem Zweck wurden früher Vögel gefangen – in manchen Winkeln der Erde geschieht das noch heute – aufgezogen und im Käfig als Sänger gehalten. So ist überliefert, dass bereits Alexander der Große (356 bis 326 v. Chr.) Sittiche zu seinem Vergnügen gehalten, und diese auf seinen Feldzügen begleitet haben. Der Alexandersittich (Psittacula eupatria) und der Halsbandsittich oder Kleine Alexandersittich (Psittacula krameri) tragen heute den Namen dieses antiken Feldherrn.
Neben dem Japanischen Mövchen ist der Kanarienvogel eine der ersten Vogelarten, die als Ziervogel zum Heimtier wurde. Der Kanarienvogel stellt eine Besonderheit in der Geschichte der Domestikation dar: Er ist die einzige Tierart, deren Stimmapparat – und somit der arteigene Gesang – züchterisch verändert wurde.
1 Xu, X., Norell, M. A., Kuang, X., Wang, X., Zhao, Q., Jia, C.: Basal tyrannosauroids from China and evidence for protofeathers in tyrannosauroids. In: Nature. 431, Nr. 7009, 2004, S. 680–684. Unter: http://www.nature.com/nature/journal/v431/n7009/full/nature02855.html. [Stand: 10.05.2015]
2 Joger, U.: Naturwissenschaftliches Museum Braunschweig.
3 Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung. Naturmuseum Frankfurt. Unter: http://www.senckenberg.de/root/index.php?page_id=2485 [Stand: 10.05.2015].
4 Benton, M.: University of Bristol. 2009. Unter: http://www.sueddeutsche.de/wissen/dinosaurier-farbe-erstmals-identifiziert-echse-in-rotgelb-1.79839 [Stand: 10.05.2015].
5 Hai-Lu You, Harris, J.: In: Science, 2006, Bd. 312, S.1640.
6 Trittsiegelfund von Hundepfoten in der Grotte Chauvet im französischen Ardèche-Tal (Spiegel 45/1999).
7 Natanaelsson, Ch.; Oskarsson, M.; Angleby, H.; Lundeberg, J.; Kirkness, E.; Savolainen, P.: Dog Y chromosomal DNA sequence: identification, sequencing and SNP discovery. Unter: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1630699 (Stand: 10.05.2015).
Die Domestikation des Kanarengirlitzes (Serinus canaria) zum heutigen Kanarienvogel begann vor mehr als 500 Jahren. Um die Kulturgeschichte ranken sich viele Erzählungen, die so oder ähnlich immer wieder in der Literatur zu finden sind. Wir müssen heute davon ausgehen, dass viele Überlieferungen nicht exakt sind. Oft wurden durch Wiedererzählung nach Hörensagen die Tatsachen und Zeiträume verfälscht, Phantasie und Romantik in die Geschichten eingebaut. Es ist also kaum möglich, die wahren Begebenheiten dieser Kulturgeschichte aufzudecken. Wir müssen uns heute mit den gesicherten Erkenntnissen begnügen und können bestenfalls daraus entsprechende Überlegungen anstellen.
Die Kanarischen Inseln, die Azoren und Madeira sind schon lange vor der Eroberung durch Portugiesen und Spanier bekannt. Die Kanaren sind bereits seit mehr als 5.000 Jahren von Menschen besiedelt, wie archäologische Funde beweisen. Im Laufe dieser langen Zeit haben immer wieder Menschen aus Afrika und Europa die Inselgruppen erreicht. Frühe Hochkulturen und Seefahrernationen – wie die Phönizier – kannten bereits alle drei Inselgruppen, wie Münzfunde belegen. Das gilt auch für spätere Jahrhunderte, wie wir aus antiken Berichten von Diodor, Plinius dem Älteren und Plutarch entnehmen können.8
Auf PLINIUS DEM ÄLTEREN (23 bis 79 n. Chr.) ist auch der Name „Canaria“ zurückzuführen, den er der Insel Gran Canaria gab. Er berichtete, dass dieser Name entstand zu Ehren zweier großer Hirtenhunde (lat. canis = Hund), die von Abgesandten eines Berberstammes gefangen und mit nach Marokko genommen wurden. Die Abbilder dieser beiden Hunde stützen noch heute das Wappen der Kanarischen Inseln.9
Eine andere, weniger bildhafte und damit einprägsame, Erklärung leitet sich aus der latinisierten Bezeichnung des Berberstammes Canarii ab.
Jene Menschen und Völker, die damals die atlantischen Inseln bewohnten oder besuchten, müssen den Kanarengirlitz – den die Spanier und Portugiesen „Canario“ nennen – gekannt haben. Ob sie ihn schon damals wegen seines Äußeren oder seinem hübschen Gesang beachteten, ist leider nicht überliefert.
Wie so Vieles, ging auch dieses antike Wissen im mittelalterlichen Europa verloren. Erst 1312 hat der genuesische Kaufmann und Seefahrer LANCELETTO MALOCELLO (geboren um 1270, gestorben nach 1336) die Kanarischen Inseln für das damalige Europa wiederentdeckt. Nach ihm soll die Insel Lanzarote benannt worden sein.
Bild 8: Segelschiff vergangener Zeiten. Mit solchen Schiffen wurden die Kanarischen Inseln für Europa neu entdeckt.
1336 startete Malocello erneut mit einer Flotte von Lissabon aus in Richtung Kanaren und führte die Insel Lanzarote der Portugiesischen Krone als Besitztum zu. Aufgrund seiner fantastischen Berichte, und mit dem Segen des Papstes CLEMENS VI. (um 1290 bis 1352), brachen um 1342 Spanier und Portugiesen mit Expeditionen in Richtung Kanaren auf. Sie brachten von dort Felle, Farbstoffe und Sklaven mit, jedoch fehlt jeder Hinweis, dass auch Vögel zum Frachtgut gehörten.
Im Zuge dieser und späterer Eroberungsfeldzüge gegen die sich tapfer wehrende einheimische Urbevölkerung, die Guanchen, und deren Christianisierung wurde diese Kultur nahezu vernichtet.
JEAN DE BÉTHENCOURT (1362 bis 1425), der Seemann, Ritter und Abenteurer normannischer Herkunft stand als Kammerherr im Dienst des französischen König KARL VI. Er überwarf sich mit seinem französischen König und bot deshalb seine Dienste dem kastilischen Königshaus unter HEINRICH III. (1379 bis 1406) an. Am 1. Mai 1402 stach Béthencourt mit zwei Schiffen und 80 Mann Besatzung von La Rochelle aus in See, um die Kanarischen Inseln für das kastilische Königshaus zu erobern. Unterstützung bekam er von GADIFER DE LA SALLE (1340 bis 1415), Knappe des Herzogs JEAN DE BERRY (1340 bis 1416). Er konnte sich auf Lanzarote festsetzen, jedoch fehlten ihm die Kräfte die anderen Inseln zu erobern.
Unter Zurücklassung eines Stadthalters fuhr er nach Spanien zurück und kehrte 1403 mit der notwendigen Verstärkung zurück. Nun konnte er bis 1406 die Inseln Fuerteventura, La Gomera und El Hierro erobern, jedoch nicht La Palma, Gran Canaria und Teneriffa.
Diese Inseln wurden von 1483 bis 1496 vom andalusischen Eroberer und Seefahrer ALONSO LUIS FERNÁNDEZ DE LUGO (1456 bis 1525) für das spanische Königshaus eingenommen. 1405 kehrte Béthencourt nach Frankreich zum französischen König KARL VI. zurück. Dieser interessierte sich für Jagdfalken, Brieftauben zur Nachrichtenübermittlung und, zur Entspannung und Ablenkung, auch für Singvögel. Er soll von Béthencourt einige Kanarengirlitze als Geschenk erhalten haben.
Bild 9: Jean de Béthencourt
Die Azoren und Madeira wurden um 1430 von Portugiesen erobert und mit portugiesischen und flämischen Bauern besiedelt. Noch heute gehören diese Inseln zu Portugal und somit auch zur Europäischen Union.
Wann genau die ersten Kanarengirlitze von den atlantischen Inseln nach Europa gelangten, bleibt also im Dunkeln der Geschichte. Es wird unbestritten sein, dass Seeleute, Seeräuber, Kaufleute oder Militär so manchen Vogel mit nach Hause brachten um sich an ihnen zu erfreuen, sie zu verkaufen oder zu verschenken.
Die spanischen Mönche sollen diese kleinen, graugrünen Vögel in ihren Klöstern – erwähnt wird hier besonders das Kloster von Cádiz – gezüchtet haben.
So wird es in jeder Abhandlung über die Geschichte des Kanarienvogels geschrieben. Aber auch dafür gibt es keine gesicherten Dokumente. Unbestritten spielten die Klöster im Spätmittelalter nicht nur eine religiöse Rolle, sondern waren auch Zentren des Wissens. Nonnen und Mönche beschäftigten sich mit Medizin, Pflanzenheilkunde sowie Pflanzen- und Tierzucht und gaben ihr Wissen in den Klosterschulen weiter.
Viele Klöster unterhielten landwirtschaftliche Betriebe mit Ackerbau und Viehzucht, um sich wirtschaftlich selbst zu erhalten. So scheint es naheliegend, dass die Nonnen und Mönche sich auch mit der Haltung und späteren Zucht der Kanarengirlitze beschäftigten. Mit dem Handel der gezüchteten Vögel hätte sich viel Geld verdienen lassen. Auch hierüber rankt sich eine überlieferte Geschichte:
Um das spanische Monopol der Kanarienvogelzucht – und damit eine wichtige Einnahmequelle – zu erhalten, durften nur Kanarienmännchen ausgeführt werden. Das erschwerte eine erfolgreiche Zucht in anderen Regionen und die Zucht von Kanarienvögeln blieb deshalb bis Mitte des 16. Jahrhunderts fest in spanischer Hand.
Es ist jedoch gut möglich, dass sich auch die portugiesischen Mönche mit der Haltung und Zucht der Kanarengirlitze beschäftigten, schließlich waren die Azoren und Madeira in portugiesischer Hand und somit bestand durchaus die Möglichkeit, Wildfänge dieser Vogelart zu erhalten. So wird berichtet, dass 1418 der Seefahrer JOÃO GONÇALVES ZARCO (um 1380 bis um 1467) einen Seeweg nach Indien und den Fernen Osten suchte und dabei die Insel Madeira fand. Nach anderen Quellen soll es jedoch der Seefahrer ENRIQUE MARIN (1394 bis 1460) gewesen sein, der die Insel Madeira 1420 fand.10 Seither sollen Kanarengirlitze dieser Insel nach Portugal gelangt sein.
Bild 10: Heutige Ansicht des Klosters Unserer Lieben Frau von Rosario und Santo Domingo (Convento de Nuestra Señora del Rosario y Santo Domingo) in Cádiz (Spanien)
Mit Segelschiffen ließen sich große Mengen an Waren relativ schnell und unkompliziert transportieren. Zwischen den Häfen Spaniens, Portugals, Englands, Frankreichs, den Niederlanden und den Stadtstaaten Norditaliens herrschte ein reger Warenverkehr. Die ersten exportierten Vögel sind sicherlich auf den Seewegen zuerst in diese europäischen Küstenländer gelangt. Um die Verbreitung der ersten Kanarengirlitze – oder waren es schon domestizierte Kanarienvögel? – rankt sich eine weitere bildhafte Legende:
Zwischen 1573 und 1645 (je nach Autor), so wird behauptet, geriet ein spanischer Segler auf der Reise nach Livorno in einen schweren Sturm. Das Schiff hatte eine größere Menge Kanarienvogelmännchen an Bord, die sich nach dem Schiffbruch auf die nahe gelegene Insel Elba retten konnten. Dort verpaarten sie sich mit dem heimischen Europäischen Girlitz (Serinus serinus, Linnaeus 1766). Mit diesen Bastarten sollen die Italiener ihre eigene Kanarienzucht begonnen haben.
Diese Geschichte erzählt, etwas abgewandelt, auch ANTONIO VALLI DA TODI in seinem 1601 erschienenen Buch „Il Canto de gl'Augelli“ (Der Vogelgesang). In der Toskana soll es Kanarienmischlinge gegeben haben, Abkömmlinge von echten Kanarienvögeln mit einheimischen Vögeln, namentlich dem Zeisig. Diese Mischlinge sollen an der Kehle viel gelber gefärbt gewesen sein als die Wildlinge auf den Kanaren und die Männchen hätten dunklere Füße.11
Diese Geschichten sind zwar nett, aber nicht zu beweisen und auch aus genetischer Sicht nicht ernst zu nehmen. Das spanische Monopol zerbrach wohl nicht an einem Schiffsunglück, sondern es werden unter den exportierten Männchen auch unerkannt Weibchen gewesen sein. Ein Fehler der damaligen Züchter, der auch heute noch versierten Kanarienzüchtern unterlaufen kann. Die Berichte erzählen jedoch übereinstimmend, dass bereits Mischlinge mit den einheimischen „Finkenvögeln“ erzeugt wurden.
Bild 11: Historische handkolorierte Zeichnung des Kanarengirlitzes
Der Schweizer Arzt und Naturforscher CONRAD GESSNER (1516 bis 1565), berühmt aufgrund seiner „Bibliotheca universalis“ und seiner naturkundlichen „Historiae animalium“ (Geschichte der Tiere), zählt zu den Begründern der modernen Zoologie. Neben den meisten sehr naturgetreuen Darstellungen in seinen Büchern finden sich jedoch auch noch zahlreiche Fabelwesen.
In seinem Werk „Historiae animalium“ (die erste Auflage entstand 1551) beschreibt er den Kanarengirlitz oder Kanarienvogel als „kleinen Zuckervogel“ (avicula saccharia), der von den Kanarischen Inseln stammt und von Italien in deutsche Regionen gelangte:
„Das Vögelchen ‚canaria‘ wurden von Kaufleuten von den Kanaren herbeigebracht, & es wird im allgemeinen ‚avicula saccharia‘, Zuckervögele genannt.“ … „’Goldvögelchen‘, ‚uccello d’oro‘ wird er von den Italienern genannt, ein Vögelchen, klein wie die ‚citrinella‘ [Zitronengirlitz] und ebenso singfreudig, an der Brust goldfarben, weshalb es auf Latein auch ‚aureola‘ genannt werden kann; es ist aus Italien zu den Deutschen gebracht worden.“ … „Aus diesem Geschlecht sind diejenigen, die in England Kanarienvögel genannt werden.“ … „Sie werden in Käfigen ernährt wegen ihres Gesangs, von dessen wunderbaren Gesang er alle aus diesem Geschlecht übertrifft mit Ausnahme der ‚serinus‘ [Girlitz].“ … „Der Vogel ist von der Größe einer gewöhnlichen Meise, mit weißem, kleinem und spitz zulaufendem Schnabel: die Flügel- und Schwanzfedern sind ganz von grüner Farbe: nur ganz wenig von jenen Vögelchen unterschieden, die die unsrigen ‚citrinas‘ nennen.“12 Gessner hat den Kanarengirlitz nicht selbst gesehen, sondern nach dem Bericht eines Freundes geschildert.
Bild 12: Conrad Gessner
Als Gessner 1550 von einer Studienreise aus England zurückkehrte, berichtete er von den schön singenden Kanarienvögeln, die in England weit verbreitet wären.
Die ersten Kanarienvögel waren noch sehr teuer, so dass nur wohlhabende Leute sich solch ein „Zuckervögelchen“ leisten konnten. Für den Preis eines Kanarienvogels konnte man sich durchaus zehn Schafe kaufen. In Paris bezahlte man um 1570 zwei spanische Pistolen für das Stück (Pistole = Goldmünze).13
In den Häusern reicher Bürger und an den Fürstenhöfen Europas wurde es schnell Mode, die wertvollen Kanarienvögel zu besitzen. Sie wurden in goldenen Käfigen des Gesanges wegen gehalten. In manch einer Gartenanlage waren die reich verzierten Kanarien-Volieren die Hauptattraktion.
Um 1575 oder 1590 sollen die ersten Kanarienvögel an den Hof der englischen Königin ELISABETH I. (1533 bis 1603) gelangt sein.14 Der Abenteurer und Schriftsteller WALTER RALEIGH (1552 oder 1554 bis 1618) soll wilde Kanarien von seiner Reise zu den Kanaren, Madeira und den Azoren mitgebracht und seiner Majestät in einem goldenen Käfig als Geschenk angeboten haben. 1596 beteiligte sich Raleigh an der Eroberung der spanischen Stadt Cádiz und hat so vielleicht diese Vögel bekommen.
Bild 13: (Oben) Conrad Gessner und die Erwähnung des Kanarienvogels im Band 3 seiner „Historia animalum“
Bild 14: (Unten) Deckblatt und Seite über den Kanarengirlitz des Werkes „Ornithologiae“ von Ulisse Aldrovandi
Die Volieren – in denen auch bereits rein gelbe Kanarienvögel untergebracht sein sollen – wurden oft von der Königin besucht und von vielen Bediensteten liebevoll betreut und auch vermehrt. Die Königin verschenkte Kanarienvögel an verdiente Untertanen, was dazu führte, dass die Zahl der Kanarienliebhaber allmählich zunahm. So betrachtet, hatte die Königin Elisabeth I. einen großen Anteil an der Verbreitung der Kanarienzucht in England. Selbst der berühmte WILLIAM SHAKESPEARE (1564 bis 1616) soll in seinen Versen über die Königin und ihre Kanarien rezitiert haben.
Bild 16: Marcus V. zum Lamm
Bild 15: Sehr gelbhaltiger „gehäubter“ Kanarienvogel aus dem „Thesaurus Pictuarum“ von Marcus V. zum Lamm
Der Heidelberger Prälat MARCUS V. ZUM LAMM (1544 bis 1606) schuf um 1580 seine unveröffentlichte handschriftliche 33-bändige Enzyklopädie „Thesaurus Pictuarum“ (Bilderschatz). Drei Bände widmen sich der mitteleuropäischen Vogelfauna des 16. Jahrhunderts. Das Bild 324 zeigt einen sehr gelbhaltigen Kanarienvogel mit deutlich erkennbaren „Fasanenohren“. Dies könnte ein erster bildlicher Hinweis auf gehäubte Kanarienvögel sein. Auch in heutiger Zeit sind seine Vogelbilder mit Erläuterungen und Fundorten ein wichtiges wissenschaftliches Material zur historischen Ökologie und Ornithologie, da zu dieser Zeit bereits schon einmal ein Klimawandel in Europa stattfand – es war der Beginn des kältesten Abschnittes der „Kleinen Eiszeit“.15
Die Unterdrückung der Hugenotten in Frankreich führte zwischen 1562 und 1787 zu zahlreichen Bürgerkriegen, die einen Höhepunkt im Massaker an den französischen Protestanten in der Bartholomäusnacht fanden. Viele tausend Hugenotten wanderten deshalb in andere protestantische Länder aus. Einer Legende nach sollen diese französischen Flüchtlinge ihre Kanarienvögel in die neue Heimat mitgenommen haben. Die heutige englische Kanarienrasse „Lizard“ soll so von Frankreich nach England gelangt sein. Das würde bedeuten, dass bereits Mitte des 16. Jahrhunderts zahlreiche Kanarienvogelzuchten in Frankreich existierten.
Bild 17: Ulisse Aldrovandi
Bild 18: Deckblatt des 1622 in Rom erschienen Werkes "Uccelliera" von G. P. Olina
Der italienische Arzt und Naturforscher ULISSE ALDROVANDI (1522 bis 1605) – auch er zählt zu den „Vätern der Zoologie“ – hat in seinem dreibändigen Werk „Ornithlogia“, welches ein Teil seiner insgesamt 11-bändigen „Historia animalium“ ist, mehr als eine Seite dem Kanarengirlitz gewidmet16. Er führte diese Vogelart noch unter der Bezeichnung „Passeribus Canariis“, berichtete aber auch über die Verbreitung der Kanarengirlitze von Italien nach Deutschland. Auch die Werke von Aldrovandi sind mit vorzüglichen Holzschnitten bildhaft ausgestattet, wobei auch er sich nicht nur mit den tatsächlich zu beobachtenden Tieren beschäftigte, sondern u. a. ein Werk über Monstren (Monstrorum historia) verfasste.
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die Kanarienvögel bereits wesentlich früher in andere Regionen Europas gelangten. Anderen Hinweisen zufolge wurden Kanarienvögel bereits in dieser Zeit in Frankreich, England, Holland, Belgien und Tirol, aber auch in der Türkei, Ägypten und Russland gehandelt.
In der Kanarienliteratur wird meist auch ein Olina erwähnt, der eine erste gute Beschreibung des wilden Kanarienvogels veröffentlichte. Der Italiener GIOVANNI PIETRO OLINA (1585? bis 1645) war Philosoph, promovierter Jurist und Naturforscher und veröffentlichte 1622 in Rom – und eine zweite Variante in Bracciano – sein Werk „Uccelliera“. Eine zweite Auflage wurde nach seinem Tod 1684 veröffentlicht. Die für die damalige Zeit hervorragenden handkolorierten Illustrationen und die Beschäftigung mit Fang- und Zuchtmethoden runden sein Werk ab. Auch der Gesang der Vögel wird beschrieben und die uns heute seltsam anmutenden Methoden zur Gesangsstimulierung: es sollen zuerst dreizehn und später vier verschiedene Instrumente vorgespielt werden, wie Trompete, Gitarre, Flöte, Cello und Spinett.17 18
Bild 19 und Bild 20: Zwei Blumenstillleben mit weißen und gelben Kanarienvogel von Johann Adalbert Angermeyer (1674 bis 1740)
Bild 21: Kind mit Puppe (und mit Kanarienvogel) von Christian Leberecht Vogel (1759 bis 1816)
Viele Damen ließen sich mit einem Kanarienvogel auf Gemälden darstellen. Erste Bilder von mehr oder weniger gelben Kanarienvögeln sind uns von den Aquarellen des Nürnberger Malers LAZARUS ROTRING (gestorben 1614) und anderen Künstlern bekannt.19
Später ist es der Augsburger Arzt Dr. LUKAS SCHRÖCK (1646 bis 1730) – auch unter der lateinisierten Namensform „Schroeckius“ bekannt – der in seinen Schriften 1677 die gelben Kanarien als weit verbreitet beschreibt und von schneeweißen Kanarien berichtet.20
Der englische Ornithologe FRANCIS WILLUGHBY (1635 bis 1672) war ein Freund und Schüler des britischen Naturforschers JOHN RAY (1627 bis 1705). Willughby konnte aufgrund seines frühen Todes seine Forschungsergebnisse nicht veröffentlichen. Sein Lehrer und Kollege John Ray holte dies 1676 nach, indem er Willughbys Werk „Ornithologia libri tres“, illustriert von Willughbys Frau Emma, postum veröffentlichte.21 In diesem Buch wird berichtet, dass Kanarienvögel reichlich aus Deutschland nach England gebracht wurden und demnach „German birds“ genannt werden. Diese Vögel zeichnen sich besonders im Gesang aus.22
JEAN-CLAUDE HERVIEUX DE CHANTELOUP veröffentlichte 1707 in Frankreich das erste Werk über die Zucht der Kanarienvögel mit dem Titel „Traité du serin de Canarie“. 1709 folgte sein Werk „Nouveau Traité des Serins de Canarie“23. Die erste niederländische Übersetzung erschien 1712 und eine englische Übersetzung stammt aus dem Jahr 1719. Eine italienische Version wurde 1724 gedruckt. Auch nach seinem Tod folgten bis 1785 weitere fünf Ausgaben. In der 1. Auflage beschrieb er 10 verschiedene Farben der Kanarienvögel, unter anderem auch weiße Kanarien mit roten Augen.
Durch die Vielfalt der Scheckung und die unterschiedliche Ausfärbung der gelben Gefiederfarbe und deren Kombinationen unterschied er in einer späteren Ausgabe bereits 29 unterscheidbare Farben.24 Hervieux wurde von der französischen Prinzessin und Herzogin de Berry MARIE LOUISE ÉLISABETH (1695 bis 1719) zum Direktor ihrer Kanarienvogelzucht ernannt.
Um 1715 begann der Markgraf KARL WILHELM VON BADEN-DURLACH (1679 bis 1738) im Hardtwald bei Durlach mit dem Bau des „Favoriteschlosses“ und ließ ausgedehnte Gartenanlagen anlegen. Dieser Durlacher Schlossgarten war mit Glashäusern ausgestaltet, in denen die Orangerie und seltene exotische Pflanzen untergebracht waren.
Im nordöstlichen Teil des Parks befand sich eine große Voliere, die u. a. 300 Kanarienvögel beherbergte. Diese konnten auch frei aus- und einfliegen und sollen in den Büschen und Bäumen des Gartens gebrütet haben.25
Der Niederländer FRANS VAN WICKEDE (1750) kennt bereits einige Farben, die er als „assante, achat, isabell, gescheckt, zitronfarbig, schnee-weiß und goldgelb“ beschreibt.
Die Wertschätzung, die den Kanarienvögeln in den reichen Adels- und Bürgerhäusern entgegengebracht wurde, äußerte sich auch in der Form und Ausstattung der Vogelkäfige. Kein Material war zu teuer, kein künstlerischer Aufwand zu groß, um die Kanarien angemessen präsentieren zu können. Praktische Aspekte der täglichen Vogelpflege spielten dabei keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle.
Bild 22: Prachtkäfig für Kanarien und anderer kleiner Vögel
Bild 23: FRANCIS WILLUGHBY
Bild 24: JOHN RAY
Bild 25 und Bild 26: Verschiedene Ausgaben von WILLUGHBY’s „Ornithologia libri tres“
Bild 27: HERVIEUX DE CHANTELOUP’s Werk von 1712 in Originalsprache und mit niederländischer Übersetzung
Bild 28: Das Kanarienbuch von FRANS VAN WICKEDE aus dem Jahr 1750.
Bild 29: Karlsruher Stadtansicht. Kupferstich von Heinrich Schwarz, 1721.
Wie die Kanarienvögel nach Tirol kamen
Von Roland Albrecht
Indem die (spanischen) Mönche nur die Männchen verkauften, hatten sie ein fast zweihundert Jahre währendes absolutes Monopol auf die Zucht und machten so eine Zucht außerhalb ihrer Klostermauern unmöglich. Sie hielten die Verkaufszahlen sehr knapp, um den Preis der viel gefragten Vögel hoch zu halten. Alle Versuche, die Vögel mit anderen Finken und Gimpelarten zu kreuzen, misslangen bzw. die ordinären Anteile waren dominant.
Der Handel mit Kanarienvögeln war nicht nur für die Mönche ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, für ganz Spanien war er von Bedeutung, so dass der Spanische Hof, der reich mit den Vögeln versorgt wurde, ein immenses Interesse an der Aufrechterhaltung des Monopols hatte. Die Begehrlichkeiten der europäischen Höfe wuchsen im 17. Jahrhundert ins Unendliche, so dass immer mehr an diesem Geschäft teilhaben wollten. Einige Fürsten nördlich der Alpen setzten hohe Belohnungen für die Überstellung einer oder mehrerer Kanarienhennen aus. Weitsichtige zeitgenössische Ökonomen warnten eindringlich vor einer Entwicklung wie in Holland, wo am 5. Februar 1637 mit dem schlagartigen Ende der sogenannten Tulpenmanie viele angesehene, reiche Kaufleute von heute auf morgen ihr gesamtes Vermögen verloren und am Bettelstab landeten. Alle Versuche, an Kanarienweibchen heranzukommen, misslangen, die Abschottung der Singkanarienzucht schien perfekt. In einigen Schriften aus der damaligen Zeit wird öfters berichtet, dass die Klöster der „Vogelkutten“, wie man die Mönche nannte, belagerten Burgen glichen, ständig würden Fremde um die Klöster herum lungern in der Hoffnung, ein entflogenes Weibchen einzufangen.
Abt Anton der Gütige des 1679 mit großzügigen Spenden des Haller Ratsherrn Peter Tasch und anderer Wohltäter errichteten Kapuzinerklosters ärgerte sich schon seit Jahren über das Monopol seiner spanischen Glaubensbrüder, dass er alles daran setzte, dieses Monopol der Kanarienzucht zu brechen. Alle Anstrengungen, auf freundlichem Wege Kanarienhennen zu bekommen, blieben erfolglos, so dass er 1699 fünf junge, draufgängerische Burschen los schickte, um Weibchen zu besorgen. Bevor sie loszogen, wies er sie in die Kunst der Vogelhaltung und des Vogeltransportes ein.
Diese Burschen waren Johann Rupert aus Matrei in Osttirol, die Brüder Konrad und Joseph Streiter, Georg Kammerlander, alle aus Imst, und Christopherus Kathan aus Vorarlberg.
Diese fünf zogen über die Alpen mit Empfehlungsschreiben des Abtes in ihrem Gepäck, die sie als fromme Tiroler aus Imst auswiesen und die beabsichtigten, in ein spanisches Kloster einzutreten, da ihnen die nördlichen Klöster zu kalt seien. In ihren Köpfen fest verankert war aber, sobald sie Kanarienweibchen hatten, sofort wieder zurückzukommen. In den ersten Klöstern wurden sie abgewiesen, im fünften Kloster, in dem sie vorstellig wurden, konnten zwei als Knechte anfangen, die drei anderen wurden in einem nahe gelegenen Kloster als Handlanger zeitweise beschäftigt. Nach einem Jahr war es so weit: Sie hatten unbemerkt einige Hennen und Hähne entführt und machten sich aus dem Staube. Ihr Rückweg ging über die Pyrenäen, das Rhone-Tal hinauf, am Bodensee vorbei, und als erste Station in der Heimat machten sie in Vorarlberg in Fraxern Halt, von wo der Christopherus herkam. Den ganzen Weg zurück hatten sie immer Angst, dass die spanischen Mönche sie verfolgen und Rache üben würden oder zumindest ihre Kanarienvögel vernichten könnten.
Um dem auch in Zukunft vorzubeugen, ließen sie einige Vögel in Fraxern, nahmen den Eltern den Schwur ab, ja nie etwas über die Vögel zu erzählen und wanderten weiter nach Imst.
Was die Burschen aber nicht wussten, war, dass die spanischen Mönche sie nicht verfolgten, diese bekamen es gar nicht mit, viele Knechte verschwanden von heute auf morgen, und dass das Monopol eh schon länger gebrochen war, auf breiter Basis sogar. Englische Händler hatten wilde Vögel von den Kanarischen Inseln selbst geheim importiert.
Aus: http://hiddenmuseum.net/albrecht.html [Stand: 10.05.2015]
In der Zeit zwischen dem 15. und 20. Jahrhundert gab es in Imst eine Vielzahl von Silber-, Zink- und Bleibergwerken, die zu den Wichtigsten Tirols zählten. Vor allem das Eisenerz war wichtig für die Silbergewinnung und für die Verhüttung unumgänglich. Die Knappen, vorwiegend aus Sachsen und Thüringen, bewirkten neben anderen Gründen einen guten Einfluss auf Handel und Gewerbe. Als in Schwaz der Silberbergbau zu Ende ging, kam der Bergbau in Imst ebenfalls zum Erliegen.
In ganz Europa bekannt waren die Imster auch wegen des Vogelhandels (Züchtung und Verkauf von Kanarienvögeln), der zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert seinen Höhepunkt erlebte. So entwickelte sich um 1780 in Imst in Tirol mit der Zucht von Kanarien ein regelrechter Erwerbszweig. Die dort lebenden Bergleute, die ihren Unterhalt in den Silberbergwerken verdienten, griffen die zusätzliche Verdienstmöglichkeit der Zucht und des Verkaufes von Kanarien auf.
Schon im Jahre 1806 lässt sich ein hauptberuflicher Vogelhändler in einem Stadtregister nachweisen. Ferner gibt es eine Aufzeichnung eines Wegebriefes durch Nürnberg für einen Vogelhändler aus dem Jahre 1705.
Die Zeit des 18. Jahrhunderts war vom wirtschaftlichen Niedergang geprägt: Der schwindende Bergsegen und die, aufgrund der Realteilung, verarmten Bauern ließen den einstigen Imster Wohlstand verblassen. 1821 kam es zu einer großen Katastrophe: Eine Feuersbrunst, ausgelöst bei der Seifenerzeugung, vernichtet 206 von den insgesamt 220 Häusern.26
Die Tiroler Bergleute waren wohl die ersten Kanarienvogelzüchter, die zu einer gewissen Berühmtheit gelangten. Dazu hat sicherlich beigetragen, dass sie den Gesang der Kanarienvögel verbesserten, indem sie Nachtigallen als Vorsänger einsetzten. So entstandenen die weltberühmten „Tiroler Nachtigallenschläger“. Wenn dies wirklich gelang, müssen wir vor diesen Züchtern noch heute ehrfürchtig den Hut ziehen. Die Nachtigallen als Insekten und Weichfresser sind Zugvögel und haben ihre Hauptgesangszeit im Frühling und Sommer. Junge Kanarienvögel lernen den Gesang jedoch im Spätsommer und Herbst, also in einer Zeit, in der sich Nachtigallen auf den Weg nach Süden vorbereiten und nicht mehr singen. Die Tiroler Züchter mussten also die Brutzeit der Kanarienvögel vor- bzw. die Gesangszeit der Nachtigallen nach hinten verlegen. Beides erfordert ein hohes Wissen um die Belange der Vögel. Die Berühmtheit der damaligen Tiroler Züchter mag wohl ein Grund sein, dass über andere Zuchten in Europa nichts niedergeschrieben wurde, obwohl es diese sehr wahrscheinlich auch schon in anderen Ländern gegeben haben dürfte.
Tiroler Vogelhändler
von Dr. Ludwig von Hörmann
Es liegt im Tirolervolke ein naives und zugleich tiefes Gefühl für die Natur und alles, was mit ihr zusammenhängt. Besonders sind die Tiroler Liebhaber der Vögel. Kaum wird man eine Bauernstube treffen, die nicht einen Krummschnabel beherbergt, der hoch oben an der Zimmerdecke in seinem kleinen Drahtkäfig herumklettert und nach dem Volksglauben das Haus vor Unglück und Hexerei und vor allen Krankheiten der Insassen zu bewahren hat. Desgleichen begleitet ein solcher Spiritus familiaris den Karren des Dörchers auf seinen Landstreichereien. Auch andere Vögel genießen Schutz und Verehrung, z. B. die freundlichen Hausschwalben, das der Muttergottes geweihte „Brandele“ (Rotschwänzchen), ja an einigen Orten Oberinntals wird sogar bei Begräbnissen ein Käfig mit einem Vogel unten an den Sarg gehängt.
In Tirol fand also die Vogelzucht den geeignetsten Boden. Im Winter, der in dem Alpenlande lange genug dauert, zog man die kleinen Pfleglinge groß, lehrte sie mit unsäglicher Mühe allerlei Kunststückchen und pfiff ihnen kurze Liedchen so lange vor, bis die befiederten Schüler sie endlich tadellos nachpfiffen. Später hatte man dazu eigens konstruierte kleine „Örgelen“. Ging dann der Sommer in's Land, so nahm der „Vogelträger“ seine „Vogelkraxen“, ein Traggestelle für zwanzig und mehr kleine Käfige, auf den Rücken und zog damit auf die Wanderschaft. Diese war meistenteils von sehr glücklichem Erfolge begleitet. Der Handel mit Vögeln nahm einen stets größeren Aufschwung, sintemal um diese Zeit das Halten dieser niedlichen Sänger zur Mode geworden war. Gut gezähmte Exemplare, die eine eingelernte Melodie pfeifen konnten, waren gesuchte und mit schwerem Golde bezahlte Artikel.
So durchwanderten diese Leute mit ihren Vogelkrippen zu Fuß Europa nach allen Richtungen; auf den deutschen Jahrmärkten, wie auf den Straßen von Wien, London und Paris konnte man diese schmucken kräftigen Burschen in ihrer malerischen Gebirgstracht antreffen, und überall waren sie gern gesehene Gäste. Ja bis nach Petersburg und Konstantinopel trieb sie ihre Wanderlust und ihr Erwerbssinn.
Gelbe Vögel trag' ich aus,
Gold'ne Vögel bring' ich z' Haus“
hieß ihr Innungsspruch, der sich auch in den meisten Fällen als wahr erwies. So kam das anfangs bescheidene Geschäft allmählich in Aufschwung. Ganze Kolonien von Kanarienvögeln wurden gehalten, gezüchtet und abgerichtet.
Die Vogelträger bildeten eine eigene Zunft und betrieben den Handel im Großen; aus den „Vogelträgern“ wurden bald „Vogelherren“, die es für bequemer und rentabler hielten, selbst zu Hause zu bleiben und lieber verlässliche Leute mit der singenden Ware in die Fremde zu schicken. Besonders Imst war der Hauptsitz dieses neuen Industriezweiges. Dort gab es wohlhabende Insassen, die für diesen Zweck Kapital zusammenschossen und dann den Profit teilten. Mancher solcher „Ganzgewinnmacher“ schlug sich in der besten Zeit jährlich 3 - 600 damalige Kaisergulden heraus. Man erinnere sich an den reichen Tamerl in Imst und an dessen treuen Kraxenträger Seraphin, den Spindler in seinem „Vogelhändler von Imst“ verherrlicht hat, dieses Unikum von Ehrlichkeit, obwohl er ein Vinschger (aus dem Vinschgau) war. Sonst nahm man gewöhnlich Leute aus dem Schwabenlande, weil diese im besondern Ruf der Ehrlichkeit standen. Doch gerade dieser Umstand brachte die Sache in Verfall. Denn als die guten Schwaben merkten, dass das Handwerk einen so goldenen Boden habe, gaben sie ihre Trägerschaft auf, verlegten sich selbst auf die Züchtung und verpflanzten den ganzen Handel nach Schwaben. Die Konkurrenz wurde immer größer, die Kanarienvögel waren nicht mehr seltene Ware wie früher und verloren infolge dessen an Wert. Dessen ungeachtet erhielten sich die tirolischen Händler noch lange in Ansehen, bis endlich die Sache mehr und mehr aus der Mode kam. Nun ging freilich die ganze Herrlichkeit mit Riesenschritten ihrem Ende zu.
Erhalten hat sich nur noch als kulturhistorische Kuriosität der berühmte „Vogelball“ zu Oberhofen, der alle Vogelnarren vom Inntal versammelt, um dem harmlosen Wettstreit der befiederten Sänger zu lauschen und dem „Jägerlatein“ durch klassisches „Vogellatein“ die Stange zu halten. Doch davon ein andermal.
Quelle: Tiroler Vogelhändler, Ludwig von Hörmann, in: Der Alpenfreund, Monatshefte für Verbreitung von Alpenkunde unter Jung und Alt in populären Schilderungen aus dem Gesamtgebiet der Alpenwelt und mit praktischen Winken zur genussvollen Bereisung derselben.
Aus: http://www.sagen.at/doku/hoermann_beitraege/tiroler_vogelhaendler.html [Stand: 11.05.2015]
Mit der Ausbreitung der Kanarienzuchten sank auch der Preis, so dass sich auch ärmere Schichten der Bevölkerung mit der Zucht der Kanarienvögel einen Nebenerwerb erwirtschaften konnten.